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Das Wasser wird knapp: ein düsterer, actiongeladener Blick auf die Apokalypse
Der US-amerikanische Südwesten kämpft erbittert um die letzten Wasserreserven und die Rechte am Colorado River. Das Gebiet wird von heftigen Sandstürmen heimgesucht, ganze Millionenstädte verelenden. Wer es sich leisten kann, wohnt in luxuriösen Arkologien, jeder andere ist Hitze, Staub und Nahrungsknappheit ausgesetzt. Kriminalität und Korruption greifen um sich. Angel Velasquez gehört zu einem Spezialeinsatzkommando der Wasserbehörde von Nevada, das die Reservoirs des Bundesstaates verteidigt und notfalls auch mit illegalen Methoden erweitert.
Als das Gerücht aufkommt, dass in Phoenix eine neue Wasserquelle aufgetaucht ist, wird er dort hingeschickt, um zu ermitteln. Dabei trifft er die Journalistin Lucy Monroe, die der Quelle ebenfalls auf der Spur ist. Die beiden werden in einen Strudel aus Verrat und Gewalt hineingezogen, und Angel steht plötzlich im Fadenkreuz seiner eigenen Leute.
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Seitenzahl: 659
Der US-amerikanische Südwesten kämpft erbittert um die letzten Wasserreserven und die Rechte am Colorado River. das gebiet wird von heftigen Sandstürmen heimgesucht, ganze Millionenstädte verelenden. Wer es sich leisten kann, wohnt in luxuriösen Arkologien, jeder andere ist Hitze, Staub und Nahrungsknappheit ausgesetzt. Kriminalität und Korruption greifen um sich. Angel Velasquez gehört zu einem Spezialeinsatzkommando der Wasserbehörde von Nevada, das die Reservoirs des Bundesstaates verteidigt und notfalls auch mit illegalen Methoden erweitert.
Als das Gerücht aufkommt, dass in Phoenix eine neue Wasserquelle aufgetaucht ist, wird er dort hingeschickt, um zu ermitteln. Dabei trifft er die Journalistin Lucy Monroe, die der Quelle ebenfalls auf der Spur ist. Die beiden werden in einen Strudel aus Verrat und Gewalt hineingezogen, und Angel steht plötzlich im Fadenkreuz seiner eigenen Leute.
Ein rasanter und raffiniert strukturierter Thriller, der ein plausibles Szenario dazu liefert, was passieren könnte, wenn die Welt weiterhin den Klimawandel ignoriert.
Paolo Bacigalupi, geboren 1972 in Colorado, wurde für seine Science-Fiction- und Jugendromane mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Hugo Award und dem National Book Award in Young People’s Literature. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Colorado.
Paolo Bacigalupi
WATER
Der Kampf beginnt
Aus dem Amerikanischen
von Wolfgang Müller
Blessing
Titel der Originalausgabe: The Waterknife
Originalverlag: Alfred A. Knopf, New York
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1. Auflage
Copyright © 2015 by Paolo Bacigalupi
Copyright © 2016 by Karl Blessing Verlag, München,
in der Verlagsruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Bauer+ Möhring, Berlin,
unter Verwendung einer Vorlage von Oliver Munday
Satz: Leingärtner, Nabburg
e-ISBN: 978-3-641-18765-1V001
www.blessing-verlag.de
Für Anjula
1
Es gab Geschichten, die der Schweiß erzählte.
Der Schweiß einer Frau, die in sengender Sonne gebückt vierzehn Stunden auf einem Zwiebelfeld arbeitete, war anders als der Schweiß eines Mannes, der sich einem Checkpoint in Mexiko näherte und La Santa Muerte anflehte, die federales mögen nicht auf der Lohnliste der Leute stehen, vor denen er floh. Der Schweiß eines zehnjährigen Jungen, der in den Lauf einer SIG Sauer blickte, war anders als der Schweiß einer Frau, die sich durch die Wüste schleppte und die Jungfrau Maria anflehte, das Wasserversteck möge sich genau an der Stelle befinden, wo es auf der Karte des Schleppers – des Kojoten – eingezeichnet war.
Der Schweiß erzählte die Geschichte eines Körpers: Er verdichtete sich zu Perlen auf der Stirn, besudelte Hemden mit salzigen Flecken. Er verriet, wie die Menschen zur falschen Zeit am falschen Ort gelandet waren und ob sie den nächsten Tag noch überleben würden.
Angel Velasquez stand hoch über der zentralen Bohrstelle von Cypress 1 und beobachtete Charles Braxton, der mit schwerfälligen Schritten den Cascade Trail heraufkam. Der Schweiß auf der Stirn eines Anwalts verriet Angel, dass manche Menschen nicht annähernd so wichtig waren, wie sie sich einbildeten.
Braxton konnte in sein Anwaltsbüro marschieren und seine Sekretärinnen anschnauzen. Er konnte wie ein Axtmörder auf der Suche nach neuen Opfern durch die Gerichtssäle stolzieren. Aber egal, wie wichtig er sich nahm, letzten Endes gehörte er Catherine Case – und wenn Catherine Case etwas schnell erledigt haben wollte, dann lief man nicht einfach los, pendejo, man lief, bis einem das Herz stehen blieb, bis man keinen einzigen Schritt mehr tun konnte.
Braxton duckte sich unter Farnkrautbüschen hindurch und stolperte an den Schlingwurzeln von Banyanbäumen vorbei, folgte dem Weg, der um die kühle Bohrstelle herum langsam anstieg. Vor den ineinander übergehenden Wasserfällen und hängenden Gärten, die sich über die Ebenen der Arkologie ergossen, posierten Touristengruppen für Selfies. Er drängelte sich an den Menschen vorbei, verbissen, mit hochrotem Kopf. Jogger in Shorts und Tanktops, die Ohren angefüllt mit Musik und dem Klopfen ihrer gesunden Herzen, spurteten an ihm vorbei.
Vom Schweiß eines Menschen konnte man eine Menge lernen.
