WATCH – Glaub nicht alles, was du siehst - Michael Meisheit - E-Book

WATCH – Glaub nicht alles, was du siehst E-Book

Michael Meisheit

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Beschreibung

Eine unschuldige Frau wird zur Gejagten

Das Jobangebot klingt zu gut, um wahr zu sein: Tina soll für ein paar Wochen in einer Wohnung in London ein unauffälliges Leben führen und wird dafür großzügig bezahlt. Einziger Haken: Sie darf während der gesamten Zeit keinen Kontakt zu ihrem jetzigen Leben haben. Keine Anrufe, keine Mails, kein Social Media. Tina lässt sich darauf ein. Und anfangs scheint auch alles ganz harmlos. Doch dann findet sie heraus, wofür sie eingesetzt wird. Plötzlich ist sie ganz allein in einer unbekannten Stadt. Gejagt von einem Feind, der kein Erbarmen kennt. Und er hat seine Augen überall …

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Seitenzahl: 429

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Das Buch

2021: Eine mächtige künstliche Intelligenz wertet in kürzester Zeit die Bilder unzähliger Überwachungskameras in ganz Europa aus. Kriminelle können in Echtzeit bei ihren Bewegungen im öffentlichen Raum verfolgt werden. Ein Segen für die Ermittler, die kriminelle Clans im Auge behalten. Doch was passiert, wenn die Bösen das System manipulieren? Was, wenn sie dich damit verfolgen?

Eine unschuldige Frau wird zur Gejagten – Michael Meisheits explosiver Thriller über die Möglichkeiten und Gefahren der grenzenlosen Überwachung.

Der Autor

Michael Meisheit, 1972 in Köln geboren, studierte an der Filmakademie Baden-Württemberg Drehbuch und ist seit über zwanzig Jahren im deutschen Fernsehgeschäft aktiv. Meisheit lebt mit seiner Familie in Berlin-Kreuzberg.

Lieferbare Titel

Wir sehen dich sterben

MICHAEL MEISHEIT

WATCH

Glaub nicht alles, was du siehst

THRILLER

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

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PROLOG

Es waren alle da. Endlich mal wieder. Hamid blickte glücklich in die Runde. Er zählte vierzehn Personen, inklusive Kinder. Die gesamte engste Familie. Keiner saß im Knast, keiner war untergetaucht, keiner hatte irgendetwas zu erledigen. Alle hatten sich an diesem Novemberabend um den großen Kirschbaumholztisch im Wohnzimmer versammelt, der sich unter dem Gewicht der Speisen bog. In der Mitte thronte Khouzi, das gefüllte Lamm. Darum verteilt standen zahllose Schälchen mit Hummus, Schafskäse, Linsensalat und Oliven. Burger und Spaghetti für die Kleinen. Ein wahres Festessen, des Anlasses würdig.

Gegenüber von Hamid, am anderen Kopfende, saß Baba. Der Löwe mit der grauen Mähne blickte mit wachen Augen auf seine Nachkommenschaft. Alle quatschten wild durcheinander. Irgendjemand hatte den Fernseher angelassen. Musik dröhnte aus den High-End-Boxen. Obwohl es lauter als auf einem Beiruter Basar war, lächelte Baba zufrieden in die Runde. Hinter ihm über der Anrichte hing der tellergroße Wandspiegel mit dem goldenen Rahmen. Der einzige wertvolle Gegenstand, den Hamids Großvater in den Siebzigerjahren aus dem Libanon mitgebracht hatte. Baba und Mama hatten in Deutschland schwere Zeiten durchgemacht, den Spiegel hatten sie jedoch nie verkauft. Sie hatten es auch so schaffen wollen. Wenn Hamid sich umsah, musste er zugeben: Es war ihnen gelungen. Sie konnten nicht nur auf die Zehlendorfer Villa mit dem Fuhrpark vor der Tür stolz sein, sondern auch auf ihre sechs Kinder. Männer und Frauen zwischen zwanzig und dreißig. Attraktiv, stark und erfolgreich. Die Blicke von Vater und ältestem Sohn trafen sich. In Hamids Kopf wurde es ganz still. In seinem Herzen war nur Liebe. Das Band zwischen Baba und ihm, er konnte es sehen. Es war aus Stahl.

Hamid klopfte mit einem Messer an sein Cola-Glas. Er musste es fast zertrümmern, bis das Geplapper seiner Geschwister und Schwägerinnen endlich verstummte.

»Wir haben heute viel über Farid geredet, ihn gefeiert. Das Geburtstagskind, zwanzig Jahre. Ich küsse dich, mein liebster Bruder.«

Amir und Devin protestierten lautstark. Nicht ernsthaft, denn sie wussten, dass Hamid niemanden bevorzugte. Er würde jederzeit für alle seine Brüder sterben. Farid lachte. Sein jüngster Bruder saß auf Hamids rechter Seite in der Mitte zwischen Mama und Sara, dem Nesthäkchen. Farid und Sara, noch so jung, so naiv. Baba und Hamid hatten beschlossen, sie aus den Geschäften herauszuhalten. Sara machte eine Ausbildung zur Friseurin, Farid hatte sogar Abitur. Er sollte der Rechtsanwalt der Familie werden. Ein echter Consigliere.

»Wir haben auch viel über Mama geredet, sie gefeiert. Weil sie Farid vor zwanzig Jahren das Leben geschenkt hat. Ich küsse dich, Mama.«

Prompt überhäufte sie ihn mit Liebesbekundungen auf Arabisch. Auch die anderen fingen an, sich gegenseitig ihrer Liebe zu versichern. Alia, ihrer aller große Schwester, strahlte Hamid an. Sie teilte seine Liebe für Baba, sie teilte alles mit ihm. Hamid musste wieder an sein Glas klopfen.

»Aber jetzt möchte ich über Baba reden.«

Er deutete über den Tisch. Es wurde still. Sogar die Kleinen hielten die Klappe. Hamid blickte zu seinem Vater. Der Löwe hatte ein Glitzern in den Augen. Wenn Hamid in diese Augen sah, dann wusste er, dass er geliebt wurde.

»Baba, du bist mein …«

Weiter kam er nicht, weil plötzlich das Inferno losbrach. Ein ohrenbetäubendes Krachen hallte aus dem Flur herüber, die massive Holztür war eingerammt worden. Zwei Fenster im Wohnzimmer zerbarsten, genau wie die Terrassentür. Männer schrien. Bewaffnete Vermummte standen plötzlich im heiligsten Zimmer der Familie. Ein ganzes Dutzend. Von draußen flutete Scheinwerferlicht den Raum, hell wie in einem Fußballstadion.

»Polizei! Hände hoch!«

Die Frauen schrien auf, die Kinder weinten. Amir sprang dem ersten Angreifer in schwarzer Kampfmontur entgegen und kassierte dafür einen Schlag mit dem Gewehrgriff. Ein weiterer SEK-Mann hielt Devin sein Gewehr direkt an die Schläfe, was den zweitältesten und kräftigsten Bruder nicht daran hinderte, aufzustehen und die Eindringlinge zu beschimpfen. Mama stand ihm dabei in nichts nach. Sie hatte plötzlich ihren Schuh in der Hand und schlug damit auf einen Bullen mit Sturmhaube und Helm ein. Der SEK-Mann neben Hamid packte sie am Hals wie einen Sack Kartoffeln. Das war zu viel für Baba. Er nahm das Tranchiermesser vom Tisch und rammte es dem Polizisten in die Schulter. Sofort stürzten sich vier Vermummte auf den Patriarchen und rissen ihn zu Boden.

Dadurch befand sich Hamid einen Moment lang nicht im Blickfeld der Polizei. Auch er war instinktiv aufgesprungen, dann aber mit den Händen in der Höhe bewegungslos stehen geblieben. Den Wichsern keinen Grund zum Schießen geben. Darauf warteten sie nur. Doch nun hatten sie einen Fehler begangen. Er nutzte die Ablenkung und rannte los. Durch die offene Tür hinter ihm in die Küche. Er hatte den großen Raum bereits durchschritten, als die Schreie der Polizisten aus dem Wohnzimmer lauter wurden. Seine Familie schrie ebenfalls. Mit Sicherheit versuchten Hamids Brüder, die Beamten festzuhalten. Hamid sprintete um die Ecke, die hintere Treppe nach oben.

