Wir sehen dich sterben - Michael Meisheit - E-Book
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Michael Meisheit

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Beschreibung

Berlin: An einem Dezembersonntag soll MyView der Weltöffentlichkeit präsentiert werden. Bei dem geheimen Projekt wurde eine bahnbrechende Technologie entwickelt: Mithilfe eines Chips im Sehnerv kann das Blickfeld eines Menschen live auf einen Bildschirm übertragen werden. Einen Tag vor der Präsentation entdeckt die junge Wissenschaftlerin Nina Kreutzer Videostreams, die durch die Augen von sechs ihr unbekannten Menschen blicken lassen. Menschen, die offensichtlich nicht wissen, dass ihnen ein Chip implantiert wurde – und die jetzt einer nach dem anderen ermordet werden. Zusammen mit dem Polizisten Tim Börde beginnt für Nina ein Wettlauf gegen die Zeit …

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Das Buch

Berlin: An einem Dezembersonntag soll MyView der Weltöffentlichkeit präsentiert werden. Bei dem geheimen Projekt wurde eine bahnbrechende Technologie entwickelt: Mithilfe eines Chips im Sehnerv kann das Blickfeld eines Menschen live auf einen Bildschirm übertragen werden. Einen Tag vor der Präsentation entdeckt die junge Wissenschaftlerin Nina Kreutzer Videostreams, die durch die Augen von sechs ihr unbekannten Menschen blicken lassen. Menschen, die offensichtlich nicht wissen, dass ihnen ein Chip implantiert wurde – und die jetzt einer nach dem anderen ermordet werden. Zusammen mit dem Polizisten Tim Börde beginnt für Nina ein Wettlauf gegen die Zeit …

Der Autor

Michael Meisheit, 1972 in Köln geboren, studierte an der Filmakademie Baden-Württemberg Drehbuch und ist seit über zwanzig Jahren im deutschen Fernsehgeschäft aktiv. Heute lebt Meisheit mit seiner Familie in Berlin-Kreuzberg, gegenüber von Polizeiabschnitt 52 und in Fußentfernung vom Tempelhofer Flughafen – also mitten in seiner Geschichte.

MICHAEL MEISHEIT

WIR SEHEN DICH STERBEN

THRILLER

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Vollständige deutsche Erstausgabe 11 / 2019Copyright © 2019 by Michael MeisheitCopyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Lars ZwickiesUmschlaggestaltung: © Steigenberger Werbeagentur, steigenberger.li, unter Verwendung eines Fotos von © Rekha Garton, Arcangel ImagesSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN: 978-3-641-24448-4V002www.heyne.de

PROLOG

In der Ferne sah er es schon: das moderne Wohnhaus, das die anderen Bauten in der Straße um ein Geschoss überragte. Entsprechend kostspielig waren die Dachgeschosswohnungen, von deren Terrassen aus man den Reichstag sehen konnte. Die Dachterrasse von Liz geriet in sein Blickfeld. Er zog das Tempo noch einmal an. Die Straßen von Mitte waren wie jeden Freitagnachmittag verstopft, weswegen er sich fürs Laufen entschieden hatte. Er war ein guter Läufer. Das regelmäßige Joggen am Morgen zahlte sich aus. Für die Strecke vom Gendarmenmarkt bis zur Spree hatte er keine fünf Minuten gebraucht. Als er die Straße überquerte, um zur Ebertbrücke zu gelangen, hörte er hinter sich Reifen quietschen. Hupen. Er drehte sich nicht einmal um. Genauso wenig, wie er dem Mann aufgeholfen hatte, den er an der Ecke von Unter den Linden umgerannt hatte. Er lief einfach immer weiter. Denn Liz ging nicht an ihr Handy. Bei einer Frau, die mit diesem Gerät verwachsen war, hieß das nichts Gutes.

Der Läufer wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er trug seine gefütterte Winterjacke, die ihm bei den eisigen Temperaturen gute Dienste erwies, aber nicht für einen Sprint ausgelegt war. Doch er hatte keine Zeit, sie zu öffnen oder sich ihrer zu entledigen. Er kam nicht einmal auf die Idee. Er dachte nur daran, was der General gesagt hatte. Dass man »alle Spuren verwischen« musste. Und Liz war eine Spur. Wie hatte er nur so naiv sein können? Wenn man sich mit Söldnern einließ, dann würden sie früher oder später auch das tun, was sie am besten konnten: töten. Der General hatte es nicht explizit ausgesprochen, aber der Läufer war trotzdem losgerannt, sobald er die Wohnung verlassen hatte. Er hatte die Waffen darin gesehen. Den Sprengstoff. Die ganze Sache drohte aus dem Ruder zu laufen. Und zwar so richtig.

Er sprintete die Tucholskystraße hoch, bog um die nächste Ecke. Der gläserne Eingang des Neubaus war nun zu sehen. Was hatte Liz sich gefreut, als sie die Wohnung hatte kaufen können. Im Herzen ihrer Lieblingsstadt, mit Ausblick, Pool im Haus und einer coolen Eingangshalle. Wochen zuvor war dies bei ihrem Assistentinnengehalt noch undenkbar gewesen. Aber dann hatte sie sich als Freiwillige gemeldet, und damit waren alle finanziellen Probleme für immer gelöst. Der Läufer hatte ihr dazu geraten. Er kannte das warme Gefühl der finanziellen Sicherheit und wollte, dass diese wunderschöne Frau es auch genießen konnte. Dass sie zu dem exklusiven Club der Reichen gehörte, die sich um nichts sorgen mussten. Jetzt verfluchte er seinen Rat. Jetzt hatten sie Sorgen. Sie alle. Seinetwegen.

Seine Lunge brannte von der hastig eingeatmeten kalten Luft. Er spürte jeden Muskel in seinen Beinen. Doch gleich war er am Ziel. Wobei: Er wusste nicht einmal, ob Liz zu Hause war. Mittags war sie es noch gewesen, wie er auf ihrem Stream hatte sehen können. Aber nach dem Treffen mit dem General hatte er keine Zeit gehabt, wieder zur Firma zurückzukehren. Nicht zum ersten Mal fluchte er, weil es außerhalb des Inner Circles keine Möglichkeit gab, die Streams anzuschauen.

Wie ein Staffelläufer warf er sich die letzten Meter nach vorne und streckte die Hand nach der Klingel im sechsten Obergeschoss aus. Er knallte mit dem Knie gegen die Wand, während er wie wild auf den Knopf drückte. Mit der anderen Hand rüttelte er an der Haustür, die natürlich verschlossen war. Durch die Glasfront konnte er in die große Eingangshalle mit den Briefkästen und den bodentiefen Spiegeln schauen. Am anderen Ende der Halle befand sich der Aufzug, mit dem man direkt in Liz’ Wohnung gelangte. Neben dem Aufzug gab es eine Glastür zum Treppenhaus. Dort wischte der Hausmeister gerade mit einem Mopp den Boden. Der Mann stand mit dem Rücken zur Tür, also konnte er den Läufer nicht sehen. Offensichtlich hörte er auch nicht das Trommeln gegen die Glasscheibe. Er zog einen großen Müllsack auf einem Gestell mit Rollen hinter sich her und verschwand. Der Läufer wollte gerade wahllos auf die Klingeln der anderen Hausbewohner drücken, als er eine weitere Tür im Eingangsbereich entdeckte. Die Tür mit der Aufschrift »Pool«. Genauso hätte dort »Hoffnung« stehen können. Natürlich, es gab eine ganz harmlose Erklärung dafür, dass Liz nicht ans Telefon ging: Sie schwamm. Nichts liebte sie mehr. Das musste es sein!

Er rannte los. Einmal um das ganze Gebäude. Seine Beine nahmen es ihm übel. Doch es war nicht weit. Schon bald tauchte der Gehweg unten an der Spree auf. Er raste die Treppe hinunter und nutzte den Schwung, um an der Hauswand hinauf zu dem schmalen Vorsprung vor der großen Fensterfront des Pools zu gelangen. Von unten konnte man nicht in das Schwimmbad hineinblicken. Nicht nur, weil der Weg tiefer lag, sondern auch, weil die Scheibe von außen verspiegelt war. Die Reichen und Schönen wollten unbeobachtet ihre Körper enthüllen. Der Läufer konnte das Sims mit seinen verschwitzten Händen packen. Er zog sich mit aller Kraft daran hoch, stieß sich diesmal das andere Knie am Mauerwerk, aber schaffte es dennoch, sein Bein auf den Vorsprung zu heben. Danach war es nicht mehr schwer. Er sprang auf und ging ganz nah an die Scheibe. Mit den Händen neben den Augen blockte er das Tageslicht ab, um drinnen etwas erkennen zu können.