Braxtons Schweiß verriet, dass er noch Angst hatte. Was Angel wiederum verriet, dass er sich noch auf Braxton verlassen konnte.
Braxton entdeckte Angel auf der Brücke, die sich in weitem Bogen über die zentrale Bohrstelle spannte. Er winkte müde und machte Angel Zeichen, zu ihm herunterzukommen. Angel winkte lächelnd zurück und tat so, als verstünde er nicht.
»Komm runter!«, rief Braxton.
Angel lächelte und winkte wieder.
Der Anwalt ließ geschlagen die Schultern hängen und nahm die letzten Meter zu Angels Adlerhorst in Angriff.
Angel lehnte am Geländer und genoss die Aussicht. Das von oben einfallende Sonnenlicht besprenkelte Bambus und Regenbäume, beleuchtete tropische Vögel und warf blitzende Spiegelflächen auf moosige Koiteiche.
Die Menschen weit unter ihm sahen kleiner als Ameisen aus. Eigentlich gar nicht wie Menschen, eher wie die Touristen-, Bewohner- und Casinoangestellten-Figuren aus den Cyprus-1-Projektmodellen der Biotekten: Miniaturmenschen, die auf Miniatur-Caféterrassen an Miniaturlattes nippten. Miniaturkinder, die auf den Naturpfaden Schmetterlingen hinterher jagten. Miniaturspieler, die in den tiefen Casinogrotten an Miniatur-Blackjack-Tischen teilten und verdoppelten.
Braxton stapfte auf die Brücke. »Warum bist du nicht runtergekommen?«, fragte er und schnappte nach Luft. »Ich hab doch gerufen.« Er ließ seine Aktentasche auf die Holzplanken fallen und lehnte sich ans Geländer.
»Was hast du für mich?«, fragte Angel.
»Papiere«, keuchte Braxton. »Carver City. Die Entscheidung der Richter, gerade reingekommen.« Erschöpft deutete er auf die Aktentasche. »Wir haben sie fertiggemacht.«
»Und?«
Braxton versuchte weiterzusprechen, brachte aber kein Wort heraus. Sein Gesicht war aufgedunsen und knallrot. Angel fragte sich, ob er gleich einen Herzanfall erleiden würde, und überlegte, ob ihm das etwas ausmachen würde. Angel war Braxton zum ersten Mal in dessen Büro in der Zentrale der Southern Nevada Water Authority begegnet. Der Mann hatte einen raumhohen Blick auf den Carson Creek, den Fliegenfischerfluss von Cypress 1, auf die Stelle, wo das Wasser sich einen Weg über die Ebenen der Arkologie und in die Tiefe stürzte, bevor es wieder nach oben gepumpt wurde, um einen weiteren Reinigungszyklus in diesem System zu durchlaufen. Ein ausladender, kostspieliger Blick auf Regenbogenforellen und Wasserinfrastruktur sowie eine gute Gedächtnisstütze dafür, warum Braxton im Auftrag der SNWA vor Gericht zog.
Wie ein Gutsherr hatte Braxton seine drei Sekretärinnen herumkommandiert – zufälligerweise allesamt grazile Mädchen, die er mit dem Versprechen, eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung für Cypress zu bekommen, von der juristischen Fakultät gelockt hatte. Mit Angel hatte er geredet, als sei er bereits Vergangenheit. Nichts als noch einer von Catherine Case’ Pitbulls, den er nur so lange tolerierte, wie Angel es schaffte, größere Hunde totzubeißen.
Angel wiederum hatte sich während des Treffens vorzustellen versucht, wie ein Mann wie Braxton so massig hatte werden können. Außerhalb von Cypress schaffte es niemand, annähernd so an Gewicht zuzulegen. In seiner ganzen Kindheit und Jugend hatte Angel keine Kreatur wie Braxton gesehen, und er stellte fest, wie sehr es ihn faszinierte, die fleischige Hülle eines Mannes zu bewundern, der sich in Sicherheit wusste.
Wenn, wie Catherine Case behauptete, das Ende der Welt nahte, dann würde Braxton gute Nahrung abgeben, dachte Angel. Und das wiederum erleichterte es ihm, den Ivy-League-pendejo am Leben zu lassen, als dieser beim Anblick von Angels Gang-Tattoos und den Messernarben in seinem Gesicht und an seinem Hals die Nase rümpfte.
Die Zeiten ändern sich tatsächlich, dachte Angel, als er den Schweiß von Braxtons Nase tropfen sah.
»Carver City hat das aktuelle Berufungsverfahren verloren«, brachte Braxton schließlich keuchend heraus. »Die Richter sollten eigentlich heute Morgen entscheiden, aber die Gerichtssäle waren doppelt belegt. Hat sich alles verzögert, und dann war der Verhandlungstag vorbei. Die Jungs in Carver City werden sich ein Bein ausreißen, um einen neuen Berufungsantrag stellen zu können.« Er hob die Aktentasche hoch und ließ sie aufschnappen. »Schaffen sie nie.«
Er reichte Angel einen Stapel laserholografierter Schriftstücke. »Das sind die einstweiligen Verfügungen. Du hast bis morgen, wenn die Gerichte öffnen, Zeit, unsere Rechtsansprüche geltend zu machen. Sobald Carver City wieder Berufung eingelegt hat, sieht die Sache anders aus. Dann kannst du zivilrechtlich haftbar gemacht werden, mindestens. Aber bis Sitzungsbeginn morgen früh verteidigst du lediglich die privaten Eigentumsrechte der Bürger des großartigen Staates Nevada.«
Angel fing an, die Papiere durchzugehen. »Ist das alles?«
»Alles, was du brauchst, wenn du die Sache heute Nacht durchziehst. Ab Sitzungsbeginn morgen früh haben wir es wieder mit den üblichen Verzögerungen zu tun, Aussage gegen Aussage.«
»Und du hast umsonst literweise Schweiß vergossen.«
Braxton deutete mit einem dicken Zeigefinger auf Angel. »Das würde ich dir nicht raten.«
Angel lachte über die unterschwellige Drohung. »Ich brauche keine Wohnkonzession mehr. Damit kannst du deinen Sekretärinnen Angst machen.«
»Dass du Case’ Liebling bist, bedeutet noch lange nicht, dass ich dir nicht das Leben schwer machen kann.«
Angel schaute nicht von den Verfügungen auf. »Und dass du Case’ Bluthund bist, bedeutet noch lange nicht, dass ich dich nicht von dieser Brücke stoßen kann.«
Die Siegel und Stempel auf den Verfügungen machten den Eindruck, als sei alles korrekt.