Die Verhaftung war nicht das Problem. Die Anwälte würden sie da schon rausholen. Aber wenn die Bullen das Geld in seinem Zimmer fänden, könnte es eng werden. Alia hatte ihm bereits tausendmal gesagt, dass er die Beute eines Raubzugs nicht in die Villa bringen sollte. Aber es war Farids Geburtstag. Auch wenn sein jüngster Bruder bei dem Coup nicht dabei gewesen war, sollte er doch einen Anteil bekommen. Sie hatten zwei Millionen aus dem Geldtransporter mitgenommen. Hunderttausend für Farid. Bar auf die Hand. So war es geplant gewesen.

Hamid kam oben an. Er hörte von unten die schweren Schritte der SEK-Stiefel. Er rannte den Flur entlang zu den Räumen seiner eigenen kleinen Familie. In das Schlafzimmer, das er sich mit Selma teilte. Dort warf er die Tür hinter sich zu. Die Tasche mit dem Geld lag auf dem Babybett. Er griff sie. Der Balkon. So gut wie jeder Raum hatte einen Balkon, darauf hatte er bei der Bauplanung bestanden. Er riss die Tür auf, zwei Schritte, Sprung über die Brüstung, ohne zu zögern. Er landete neben dem Haus auf dem Rasen, stieß sich die Knie. Der Schmerz war auszuhalten. Er sprang auf und rannte weiter in Richtung des Parks hinter ihrem Anwesen. Er zog sein Handy aus der Hosentasche. Hassan musste helfen. Herkommen und ihn holen. Das Licht eines der Scheinwerfer von der Straße traf ihn von hinten. Er sah seinen eigenen Schatten vor sich.

»Stehen bleiben!«

Der Ruf kam nicht von hinten, von den Wagen der Sondereinheiten, sondern von vorn. Von dem Ort, den Hamid ansteuerte. Ein Polizist mit gezogener Waffe stand neben der Garage. In zivilen Klamotten. Hamid kannte den Mann. Er arbeitete für das LKA, machte ihnen schon seit Jahren das Leben schwer. In ihm floss dasselbe Kanakenblut wie in Hamid, doch der Kerl hielt sich für etwas Besseres. Wahrscheinlich ging die Stürmung der Villa auf sein Konto. Warum musste der Pisser ausgerechnet hinter dem Haus lauern?

Hamid drosselte das Tempo, hielt aber nicht an, suchte nach einem Ausweg. Rechts die hohen Büsche, links der Garten mit dem abgedeckten Pool und dem kleinen Spielplatz. Keine Schutzmöglichkeiten. Der Bulle zielte auf ihn. Hamid blieb nichts anderes übrig. Er hob die Hände. Ein Schuss fiel. Hamid blieb die Luft weg. Hatte das Arschloch gerade auf ihn geschossen? Der Schmerz kam. Seine Brust brannte. Er blickte an sich hinab. Blut durchtränkte binnen Sekunden das weiße Hemd. Immer noch keine Luft. Hamid hatte keine Kraft mehr, um auf den Beinen zu bleiben. Er knallte auf die schmerzenden Knie. Die Tasche mit dem Geld und sein Handy fielen auf den Boden. Der Polizist zielte immer noch auf ihn, kam langsam näher. In der Ferne hörte Hamid einen Schrei, der ihm durch Mark und Bein ging. Es war sein Vater.

»Sanitäter!«, schrie der Bulle.

Er war bei Hamid angekommen, kniete sich zu ihm. Hamid wollte ihm ins Gesicht spucken, aber dafür fehlte ihm die Luft. Immerhin konnte er schlagen. Er schwang seinen Arm nach dem Mann, traf ihn jedoch kaum. Danach fehlte ihm noch mehr Luft. Ihm war kalt. Furchtbar kalt. Sein Oberkörper war taub. Nach Atem ringend, drehte er sich um. Er blickte in das Scheinwerferlicht, konnte am Haus lediglich Silhouetten ausmachen. Doch er wusste auch so, dass die massige Gestalt, die von drei Männern kaum gehalten werden konnte, Baba war.

»Hamid!«, schrie er.

Hamid wollte nach ihm rufen. Es ging nicht. Nicht einmal ein Wort brachte er heraus. Nur ein Winseln entfuhr seiner Kehle. Er sank zu Boden. Ihm war so kalt.

»Du Schwein!«, hörte er seinen Vater brüllen. »Das wirst du büßen. Dafür wirst du bezahlen.«

Baba schrie immer und immer wieder. Es waren die letzten Worte, die Hamid hörte.

ZWEIJAHRESPÄTER

1

Köln

Donnerstag, 9. September

Auf dem Weg ins Krankenhaus hatte Tina zum ersten Mal das Gefühl, dass sie verfolgt wurde. Der schwarze BMW aus Holland hatte auf der anderen Straßenseite gestanden, als sie in Ehrenfeld mit dem störrischen Fiat Panda ihres Mitbewohners losgefahren war. Derselbe BMW mit dem auffälligen gelben Kennzeichen fuhr eine halbe Stunde später auf den Holweider Parkplatz, von dem aus Tina in den grauen Betonklotz gehen wollte, um ihren Vater zu besuchen. Sie hatte sich die Nummer auf dem Kennzeichen nicht gemerkt, aber wie wahrscheinlich war es, dass zwei identische BMW aus Holland in Köln unterwegs waren?

Tina blieb stehen, zückte ihr Handy und tippte sinnlos darauf herum. Dabei behielt sie unauffällig das Fahrzeug im Auge. Nachdem der Wagen drei Reihen entfernt hinter einer großen Linde geparkt hatte, blieben die Autotüren geschlossen, der Motor ausgeschaltet. Drei Minuten, fünf Minuten, zehn Minuten. Irgendwann hörte Tina in ihrem Kopf das Meckern ihrer Mutter, da Tina sowieso schon zu spät losgefahren war. Überflüssig natürlich, denn ihr Vater würde so schnell nirgendwohin gehen, aber Pünktlichkeit war für ihre Mutter ein Prinzip. Ein eisernes. Tina beschloss, dass es vielleicht doch zwei holländische BMW in Köln geben konnte, und in einem davon machte nun jemand ein Nickerchen. Warum sollte man sie auch verfolgen?

In der kardiologischen Abteilung am Bett ihres Vaters musste Tina sich diese Frage erneut stellen. Während eines Monologs ihrer Mutter betrachtete sie auf ihrem Handy die Fotos der letzten Tage. Ein Selfie, das sie zwei Nächte zuvor am Brüsseler Platz gemacht hatte, ließ ihre Nackenhaare in die Höhe schießen. Darauf zu sehen waren ihre Freundin Anna und sie, gut gelaunt, hundert Meter vom Hallmackenreuther entfernt, wo sie zu viele Caipis getrunken hatten. Zu sehen war aber auch der holländische BMW. Am Straßenrand hinter ihnen, das gelbe Kennzeichen reflektierte das Licht der Laterne.

»Alles okay, Chrissy?«, fragte Papa mitten in Mamas Elegie über die Unfähigkeit der Ärzte, die mal wieder keine Spontanheilung zustande brachten.

Tina sah Sorge in den müden blauen Augen ihres Vaters. Er war gerade erst sechzig geworden, wirkte jedoch mit seinen grauen Haaren und dem blassen Gesicht wie ein Greis, der von der gestärkten weißen Bettwäsche verschlungen wurde. Vielleicht war er auch gar nicht ungewöhnlich blass. Vielleicht kam es Tina lediglich so vor, weil sie ihn eigentlich nur mit hochrotem Kopf kannte und er jetzt durch die Medikamente einen normalen Blutdruck hatte. Als die Werte bedrohlich in die Höhe geschossen waren, hatte Mama ihn am Vortag ins Krankenhaus gebracht. Schnell setzte Tina ein Lächeln auf.

»Ja, ja, Paps. Alles okay.«

»Was schaust du dir denn da an?«

»Fotos … von Anna und mir.«

Papa winkte sie zu sich. Sie setzte sich an den Rand des Bettes und betrachtete das Bild mit ihm gemeinsam. Währenddessen redete ihre Mutter unaufhörlich weiter. Doch Tina und ihr Vater hatten gelernt, auf anderen Frequenzen miteinander zu kommunizieren, sodass Mamas Geplapper wie das Geräusch von Regen auf einem Wellblechdach wirkte.