Da war sie. Liz. Sie zog im klaren Wasser alleine ihre Bahnen, hatte alles um sich herum vergessen. Der Läufer bekam zum ersten Mal wieder Luft. Mit der Erleichterung kamen auch die Schmerzen. In der Lunge, in den Hüften, den Knien, an den Füßen. Aber das war ihm alles egal. Liz lebte. Er war nicht zu spät gekommen. Für ein paar Sekunden genoss der Läufer das gleichmäßige Auf und Ab von Liz’ Po im Wasser. Dann wendete sie am Ende der zwanzig Meter langen Bahn. Sie schwamm nun auf ihn zu, die blonden Haare zu einem Zopf gebunden, eine silberne Schwimmbrille vor ihren strahlend blauen Augen. Der Läufer hämmerte mit der Faust gegen die Scheibe, winkte wie wild. Als sie fast am Ende der Bahn war, blickte Liz auf, entdeckte ihn und stoppte. Sie blieb im Wasser stehen, das ihr genau bis zu den Brüsten reichte. Ihre Stirn legte sich in Falten, ihre Handbewegung simulierte einen Scheibenwischer.

»Bist du bescheuert?«, konnte er von ihren Lippen ablesen.

»Du bist in Gefahr!«, schrie er.

Sie verzog das Gesicht, zeigte auf ihre Ohren. Sie konnte ihn nicht hören. Die Fenster hielten nicht nur den Winter draußen, sondern auch jeglichen Schall. Er winkte Liz zu sich. Sie schüttelte ungläubig den Kopf und watete mit sichtbarem Missmut durch das Wasser in seine Richtung. Dem Läufer wurde schmerzhaft bewusst, wie sehr er es in der letzten Zeit übertrieben hatte mit seinen Versuchen, Liz zu einem Date zu überreden. Da sie nicht ahnte, in welcher Gefahr sie schwebte, konnte sein bizarrer Auftritt von ihr nur als weitere Anmache gedeutet werden. Als Versuch, sie einmal mehr in dem knapp geschnittenen Badeanzug zu sehen, der ihn schon einmal zu nicht angebrachten Komplimenten getrieben hatte. Entsprechend bemühte er sich, den Blick nicht nach unten wandern zu lassen, als Liz aus dem Wasser stieg und sich die Schwimmbrille vom Gesicht zog. Einen Meter von der Scheibe entfernt blieb sie stehen und blickte ihn fragend an.

»Du bist in Gefahr!«, schrie er noch einmal und artikulierte dabei so deutlich, wie es nur ging: »Gefahr!«

Sie zuckte gequält mit den Schultern. Entweder verstand sie ihn nicht, oder sie verstand ihn sehr gut, aber glaubte ihm nicht. Angestrengt zeigte sie zum Ausgang und zeigte dann mit ihrer Hand eine Fünf. Er sollte zur Haustür kommen. Sie würde in fünf Minuten dort sein. Ohne seine Reaktion abzuwarten, wandte sie sich ab und ging am Pool entlang zu den Duschen. Der Läufer wollte sie nicht gehen lassen, noch einmal an die Scheibe hämmern, die Ernsthaftigkeit der Situation betonen, doch durch zehn Zentimeter Glas konnte er unmöglich erklären, was passiert war, und vor allem, was ihr drohte. Er blickte Liz hinterher, sah ihren Po, wie er um die Ecke in Richtung der Duschen verschwand. Er wollte gerade wieder nach unten klettern, als er noch einmal Bewegung hinter der verspiegelten Scheibe wahrnahm. War Liz ausgerutscht? Er stand bereits einige Zentimeter entfernt von dem Fenster, es konnte auch eine Reflexion gewesen sein, aber für einen Moment hatte er geglaubt, Liz auf die Fliesen fallen zu sehen. Er presste das Gesicht wieder an die Scheibe. Doch es war nichts zu erkennen. Das Schwimmbad war leer. Hatte er sich das eingebildet? Aus Erschöpfung? Aus Angst? Er schaute genauer hin. Was war das auf den weißen Fliesen am Ausgang? Eine Rille? Ein Schatten? Blut? Es war zu weit weg, die Sicht zu schlecht.

Mit einem unguten Gefühl setzte sich der Läufer wieder in Bewegung. Er kletterte von dem Vorsprung, lief die Treppe hoch, die Straße entlang, um die Ecke, zur Haustür. Er versuchte, ruhig zu bleiben. Alles war gut. Doch als er am Eingang ankam, war die Angst längst wieder da. Er wollte nicht warten, nicht einmal fünf Minuten. Schnell drückte er auf fast alle Klingeln des Hauses. Irgendjemand meldete sich über die Gegensprechanlage.

»DHL, ein Paket für Sie«, murmelte er.

Der Summer. Er drückte die Tür auf. Während weitere Stimmen aus der Gegensprechanlage erklangen, betrat er die Eingangshalle. Wärme schlug ihm entgegen. Er hatte nie aufgehört zu schwitzen, ignorierte es auch jetzt. Mit schnellen Schritten ging er zu der Tür mit der Aufschrift »Pool«. Er riss sie auf und eilte den Gang entlang, in dem es nach Chlor roch und noch einmal ein paar Grad wärmer war als in der Eingangshalle. Als er um die nächste Ecke bog, sah er die große Doppeltür mit Glasfenstern, die in den Poolbereich führte. Hinten an der Decke konnte er die Lichtreflexionen des Wassers ausmachen. Doch seine Aufmerksamkeit wurde von dem Hausmeister angezogen, der im Eingangsbereich des Schwimmbads angekommen war und dort den Boden wischte. Der Läufer drückte die Tür auf, der Mann blickte zu ihm, nickte und wischte dann weiter mit seinem Mopp den Boden. Er hatte sich Plastikschoner über die Schuhe gezogen und ging gewissenhaft seiner Arbeit nach. Neben ihm stand das Müllsackgestell auf Rollen, an dem auch ein Putzeimer befestigt war. Außer dem Mann war niemand zu sehen. Der Läufer blickte den Gang zu den Duschen und Umkleiden der Damen entlang.

»Ist da eben eine junge Frau reingegangen?«, fragte er.

»Bin gerade erst gekommen«, antwortete der Hausmeister freundlich. »Hab niemanden gesehen.«

Er lächelte verbindlich und wischte weiter. Der Läufer atmete tief durch. Wenn irgendetwas passiert war, hätte der Hausmeister das bestimmt mitbekommen. Liz war in Ordnung. Sie duschte oder zog sich um. Sie würde gleich bei ihm sein. Er würde sie in Sicherheit bringen.

»Liz«, rief der Läufer trotzdem in Richtung Duschen.

Es kam keine Antwort. Doch er konnte nicht einfach in die Damendusche platzen. Das würde Liz’ Vertrauen in ihn nicht gerade steigern. Sie musste ihm bei dem, was er ihr zu beichten hatte, vertrauen. Er spürte, wie der Schweiß ihm aus allen Poren floss.

»Ich warte draußen«, sagte er zum Hausmeister.

Der nickte kurz und arbeitete weiter. Er drückte den Wischmopp in seinem Eimer aus. Obwohl der Läufer gehen wollte, blieb sein Blick an dem Putzwasser hängen. Es war sehr, sehr dunkel. Dabei waren die Fliesen überhaupt nicht schmutzig. War das Wasser nicht sogar rot? War da nicht auch ein roter Spritzer an der grauen Hose des Hausmeisters? Der Blick des Läufers fiel auf den schwarzen Sack in dem Gestell. Er hatte ihn bisher nicht wahrgenommen, doch jetzt sprang ihm regelrecht ins Auge, wie voll der Sack war, wie sehr der Inhalt das Ding nach unten zog. Etwas Großes, Schweres musste sich darin befinden. Etwas das … das ein Gesicht hatte. Dem Läufer blieb die Luft weg, als er die Umrisse einer Nase, eines Mundes und eines Paares Augenhöhlen in dem Plastik ausmachte. Er riss den Kopf hoch und sah, dass der Hausmeister ihn direkt anschaute.

»Wollten Sie nicht gehen?«, fragte er höflich.

Der Läufer ging nicht. Er rannte. Er rannte um sein Leben.

1

Berlin-Mitte

Samstag, 10:00 Uhr

Franziska traute ihren Augen nicht. Jemand war an ihrem Computer gewesen. Sie sah es am »N«. Die Taste war schon seit Tagen locker. Weil Franziska bisher keine Zeit gehabt hatte, sich eine neue Tastatur zu besorgen, hatte sie sich beim Schreiben einen sanften Druck auf das N angewöhnt. Jetzt aber war es abgebrochen. Die Taste lag lose an ihrem Platz auf der Tastatur. Jemand musste sie mit hartem Anschlag überstrapaziert haben – jemand mit höherer Zugangsberechtigung als sie. Denn als Franziska das Einloggprotokoll aufrief, entdeckte sie eine Kennung, die auf den Inner Circle der Firma hinwies. Nur eine Handvoll Leute konnte diese Kennung verwenden. Drehten denn jetzt alle durch?