»Was hast du gegen Case in der Hand, das dich so unantastbar macht?«, fragte Braxton.
»Sie vertraut mir.«
Braxton lachte ungläubig, während Angel die Verfügungen wieder in Ordnung brachte.
»Leute wie du halten alles schriftlich fest, weil sie wissen, dass jeder lügt«, sagte Angel. »So seid ihr eben, ihr Anwälte.« Er klopfte Braxton mit den Rechtsdokumenten auf die Brust und grinste. »Deshalb vertraut Case mir und behandelt dich wie einen Bluthund – du bist der, der alles aufschreibt.«
Braxton funkelte Angel wütend an, und der ließ ihn stehen.
Angel ging den Cascade Trail hinunter, zog sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer.
Catherine Case meldete sich nach dem ersten Klingeln. »Case«, sagte sie knapp und förmlich.
Angel sah sie vor sich. Die Königin des Colorado beugte sich über ihren Schreibtisch. Die Wände ihres Büros waren mit raumhohen Karten des Staates Nevada und des Colorado-Beckens bedeckt, die ihr in Echtzeit alle Daten ihres Herrschaftsgebiets lieferten – die Adern jedes Nebenflusses blinkten rot, gelb oder grün und zeigten die Abflussmengen in Kubikmeter pro Sekunde an. Grüne, gelbe, rote Zahlen leuchteten über den verschiedenen Staubecken der Rocky Mountains, sie gaben die Resthöhe der Schneedecke und die Abweichung von der Norm bezüglich ihrer Schmelzgeschwindigkeit an. Andere Zahlen zeigten die Tiefe der Reservoirs und Höhe der Dämme an, vom Blue Mesa Dam am Gunnison River, vom Navajo Dam am San Juan River, vom Flaming Gorge Dam am Green River. Und über allem flimmerten die NASDAQ-Zahlen: Notfallpreise für Abflussmengen und Futures-Angebote, verfügbare Optionen für Zukäufe über den Open Market, falls sie gezwungen sein sollte, Lake Mead aufzufüllen. Zahlen, die ihre Welt so unerbittlich beherrschten, wie sie selbst Angels und Braxtons Welt beherrschte.
»Hab gerade mit Ihrem Lieblingsanwalt gesprochen«, sagte Angel.
»Bitte, sagen Sie mir, dass Sie ihn nicht schon wieder vergrämt haben.«
»Dieser pendejo ist wirklich eine Zumutung.«
»Sie sind auch kein Sonnenscheinchen. Haben Sie alles, was Sie brauchen?«
»Jedenfalls hat mir Braxton einen Haufen toter Bäume in die Hand gedrückt, das ist mal sicher.« Er wog den Packen Schriftstücke in seiner Hand. »Wusste gar nicht, dass es noch so viel Papier gibt.«
»Wir wollen eben sichergehen, dass wir alle auf demselben Stand sind«, sagte Case trocken.
»Ja, und der ist in etwa fünfzig oder sechzig Seiten hoch.«
Case lachte. »Regel Nummer eins aller Bürokraten: Jede Nachricht, die es wert ist, verschickt zu werden, ist es wert, in dreifacher Ausfertigung verschickt zu werden.«
Angel verließ den Cascade Trail, der vor einer Reihe von Aufzügen endete, die hinunter zum Zentralparkplatz führten. »Schätze, wir sind in einer Stunde in der Luft«, sagte er.
»Ich werde das überprüfen.«
»Das ist ein Routineflug, Boss. Braxtons Dokumente sind mit hundert Unterschriften versehen, die allesamt bedeuten, dass ich völlig freie Hand habe. Das sind ganz normale Unterlassungserklärungen. Das Camel Corps könnte das locker alleine erledigen, jede Wette. Das ist ein besserer Botenjob.«
»Nein.« Case’ Stimme war jetzt hart. »Da stecken zehn Jahre gerichtliches Hin und Her dahinter. Ich will, dass endlich Schluss damit ist. Diesmal endgültig. Ich habe es satt, irgendwelchen Richtersöhnchen Cypress-Wohnkonzessionen zu schenken, nur damit wir weiter um etwas betteln dürfen, dass uns von Rechts wegen zusteht.«
»Keine Sorge. Wenn wir mit Carver City fertig sind, wissen die gar nicht mehr, wie ihnen geschehen ist.«
»Gut. Geben Sie mir Bescheid, wenn die Sache erledigt ist.«
Sie legte auf. Angel schlüpfte durch die sich gerade schließenden Türen eines Expressaufzugs. Er trat an die Glasscheibe, und der Aufzug bewegte sich abwärts. Er beschleunigte und sackte durch die Ebenen der Arkologie nach unten. Menschen wischten vorbei: Mütter mit Zwillingsbuggys; Hostessen am Arm ihrer Wochenendfreunde; Touristen aus aller Welt, die Fotos schossen und nach Hause simsten, dass sie die Hängenden Gärten von Las Vegas gesehen hatten. Farnkrautbüsche, Wasserfälle, Cafés.
Unten auf den Entertainmentebenen hatten die Croupiers Schichtwechsel. In den Hotels erwachte das Partyvolk, genehmigte sich den ersten Schluck Wodka und besprühte die Haut mit Glitzerspray. Zimmermädchen und Hilfskellner, Ober, Köche und Reinigungspersonal schufteten, um ihre Arbeit, um ihre Cypress-Wohnkonzession nicht zu verlieren.