»Ist doch ein wunderschönes Bild von dir. Das Lächeln, das Herzen schmelzen lässt. Was ist das Problem?«

»Es gibt kein Problem.«

Außer dass irgendein Holländer sie schon seit mindestens vorgestern quer durch die Stadt verfolgte. Warum? Fieberhaft ging Tina im Kopf die Holländer durch, die sie kannte. Sie hatte mal bei einem Segelwochenende am Ijsselmeer etwas mit einem Surfer gehabt. Doch das war eine halbe Ewigkeit her, und der Typ hatte sie nach drei unbeantworteten Anrufen in Ruhe gelassen. War das ein Grund, Jahre später zum Stalker zu werden?

»Du bist immer viel zu kritisch mit deinem Aussehen«, stellte ihr Vater fest. »Du bist eine echte Schönheit. Genau wie deine Mutter früher.«

»Früher?«, empörte sich Mama.

Das war der Punkt, an dem sie ihren Monolog nun doch unterbrach. Papa lachte und war in den nächsten Minuten damit beschäftigt, seiner Frau zu versichern, dass sie nach wie vor eine Schönheit war. Es stimmte. Auch mit Ende fünfzig war sie dank ihrer langen schwarzen Haare und der funkelnden braunen Augen ein Hingucker. Tina war froh, dass sie beides von ihrer Mutter geerbt hatte. Oder vielmehr, dass sich die Gene ihrer aus der Türkei stammenden Großmutter auch über zwei Generationen und zwei deutsche Männer hinweg durchgesetzt hatten. Ihr Vater hatte lediglich die großen Ohren beigesteuert, die Tina gerne unter wilden Haarkreationen verbarg.

Während ihr Vater seine Frau mit Engelsgeduld beruhigte, konnte Tina ihren Blick nicht von dem BMW nehmen. Auch auf dem Foto erkannte man nicht, wer auf dem Fahrersitz saß. Schemenhaft konnte man Hände am Lenkrad ausmachen. Außerdem eine Lichtreflexion dort, wo sich das Gesicht befand. Nein, kein Gesicht. Bei genauerem Hinsehen erkannte Tina das Objektiv einer Kamera. Der Holländer hatte sie beim Fotografieren fotografiert. Mit einer richtigen Kamera. Wie ein Privatdetektiv. Gab es die überhaupt noch? Und, wenn ja, wer hatte ihr einen auf den Hals gehetzt? Sie schuldete ein paar Leuten Geld, aber nicht annähernd so viel, wie es kosten würde, einen Privatermittler mit teurem BMW tagelang hinter ihr herzuschicken. Oder war es die Polizei? Zivilfahnder? Ihr fiel ein, dass sie mit Anfang zwanzig für einen Freund, der am Anfang einer kurzen, ruhmlosen Karriere als Drogendealer gestanden hatte, ein paarmal Haschisch über die Grenze gebracht hatte. Aus Holland! Aber war das nach mehr als zehn Jahren nicht verjährt?

»Dir geht’s doch gut, oder?«

Ihr Vater erforschte Tinas Gesichtsausdruck, während Mama sich darüber ausließ, dass niemand erkannte, wie sehr seine Herzprobleme auch für sie eine Belastung waren. Schließlich hatte man bei ihr gerade erst Diabetes diagnostiziert, und damit war auch nicht zu spaßen.

»Paps, mir geht’s super«, betonte Tina und setzte das Lächeln auf, das Herzen schmelzen ließ. »Weißt du doch.«

»Dann ist gut«, antwortete er zufrieden. »Das ist alles, was mir wichtig ist.«

»Na klar«, sagte Tina. »Du, ich muss leider los. Zur Arbeit.«

Sie ignorierte die Beschwerde ihrer Mutter und drückte ihren viel zu schmächtig gewordenen Vater an sich. Bald darauf befand sich Tina auf dem Weg zum Parkplatz. Zum Holländer. Sie würde ihn zur Rede stellen. Egal, ob Stalker, Privatdetektiv oder Zivilfahnder. Der Kerl konnte sich auf etwas gefasst machen, denn auf solche Spielchen hatte sie keine Lust. Wer ein Problem mit ihr hatte, sollte mit ihr reden. Mit zunehmender Wut stampfte sie über das hässliche Linoleum der Flure, vorbei an der schmucklosen Rezeption, durch die automatische Schiebetür nach draußen. Schnurstracks zum Parkplatz. Zum BMW. Nur leider war das Auto nicht mehr da. Der Platz unter der Linde war leer. Tina blickte in alle Richtungen, entdeckte den holländischen Wagen aber nirgendwo. Sie war geradezu enttäuscht. Ihre Empörung verpuffte. Gleichzeitig war sie sicher, dass sie den Wagen wiedersehen würde.

Es dauerte nicht einmal vier Stunden, bis es so weit war. Tina war längst bei der Arbeit. Unterwegs mit Harry. Seit zwei Monaten arbeitete sie als »Blaulichtreporterin«, wie Harry es nannte. Ein Begriff, der sicherlich aus Zeiten stammte, in denen es auch noch Privatdetektive gegeben hatte. Genauso antiquiert kam sie sich vor, wenn sie in dem zugemüllten Opel Kombi des leicht übergewichtigen und nach Irish Moos riechenden Harry saß. Wo sie illegal den Polizeifunk abhörten, um dann loszurasen, wenn sich irgendwo in Köln etwas vermeintlich Berichtenswertes ereignete. Unfälle, Schlägereien, Festnahmen. Harry hieß eigentlich Harald, war um die sechzig und machte diesen Job schon, »seit er denken konnte«. Früher hatte er Fotos gemacht, heute filmte er mit einer kleinen Digitalkamera. Das Geschäft war hart. Weil jeder Idiot ein Handy mit Kamera besaß, war die Konkurrenz groß. Zumal Amateure ihr Material meistens kostenlos an die Redaktionen weitergaben. Harry und Tinas Glück war, dass sie für den Betreiber einer Facebook-Seite arbeiteten, der die schaurigen Berichte digital unter das Volk brachte. Immerhin ein moderner Aspekt von Tinas Arbeit als Blaulichtreporterin. Natürlich war es nicht das, wofür sie fünf Jahre lang Journalismus studiert hatte. Aber bei ihren Jobs in der seriösen Medienwelt hatte sie sich bisher immer zielsicher mit den Falschen angelegt, nämlich mit ihren Chefs. Überbordende Egos, Chauvinisten, Feiglinge. Darauf hatte sie keine Lust mehr. Nach einer schmerzhaften Durststrecke sorgte der neue Job jetzt dafür, dass sie die Miete zahlen konnte. Er hatte ihr sogar eine kleine Fangemeinde eingebracht. Keiner konnte eine Messerstecherei in Köln-Kalk so gut gelaunt anmoderieren wie sie. Niemand hatte weniger Skrupel, wenn es darum ging, einem Unfallbeteiligten ein Mikrofon hinzuhalten. Das hatte Tina zumindest bis zu diesem Tag gedacht.

Als der Funk kurz nach Einbruch der Dunkelheit einen »VU Ex«, also einen Verkehrsunfall mit Exitus, am Konrad-Adenauer-Ufer vermeldete, war Tina in Gedanken noch bei dem BMW. Während Harry durch die Nebenstraßen an sämtlichen Absperrungen vorbeibretterte, rätselte sie, ob sie sich vielleicht durch ihre fragwürdige Berühmtheit einen Stalker eingehandelt hatte. Freundliche oder noch öfter anzügliche Mails erhielt sie über die Redaktion der Facebook-Seite regelmäßig. Die Penisbilder leitete man ihr gar nicht erst weiter. Natürlich stand nirgendwo ihre Adresse, aber die Menschen waren findig, wenn es darum ging, anderen das Leben schwer zu machen. So grübelte Tina noch, während sie in einem Meer aus Blaulicht den Kombi verließ und hinter Harry dahin trottete, wo sich die größte Ansammlung von Rettungskräften befand. Ohne Vorwarnung blickte sie direkt in das, was einmal ein Gesicht gewesen war. Wie ein Reh im Scheinwerferlicht starrte sie auf den blutigen Klumpen aus Haut, Gewebe und Knochen auf dem Fahrersitz eines Kleinwagens. Harry zückte seine Kamera und hielt drauf. Keiner hinderte ihn daran, denn die Rettungskräfte waren damit beschäftigt, die Beifahrerin zu retten, die »nur« den Rand der Metallplatte abbekommen hatte. Das wuchtige Teil hatte sich von der Ladefläche eines vorausfahrenden Lasters gelöst und war durch die Windschutzscheibe des Toyotas geschossen. Noch lebte die Beifahrerin, aber das aus der Höhle getretene Auge gab Tina den Rest. Sie spürte, wie ihr die Falafel hochkamen, die sie sich zwischen Krankenhausbesuch und Arbeitsbeginn reingestopft hatte.