Franziska ließ ihren Blick durch das Großraumbüro wandern, das sie von ihrem Eckplatz aus gut überblicken konnte. Die noch tief stehende Sonne schien durch die Fensterfront auf eine Armada modernster Computer. In dem aufwendig sanierten Altbau hatte man für die IT-Experten eine besonders schöne Etage eingerichtet: hohe Decken, Sitzecken zum Entspannen, Espressomaschinen so weit das Auge reichte, sogar den obligatorischen Tischkicker gab es. Überall klackerten die Tastaturen, Kaffeegeruch durchzog den Raum. Die gesamte IT-Abteilung war auf den Beinen, und das, obwohl es Samstagmorgen war. Auch im Innenhof des komplett von GEM belegten Gebäudes herrschte geschäftiges Treiben. Eine Bühne wurde aufgebaut, eine Dachplane gegen das launige Dezemberwetter installiert, Monitore in jeder Ecke aufgestellt. Morgen Abend würde dort die große Präsentation stattfinden, die seit Wochen alle nervös machte. Nervöser, als es sonst bei der Vorstellung neuer Software der Fall war. Aber ging deswegen einer der Chefs so weit, dass er sich nachts an Franziskas Computer schlich?

Auch wenn sie eigentlich tausend andere Dinge zu tun hatte, durchforstete sie das gesamte System, um herauszufinden, was der unbekannte Eindringling gemacht hatte. Auf den ersten Blick konnte sie nichts finden, aber irgendwann blieb sie am Volumen der gestreamten Daten hängen. Es war deutlich höher als in der letzten Zeit, dabei waren die Streams für die Präsentation noch gar nicht gestartet. Tatsächlich: Als sie sich tiefer ins System vorgearbeitet hatte, entdeckte Franziska gleich acht neue hochauflösende Videostreams, die permanent mit Daten gefüttert wurden. Aus dem Inner Circle heraus. Aus dem Bereich der Firma, den sie seit drei Jahren nicht mehr betreten durfte – weder räumlich noch virtuell. An die Quelle der Daten würde Franziska nicht herankommen, aber auch wenn die Streams gut versteckt waren, so musste sie doch das Ziel finden können. Schließlich war sie die technische Verantwortliche für die Videostreams von GEM. Wenige Minuten später hatte sie acht fast identische Internetadressen gefunden, auf denen die Streams zu sehen waren. Externe Adressen mit dem Namen foryoureyesonly.de und einer komplizierten Buchstabenfolge. Passwortgeschützt.

Eigentlich hätte Franziska an dieser Stelle ihre Suche einstellen können. Jemand aus der Führungsetage hatte Streams installiert, die sie nicht sehen sollte. Das war bei der strengen Geheimhaltung, die GEM seit einiger Zeit betrieb, nicht einmal verwunderlich. Weiterzuforschen konnte ihr Ärger einbringen. Aber Franziska war nach wie vor empört, dass jemand an ihrem Arbeitsplatz gewesen war. Sie ahnte sogar, wer, schließlich hatte ihre Affäre mit ihm Franziska den Zugang zum Inner Circle gekostet. Christoph Becker war der Head of Research bei GEM. Sie hatte schon mit ihm an der Humboldt-Universität zusammengearbeitet, bevor der Internetmogul Ruby sie alle zu GEM geholt hatte. Der Milliardär war für dieses Projekt aus seiner Wahlheimat Amerika nach Berlin zurückgekehrt. Ruby – der eigentlich Philipp Rubinski hieß – hatte die Affäre seines plötzlich wichtigsten Mannes mit einer untergeordneten IT-Expertin als lästig empfunden. Franziska war sicher, dass er Christoph zur Beendigung der Affäre gedrängt hatte. Daraufhin war Franziska aus dem ultramodernen Untergeschoss mit den Forschungseinrichtungen in die IT-Abteilung versetzt worden. Von ihrem neuen Arbeitsplatz aus hatte sie zwar einen wunderschönen Blick auf den Gendarmenmarkt, aber trotzdem hatte es sie geschmerzt, das alte Projekt nicht weiterverfolgen zu dürfen. Kein Tag verging, an dem sie nicht darüber nachdachte, GEM zu verlassen. Eigentlich hatte sie zu ihrem kürzlich gefeierten dreißigsten Geburtstag woanders durchstarten wollen, aber niemand zahlte so gut wie Ruby. Mit der Überzeugung, dass ihr mehr Wissen über das Geschehen im Inner Circle zustand, setzte Franziska ein Brute-Force-Programm auf die Passwortsuche an. Mit roher Gewalt wurden nun alle erdenklichen Passwörter durchprobiert. Die Innenseiten ihrer Hände wurden feucht, während sie auf den Monitor starrte und auf das Ergebnis wartete.

»Schicke Bluse.«

Franziska zuckte zusammen. Sie hatte Martin nicht kommen hören. Der junge IT-Mann mit der Nickelbrille stand linkisch vor ihrem Schreibtisch und missbrauchte die gelobte Bluse, um einen Blick auf Franziskas Brüste werfen zu können. Franziska seufzte innerlich. Sie hasste diese Nerds. Gut, sie war letztlich selbst einer von ihnen. Aber einer mit überdurchschnittlich großer Oberweite, weswegen sie in jeder IT-Abteilung für Unruhe sorgte. Sie wusste, dass sie mit ihren störrischen dunkelblonden Haaren und dem Mondgesicht keine auffallende Schönheit war. Umso mehr ärgerte es sie, wenn die Männer nur ihr Dekolleté beachteten. In früheren Jahren hatte sie sogar versucht, ihren Körper so gut es ging zu verhüllen. Weite Tops, Halstücher. Aber aus dem Alter war sie heraus. Nicht sie hatte das Problem, sondern die Kerle. Wenigstens brachte es nun einen Vorteil: Martin nahm nicht wahr, was auf Franziskas Bildschirm geschah. Sie wechselte mit einem Klick auf ein anderes Fenster und fixierte Martin genervt.

»Hast du nichts zu tun?«, zischte sie.

»Doch, doch.«

Er seufzte, bewegte sich aber nicht von der Stelle.

»Das Neueste gehört?«, sagte er stattdessen. »Irgendwelche Islamisten haben schon mal vorsorglich wegen morgen protestiert.«

Das war Franziska tatsächlich neu. Die Spekulationen darüber, was bei der Präsentation von GEM am nächsten Tag der Weltöffentlichkeit gezeigt werden könnte, nahmen absurde Züge an. Offiziell sollte eine neue Version des Bildbearbeitungsprogrammes Vision vorgestellt werden. Das Programm, mit dem Ruby zum Milliardär geworden war und mit dem er seit den Neunzigerjahren den Markt beherrschte. Aber Ruby und seine Firma GEM hatten längst weitere Geschäftsfelder erschlossen. Von Social-Media-Netzwerken bis hin zu Weltraumflügen war alles dabei. Vor einigen Jahren hatte er versucht, von Dubai aus ein Online-Netzwerk für muslimische Frauen aufzubauen, um sie aus ihrer Isolation zu holen. Das Projekt war am Widerstand in den arabischen Ländern, aber auch am Desinteresse der Frauen gescheitert. Es hatte sich allerdings mittlerweile herumgesprochen, dass es bei der Präsentation am nächsten Tag ein »One last thing« geben würde – wie es Apple gerne zelebrierte. Eine Überraschung zum Schluss, die angeblich alles Bisherige in den Schatten stellen sollte. Einige Gerüchte besagten, dass es die Neuauflage des Frauennetzwerkes sein würde. Solch ein politisch heikler Vorstoß würde natürlich die Geheimhaltung erklären, die es in der letzten Zeit gegeben hatte. Aber Franziska glaubte nicht daran. Dafür war Christoph zu aufgeregt gewesen, als Franziska ihn das letzte Mal bei einer internen Besprechung gesehen hatte. Mit dem Frauennetzwerk hatte er nichts zu tun, seine Expertise lag woanders. Sie hatte natürlich einen Verdacht, und wenn Martin sie endlich allein ließe, könnte sie den vielleicht bestätigen, wie ein Blick auf ihren Bildschirm offenbarte: Eine Leiste blinkte. Das Brute-Force-Programm hatte ein Passwort gefunden.