Ohne mich wär keiner von euch hier, dachte Angel. Ohne mich wärt ihr alle nur vertrocknetes Steppenkraut. Ausgemergelte Skelette. Ohne Spielwürfel, ohne Nutten, ohne Buggys, ohne Drinks, ohne Arbeit …
Ohne mich seid ihr nichts.
Der Aufzug kam mit einem leisen Klingelton unten an. Die Türen öffneten sich. Der Parkwächter wartete schon mit Angels Tesla.
Eine halbe Stunde später ging er mit großen Schritten über das kochende Rollfeld der Mulroy Airbase. Hitzewellen stiegen vom Asphalt auf, und die Sonne versank blutrot hinter den Spring Mountains. Fünfzig Grad, dabei machte die Sonne gerade Feierabend. Das Flutlicht des Stützpunkts flammte auf und verstärkte die Hitze.
»Hast du die Papiere?«, brüllte Reyes über das Heulen der Apaches hinweg.
»Die Feds werden uns Wüstensöhne lieben!« Angel hielt die Schriftstücke hoch. »Jedenfalls für die nächsten vierzehn Stunden!«
Reyes konnte sich kaum ein Lächeln abringen, drehte sich nur um und begann mit den Startvorbereitungen.
Colonel Reyes war ein großer Schwarzer, der als Aufklärungspilot für die Marines in Syrien und Venezuela gewesen war, dann in der Sahelzone und in Chihuahua eingesetzt war und schließlich seinen aktuellen Spitzenjob bei den Nevada Gardis, der Nationalgarde Nevadas, ergattert hatte.
Der Staat von Nevada zahlt besser, sagte er.
Reyes winkte Angel an Bord des Kommandohubschraubers. Um ihn herum verbrannten die abhebenden Kampfhubschrauber fässerweise synthetischen Kraftstoff. Die Nationalgarde von Nevada alias »das Camel Corps« alias »die verfluchten Vegas-Gardis«, je nachdem, wen sie gerade mit ihren Hades-Raketen beharkten, hob ab, um Catherine Case’ Willen zu exekutieren.
Einer der Gardis warf Angel eine Flakweste zu. Angel zog sich die Kevlarweste über, während Reyes auf den Pilotensitz rutschte und anfing, Befehle zu erteilen. Angel stöpselte sich mit Datenbrille und Ohrknopf in den Sprechfunk des Hubschraubers ein, damit er mithören konnte.
Der Helikopter hob ab. Der Datenstrom im Sichtfeld des Piloten erschien in Angels Brille, Graffiti des Krieges, die Las Vegas mit grellen, hungrigen Tags einfärbte: Zielberechnungen, relevante Bausubstanz, Freund/Feind-Kennzeichnungen, Infos über Hades-Raketen-Bestückung und Bordgeschützmunition Kaliber .50, Kraftstoffanzeigen, Bodentemperaturmesser …
Siebenunddreißig Komma zwei.
Menschen. Gehörten zu den kühlsten Objekten da draußen. Jeder einzelne markiert, und keiner wusste es.
Einer der Gardis, eine Frau, überprüfte, ob Angel sicher angeschnallt war. Angel grinste, als sie die Gurte festzog. Dunkle Haut, schwarze Haare, Augen wie Kohlen. Auf einem Anhänger stand ihr Name – Gupta.
»Ich weiß, wie ich mich anschnallen muss«, brüllte er über den Rotorenlärm hinweg. »Hab den Job früher selbst gemacht.«
Gupta lächelte nicht einmal. »Anweisung von Ms. Case. Wir würden dumm dastehen, wenn Sie nach einer Bruchlandung nicht mehr aufstehen, nur weil Sie Ihren Gurt nicht angezogen hatten.«
»Nach einer Bruchlandung steht keiner von uns mehr auf.«
Sie ignorierte ihn und machte ihre Arbeit. Reyes und das Camel Corps waren gründlich. Sie hatten ihre Rituale, kultiviert im Laufe der Zeit und bis ins Detail ausgereift.
Gupta sagte etwas in ihr Funkgerät, setzte sich dann auf ihren Platz vor dem Monitor für das Bordgeschütz und schnallte sich an.
Angels Magen machte einen Satz, als der Helikopter sich auf die Seite legte, abdrehte und sich der Formation der anderen Jäger anschloss. Die seine Datenbrille durchlaufenden Status-Updates leuchteten heller als Vegas bei Nacht.
SNWA 6602, away.
SNWA 6608, away.
SNWA 6606, away.
Weitere Rufzeichen und Zahlen liefen durch. Ein digitales Zeugnis des kaum sichtbaren Heuschreckenschwarms, der sich in der hereinbrechenden Dämmerung Richtung Süden bewegte.
Reyes’ knisternde Stimme kam über Funk: »Operation Honey Pool angelaufen.«
Angel lachte. »Wer ist denn darauf gekommen?«
»Gefällt’s dir?«
»Mir gefällt Mead.«
»Gefällt uns doch allen, oder?«
Und dann rasten sie Richtung Süden besagtem Lake Mead entgegen: einem Wasserspeicher, der bei seiner Fertigstellung zweiunddreißig Milliarden Kubikmeter fasste und jetzt, wegen der Großen Dürre, nicht einmal mehr die Hälfte. Ein optimistischer See, angelegt in optimistischen Zeiten, nun geschrumpft und zunehmend verlandend. Eine Lebensader, die immer bedroht, immer anfällig war, immer kurz davor, unter den Intake No. 3 abzusinken, der kritischen Rinne IV, ohne die das Herz von Las Vegas aufhören würde zu schlagen.
Unter ihnen tauchten die Lichter von Vegas Central auf: Casino-Neon und Cypress-Arkologien. Hotels und Balkone. Kuppelgewölbe und mit Kondenswasser beschlagene, in Vollspektrumlicht getauchte vertikale Farmen voller grüner hydroponischer Vegetation. Ein geometrisches Lichternetz überzog den Wüstenboden, darüber lag eine Schicht elektronischer Graffiti in der Camel-Corps-Gefechtssprache.