»Stell dich nicht so an«, rief Harry, ohne die Kamera von dem Horror am Rheinufer zu nehmen.

Als Tina sich am nächsten Grünstreifen übergab, sah sie den BMW. Er kam langsam aus der Seitenstraße gerollt, in der auch Harrys Kombi stand, und hielt direkt hinter ihrem Arbeitsfahrzeug. Auf dem Boden kniend, mit einem fürchterlichen Geschmack im Mund und einem heftigen Zittern am ganzen Körper, beobachtete Tina, wie der Motor ausging, die Scheinwerfer erloschen und die Fahrertür sich öffnete. Keine zwanzig Meter von ihr entfernt. Doch kein furchterregender Auftragskiller oder verstörender Stalker kam zum Vorschein, sondern ein Engel. Erst sah Tina nur die eleganten Pumps unter der Fahrertür, dann die ganze Frau: eine groß gewachsene Blondine in ihrem Alter mit einem dunklen Hosenanzug unter dem taillierten Ledermantel. Die makellos schöne Frau schritt entschlossen auf Tina zu. Dabei ignorierte sie das Chaos neben ihnen. Die Schreie der verletzten Beifahrerin, die Rufe der Rettungskräfte, das Blaulicht. Das alles interessierte die Frau nicht. Auch nicht der Falafelbrei, den Tina auf dem Rasen hinterlassen hatte. Die Blondine ging vor Tina in die Hocke und reichte ihr ein Stofftaschentuch.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie mit leicht holländischem Akzent.

2

Köln

Donnerstag, 9. September

Das Kölsch spülte den bitteren Geschmack endgültig weg. Die Bilder des Toten und seiner Beifahrerin blieben. Das Bier tat trotzdem gut. Tina konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, wie sie in die Hotelbar gelangt war. Die blonde Frau hatte sie dorthin geführt. Sie hatten das Blaulicht hinter sich gelassen. Den BMW ebenso wie Harrys Kombi. Harry natürlich auch. Während Tina im Arm der Holländerin durch die Gassen gestolpert war, hatte ihr linkes Bein mehr als der restliche Körper gezittert. Zumindest hatte Tina das gedacht, aber es war die Vibration ihres Handys in der Hosentasche gewesen. Das Telefon meldete sich nun erneut, weckte Tina aus ihrer Starre. Sie hatte kein Interesse, den Ruf anzunehmen, Harry irgendetwas zu erklären, mehr über die Unfallopfer zu erfahren. Ihr ganzes Interesse galt der anderen Seite der Essnische mit weinroten Ledersitzen und einem polierten braunen Holztisch. Es galt der blonden Frau.

»Besser?«, fragte die Blondine.

Tina nickte und atmete tief durch.

»Warum verfolgen Sie mich?«, erwiderte Tina.

Die Frau lächelte. Ein schönes Lächeln. Souverän, aber auch mitfühlend.

»Ich wollte Sie gerne kennenlernen. Weil wir Ihnen einen Job anbieten möchten.«

Darauf wäre Tina im Leben nicht gekommen. Ein Freund von ihr war schon von Headhuntern kontaktiert worden, aber die hatten angerufen. Niemand wurde deswegen mehrere Tage lang von einem Fotomodell verfolgt.

»Vielleicht ist jetzt nicht die richtige Zeit, darüber zu reden«, erklärte die Frau mit dem wohltuenden Akzent. »Ich wollte Ihnen wirklich nur helfen.«

»Doch«, entgegnete Tina schnell. »Jetzt ist genau die richtige Zeit. Oder sieht es so aus, als ob ich meinen aktuellen Job liebe?«

Die Frau grinste. Wissend, cool, sexy. Überhaupt fiel Tina mehr und mehr auf, welch anziehende Wirkung sie hatte. Ein kurzer Blick in die mit Geschäftsmännern gefüllte Bar bestätigte Tinas Eindruck. Kaum einer von ihnen schaute nicht zu ihnen herüber. Das blonde sexy Model und die exotische Dunkelhaarige. Für den entsprechenden Porno würden einige Männer garantiert gutes Geld bezahlen.

»Was für eine Art von Arbeit wäre das?«, fragte Tina verunsichert, denn irgendetwas Sexuelles kam für sie nicht infrage.

Die Frau zögerte kurz und nickte dann, als ob sie sich selbst überzeugen musste, dass der Zeitpunkt für das Jobangebot tatsächlich gekommen war.

»Sie müssten für einige Wochen eine Wohnung in London beziehen und dort leben.«

»Und was ist der Job?«

»Das ist der Job.«

Wieder das sexy Grinsen. Dieses Mal wirkte es verheißungsvoll.

»Das ist keine Arbeit«, antwortete Tina, denn die Sache klang nun immer mehr nach Schweinkram.

»Meine Auftraggeber benötigen jemanden, der in dieser Wohnung wohnt. Sie bekommen alles, was man zum Leben braucht, Taschengeld zum Ausgehen und Shoppen. Und als Lohn für die gesamte Zeit fünfzigtausend Euro.«

Tina grinste nun auch. Es war kein freundliches Grinsen. Es war spöttisch, zeigte ihre Enttäuschung.

»Und wer wohnt noch dort und möchte sich nachts an meinem nackten Körper reiben?«

»Niemand. Es hat nichts mit Sex zu tun.«

»Wo ist der Haken?«

»Sie müssen für den gesamten Zeitraum Ihr jetziges Leben hinter sich lassen.«

Wenn man ihr jetziges Leben betrachtete, war das in Tinas Augen eher ein Bonus.

»Keine Anrufe, keine Mails, kein Social Media«, fuhr ihre Anwerberin fort. »Sie dürfen niemanden treffen. Niemandem von der Zeit in London erzählen. Sie dürfen nicht einmal Ihr jetziges Handy behalten. Sie bekommen ein neues.«

Tina wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Das war so ein offensichtlicher Bullshit. Sie hatte in ihrem Leben schon viele schräge Jobs angenommen, auch fragwürdige. Darunter einige, die sie bereut hatte. Doch auf diese Nummer hier würde selbst sie nicht reinfallen.

»Natürlich ist der Hintergrund ein krimineller«, gab die Frau zu. »Aber Sie werden nichts Illegales tun. Wenn Sie wollen, können Sie sogar Ihren Lohn versteuern.«

»Was genau ist der Hintergrund? Was bringt es Ihren ›Auftraggebern‹, wenn ich in dieser Wohnung lebe?«

»Je weniger Sie darüber wissen, desto besser.«

Die Bilder kamen zurück. Die Metallplatte im Toyota. Der zerstörte Kopf. Das Auge der Frau. Tina hasste ihren Job. In diesem Moment noch mehr als in den Wochen zuvor. Doch wenn jemand ihr fünfzigtausend Euro fürs Nichtstun geben wollte – plus Spesen und eine teure Wohnung in London – , dann roch das meilenweit nach Ärger. An dessen Ende Tina höchstwahrscheinlich im Gefängnis landen würde. Oder noch Schlimmeres passierte.

»Das ist nichts für mich«, sagte Tina müde.

»Sie denken nicht einmal darüber nach?«, fragte die Holländerin erstaunt.

Tina schüttelte den Kopf und leerte ihr Kölschglas.