»Okay«, sagte sie zu Martin. »Sonst noch was?«

»Mann, hast du mal wieder ‘ne Laune.«

Er seufzte erneut und ging mit einem letzten Blick auf ihre schicke Bluse davon. Sie wartete, bis er außer Sichtweite war, dann klickte sie auf das Fenster mit den Streams. Sie hatte acht Unterfenster geöffnet, die offensichtlich alle mit demselben Passwort geschützt gewesen waren. Bis auf zwei, die schwarz waren, zeigten alle Streams bewegte Bilder. Franziska lief ein Schauer über den Rücken. Gänsehaut. Mit offenem Mund starrte sie auf die Streams: ein Einkaufsregal in einem Supermarkt; eine herrliche Berglandschaft; ein Taxi, das an einer Tankstelle betankt wurde; ein Mann beim Frühstück; der Blick aus einem Dachgeschossfenster auf eine Großstadt; ein Fernseher, auf dem eine Kinderserie lief. Natürlich waren die Bilder für sich genommen nichts Besonderes. Die Perspektiven dagegen schon. Jeder Stream zeigte die persönliche Sicht eines Menschen auf sein Leben. Es war, als ob Franziska durch die Augen dieser Leute blickte. Nein, Franziska wusste es besser: nicht als ob. Sie schaute durch deren Augen.

Christoph und Ruby hatten es also tatsächlich geschafft. Franziska war sich nun sicher: MyView war die Sensation, die am nächsten Tag der Welt präsentiert werden sollte. Eine Mischung aus Aufregung, Stolz und Enttäuschung machte sich in der Informatikerin breit. Sie war schon bei den Vorgängerprojekten und dem Anfang von MyView dabei gewesen. Sie hatte bei den Grundlagen für diese bahnbrechende Erfindung geholfen und die Basis für die Streams geschaffen, mit denen Bilder aus den Sehnerven der Probanden übertragen werden konnten. Aber sie hatte nicht miterleben dürfen, wie es die Mannschaft um Christoph letztlich geschafft hatte. Trotzdem glühten ihre Wangen, während sie die Streams betrachtete. Die Bildqualität variierte stark. Während die ersten Streams schwarz-weiß waren und eher wie die Grafik eines frühen Gameboys wirkten, nahmen die Pixelaussetzer stetig ab. Bei den letzten drei Streams kamen Farben hinzu, die zunächst noch teilweise falsch wiedergegeben wurden. Das Logo der Aral-Tankstelle wirkte eher türkis als blau. Der letzte Stream allerdings war gestochen scharf und farblich korrekt – wie bei einem Spielfilm. Offensichtlich sah Franziska eine Evolution der Chips, die die Sehnerven auslasen. Als die Person an der Tankstelle kurz auf ihr Handy schaute, sah sie Datum und Uhrzeit. Ihr entfuhr ein »Wow«. Die Streams liefen in Echtzeit. Franziska wurde Zeuge eines neuen Kapitels der Menschheitsgeschichte.

Fasziniert betrachtete sie ein Leben nach dem anderen. Beim vorletzten Stream blieb sie hängen. Das Bild war beim Blick aus dem Fenster unscharf geworden – dabei war es ansonsten ein sehr guter Stream in Farbe und ohne viele Aussetzer. Erst als eine Hand durch das Bild wischte, verstand Franziska, dass die Person weinte. Sie blickte durch die eigenen Tränen unbestimmt in die Ferne – hinweg über die dampfenden Kamine der Altbauten um sie herum. Nun verließ sie das Fenster und ging in ein liebevoll eingerichtetes Badezimmer mit einer freistehenden Wanne unter der Dachschräge. Bei einem kurzen Blick in den alten Messingspiegel sah man, dass es eine kleine, schlanke Frau um die vierzig war, die noch ihren Seidenpyjama trug. Im nächsten Moment allerdings nicht mehr, denn sie zog die Hose herunter und setzte sich auf die Toilette. Franziska konnte mit der Frau einen Blick in ihren Intimbereich werfen und sah Dinge, die sie ganz sicher nicht sehen sollte.

Im Großraumbüro von GEM passierte eine Kollegin Franziskas Arbeitsplatz. Franziska klickte den Stream schnell weg. Ihr war es unangenehm, dass sie diese intimen Momente beobachten konnte. Erst die Tränen, dann auch noch die Situation auf der Toilette. Daran musste man vor der Markteinführung noch arbeiten. Niemand wollte, dass diese Bereiche des eigenen Lebens zu sehen waren. Bei dem Gedanken durchzuckte es Franziska. Die Frau hatte sich so unbefangen benommen, es war schwer vorstellbar, dass sie wusste, dass jemand zuschaute. War ihr vielleicht gar nicht klar, dass sie einen Chip in ihren Sehnerv eingepflanzt bekommen hatte? Franziska scannte die weiteren Streams nach Hinweisen. Dabei fiel ihr der letzte auf. Dort war jetzt kein Fernseher mehr zu sehen, sondern ein Gebilde aus Lego, das eine zarte Hand geschickt mit weiteren Steinen ergänzte. Sie gehörte einem Kind, das kaum älter als zehn Jahre sein konnte. Niemals hätten Ruby und Christoph die Genehmigung bekommen, für einen Test ein Kind zu operieren. Da es die Bilder aber gab, konnte es nur eins bedeuten: Die Operationen waren ohne Wissen der Probanden erfolgt. Noch einmal »Wow«. Hatte Franziska ein Problem damit? Nein. Sie wusste, dass Christoph ein verantwortungsvoller Forscher war und sicher sehr gut alles abgewogen hatte, bevor er sich zu diesem Schritt entschloss. Die Operationen mussten ungefährlich gewesen sein. Und sie waren es wert gewesen. Während sie auf die verbliebenen Streams schaute, kam ihr ein anderer Gedanke: Vielleicht würde ihr diese Entdeckung einen Weg zurück in den Inner Circle eröffnen. Schließlich hatte Christoph ihren Computer benutzt. Er kannte sie. Er musste wissen, dass sie die Streams entdecken würde. Der Passwortschutz war nicht besonders stark gewesen, die Spuren nicht verwischt. Vielleicht wollte er, dass sie es wusste?

Während sich ein Gefühl in ihr ausbreitete, das sie seit langer Zeit begraben hatte, fiel ihr Blick auf den vierten Stream mit der Person in den Bergen – den Händen nach zu urteilen ein nicht mehr ganz so junger Mann. Bisher hatte man nur gesehen, wie er einen steilen Weg hinaufstieg, ab und an die wunderbare Aussicht genoss. Doch mittlerweile unterhielt er sich mit einem Wanderer, dem er begegnet war. Der große und kräftige Mann wirkte mit seiner Allwetterjacke etwas zu dünn gekleidet für die sicher nicht besonders hohen Temperaturen zu dieser Jahreszeit. Er trug weder Schal noch Mütze, dafür aber Handschuhe. Obwohl die Qualität dieses Streams dürftig war und die Farben fehlten, irritierte Franziska etwas an dem Wanderer: Er wirkte zwar freundlich, während er mit dem Probanden redete. Doch obwohl sein Mund lächelte, wirkten seine dunklen Augen kalt. Oder war das den groben Pixeln geschuldet? Plötzlich kam der Mann näher auf den Betrachter zu. Franziska beschlich ein unangenehmes Gefühl. Im nächsten Moment passierte es schon. Der Mann packte den Probanden und schob ihn vor sich her. Am plötzlich wild hin und her huschenden Blick des Probanden erkannte Franziska dessen Panik. Er wehrte sich, rang mit dem Angreifer. Aber er hatte keine Chance. Unaufhörlich wurde er weitergeschoben. Er blickte hinter sich, und Franziska stockte der Atem. Dort ging es steil bergab in eine Schlucht. Für einen Moment wurde er nicht geschoben. Wahrscheinlich hatte er in Todesangst alle Kräfte mobilisiert, um dagegenzuhalten. Aber der andere Mann war zu stark. Im nächsten Moment gab es einen Ruck, dann wurde der Blickwinkel nach oben gerissen. Kurz sah Franziska nur den wolkenlosen Himmel. Doch schon kam der Mann mit der Allwetterjacke ins Bild, der dem Stürzenden nachschaute. Er hielt plötzlich einen kleinen Rucksack in der Hand, den er dem Probanden vor dem finalen Stoß vom Rücken gerissen haben musste. Innerhalb kürzester Zeit entfernte der Mann sich so weit, dass Franziska ihn nicht mehr erkennen konnte. Dafür schien der Stürzende sich in der Luft zu drehen. Sie sah durch seine Augen die Felswand. Dann sah sie den Boden. Dafür, dass der Mann schon eine gefühlte Ewigkeit stürzte, war er noch verdammt weit entfernt. Doch es dauerte nur noch eine Sekunde. Der felsige Boden kam so nah, dass man ihn nicht mehr erkennen konnte. Im nächsten Moment wurde das Bild schwarz. Auch wenn ihr Computer keinen Laut von sich gab, glaubte Franziska, den Aufprall des Körpers hören zu können. Sie saß regungslos an ihrem Schreibtisch und spürte erst jetzt, dass sie innerhalb von wenigen Sekunden ihre schicke Bluse durchgeschwitzt hatte. Ihr Herz raste.