Plakatwände, die Shows und Partys, Drinks und Geld verhießen, wischten durch die Datenbrille und wurden zu Angriffszielen und Einfallpunkten. Enge Straßenschluchten, entworfen zur Durchleitung von Wüstenwinden, wurden zu Scharfschützenpositionen. Mit Solarfarbe gestrichene, bunt schillernde Dächer wurden zu Absetzzonen. Die alles überragenden Cypress-Arkologien beherrschten die Skyline von Vegas, sie waren größer und ehrgeiziger als alle früheren Vorstöße Sin Citys ins Fantastische zusammen: Sie wurden zu bevorzugten, weil hoch gelegenen Angriffszonen.
Vegas endete in einer markanten schwarzen Linie.
Die Gefechtssoftware identifizierte Lebewesen, kühle Punkte in der dunklen Hitze des Vorstadtskeletts aus den Nullerjahren – Quadratkilometer um Quadratkilometer mit Gebäuden, die nur noch als Feuerholz und Kupferdraht taugten, weil Catherine Case entschieden hatte, dass sie kein Wasser mehr verdienten.
Spärliche, vereinzelte Lagerfeuer punktierten die Dunkelheit, Leuchtfeuer, die den Standort von dehydrierten Texanern markierten und von Zonern, Menschen aus der Peripherie der Stadt, die nicht genug Geld hatten für eine Cypress-Arkologie und nicht wussten, wohin sonst sie hätten fliehen sollen. Catherine Case hatte diese Viertel massakriert: die ersten Friedhöfe der Königin des Colorado, tot binnen Sekunden, nachdem sie das Wasser abgestellt hatte.
»Wenn sie ihre verdammten Wasserleitungen nicht überwachen können, dann können sie auch Staub trinken«, hatte sie gesagt.
Wegen dieser Ansage schickten ihr die Menschen noch heute Todesdrohungen.
Die Hubschrauber ließen die letzte der zerstörten Vorstadtpufferzonen hinter sich und erreichten die offene Wüste. Ursprüngliches Land: alttestamentarisch. Kreosotbüsche. Josuabäume, stachelig und einsam. Yucca-Ausschläge. Trockene Rinnsale, bleicher Kiessand, Quarzgestein.
Die Wüste war jetzt tiefschwarz, die Erde kühlte ab. Die wie ein Skalpell über den Boden kratzende Sonne machte Pause. Da unten waren Tiere. Fast haarlose Kojoten. Eidechsen und Schlangen. Eulen. Eine ganze Welt, die erst lebendig wurde, wenn die Sonne unterging. Ein ganzes Ökosystem, das aus Erdhöhlen unter Felsen, Yuccapalmen und Kreosotbüschen hervorkroch.
Angel beobachtete die winzigen Wärmepunkte der Kreaturen, die in der Wüste überleben, und fragte sich, ob sie auch ihn beobachteten, ob irgendein abgemagerter Kojote nach oben schaute zu dem dumpf schrappenden Geräusch der Camel-Corps-Helis, und sich über die Ladung fliegender Menschen wunderte.
Eine Stunde verging.
»Wir sind bald da«, sagte Reyes und brach die Stille. Seine Stimme klang fast ehrfürchtig. Angel beugte sich vor und schaute.
»Da ist er«, sagte Gupta.
Ein schwarzes Wasserband ringelte sich durch die Wüste, durchschnitt die zerklüfteten Gebirgsrücken.
Silbern ergoss sich das Mondlicht über das glatte Wasser.
Der Colorado.
Wie eine Schlange wand er sich durch die bleiche Wüstenlandschaft. Kalifornien hatte diesen Abschnitt des Flusses noch nicht in eine Röhre gezwängt, aber das würde noch kommen. So viel Verdunstung – diesen Diebstahl konnte man der Sonne nicht auf ewig durchgehen lassen. Aber noch floss das Wasser im Freien, dem Himmel und dem ernsten Blick der Gardis ausgesetzt.
Angel blickte wie immer andächtig auf den Fluss hinunter. Das Funkgeplapper der Gardis verstummte, beim Anblick von so viel Wasser schwiegen alle.
Auch wenn er durch Dürren und Abzweigungen geschrumpft war, der Colorado erweckte Ehrfurcht und Gelüste. Achteinhalb Milliarden Kubikmeter pro Jahr … früher zwanzig Milliarden … trotzdem, so viel Wasser, einfach da, mitten in der Landschaft …
Kein Wunder, dass die Hindus Flüsse anbeten, dachte Angel.
In seiner Blüte war der Colorado über zweitausend Kilometer lang gewesen. Von den Schneehängen der Rockies war er durch die roten Felsschluchten Utahs bis in den blauen Pazifik hinuntergestürzt, schnell und ungehindert. Und was er auch berührte, erwachte zum Leben. Konnte ein Farmer Wasser ableiten, ein Hausbauer einen Brunnen bohren, ein Casinobetreiber eine Pumpe anwerfen – dann hatte er alle Möglichkeiten. Ein Körper konnte bei 50 Grad Hitze gedeihen. Eine Stadt konnte in der Wüste erblühen. Der Fluss war ein Segen, so sicher wie der der Muttergottes.
Angel fragte sich, wie der Fluss damals, als er noch frei und schnell geflossen war, ausgesehen hatte. Heutzutage war er flach, floss träge dahin, gegängelt von riesigen Dämmen: Blue Mesa Dam, Flaming Gorge Dam, Glen Canyon Dam, Hoover Dam und andere. Und wo immer Dämme den Fluss und seine Nebenarme aufhielten, entstanden Seen, in denen sich Wüstenhimmel und Sonne spiegelten: Lake Powell, Lake Mead, Lake Havasu …
Heutzutage erreichte kein Tropfen Wasser mehr die Grenze Mexikos, egal wie sehr sich die Regierung über den Colorado River Compact und das Law of the River beklagte. Kinder in den südlichen Kartellstaaten wuchsen auf und starben in dem Glauben, der Colorado sei ebenso ein Mythos wie der chupacabra, von dem Angels alte abuela ihm erzählt hatte. In den meisten Gebieten Utahs und Colorados war es verboten, das Wasser anzurühren, das den Canyon unter Angels Heli füllte.