»Trotzdem danke. Für die Hilfe vorhin … und das Bier.«

Sie atmete tief durch und stand auf. Ihr graute davor, Harry zurückrufen zu müssen. Doch das war nun mal ihr echtes Leben. Die Frau sprang ebenfalls auf. Tinas klare Haltung schien ihr Respekt abzunötigen. Sie hatte plötzlich eine Visitenkarte in der Hand und reichte sie Tina.

»Nimm die einfach mal mit«, wechselte sie in eine vertrauliche Tonlage, als würde sie jetzt als Freundin zu ihr sprechen. »Für ein paar Tage steht das Angebot.«

Tina blickte auf die Karte. Ein sattes Schwarz, auf dem in goldenen Buchstaben »Kim« stand, sowie eine Handynummer mit niederländischer Vorwahl. Sonst nichts. Tina nahm die Karte. Kim zeigte noch einmal ihr sexy Lächeln. Dann ging sie unter den Blicken sämtlicher Männer zum Tresen, um zu bezahlen.

3

Köln

Samstag, 11. September

»Du musst ins Krankenhaus kommen.«

Die enervierende Stimme ihrer Mutter. Gefühlt mitten in der Nacht.

»Weißt du, wie spät es ist?«, rief Tina vorwurfsvoll in ihr Handy.

Sie selbst wusste es nicht. Sie war sofort ans Telefon gegangen, nachdem das Klingeln sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Dafür war Tina sogar dankbar, denn sie hatte wieder von dem Auge geträumt. Dem Auge, das neben der aufgebrochenen Augenhöhle baumelte. Draußen war es noch dunkel. Außerdem war Samstag. Mama übertraf sich wieder einmal selbst.

»Er stirbt.«

»Mama, können wir nicht später … Was?«

»Papa hatte heute Nacht einen Infarkt. Er liegt im Koma. Es geht zu Ende, sagt die Ärztin.«

»Das kann nicht sein«, protestierte Tina. »Ihm ging es doch besser.«

Das hatte ihre Mutter ihr am Abend geschrieben. Die Ärztin war mit der Entwicklung seiner Blutdruckwerte zufrieden gewesen. Tina hatte ihn nicht noch einmal im Krankenhaus besuchen können. Sie musste arbeiten, um Harry und die Redaktion bei Laune zu halten. Man hatte durchaus Verständnis für ihre kleine Flucht vom Unfallort gezeigt. Die Frage, ob sie die Richtige für den Job war, stand trotzdem im Raum. Also hatte sie den Freitagabend mit zahlreichen betrunkenen Autofahrern auf keinen Fall verpassen dürfen. Mama hatte sie sowieso stündlich per SMS mit Berichten versorgt.

»Es war doch alles okay«, insistierte Tina am Telefon.

Ihre Stimme klang wie die ihres fünfjährigen Ichs.

»Du musst ins Krankenhaus kommen«, wiederholte ihre Mutter.

Sie klang hart, vorwurfsvoll, enttäuscht. Alles nichts Neues. Aber da war noch etwas in ihrer Stimme, das Tina nicht von ihr kannte: Angst.

Eine halbe Stunde später betrat Tina die Intensivstation. Sie hatte einfach irgendetwas übergezogen, sich den Autoschlüssel ihres Mitbewohners geschnappt und war durch die menschenleere Stadt gerast, während die Sonne aufging. Papa liebte Sonnenaufgänge. Im Urlaub in den Alpen hatte er sie manchmal ganz frühmorgens geweckt. Sie hatten Mama schlafen lassen und waren im Halbdunkeln auf den Berg gestiegen. Tina erinnerte sich an das Sonnenlicht auf seinem Gesicht. Sein Lächeln. So sah Glück aus.

Jetzt war sein Gesicht fahl. Papa lag auf dem Bett, umgeben von zahlreichen Geräten, die durch Kabel und Schläuche mit ihm verbunden waren. Aus dem Mund ragte ein Tubus, durch den er beatmet wurde. Über dem Bett hing ein Monitor, der verschiedene Werte und Linien zeigte. Tina nahm Papas Hand und setzte sich an den Rand des Bettes. Seine Augen blieben geschlossen. Egal, wie fest sie die Hand drückte. Tina blickte hilflos zu ihrer Mutter, die von dem Stuhl am Fenster aufgestanden war. Sie hatte kurz die Hände gehoben, um Tina zu umarmen. Doch Tina konnte Papa unmöglich loslassen.

»Es war doch alles okay«, wiederholte Tina.

»Seine Organe versagen nach und nach«, entgegnete Mama.

Der Kloß in Tinas Hals verstärkte sich. Zum ersten Mal drückten sich mit Gewalt Tränen aus ihren Augen. Ein Gefühl, das ihr in den nächsten Stunden vertraut werden sollte. Sie konnte nichts dagegen tun. Sie konnte überhaupt nichts tun. Das Gespräch mit der zuständigen Ärztin war erstaunlich informativ. Eine warmherzige Frau, die sich Zeit nahm. Doch selbst das half nichts. Am Ende stand lediglich erneut die Aussage: »Seine Organe versagen nach und nach.«

Dann saßen sie dort. Mama auf dem Stuhl am Fenster. Tina auf dem Bett mit Papas Hand in ihrer. Sie blickte auf sein Gesicht. Die Züge wirkten friedlich, doch der Tubus verweigerte Tina hartnäckig die Illusion, dass er nur schlief. Die Werte auf dem Überwachungsmonitor sanken. Langsam, aber beständig. Hatte Papa kurz nach ihrer Ankunft noch Blutdruckwerte, über die er sich gefreut hätte, waren sie nach zwei Stunden so lächerlich niedrig, dass man kaum noch von Leben sprechen konnte. Während die Geräte in den Räumen rundherum diverse Töne oder manchmal auch hektisches Piepsen von sich gaben, hörte man an Papas Bett nur das Pumpen der Beatmungsmaschine. Die Alarme waren ausgestellt worden.

Als die Sonne sich so weit vom Horizont hochgearbeitet hatte, dass sie durch das Fenster im dritten Stock auf Papa scheinen konnte, kam die Erkenntnis bei Tina an. Er würde nie wieder lächeln. Tina hatte seine letzten Tage bei Bewusstsein verpasst. Während ihres Besuchs hatte sie ihm kaum zugehört. Sie war Unfällen hinterhergejagt, als er nach ihr gefragt hatte. Nicht einmal angerufen hatte sie, um ihm eine gute Nacht zu wünschen. Sie hatte ihn für selbstverständlich gehalten. Wenn jemand sie auf einer Party gefragt hatte, wie sie mit ihrem Vater klarkam, hatte sie immer so etwas wie »ganz gut« geantwortet. »Nichts Besonderes.« Sie verstanden sich. »Ja, klar.« Nee, nicht klar. Er war der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Die einzige Konstante.

Wenn die Werte auf dem Monitor in absehbarer Zeit bei null ankämen, dann bliebe nur noch ein schwarzes Loch. Sie hasste ihren Job, sie lebte in einer miefigen Zweck-WG mit drei deutlich jüngeren Studenten, sie hatte Schulden bei zig Leuten, eine ernsthafte Beziehung wollte niemand mit ihr haben. Erst vor einigen Wochen hatte ihr letzter Freund sie verlassen, weil sie »zu flatterhaft« war, was immer das heißen sollte. Richtig geschmerzt hatte die Trennung sie nicht. Trennungen schmerzten sie nie. Die Trennung von ihrem Vater würde es. Sie würde eine klaffende Wunde aufreißen. Der Schmerz war noch nicht da, aber Tina sah ihn kommen. Wie einen Tsunami am Horizont.

»Ich möchte, dass du zu mir ziehst.«

Das war das Erste, was ihre Mutter nach Stunden des Schweigens von sich gab. Sie sah ihren eigenen Tsunami auf sich zukommen.

»Die Wohnung ist groß«, fuhr sie fort. »Wir könnten Geld sparen und …«

»Lass uns später darüber reden.«

Tinas Antwort kam reflexartig. Ein Satz, den sie als Kind regelmäßig von Mama zu hören bekommen hatte. Nie war später darüber geredet worden. Der Satz bedeutete »nein«.