2

Berlin-Wilmersdorf

Samstag, 10:45 Uhr

Tim hasste es, Berichte zu schreiben. Er war nach wie vor glücklich, endlich bei der Mordkommission angekommen zu sein, mit Leib und Seele Polizist war er ja sowieso, aber die Ausführlichkeit, die seitens der Staatsanwaltschaft bei den Berichten erwartet wurde, ging ihm auf die Nerven. Zumal der Fall eindeutig war. Eine Kneipenschlägerei im Milieu war eskaliert, ein Messer gezogen worden. Zehn Leute hatten gesehen, wie das Opfer erstochen worden war. Der Täter war geständig. Trotzdem musste Tim jedes Detail niederschreiben, das sie ermittelt hatten. Er hatte es diesmal auch nicht geschafft, die Schreibarbeit auf seinen Kollegen Henk abzuladen. Lustlos tippte Tim auf seiner Tastatur herum. Henk nannte Tims Schreiben »Partisanenmethode«.

»Stündlich ist mit einem Anschlag zu rechnen«, sagte er fast jedes Mal, wenn er Tim vor dem Computer sah.

Auch jetzt saß sein erfahrener Kollege am Schreibtisch gegenüber und ließ seine Finger nur so über die Tasten sausen. Angeber.

An solchen Tagen sehnte Tim sich danach, dass das Telefon klingeln und einen neuen Einsatz ankündigen würde. Aber ausgerechnet an diesem Samstag war es besonders ruhig. Alle Kollegen der dritten Mordkommission waren mit der Nachbearbeitung ihrer Fälle beschäftigt. Mittags sollte ein Zeuge in einem ungeklärten Mordfall reinkommen, das war es.

Selten war bei einer Bereitschaft so wenig los gewesen. An einem Samstag in der Millionenstadt Berlin, in der sich doch immer jemand fand, der jemand anderem Übles wollte.

»Tim!«, hörte er die tiefe Stimme seines deutlich älteren Kollegen. »Damenbesuch.«

Tim schaute auf und freute sich, Andrea in der Tür stehen zu sehen. Eine willkommene Abwechslung. Die attraktive Kollegin mit den kurzen braunen Haaren und der ewigen schwarzen Lederjacke war mit dreiunddreißig Jahren nur wenig älter als Tim und galt ebenfalls noch als Neuling im LKA. Sie kam zu ihm und schob ihren Po in der engen Jeans auf seinen Schreibtisch, was Henk mit einem jovialen Grinsen in Tims Richtung quittierte. Wenn der wüsste.

»Was hast ‘n du schon wieder ausgefressen?«, fragte Andrea schmunzelnd.

»Häh? Wieso?«

»Gestern Abend bei der Sache mit dem toten Freier fragt mich einer vom SEK: ›Habt ihr den Börde dabei?‹Als ich mit dem Kopf schüttele, sagt er: ›Gott sei Dank‹.«

Tim rollte mit den Augen.

»Die gehen mir echt auf den Sack«, gab er entnervt von sich. »Nur weil ich letztens nicht auf die Babysitter warten wollte und den Typen allein verhaftet hab.«

Er deutete auf den ungeliebten Bericht vor ihm. Der Messerstecher aus der Kneipe war nach seiner Tat abgehauen, aber gleich mehrere Leute in der Kneipe hatten seine Adresse gekannt.

»Du hast alleine seine Wohnung gestürmt?«, fragte Andrea ungläubig.

Hörte Tim da Bewunderung durch? Die Vorstellung gefiel ihm. Er antwortete nicht, sondern zuckte nur mit den Schultern.

»Junge, brauchste gar nicht auf cool machen«, mischte sich Henk ein. »Der Kerl hatte ein Messer. Du hattest keine Ahnung, was in der Wohnung los war.«

»Der Kerl war stockbesoffen. War überhaupt kein Problem.«

»Das nächste Mal wartest du auf die Kollegen vom SEK.«

Tim winkte ab. Henk hatte ihn schon genug mit dem Thema genervt. Aber auch Andrea schüttelte den Kopf. Die Bewunderung hatte er sich dann wohl doch nur eingebildet.

»Leute, ich muss den Bericht zu Ende schreiben, okay?«, sagte Tim, um das leidige Gespräch abzukürzen.

Er schaute Andrea auffordernd an, die aufstand.

»Pass bloß auf dich auf«, sagte sie. »Wär schade um dich.«

Mit einem kessen Grinsen verließ sie den Raum. Tim musste ebenfalls grinsen. Er schaute ihr hinterher. Vielleicht etwas zu lang.

»Respekt: kein Jahr bei uns und schon die heißeste Kollegin flachgelegt«, kam es von Henk über den Schreibtisch.

So viel zu »wenn der wüsste«, wobei Tim sicher war, dass Henk nur spekulierte. Sie waren eben alle Ermittler und damit gute Beobachter.

»Da geht deine Fantasie mit dir durch, Henk«, entgegnete Tim lachend.

Dabei waren Andrea und Tim vor einigen Wochen nach einem langen Dienst und ein paar Bier tatsächlich in seiner Wohnung gelandet. Auf seinem Esstisch hatte Andrea erstaunliche Flexibilität offenbart. Erfreulicherweise machte sie kein großes Ding daraus. Im Gegenteil: Es schien eher Tim zu sein, der einer Wiederholung nicht abgeneigt gegenüberstand. Aber natürlich wollte er es auch nicht übertreiben. Nicht mit einer Arbeitskollegin. Deswegen schaute er Henk mit einem Pokerface an. Der musterte ihn.

»Ich würd’s dir nicht verübeln«, sagte sein Kollege. »Du, wenn ich nicht verheiratet wäre …«

»Klar, Henk.«

Der Fünfzigjährige mit der Halbglatze und dem karierten Hemd, auf dem ein Kaffeefleck prangte, war ganz sicher nicht das, worauf Andrea stand. Henk war ein netter Kerl, der Tim aber manchmal mit seinen altmodischen Sprüchen auf die Nerven ging. Man hatte immer das Gefühl, dass er nur noch auf seine Pensionierung wartete. Damit war er das genaue Gegenteil von Tim, was wahrscheinlich einer der Gründe war, warum dieser ausgerechnet den bequemen Henk als Partner bekommen hatte.

Tim wandte sich wieder seinem Bericht zu. Im selben Moment meldete sein Computer eine neue Mail. Ausnahmsweise kein weiterer Hinweis auf Fortbildungen oder die bald anstehende Weihnachtsfeier. Die Mail kam von außen: »Hallo! Heute Morgen um 10:12 wurde in einem mittelhohen Gebirge ein Wanderer von einem Mann in eine tiefe Schlucht gestoßen. Ich habe dieses Ereignis zufällig über einen Stream im Internet beobachtet. Das Opfer war mit einer Kamera ausgestattet. Ich weiß leider nicht, wo genau es geschah, und auch nicht, wer das Opfer ist. Der Täter war zwischen vierzig und fünfzig Jahren alt. Groß und von sportlicher Statur. Er hatte dunkle Haare mit Geheimratsecken und dunkle Augen. Er trug eine Allwetterjacke und Jeans. Dazu Lederhandschuhe. Er hat dem Opfer einen kleinen dunklen Rucksack weggerissen. Mehr kann ich leider nicht sagen, aber wenn das Opfer gefunden wird, sollte der Tod nicht als Unfall abgetan werden. Grüße. Eine Bürgerin.«

Tim stöhnte genervt. Die eben noch aufkeimende Hoffnung, dass er sich vor weiteren Schreibarbeiten drücken konnte, war schnell wieder zerstört worden. Die Mail war zwar nicht ganz in die Kategorie »Außerirdische versuchen, mich zu entführen« einzuordnen, aber ein neuer Fall war das ganz sicher nicht. Abgesehen von der äußerst vagen Ortsbeschreibung konnte ein Vorfall, den jemand »im Internet« gesehen hatte, alles Mögliche sein. Dennoch schaute er auf den Absender, der nach einem eigens für diese Nachricht eingerichteten Mailkonto klang. Die »Bürgerin« wollte anonym bleiben. Dass sie Tim direkt anschrieb, konnte nur bedeuten, dass sie bei früheren Fällen schon miteinander zu tun gehabt hatten. Seine dienstliche E-Mail-Adresse war nicht öffentlich, aber natürlich gab er sie regelmäßig bei Ermittlungen heraus. Der infrage kommende Personenkreis war nach gut einem Jahr LKA gar nicht mal so klein.

»Liebe Bürgerin«, schrieb er zurück. »Meinen Sie das ernst? Dann melden Sie sich vernünftig bei mir. Telefon siehe unten. Gruß Börde.«

An einem normalen Tag hätte er wahrscheinlich nicht einmal geantwortet, geschweige denn in den Polizeimeldungen nachgeschaut, ob es tatsächlich einen Toten »in einem mittelhohen Gebirge« gegeben hatte. Nicht zum ersten Mal verfluchte er dabei die Steinzeitmethoden, mit denen sie arbeiteten. Es gab keine Möglichkeit, direkt in Fallbearbeitungen von Kollegen außerhalb von Berlin zu schauen. Sie wussten nicht einmal, welche Leichen die Brandenburger hatten. Aber für solche Situationen hatte Tim gelernt, die gesammelten Pressemeldungen der deutschen Polizeidirektionen im Internet zu durchforsten. Nachdem seine Suche wenig überraschend keinen Toten im Gebirge hervorbrachte, legte er bei Google einen Alert mit den entsprechenden Begriffen an. Dann widmete er sich wieder seiner Messerstecherei.