»Zehn Minuten bis zum Zielort.«
»Möglich, dass sie kämpfen?«
Reyes schüttelte den Kopf. »Zoner haben nicht viel, womit sie sich verteidigen könnten. Die meisten ihrer Einheiten sind immer noch in der Arktis stationiert.«
Das war Case’ Werk. Sie hatte an der Ostküste einen Haufen Politiker geschmiert, die sich nicht darum scherten, was auf dieser Seite der kontinentalen Wasserscheide geschah. Sie hatte diese korrupten Klientelpolitiker mit Nutten, Koks und Unmengen an Lobbyistengeldern gespickt. Als die Stabschefs merkten, dass die Teersandpipelines oben im Norden dringend Schutz benötigten, kamen für den Job zufälligerweise nur die Wüstenkämpfer der Nationalgarde von Arizona in Frage.
Angel erinnerte sich, dass er in den Nachrichten ihren Abzug gesehen hatte, erinnerte sich an das hysterische Geschrei über Energiesicherheit. Er hatte sich prächtig über die Journalisten amüsiert, die mit ihrem Patriotismusgetrommel ihre Einschaltquoten nach oben getrieben und den Amerikanern einmal wieder Gelegenheit gegeben hatten, sich wie richtige Kerle zu fühlen. Wenigstens dazu taugten sie, die Journalisten. Eine Sekunde lang waren die Amerikaner wieder die knallharten Superhelden.
Solidarität, Baby.
Die zwei Dutzend Helis des Camel Corps ließen sich bis dicht über das schwarze Wasser in den Canyon sacken. Der Fluss schlängelte sich in Serpentinen durch felsiges Gelände. Sie folgten den flüssigen Windungen des Colorado und flogen ihrem Ziel entgegen.
Angel fing an zu grinsen. Er spürte das vertraute Pumpen des Adrenalins, das sich immer dann einstellte, wenn alle Einsätze gemacht waren und man nichts weiter tun konnte, als abzuwarten, was der Kartengeber im Stapel hatte.
Er drückte sich die Verfügungen des Gerichts gegen die Brust. Die Siegel und Hologrammstempel. Das Ritual aus Prozessen und Berufungen, alle nötig, damit sie irgendwann endlich die Handschuhe ausziehen konnten.
Die Bevölkerung von Arizona würde nie erfahren, wie ihr geschehen war.
Er lachte. »Die Zeiten ändern sich tatsächlich.«
Gupta drehte sich vor dem Bildschirm ihres Bordgeschützes um. »Was haben Sie gesagt?«
Sie war jung, fiel Angel auf. So jung wie er, als Case ihn zu den Gardis geholt und ihm ein für alle Mal das Wohnrecht für den Bundesstaat Nevada bewilligt hatte. Ein armer, verzweifelter Deportierter, der nach einer Möglichkeit suchte, egal welcher, um auf der richtigen Seite der Grenze bleiben zu dürfen.
»Wie alt sind Sie?«, fragte er. »Zwölf?«
Sie warf ihm einen bösen Blick zu und konzentrierte sich wieder auf ihre Zielleitsysteme.
»Zwanzig, alter Mann.«
»Warum so frostig?« Er zeigte nach unten zum Colorado. »Sie sind zu jung, um sich noch daran zu erinnern, wie es früher war. Früher haben wir mit einem Haufen Anwälten zwischen Stapeln von Papier zusammengesessen, alles Bürokraten mit teuren Kugelschreibern …«
Er verstummte und erinnerte sich an die alten Zeiten, als er Catherine Case’ Bodyguard gewesen war und sie in jede Sitzung mit kahlköpfigen Bürokraten, Geschäftsführern städtischer Wasserwerke – und dem für die Wasserwirtschaft und -versorgung zuständigen Bureau of Reclamation, das dem Innenministerium unterstellt war, begleitet hatte. Alle redeten über Kubikmeter, über Richtlinien und Kooperation bei Landgewinnungsprojekten, über Abwassereffizienz, Wiederaufbereitung, Verdunstungsreduktion und Abdeckplanen für Flüsse, über die Beseitigung von Tamarisken, Pappeln und Weiden. Alle versuchten Deckstühle auf einer großen alten Titanic umzustellen. Alle hielten sich an die Spielregeln, glaubten, dass sie irgendwie über die Runden kommen könnten, taten so, als könnten sie kooperieren und gemeinsam einen Ausweg finden, wenn sie das Problem nur schlau genug angingen.
Und dann zerriss Kalifornien das Regelwerk und entschied sich für ein neues Spiel.
»Haben Sie irgendwas gesagt?«, fragte Gupta.
»Nein.« Angel schüttelte den Kopf. »Nur, dass jetzt andere Spielregeln gelten. Case hat das alte Spiel ziemlich gut beherrscht.« Er hielt sich an seinem Sitz fest, als sie aufstiegen, über den Canyonrand hinausschossen und sich auf ihr Ziel stürzten. »Aber das neue Spiel haben wir auch ganz gut drauf.« Vor ihnen lag ihr Zielobjekt glänzend in der Dunkelheit, ein einsamer Gebäudekomplex in der Wüste.
»Da ist es.«
Ein Licht nach dem anderen erlosch.
»Sie wissen, dass wir kommen«, sagte Reyes und gab Kampfanweisungen.
Die Helis schwärmten aus und nahmen, als sie in Reichweite waren, mögliche Ziele ins Visier. Ihr eigener Heli ging mit zwei Unterstützungsdrohnen im Schlepptau tiefer. Angels Datenbrille zeigte eine Gruppe Helis, die vorausflog und den Luftraum öffnete. Er biss die Zähne zusammen, als sie begannen, sich in unregelmäßigen Abständen absacken zu lassen und dann wieder aufzusteigen, um herauszufinden, ob man versuchen würde, sie vom Boden aus mit Suchscheinwerfern auszumachen.