»Gut.«

Mama klang, als ob sie die Retourkutsche nicht erkannte. Oder als ob sie wüsste, dass Tina keine Chance hatte. Nicht umsonst hatte sie das Geld erwähnt. Ja, Tina konnte dank ihres Jobs die Miete zahlen. Aber um wirklich leben zu können, es sich vielleicht auch mal gut gehen zu lassen, brauchte sie die monatlichen Zahlungen von Papa. Die Zahlungen, von denen Mama nichts wusste. Angeblich. Diese würden nun ausbleiben. Papas gute Rente aus seiner Zeit als Ingenieur bei Ford würde nicht nur Tina schmerzhaft fehlen, sondern auch ihrer Mutter. »Wir könnten Geld sparen.« Es war unausweichlich. Mit dreißig Jahren zurück zu Mama. Ohne Papa. In einem Job gefangen, den die meisten ihrer früheren Kommilitonen als Worst Case angesehen hätten. Ihr ganzes Leben steuerte auf den schlimmstmöglichen Fall zu.

Tina bekam erst mit, dass die Ärztin zurückgekehrt war, als diese sich räusperte. Die junge Frau stand mit den Händen hinter dem Rücken und einem mitfühlenden Lächeln auf den Lippen da. Sie erklärte leise, dass nur noch die Geräte Papa am Leben hielten. Das könne man auf diesem Niveau weiter so handhaben, aber es bestünde keinerlei Aussicht auf eine Verbesserung seiner Situation.

»Faktisch ist er tot?«, fragte Tina.

Die Ärztin nickte.

»Dann schalten Sie die Geräte bitte ab«, sagte ihre Mutter mit leerer Stimme. »Er hat sich das so gewünscht.«

Tina wollte protestieren. Schreien. Um Papas Leben kämpfen. Sie tat nichts davon. Nicht, weil sie wusste, dass ihre Mutter recht hatte. Sondern weil Tina nicht mehr da war. Sie rannte vor dem Tsunami davon.

Eine halbe Stunde nachdem die Anzeigen auf dem Monitor erloschen waren, stand Tina allein auf dem Parkplatz des Krankenhauses und blickte in die Sonne. Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche. In der glitzernden Hülle steckte die Visitenkarte von Kim. Tina rief sie an.

4

Den Haag

Donnerstag, 14. September

Es passiert etwas!!!

Nael konnte den hektischen Tonfall von Xalvador aus der SMS herauslesen. Er legte das Handy zur Seite und nippte noch einmal an seinem heißen Espresso, den die Kellnerin gerade erst gebracht hatte. Das Handy brummte erneut.

Wann kommst du rein???

Nael seufzte aus tiefem Herzen. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Er wollte sich in seinem Lieblingscafé an der Frederik Hendriklaan in Ruhe mithilfe von Espresso und Croissant auf den Tag einstimmen. Aber er wusste, dass Xalvador keine Ruhe geben würde. Am Ende würde der hyperaktive Kollege auch noch anrufen. Sein Englisch mit dem harten spanischen Akzent war schwer zu verstehen, besonders bei seinem Sprechtempo, sodass Telefonate mit dem Leiter der neuen Abteilung eine Zumutung waren.

Bin auf dem Weg, schrieb Nael.

Er trank in Ruhe seinen Espresso, aß sein Croissant. Schließlich machte er sich auf den Weg über die Straße. Zu dem typisch holländischen Eckhaus aus rotem Backstein mit Erker und Giebeldach, in dem Nael vor einem halben Jahr ein schmuckes Apartment bezogen hatte. Er stieg allerdings nicht die zwei Stockwerke nach oben, sondern holte lediglich sein Fahrrad aus dem Hausflur, wo es neben vier anderen Rädern eingequetscht war. Ein typischer Anblick für diese Stadt: drei Wohnungen, fünf Fahrräder. Er befestigte seine Hosenklammern und schwang sich aufs Rad. Dass er mit siebenundvierzig noch einmal passionierter Radfahrer werden würde, hatte Nael sich auch nicht träumen lassen. Es tat ihm gut. Er war immer schlank gewesen, passend zu seinen dunklen Haaren und feinen Gesichtszügen, aber in den letzten Jahren hatte sich ein Bäuchlein entwickelt, das er mit dem täglichen Radfahren wieder in den Griff bekommen hatte.

Als er in die Prins Mauritslaan einbog, spürte er die Vibration des Handys in seiner Jacketttasche. Als er die vierspurige Straße mit den Tramschienen in der Mitte überquerte und auf der Eisenhowerlaan weiterfuhr, vibrierte es erneut. Nael blickte erst auf das Handy, nachdem er sein Rad im Fahrradschuppen vor dem Europol-Gebäude angeschlossen hatte.

Sie ist am Flughafen!!!, hatte die erste SMS gelautet.

Ziel London!!!, die zweite.

Das war tatsächlich eine interessante Entwicklung, doch Nael ermahnte sich, nicht weiter darüber nachzugrübeln. Er schüttelte einmal mehr über die Ironie des Schicksals den Kopf. Er war zu Europol gegangen, um den ganzen Mist in Berlin hinter sich zu lassen. Doch kaum war er im schönen Den Haag angekommen, hatte man die neue Abteilung eingerichtet, die ausgerechnet seinen Hauptkunden aus Berlin überwachte. Natürlich hatte es nicht lange gedauert, bis Xalvador am deutschen Desk angefragt hatte, ob sich jemand mit Berliner Clan-Kriminalität auskannte. Natürlich hatte das ganze Team unisono in Naels Richtung geblickt.

Als Nael an der Sicherheitsschleuse ankam, folgte die nächste Nachricht: Warum London??? Nael fragte sich, ob auf spanischen Handys eine Taste existierte, die Satzzeichen automatisch verdreifachte. Er hielt seinen Ausweis an den Scanner vor der stählernen Drehtür. Dann die Innenfläche seiner Hand an den Venenscanner. Ein Signal gab ihm die Erlaubnis einzutreten. Nael nickte den bewaffneten Männern vom Sicherheitspersonal zu und betrat die kleine Kabine, deren Innenwand sich von allein weiterdrehte. Er verließ die Schleuse. Das Prozedere erfüllte ihn jedes Mal mit Befriedigung. In keinem Gebäude der Welt fühlte er sich so sicher wie bei Europol, in den vier unterschiedlich hohen quaderförmigen Türmen, die durch ein weitläufiges Erdgeschoss verbunden waren. In den ersten Monaten war er auch ausgesprochen gerne in den grauen Neubau der europäischen Polizeibehörde gegangen. Dass es dort nun ebenfalls nur noch um den Clan ging, nagte jedoch an Nael.

Im Eingangsbereich mit der beeindruckend großen Halle schaute er zu den offenen Treppen hinauf. Sollte er erst im Turm nach oben fahren? Im achten Stock befand sich der deutsche Desk und damit Naels Schreibtisch. Doch Xalvador hatte dort wahrscheinlich schon alle Kollegen auf der Suche nach ihm verrückt gemacht. Nael ging in dem großen Flur Richtung Haus zwei, wo die neue Abteilung ihren Platz gefunden hatte. Sowohl die Abteilung als auch das bahnbrechende Programm, mit dem dort gearbeitet wurde, hießen WATCH; ein bemühtes Akronym, das für Widescale Automated Tele Cogniton Hub stand. Nael hörte Xalvadors Stimme schon von Weitem.

Obwohl sich in dem fensterlosen Raum mit den beigen Wänden zig Monitore und ein halbes Dutzend Mitarbeiter befanden, erblickte der hochgeschossene Spanier mit dem gescheitelten dunklen Haar und dem markanten Kinn Nael in der Sekunde, in der er im Türrahmen erschien.

»Warum London?«, rief er mit seinem spanischen Akzent. »Die Taffas waren noch nie in London.«

Nael nickte den anderen Kolleginnen und Kollegen an ihren Plätzen zu, während er den Raum durchschritt. Auf jeder Seite standen fünf Arbeitsplätze mit dem Rücken zur Wand. Arbeitsplätze, an denen alles vom Feinsten war. Die Computer, die Monitore, die Telefone. Das Beste und Neueste, was der Markt hergab. Doch selbst diese waren mickrig im Vergleich zu dem Arbeitsplatz am Ende des Raums, für den die anderen Schreibtische wie ein Spalier wirkten. Dort hing ein enormer Monitor von der Decke, der auch in einem Fußballstadion hätte Verwendung finden können. Darunter stand ein geschwungener Tisch mit drei kleineren Monitoren, Tastaturen, Tablets und anderen technischen Spielereien. Es hatte etwas von der Kommandobrücke eines Raumschiffs. Direkt daneben stand der Kommandant Xalvador. Er zeigte fuchtelnd auf das Bild über ihm.