Als am Nachmittag eine Mail zu dem Alert hereinkam, hatte Tim die Sache mit dem Wanderer schon fast vergessen. Mittlerweile hatte die Mordkommission eine Leiche, die Kollegen würden jeden Moment vom Tatort zurückkommen. Obwohl er mehr oder weniger darum gebettelt hatte, hatte der Adler – wie sie ihren Chef nannten – ihn und Henk nicht rausgeschickt. »Schreibt eure Berichte fertig.« Doch nun verkündete Google, dass es einen neuen Treffer zu den Begriffen »Wanderer Sturz Berg« gab. Die Polizeiinspektion Garmisch-Partenkirchen hatte eine Meldung herausgegeben, nach der am Vormittag in den Ammergauer Alpen ein Mann um die sechzig gefunden worden war, der bei einer Wanderung in den unteren Lagen des Kofel in eine Schlucht gestürzt war. Niemand hatte den Unfall beobachtet. Die Identität des Mannes hatte man bisher nicht feststellen können. Tim griff sofort zum Hörer und rief die Kollegen in Garmisch an. So erfuhr er, dass der Tote gegen 11 Uhr von Wanderern entdeckt worden war. Der Gerichtsmediziner hatte später festgestellt, dass er noch nicht lange dort gelegen haben konnte. Der Todeszeitpunkt war auf den Zeitraum von 10 bis 10 Uhr 30 eingekreist worden. Von einem möglichen zweiten Mann wusste man nichts. Man wusste ja nicht einmal, wer der Tote war, dem zu allem Überfluss noch ein Fels auf den Kopf gefallen war, sodass man nicht viel von ihm erkennen konnte.

»Liebe Bürgerin, es gibt einen Toten. Man wird die Sache als Unfall abhaken, wenn Sie sich nicht melden. Telefon siehe unten. Gruß Börde.«

Tim hatte das Achselzucken des Kollegen aus Garmisch fast am Telefon hören können, als er diesem von der Mail berichtet hatte. »Zufall«, »Spinnerei«. Doch Tim reichte das nicht.

»Also, die Alpen sind jetzt aber echt nicht mehr in Berlin«, sagte Henk, als er sah, wie Tim auf seinem Computer eine Fallakte zu dem unbekannten Toten anlegte. »Hast du Langeweile?«

Er stand hinter Tim an dessen Schreibtisch und überflog die Mail von der Unbekannten.

»Nee, aber ein Bauchgefühl.«

»Ach Gott, das Bauchgefühl«, stöhnte Henk und rollte mit den Augen. »Sicher, dass das nicht der Döner von gestern Abend ist?«

Er klopfte Tim auf den Bauch, der in der letzten Zeit wieder etwas mehr Fett angesetzt hatte – dabei hatte der Winter gerade erst begonnen. Auch wenn überall sonst die Muskeln noch überwogen, nahm Tim sich vor, wieder öfter in den Kraftraum zu gehen.

»Die Frau wird sich noch mal melden«, stellte Tim fest.

»Ach, die Frau! Darum geht es. Um eine Frau mal wieder.«

»Henk!«

Henk lachte und verließ das Büro.

»Komm, Ingo und Frank sind zurück. Lass uns hören, was sie für ‘ne Leiche haben. Eine aus Berlin!«

Dann war er verschwunden. Tim schaute noch einmal auf die gerade angelegte Datei und speicherte sie im System. Die Frau würde sich melden. Das wusste er einfach.

3

Berlin-Tiergarten

Samstag, 19:30 Uhr

Franziska zögerte noch einmal, bevor sie auf die Klingel an dem Neubau unweit des Gleisdreiecks drückte. Sie befand sich am Karlsbad, einer ruhigen Seitenstraße, die sie von früher kannte. Als Christoph in dem Haus gewohnt hatte. Jetzt wohnte dort nur noch seine Ex-Freundin Nina. Ausgerechnet die Frau, deren Beziehung Franziska damals zerstört hatte, wollte sie nun um Hilfe bitten. Sie wusste nicht, wen sie sonst fragen konnte. Sie hatte auch so schon den ganzen Tag kaum noch funktioniert. Nur mit Mühe hatte sie die nötigste Arbeit verrichtet, war dann viel zu früh aus dem Büro gegangen und irrte seitdem mit ihrem Laptop durch die Stadt, unfähig, einen Entschluss zu fassen. Die Mail des Polizisten hatte ihr klargemacht: Man musste der Polizei mehr Informationen geben. Doch letztlich war Franziska zu dem Schluss gekommen, dass sie das ja nicht selbst tun musste.

Sie drückte auf den kalten Messingknopf. Nichts passierte. Als sie schon fast resignierte, hörte sie ein Knacken in der Gegensprechanlage und dann eine sonore Männerstimme.

»Wer ist da?«

»Mhm, hallo … Ich wollte zu Nina. Ist sie da?«

»Wer sind Sie denn?«

»Franziska. Eine Freundin … von früher.«

Die Behauptung, eine Freundin zu sein, kam ihr nicht leicht über die Lippen. Nina würde es garantiert nicht so sehen. Aber dass sie wieder mit einem Mann zusammenlebte, gab Franziska Hoffnung. Vielleicht würde Ninas Hass zumindest so weit abgeschwächt sein, dass sie sich die Bitte der ehemaligen Mitstreiterin anhören würde. Während ihrer gemeinsamen Arbeit an der Universität hatten sie eigentlich ein recht gutes Verhältnis gehabt. Vor der Sache mit Christoph.

»Nina ist unterwegs«, hörte sie die Stimme aus der Gegensprechanlage. »Müsste aber bald wieder da sein. Wollen Sie oben auf sie warten?«

»Äh, nee, ich … mhm … komme dann einfach später noch einmal.«

Wenn Nina nach Hause kam und Franziska alleine mit ihrem neuen Typen in der Wohnung vorfand, würde das nicht gerade die schönen Erinnerungen hervorrufen.

»Wie Sie möchten«, sagte die sympathische, tiefe Stimme.

»Danke«, murmelte Franziska und ging fröstelnd zurück über die Straße. Gegenüber der Häuserzeile befand sich ein kleiner Park. Dort gab es eine Bank mit Blick auf das Haus. Franziska wusste das, weil sie dort ein paarmal spätabends heimlich auf Christoph gewartet hatte. In dem Park war nicht viel los, es war längst dunkel. Als sie sich auf die kalte Bank setzte, kamen die Erinnerungen an damals hoch. Es war fast vier Jahre her. Christoph und Nina leiteten ein Team an der Humboldt-Uni, das sich einem wahnwitzigen Forschungsprojekt verschrieben hatte: Sie wollten Blinden das Sehen ermöglichen. Nina war trotz ihres jungen Alters bereits Diplom-Biologin und promovierte Medizinerin, die während ihrer zwei Studien die Grundlagen dafür geschaffen hatte, den Sehnerv mit digitalen Informationen von außerhalb des Körpers zu füttern. Christoph sollte als Koryphäe aus der Elektro- und Informationstechnik die Bilder einer Kamera so umrechnen, dass man sie direkt in den Nerv einspeisen konnte. Genau dabei half Franziska mit ihrem Hintergrund im Bereich Multimedia-Anwendungen. Leider gelangen ihnen über mehrere Jahre nicht die erwünschten Erfolge. Schließlich sollte das Projekt seitens der Universität eingestellt werden. Da erschien es allen wie ein Wunder, dass Ruby sich dafür interessierte und alle zu GEM holen wollte. Nur dummerweise interessierten ihn nicht so sehr die Blinden, er versprach sich mehr vom umgekehrten Weg: wie man aus den Sehnerven digitale Informationen auslesen konnte. Nina wollte das nicht, Christoph schon. Es kam zum Streit zwischen den beiden Forschern. Franziska wollte die fragile Situation nicht ausnutzen, doch als Christoph eines Abends frustriert und angetrunken im Labor ihre Lippen mit den seinen gesucht hatte, hatte sie nicht lange gezögert. An das, was danach auf einer eigentlich für Probanden gedachten Liege geschehen war, erinnerte sich Franziska mit einem leisen Seufzen.