Am Horizont konnte Angel das orange glühende Carver City sehen. Häuser und Fabriken leuchteten grell und warfen einen Lichthof der Urbanität in den Nachthimmel. All die elektrischen Lichter. All die Klimaanlagen.
All das Leben.
Gupta feuerte ein paar Salven ab. Unten leuchtete etwas auf, eine Fontäne aus Flammen. Die Kampfhubschrauber rasten über die Wasserpump- und Wasseraufbereitungsanlage. Überall Becken und Rohre.
Schwarze Apaches landeten auf Hausdächern, Parkplätzen, Straßenpflaster und spuckten Soldaten aus. Immer mehr Hubschrauber schwebten wie riesige Libellen herab und setzten auf. Der von den Rotorenblättern aufgewirbelte Quarzsand scheuerte über Angels Gesicht.
»Showtime!« Reyes machte Angel Zeichen. Angel überprüfte ein letztes Mal seine Flakweste und ließ den Kinnriemen seines Helms einrasten.
Gupta schaute ihn lächelnd an. »Wollen Sie eine Waffe, alter Mann?«
»Warum?«, fragte Angel, als er aus dem Heli sprang. »Dafür hab ich doch Sie dabei.«
Gardis nahmen ihn in die Mitte. Zusammen liefen sie zum Haupteingang der Anlage.
Flutlicht flammte auf. Arbeiter, die wussten, was jetzt kam, liefen ihnen entgegen. Die Camel-Corps-Soldaten hatten die Gewehre schussbereit im Anschlag und zielten auf die Objekte vor ihnen. Aus dem Lautsprecher ihres Funkgeräts dröhnte Guptas Befehlsgebrüll.
»Alles auf den Boden! Runter! SOFORT!«
Zivilisten warfen sich auf den Vorplatz der Anlage.
Angel lief zu einer Frau, die verängstigt auf dem Boden kauerte, und wedelte mit seinen Dokumenten. »Habt ihr einen Simon Yu hier?«, brüllte er über das Heulen der Helis hinweg.
Eine pummelige weiße Frau mit braunen Haaren, die vor Angst kein Wort herausbrachte. Angel grinste. »Hey, Lady, ich bin bloß der Aktenbote.«
»Drin«, sagte sie schließlich keuchend.
»Danke.« Angel gab ihr einen Klaps auf den Rücken. »Wie wär’s, wenn Sie und Ihre Kollegen sich aus dem Staub machen? Könnte noch ungemütlich werden.«
Zusammen mit einigen Soldaten brach er mithilfe eines Rammbocks die Türen der Wasseraufbereitungsanlage auf. Die Zivilisten drückten sich an die Wände, während das Camel Corps an ihnen vorbei stürmte.
»Gestatten, Besuch aus Vegas «, rief er. »Dann mal nichts wie raus hier, Jungs und Mädchen.«
Guptas vom Lautsprecher verstärkte Befehle übertönten ihn. »Raus! Alle! Sie haben dreißig Minuten, um die Anlage zu verlassen. Wer sich nicht daran hält, macht sich des Widerstandes schuldig!«
Angel und sein Team stürmten in den Hauptkontrollraum: Flachbildschirmcomputer kontrollierten Abflussmenge, Wasserqualität, chemische Zusätze, Pumpeneffizienz – zusammen mit einer Gruppe von Wasseringenieuren, die wie überraschte Erdhörnchen aussahen, als sie von ihren Arbeitsplätzen in die Höhe fuhren.
»Na, wo ist er denn, der hier das Sagen hat?«, rief Angel. »Wo ist er denn, mein Simon Yu?«
Ein Mann stellte sich aufrecht vor ihm hin. »Ich bin Yu.« Schlank, gebräunt, schütteres, quer über den Schädel gekämmtes Haar. Alte Aknenarben auf den Wangen.
Angel warf ihm die Dokumente zu, während die Camel-Corps-Soldaten ausschwärmten und den Kontrollraum sicherten. »Die Anlage ist geschlossen.«
Yu fing unbeholfen die Papiere auf. »Blödsinn! Das Berufungsverfahren läuft.«
»Morgen läuft das Berufungsverfahren, morgen«, sagte Angel. »Heute Abend überreiche ich Ihnen die Verfügung, die Anlage zu schließen. Schauen Sie sich die Unterschriften an.«
»Wir versorgen hunderttausend Menschen! Denen können Sie nicht einfach das Wasser abstellen.«
»Die Richter sind der Ansicht, wir haben die Altrechte«, sagte Angel. »Seien Sie froh, dass wir Ihnen das Wasser lassen, was Sie schon in den Rohren haben. Wenn Ihre Leute sparsam damit umgehen, können sie die paar Tage, bis sie abhauen müssen, aus dem Eimer leben.«
Yu blätterte hastig durch die Papiere. »Diese Entscheidung ist eine Farce! Die wird aufgehoben, wir kriegen Aufschub. Die Entscheidung, die gibt es praktisch gar nicht, die ist schon morgen vom Tisch!«
»Tja, ich wusste, dass Sie so was sagen würden. Das Problem ist nur, wir haben nicht morgen. Wir haben heute. Und heute sagen die Richter, dass Sie den Diebstahl am Wasser des Bundesstaates Nevada einzustellen haben.«
»Dafür werde ich Sie zur Rechenschaft ziehen«, schleuderte Yu ihm entgegen. Es kostete ihn heldenhafte Anstrengung, sich wieder zu beruhigen. »Wir wissen beide, wie ernst das ist. Was immer jetzt in Carver City passiert, Sie tragen die Verantwortung. Wir haben Überwachungskameras. Das wird alles aufgezeichnet und archiviert. Sie können doch unmöglich wollen, dass man Ihnen das alles anhängt.«
Irgendwie gefiel Angel dieser fast glatzköpfige Bürokrat. Simon Yu war engagiert. Kam ihm vor wie einer dieser wohlmeinenden Regierungsbeamten, die sich ihren Job ausgesucht hatten, weil sie aus der Welt einen besseren Ort machen wollten. Ein aufrichtiger und altmodischer Staatsdiener, der aufrichtig und altmodisch für das Wohl des Volkes kämpfte. Und der ging Angel jetzt um den Bart. Wollte mit ihm das Seien-wir-doch-vernünftig-bloß-nichts-überhasten-Spiel spielen.