»Warum London?«

»Guten Morgen«, sagte Nael mit der gebotenen Höflichkeit.

Dann schaute er hoch zu dem Monitor, auf dem Alia Taffa zu sehen war. Die hübsche Frau Anfang dreißig saß zusammen mit ihrer deutlich jüngeren Schwester Sara an einem Gate des Berliner Flughafens. Sara tippte auf ihrem Handy herum. Alia blickte Kaugummi kauend hinaus auf das Flugfeld. Ihre Louis-Vuitton-Handtasche hatte sie wie zum Schutz auf ihren Schoß vor sich gestellt. Wie man es von ihr kannte, trug sie ein modernes, aber nicht zu freizügiges Kleid und elegante, hochhackige Stiefel. Mit Sicherheit teure Marken. Die langen schwarzen Haare waren perfekt frisiert, wurden von einem Mittelscheitel geteilt und fielen zu beiden Seiten auf ihre Schultern. Dezente Ohrringe, sonst kein Schmuck. Nael hatte sich schon oft darüber amüsiert, dass sie weniger Gold am Leib trug als ihre Brüder.

»Vielleicht macht sie Urlaub«, sagte Nael lapidar.

»Mit ihm?«, fragte Xalvador.

Die Hoffnung in seiner Stimme war nicht zu überhören. Denn natürlich ging es um ihn. In der Abteilung nannten sie ihn »Der Unsichtbare«. Er war das Prestigeobjekt, die Hoffnung auf den schnellen Erfolg, um den skeptischen Politikern zu zeigen, wie sinnvoll die Überwachung eines ganzen Kontinents sein konnte. Zwei Jahre zuvor war Mohammed Taffa, das Oberhaupt des Clans, zusammen mit seinen Söhnen Amir und Devin im Gefängnis gelandet. Der älteste Sohn Hamid war bei der Verhaftung ums Leben gekommen. Doch wer gedacht hatte, dass der gefürchtete Clan nach diesem Schlag seine kriminellen Aktivitäten einstellen würde, der war mehr als enttäuscht worden. Der Clan war aufgeblüht, arbeitete seitdem professioneller und vorsichtiger denn je, expandierte über die deutschen Grenzen hinaus und hatte auch in Sachen Brutalität zugelegt. Immer öfter wurden in der Spree Leichen von konkurrierenden Bandenmitgliedern angeschwemmt. Schließlich hatte man herausgefunden, dass die älteste Tochter Alia mit einem entfernten Cousin aus dem Libanon verheiratet worden war. Der Mann war auf verschlungenen Wegen nach Berlin gekommen und hielt nun die Fäden des Clans in seinen Händen. Leider war der neue Anführer so gut wie unsichtbar. Die Behörden wussten nicht einmal seinen Namen, und sie hatten auch kein Bild von ihm. Von einem mittlerweile verstorbenen Informanten wusste man lediglich, dass der Libanese stets mit einem Tablet in der Hand unterwegs war, sehr modern arbeitete, den Clan ins 21. Jahrhundert geführt hatte. Darüber hinaus war er ein Mysterium. Ein hochkriminelles und sehr erfolgreiches Mysterium, das immer größere Teile des Kokainhandels in Berlin und darüber hinaus unter die Kontrolle des Taffa-Clans brachte. Deswegen hatte Xalvador ihn auserkoren, um zu demonstrieren, wie schnell das umstrittene WATCH so ein Problem lösen konnte. Die Suche nach dem Unsichtbaren hatte maximal drei Tage dauern und die Überlegenheit des Systems gegenüber monatelangen klassischen Recherchen zeigen sollen. Nun beobachtete man Alia aber bereits seit zwei Wochen. Darum lagen Xalvadors Nerven zunehmend blank.

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Nael auf Xalvadors Frage.

»Bei euch dürfen die Frauen so eine Reise doch nicht allein machen, oder?«

Nael spürte den Stich, der ihn schon während seiner ganzen Karriere verfolgte. Ja, er hatte arabische Wurzeln, seine Mutter stammte ebenfalls aus dem Libanon. Aber er hatte mit diesen Verbrechern nichts gemeinsam. Nichts. Die Clans kamen buchstäblich aus einer anderen Welt, sprachen nicht einmal vernünftig Arabisch und traten die Hochkultur im Land seiner Vorfahren mit Füßen. Sie waren als Angehörige der Volksgruppe der Mhallami im Libanon bereits Fremde gewesen, die unterste Schicht der Unterschicht, am Anfang des Jahrhunderts dorthin geflohen aus der Türkei, wo sie genauso wenig ihre Wurzeln hatten. Sie verhielten sich nicht nach Sitten oder Regeln, die Nael vertraut waren. Sie nutzten die Gesetze der Religion, wie es ihnen passte. Gerne, wenn sie damit die Herrschaft der Männer rechtfertigen konnten. Aber den meisten war es völlig gleichgültig, ob ihre Frauen ein Kopftuch trugen oder nach den Suren des Korans lebten. Die Taffas waren nie sonderlich religiös gewesen.

Das alles hatte Nael Xalvador und vielen anderen Polizisten längst erläutert. Und trotzdem wurden ständig Vorurteile und Klischees auf ihn abgeladen. Er lächelte geduldig und sagte nicht zum ersten Mal: »Muss nicht sein.«

Xalvador war unzufrieden mit der Antwort. Er war überhaupt unzufrieden mit Naels Passivität. Für den Spanier war es eine spannende Schnitzeljagd, den Unsichtbaren zu jagen. Für Nael war es eine ständige Konfrontation mit düsteren Erinnerungen.

»Es sind keine weiteren Araber auf dem Flug«, erklärte Xalvador und zeigte dabei auf einen der Monitore, der die Passagierliste preisgab. »Aber vielleicht trifft sie ihn in London.«

Nael zuckte mit den Schultern. Er brauchte noch einen Kaffee, sein Kopf dröhnte. Auf dem großen Monitor sah man, wie sich Alia erhob. Ihr Kiefer bearbeitete den Kaugummi wie einen Feind. Ihre Schwester blickte überrascht von ihrem Handy auf, steckte es weg und trippelte hinter Alia her zur Abfertigung, wo sich das Personal bereitmachte. Noch war der Flug nicht aufgerufen worden. Alia stellte sich trotzdem direkt vor den Schalter, ihr Ticket in der Hand. Sie wollte keine Zeit verlieren.

»Wann landet der Flug?«, fragte Nael.

»12:05 Uhr«, antwortete Camille.

Die stämmige Belgierin Ende dreißig saß an dem Kontrolltisch. In Naels Wahrnehmung war die dunkelblonde Frau, die Jeans und eine knallgelbe Bluse trug, die Pfiffigste aus Xalvadors Team. Modisch vielleicht nicht auf der Höhe, dafür aber mit einem Doktortitel in Informatik und Psychologie ausgestattet. Xalvador missbrauchte sie viel zu oft als Assistentin.

»Dann komme ich wieder.«

Mit diesen Worten verließ Nael den Überwachungsraum, auch wenn Xalvador stumm protestierte.

Für die Beobachtung von Alia war es ein Glücksfall, dass die junge Frau nach London flog. London war die Welthauptstadt der Überwachungskameras. Kaum ein öffentlicher Quadratzentimeter wurde nicht gefilmt. Das britische Innenministerium hatte sich nach den Wirren des Brexit geradezu aufgedrängt, Europol Zugriff auf so viele britische Kameras wie nur eben möglich zu geben. Jedenfalls in deutlich größerem Umfang als verhaltenere Teilnehmer an dem neuen Projekt, wie zum Beispiel Deutschland. Die Beobachtung der Clan-Tochter würde in London viel besser möglich sein als in den letzten Wochen in Berlin. Erfolglose Wochen. Alia war wahrlich nicht die einzige Person der kriminellen Welt, die beobachtet wurde. Doch Xalvador hatte ausgerechnet sie in seinen Berichten an die EU-Kommission hervorgehoben. Mit der Ansicht, dass es möglich sein würde, durch die Überwachung der Ehefrau irgendwann auch ein Bild von ihrem Mann zu bekommen. Er hatte jedoch keine Ahnung gehabt, wie getrennt die Welten von Frauen und Männern in diesem Clan waren. Besonders, wenn es sich um eine Ehe handelte, die nur zu einem bestimmten Zweck arrangiert worden war. So hatte man bei vielen Shoppingtouren ins KaDeWe, bei Spaziergängen rund um die Villa in Zehlendorf sowie bei Besuchen anderer Frauen des weitverzweigten Clans zuschauen können. Der Unsichtbare war unsichtbar geblieben.