Ertappt schreckte sie hoch, weil genau in diesem Moment Nina an ihr vorbeijoggte. Die große schlanke Frau war wie immer eine Erscheinung: Ihre langen, schwarzen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, der bei jedem Schritt in der Luft wippte. Der körperbetonte Trainingsanzug deutete an, dass Nina kein Gramm Fett zu viel an ihrem Körper hatte. Mit Schrecken erinnerte sich Franziska daran, wie diszipliniert Nina schon damals gesund gegessen und regelmäßig Sport getrieben hatte. »Verbissen« hatte Christoph das genannt, was in vielerlei Hinsicht auf Nina zutraf. Als Nina am Haus ankam, sah Franziska im Licht der Türlampe ihr schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen. Neben Nina hatte sich Franziska immer wie ein Kind gefühlt, und das nicht nur, weil sie acht Jahre jünger war. Nina war wahrscheinlich als Mädchen schon erwachsen gewesen. Fast hätte Franziska ihren Einsatz verpasst, doch das Bild des stürzenden Wanderers trieb sie an. Sie eilte über die Straße.

»Nina?«, krächzte sie dabei.

Nina hatte die Tür bereits aufgeschlossen, schaute aber nun zu Franziska. Im Gegenlicht sah diese nur die dampfende Silhouette, aber sie war sicher, dass Nina nicht lächelte.

»Was machst du denn hier?«, hörte Franziska die kritische Stimme.

»Ich muss mit dir reden«, antwortete sie.

Nina lachte zynisch. Als Franziska ihre Augen sah, schwand die Hoffnung, dass sich ihr Hass gelegt haben könnte.

»Ich hab keine Zeit«, sagte Nina knapp und wollte ins Haus.

»Christoph hat es geschafft«, rief Franziska schnell. »MyView.«

Nina stoppte und schaute Franziska noch einmal kritisch an. Sie wirkte nicht sonderlich überrascht.

»Die Präsentation morgen?«, fragte sie.

»Du weißt davon?«

»Ich habe eine Einladung bekommen.«

Noch ein bitteres Lachen, das Franziska sogar verstand. Sie hätte ihr an Christophs Stelle keine Einladung gesendet.

»Bisher war ich mir nicht sicher, ob’s wirklich schon so weit ist«, fuhr Nina fort. »Aber dass du hier auftauchst …«

Sie verstummte. Franziska machte noch einen Schritt auf sie zu.

»Es gibt ein Problem«, erklärte sie.

»Interessiert mich nicht. Ihr müsst alleine klarkommen. Christoph und du.«

Jetzt wollte sie endgültig ins Haus, doch Franziska hielt sie am Arm. Reine Muskelmasse.

»Christoph und ich … das gibt’s schon seit Jahren nicht mehr. Ich weiß offiziell überhaupt nichts von dem Durchbruch. Aber ich … ich habe heute was gesehen … Es ist jemand gestorben.«

Nina zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Franziska zögerte. Zwischen Tür und Angel konnte man die Geschichte nun wirklich nicht erzählen. Nina machte leider keine Anstalten, sich zu bewegen. Doch Franziska wusste, dass die Frau immer der moralische Kompass der Gruppe gewesen war. Also sagte sie: »Christoph und Ruby sind zu weit gegangen. Sie haben die Chips Leuten eingepflanzt, die davon nichts wussten.«

»Was?«

Franziska nickte.

»Komm mit hoch«, sagte Nina und hielt Franziska die Tür auf.

Wortlos folgte Franziska Nina über die Treppen in die dritte Etage. Sie hätte lieber den Aufzug benutzt. Als sie oben ankamen, rang Franziska nach Luft, während Nina nicht einmal schneller atmete. Sie schloss die Tür auf und ging in die Wohnung.

»Bin wieder da, Papa!«, rief sie.

Papa? Franziska verzog das Gesicht. Nina wohnte nicht mit einem neuen Typen zusammen, sondern mit ihrem Vater. Im nächsten Moment kam der ältere Herr mit den vollen, grau melierten Haaren schon in den perfekt aufgeräumten Flur. Er war über sechzig, aber wirkte sehr fit. Ähnlich wie seine Tochter. Er trug eine Anzughose und ein Hemd. Alte Schule. Beim Anblick seiner tiefschwarzen Sonnenbrille erinnerte sich Franziska daran, dass er blind war. Er war einer der Gründe gewesen, warum Nina ihre Forschung überhaupt erst begonnen hatte. Trotzdem hatte Franziska ihn nie persönlich kennengelernt.

»Da war eine junge Frau«, begann er ins Nichts hinein zu reden.

»Ja, die ist hier bei mir.«

»Ah, wie schön. Guten Abend. Ich bin der Werner.«

Seine Stimme klang jünger, als er war. Er streckte seine Hand in Richtung Tür aus und verfehlte Franziska nur um wenige Zentimeter. Nina ließ die beiden einfach im Flur stehen und ging in die geräumige Wohnküche.

»Äh, ja, guten Abend. Franziska.«

Sie nahm die gereichte Hand. Werner drückte verbindlich, aber auch nicht zu fest zu. Er hielt den Griff einen Moment länger, als es üblich war, schaute Franziska direkt an.

»Ich bin blind, nicht taub«, sagte er mit einem Schmunzeln.

Franziska merkte selbst, dass sie ziemlich laut geredet hatte.

»Tut mir leid«, sagte sie gedämpfter.

»Kein Problem. Es ist eher andersrum: Viele Blinde haben ein besonders gut ausgeprägtes Gehör.«

»Ah, klar. Macht Sinn.«

Nina war mit einer Flasche Wasser zurückgekehrt, aus der sie nun trank. Franziska blickte sie hilfesuchend an und signalisierte, dass sie gerne mit ihr alleine sprechen wollte. Ninas Blick verdüsterte sich.

»Im wahrsten Sinne des Wortes«, redete Werner weiter. »Die Blindheit hat die anderen Sinne geschärft. Auch den Tastsinn.«

»Papa«, ging Nina dazwischen. »Ich muss mit Franziska etwas besprechen.«

»Möchten Sie vielleicht mit uns essen?«, fragte er in Franziskas Richtung.

»Nein.«

Die Antwort kam von Nina. Werners Augenbrauen hoben sich. Er hatte nun auch verstanden, dass Franziska nicht besonders willkommen war.

»Wir gehen in mein Zimmer.«

Nina zeigte Franziska den Weg. In der Wohnung gab es drei Zimmer, das wusste Franziska von früher. Damals waren es Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer gewesen. Das Wohnzimmer gab es noch, aber die anderen beiden Räume waren nun zwischen Vater und Tochter aufgeteilt. Während sie an der offenen Tür des Wohnzimmers vorbeigingen, sah Franziska das Sofa, auf dem sie eines Abends Christoph vernascht hatte. Schnell ging sie weiter in Ninas Raum, das ehemalige Schlafzimmer. Es war damals tabu gewesen. Jetzt befand sich dort außer einem nicht allzu großen Bett ein Schreibtisch mit einem Computer. In einem Regal standen zahllose wissenschaftliche Bücher, aber auch eine Reihe von eher kitschigen Liebesschnulzen. Das hatte Franziska nicht erwartet. Nina schloss die Tür hinter sich. Franziska sah noch, wie Werner mit der Hand an der Wand in sein Zimmer zurückkehrte. Sicher ein Grund für die penible Ordnung. Für ihn war es natürlich hilfreich, wenn kein unnötiger Kram im Weg lag.

»Ich mag es nicht, wenn jemand vor meinem Vater Geheimzeichen macht.«

»Okay, sorry. Ich … heute … Was ich dir jetzt sage, das sollte wirklich niemand …«

Franziska wusste nicht, wie sie anfangen sollte. Nina schüchterte sie längst wieder ein.

»Schieß los!«, sagte Nina fordernd. »Was ist passiert?«

Sie setzte sich mit ihrem Jogginganzug auf den ergonomischen Arbeitsstuhl vor ihrem Schreibtisch und schaute Franziska erwartungsvoll an. Als Sitzgelegenheiten kamen nur das Bett oder ein viel zu kleiner Hocker, auf dem man seine Füße hochlegen konnte, infrage. Franziska setzte sich auf den Hocker. Mit den Knien fast neben den Ohren begann sie zu berichten, was passiert war. Wie sie die Streams gefunden hatte, wie sie hatte beobachten müssen, dass einer der Probanden Opfer eines Mordes geworden war. Und auch, wie sie anonym einem Polizisten den entsprechenden Hinweis gemailt hatte.

»Bei uns im Haus hat mal ein Arschloch seine Frau erschlagen. Ich musste als Zeugin aussagen, weil ich die Schreie gehört hab und so. Der Kommissar war echt nett.«

Zum ersten Mal während ihres Berichts musste sie lächeln. Denn der gutaussehende Polizist hatte ein wenig mit ihr geflirtet. Die Mischung aus knallhartem Cop und großem Jungen hatte sie durchaus angemacht. Deswegen war sie auch ein wenig traurig bei dem, was sie nun sagte: »Jetzt hat der Typ zurückgeschrieben. Sie haben die Leiche gefunden und wollen mehr wissen. Aber wenn ich da hingehe, kann ich meinen Job vergessen und … Ich dachte, dass du das vielleicht machen könntest.«

»Was?«

Nina war nicht begeistert.