Insofern bot London natürlich Anlass zur Hoffnung. Als Alia mittags am London City Airport das Flugzeug über eine Außentreppe verließ, saß Nael mit seiner vierten Tasse Kaffee des Tages brav auf einem der bequemen Stühle von WATCH und starrte mit Xalvador und zwei Mitarbeitern seines Teams auf den großen Monitor.

Den Vormittag über war Nael seiner üblichen Arbeit nachgegangen, die er so sehr schätzte. Anders als beim LKA in Berlin bestand sie hier vor allem aus Kommunikation. Nael gehörte zu den deutschen Liaison Officers, die die ersten Ansprechpartner waren, wenn innerhalb von Europa bei länderübergreifenden Ermittlungen Deutschland eine Rolle spielte. Sein aktueller Fall: Eine Bande von rumänischen Geldautomatendieben, die im Rheinland, in Belgien und Frankreich ihr Unwesen trieben, hatte Ermittler aus vier Ländern via Europol zusammengebracht. Man tauschte Daten aus, erarbeitete Strategien, schickte auch mal einen Experten nach Rumänien, wo man über die Unterstützung froh war. Die analytische Arbeit mit dem Blick von oben, das gefiel Nael. Das große Ganze. Er war nie ein klassischer Bulle gewesen, ein Draufgänger, der die nächtlichen Rufe zu Tatorten herbeisehnte. Er war froh, dass er in Den Haag keine Waffe tragen durfte und auch nicht tragen musste, weil die Kriminellen woanders festgenommen wurden. Überführt durch Kombinationsgabe, durch den Blick auf die Informationen aus den unterschiedlichen Ländern, durch Kommunikation mit den »Bullen« von der Front. So stellte er sich die Polizeiarbeit der Zukunft vor. Nicht mehr mit der Waffe unter dem Jackett durch die Straßen von Neukölln fahren, vergeblich Wohnungen im Schutz des SEK durchsuchen, stundenlang in verqualmten Cafés auf mögliche Zeugen warten, die dann doch nicht kamen oder »vergessen« hatten, was sie sagen wollten. Hier in Den Haag sezierten sie das Verbrechen aus der Ferne.

Wäre es nicht wieder um den verhassten Clan gegangen, dann wäre das WATCH-Programm genau nach Naels Geschmack gewesen. Mit dem Kaffee in der Hand schaute er zu, wie Alia und Sara durch die Flure des kleinsten Londoner Flughafens eilten. Das Bild sprang automatisch von einer Überwachungskamera zur nächsten. Es waren überwiegend weite Kameraeinstellungen, aber man konnte problemlos Details heranzoomen, die dann etwas gröbere Pixel hatten, aber immer noch gut erkennbar waren. Egal, wie klein die modernen Kameras waren: Die Qualität war erstaunlich gut, die Zeiten schemenhafter Schwarz-Weiß-Bilder lange vorüber. Die Frauen gingen an der Passkontrolle vorbei, welche die gescannten Ausweise live auf einen der Monitore bei Europol spielte. Dann zur Gepäckabholung. Die Zuschauer in Den Haag wussten bereits vor den Frauen, wann ihr Gepäck kam, denn es war auf dem Bildschirm mit einem entsprechenden Marker versehen. Die Scans vom Inhalt hatten sie auch schon analysiert. Frauenkleidung, deutlich mehr von Alia als von Sara. Schließlich kamen die beiden zum Ausgang. Xalvador setzte sich aufrecht hin, als ein junger Mann im smarten Trenchcoat über Jeans und edlen Schuhen ihnen zuwinkte und die beiden Frauen auf ihn zusteuerten. Er war nicht älter als dreißig, trug einen gepflegten Bart und sah auffallend gut aus.

»Wer ist das? Kennen wir den? Kann er das sein?«

Nael ergänzte im Kopf jede von Xalvadors Fragen mit drei Fragezeichen. Er ließ ihm für ein paar Sekunden seine Hoffnung, sagte dann aber mit ruhiger Stimme: »Adem El-Amin, der älteste Sohn von Mohammed Taffas Schwester.«

Xalvador seufzte und beruhigte sich wieder. Dabei fand Nael diese Begegnung gar nicht uninteressant. Er kannte Adem. Er hatte ihn einmal nach einem Raubüberfall auf eine Spielothek in Neukölln verhaftet, als Adem noch ein Teenager gewesen war. Doch Nael hatte ihn schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Zuletzt hatte es geheißen, dass Adem sein Abitur nachholte und studieren wollte. Dass er sich von der Kriminalität abgewandt hatte. Damit wäre er eine echte Rarität in dieser Familie gewesen. All das erklärte Nael jetzt, weil Xalvador sich wunderte, warum man in Den Haag diesen Zweig des Clans bisher noch nicht kannte.

Derweil führte Adem seine Cousinen zu einem Mercedes-SUV, der vor dem Flughafen im Halteverbot stand. Ein Leihwagen, wie Camille schnell herausfand. In Adems Namen angemietet. Als der Wagen sich auf den Weg in die Innenstadt machte, blieb den Polizisten die Beobachtung jedoch nicht versagt. Anders als in Berlin, wenn Alia dort in ein Auto stieg. Dann war man auf die wenigen mobilen Überwachungseinheiten angewiesen. Und auf etwas Glück, dass Alia irgendwann wieder an einem Ort auftauchte, an dem eine Kamera sie erfassen konnte. Nicht so in London mit seinen zahllosen Verkehrskameras. Hier stellte sich das System bei der Beobachtung auf das Fahrzeug um, und fortan konnten sie wie in einem Spielfilm den genauen Weg des grauen SUV verfolgen. Parallel dazu hatte Camille den Londoner Stadtplan aufgerufen, über den sich eine kleine rote Markierung schob. Ohne dass das Auto selbst einen Sender trug. Es waren ausschließlich die Kameras, die das alles ermöglichten.

Die technische Seite von WATCH nötigte Nael einmal mehr Respekt ab. Wie genau das System funktionierte, hatte er nicht verstanden. Die »Erklärung für Dummies« des Trainers von der Softwarefirma hatte ihm gereicht. Enorme Server sammelten im Keller des Hauses live die Daten von Millionen Überwachungskameras der teilnehmenden Staaten. Manchmal nur eine begrenzte Auswahl der nationalen Polizei – Bahnhöfe, Flughäfen, staatliche Gebäude. Manchmal, wie im Fall von Großbritannien, weit mehr. Einige europäische Banken, Kaufhäuser, Einzelhändler und Hotelgruppen hatten sich freiwillig angeschlossen. Das Netz war lückenhaft, aber es gab bereits eine erstaunlich große Abdeckung. Noch erstaunlicher war die Arbeit der Software. Eine künstliche Intelligenz, die Gesichter mit einer Treffergenauigkeit von über 99,99 Prozent auch trotz Sonnenbrillen, Frisurenwechsel oder seitlicher Perspektive in Echtzeit finden und den Mitarbeitern melden konnte. Oder aber – wie an diesem Tag – kontinuierlich verfolgte. Dafür brauchte man eine oder besser mehrere gute Originalaufnahmen der Zielperson, anhand derer das System zahllose Vermessungen im Gesicht vornahm. Position und Proportionen von Augen, Nase, Mund und so weiter. Mittels komplexer Berechnungen und maschinellen Lernens konnte das System diese Maße auf alle Entfernungen und Blickwinkel übertragen. War das Profil eines Menschen einmal im System hinterlegt, konnte dieser sich kaum noch unbeachtet in der Öffentlichkeit bewegen.

Als der SUV