»Er weiß nicht, wer ihm geschrieben hat«, versuchte es Franziska weiter. »Du kannst sagen, du bist irgendwie auf die Seiten mit den Streams geraten, als du wegen MyView recherchiert hast. Hey, ja, wegen der Präsentation. Du hast doch die …«

»Zeig mir die Streams«, unterbrach Nina sie.

Franziska verstummte. Sie holte den Laptop aus ihrer Tasche und klappte ihn auf. Die Streams waren noch geöffnet, weil Franziska sie sich im Laufe des Tages immer wieder angeschaut hatte. Nach wie vor waren drei Streams schwarz. Auf den anderen ging der Tag der Probanden in den Abend über. Franziska stellte den Laptop auf den Schreibtisch von Nina, die sofort von den Bildern gefangen war: Jemand surfte in einer dunklen Wohnung auf seinem Computer im Internet. Der Mann, der tagsüber mit dem Taxi unterwegs gewesen war, saß mit zwei kleinen Jungen am Tisch und war mit einem alten Kinderpuzzle beschäftigt, während man kurz seine Frau in der Küche beim Kochen sehen konnte. Wieder jemand anders las ein Buch. Die Frau, deren Intimbereich Franziska kannte, ging mit ihrem Hund im Wald spazieren. Das Kind fuhr auf dem Rücksitz eines SUV durch eine Großstadt und schaute aus dem Fenster. In der Ferne sah man kurz den Fernsehturm. Mutter und Tochter befanden sich also in Berlin.

»Die Streams laufen über eine normale Internetseite«, erklärte Franziska. »Ich dachte erst, der Seitenname ist kompliziert. Ist er aber nicht. Nur foryoureyesonly.de und dann die Anfangsbuchstaben von diesem Saint-Exupéry-Zitat.«

Es war in der IT ein beliebtes Verfahren, für Passwörter einen einprägsamen Sinnspruch zu nehmen und ihn auf die Anfangsbuchstaben der einzelnen Wörter zu reduzieren, inklusive Groß- und Kleinschreibung. Franziska hatte sogar ein Programm, mit dem man die bekanntesten Sprüche entschlüsseln konnte. Es hatte keine fünf Minuten gebraucht, um das Zitat zu finden. Aber das interessierte Nina überhaupt nicht. Sie war elektrisiert von den Streams. Ihre Augen rasten zwischen den Bildern hin und her.

»Er hat es geschafft«, sagte sie ungläubig.

Für einen Moment ging ihr Blick zur Zimmertür. Franziska verstand. Nina dachte an ihren Vater. Was würde dieser Durchbruch für ihn bedeuten? Für die Forschung von damals?

»Du hast keine Ahnung, wie der Chip funktioniert«, stellte Nina mehr fest, als dass sie fragte.

Franziska schüttelte den Kopf.

»Und wie funktionieren die Streams?«, fragte Nina. »Du sagst, sie sind live. Wie kann das sein?«

»Ich gehörte nur am Anfang zum Team. Deswegen kann ich auch nur spekulieren: Ruby hatte damals einen extrem kleinen Sender entwickelt, der mit einer winzigen Lithium-Ionen-Zelle mehrere Wochen lang laufen konnte. Ich vermute, dass sie ihn noch einmal verkleinert und zusammen mit dem Chip in den Sehnerv gepflanzt haben.«

»Eine ziemlich riskante OP«, stellte Nina fest, ohne ihren Blick von den Streams abzuwenden.

Soviel Franziska wusste, arbeitete Nina mittlerweile als Augenärztin im Virchow-Klinikum der Charité, wo sie insbesondere bei Notfällen mit Augenverletzungen hinzugezogen wurde. Wahrscheinlich wäre sie auch in der Lage gewesen, den Chip einzupflanzen.

»Aber die Leute tragen nicht einmal eine Brille«, verteidigte Franziska instinktiv ihren Arbeitgeber. »Sie scheinen keine Probleme nach der OP gehabt zu haben.«

»Wir sehen nicht alle«, stellte Nina fest und zeigte auf die schwarzen Streams.

»Die Lithium-Ionen-Zellen halten nicht ewig. Die ersten sind vielleicht schon durch.«

Diese mögliche Erklärung galt jedoch nur für die Streams eins und zwei. Der vierte Stream war schwarz, weil der Proband ermordet worden war.

»Nina«, setzte Franziska noch einmal mit ihrem Anliegen an. »Wenn du zur Polizei gehst, werden die bei GEM auflaufen. Und dann erfährst du, wie …«

»Warte«, unterbrach Nina. »Sie haben einen Sender im Chip. Okay. Aber wie kommt das Bild ins Internet? Die Probanden müssen dann doch einen Empfänger dabeihaben. Und das wissen sie nicht?«

»Sie brauchen keinen Empfänger«, erklärte Franziska. »Der Sender sendet direkt aus dem Sehnerv ins Handynetz.«

Das wusste sie noch aus den Anfangstagen des Projekts. Ruby war von Beginn an auf eine möglichst simple Nutzung scharf gewesen. Die Technik dafür hatte er größtenteils mitgebracht. Ihm hatte nur der Zugang zum Auge gefehlt.

»Ins normale Mobilfunknetz?«, fragte Nina ungläubig.

»Von der Telekom. LTE-Standard.«

»Wow.«

»Ja, wow«, wiederholte Franziska. »Ich vermute, dass die Daten in einem Rechner im Untergeschoss von GEM landen. Dort werden dann die Streams erstellt. Die man natürlich nur dort unten sehen kann. Aber diese Kopien hier hat Christoph irgendwie aus dem Inner Circle herausgeleitet, damit mehr Leute sie sehen können. Warum, weiß ich nicht.«

»Christoph?«

»Kann auch Ruby gewesen oder einer von seinen Topleuten. Aber warum sollten die an meinen Arbeitsplatz gehen? Ich vermute, dass Christoph wollte, dass ich es sehe.«

Nina atmete tief durch. Der Blick, den sie Franziska schickte, sagte alles. Die Vergangenheit kam hoch.

»Es tut mir leid, was damals passiert ist«, sagte Franziska, ohne genau zu wissen, warum.

Wahrscheinlich hielt sie Ninas vorwurfsvollen Blick nicht aus.

»Ach ja?«, fragte Nina spöttisch. »Jetzt auf einmal? Warum musste das sein? Warum ausgerechnet Christoph?«

Für einen Moment bröckelte Ninas perfekte Fassade, und die Verletzung dahinter kam zum Vorschein.

»Er war der einzige Typ, der mir nie auf die Brüste gestarrt hat«, erklärte Franziska. »Sondern immer in die Augen.«

Nina lachte höhnisch. Wahrscheinlich hatte sie gar keine Antwort erwartet. Sie machte längst wieder dicht.

»Ja, die Augen. Die haben ihn schon immer fasziniert.«

Franziska wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. War es ein Fehler gewesen, zu Nina zu gehen? Sie versuchte, von dem Thema abzulenken.

»Es gibt auch ein Werbevideo für MyView«, rief sie etwas zu laut.

Sie hatte sich im Laufe des Tages die Seite foryoureyesonly.de genauer angeschaut und ein Video gefunden, das wahrscheinlich bei der Präsentation am Abend und später im Internet gezeigt werden sollte.

»Es erklärt ganz gut, was Ruby mit MyView vorhat«, murmelte sie. »Willst du es sehen?«

Nina nickte stumm – die Ablenkung funktionierte. Franziska hatte das Video bereits aufgerufen und startete es nun. Man sah das Logo von GEM und dann Hochglanzbilder, die mit einer sympathischen Frauenstimme unterlegt waren. Erst gab es Bilder aus einem Forschungslabor und von Augenoperationen. Auch wenn es suggeriert wurde, waren es keine Bilder aus dem Hauptquartier von GEM – dort sah es anders aus. Der Werbefilm war mit Schauspielern besetzt und sehr professionell gemacht. Auch als dann die vermeintlichen Streams präsentiert wurden und der Zuschauer durch die Augen eines jungen Mannes und einer jungen Frau schaute, vermutete Franziska, dass sie auf herkömmlichem Weg gefilmt worden waren. Die Art und Weise, wie MyView die Welt verändern sollte, wurde trotzdem klar: »Sie müssen nie wieder eine Kamera mitnehmen. Nie wieder einen magischen Moment durch das Zücken Ihres Handys unterbrechen. Nie mehr einen Laptop auf den Sonnenuntergang richten, damit die Daheimgebliebenen ihn sehen können. Alle sehen, was Sie sehen. Ihre Erinnerungen werden zu Filmen.«