Sein Pech, dass sie ein anderes Spiel spielten.
»Jede Menge mächtiger Leute werden mächtig sauer sein«, sagte Yu gerade. »Damit kommen Sie nicht durch. Das lassen die Feds sich nicht bieten.«
Angel hatte das Gefühl, als stünde er einem Dinosaurier gegenüber. Sicher, ziemlich kaltblütig, aber wie zum Henker hatte der Mann überhaupt überleben können?
»Mächtige Leute?« Angel lächelte mild. »Haben Sie etwa mit Kalifornien einen Deal, von dem ich nichts weiß? Eigentlich gehört denen Ihr Wasser, und das hab ich irgendwie nicht mitgekriegt? Stand der Dinge, so wie wir das sehen, ist doch der: Sie zapfen Wasser ab, und zwar auf Grundlage irgendwelcher jüngerer Wasserrechte, die einen Scheiß wert sind und die sie aus zweiter Hand einem Farmer im Westen von Colorado abgekauft haben. Und jetzt haben Sie alle Ihre Trümpfe ausgespielt. Das hier ist Wasser, das schon vor langer Zeit bei uns hätte ankommen müssen. Steht zumindest so in den Papieren, die ich Ihnen gerade gegeben habe.«
Yu schaute Angel düster an.
»Jetzt kommen Sie schon, Yu.« Angel boxte dem Mann leicht gegen die Schulter. »Jetzt schauen Sie nicht so deprimiert. Wir sind doch schon lange genug in dem Geschäft. Wir wissen doch beide, einer muss verlieren. Das Law of the River bestimmt: Der mit den Altrechten bekommt alles. Der mit den jüngeren Rechten?« Angel zuckte mit den Achseln. »Tja, nicht so viel.«
»Wer hat Sie bezahlt?«, fragte Yu. »Stevens? Arroyo?«
»Spielt das eine Rolle?«
»Es geht um das Leben von hunderttausend Menschen.«
»Hätten eben nicht auf Wasserrechte setzen sollen, die einen Scheiß wert sind«, sagte Gupta von der anderen Seite des Kontrollraums, wo sie die blinkenden Lichter an Pumpenanzeigen überprüfte.
Angel verkniff sich ein Grinsen, als Yu ihr einen bösen Blick zuwarf. »Sie hat Recht, Yu. Jetzt wissen Sie Bescheid. Sie haben noch fünfundzwanzig Minuten, danach lasse ich ein paar Hades und Hellfires auf Ihre Anlage fallen. Also, verschwinden Sie, bevor wir den Laden abfackeln.«
»Sie wollen uns in die Luft jagen?«
Ein paar der Soldaten lachten.
»Sie haben doch unsere Hubschrauber gesehen, oder?«, sagte Gupta.
»Ich bleibe«, sagte Yu kühl. »Wenn Sie wollen, töten Sie mich. Mal sehen, wie das in Ihren Plan passt.«
Angel seufzte. »Irgendwie hab ich gewusst, dass Sie ein Sturkopf sind.«
Bevor Yu antworten konnte, hatte Angel ihn gepackt und zu Boden geworfen. Er drückte ihm ein Knie ins Kreuz, packte einen Arm und drehte ihn auf den Rücken.
»Sie zerstören …«
»Ja, ja, ich weiß.« Angel zerrte Yus anderen Arm auf den Rücken und legte ihm Handschellen an. »Eine ganze beschissene Stadt. Hunderttausend Menschenleben. Plus den Golfplatz von irgendwem. Aber wie Sie bemerkt haben, Leichen machen das Leben kompliziert, also werden wir Ihren mickrigen Arsch jetzt hier rausschaffen. Verklagen können Sie uns dann morgen.«
»Das können Sie nicht machen!«, rief Yu, dessen Gesicht auf den Boden gedrückt war.
Angel kniete sich neben den wehrlosen Mann. »Ich glaube, Sie nehmen das alles zu persönlich, Simon. Aber so läuft das nicht. Wir beide sind doch nur Rädchen in einem großen, alten Getriebe, oder?« Er zerrte Yu in die Senkrechte. »Das ist größer als Sie und ich. Wir beide machen nur unsere Arbeit.« Er schob Yu durch die Tür, drehte sich noch einmal um und rief Gupta zu: »Überprüfen Sie, ob die Anlage komplett geräumt ist. Ich will, dass der Laden in zehn Minuten in Flammen aufgeht.«
Draußen wartete Reyes neben der Tür des Hubschraubers.
»Zoner im Anflug!«, rief Reyes.
»Tja, das ist weniger gut. Wie lange noch?«
»Fünf Minuten.«
»Verdammte Scheiße.« Angel machte mit dem Zeigefinger eine kreisende Bewegung. »Also dann, Abflug! Ich hab, was ich wollte.«
Die Rotoren setzten sich heulend in Bewegung und übertönten Yus Worte, aber Angel verstand ihn auch so. Der Hass stand dem Mann ins Gesicht geschrieben.
»Ist nichts Persönliches«, brüllte Angel. »Nächstes Jahr geben wir Ihnen einen Job in Vegas. Sie sind doch viel zu gut für die hier. Die SNWA kann gute Leute wie Sie gebrauchen.«
Angel versuchte Yu in den Heli zu ziehen, aber der Mann sträubte sich. Mit zusammengekniffenen Augen schaute er Angel an. Die Helis der Gardis wirbelten Staubwolken auf, der Heuschreckenschwarm hob ab. Angel zog Yu wieder am Arm. »Wird langsam Zeit.«
»Ach ja?«
Plötzlich riss Yu sich los und rannte zurück zum Eingang der Wasseraufbereitungsanlage. Mit den gefesselten Händen auf dem Rücken geriet er ins Stolpern, aber er lief entschlossen weiter auf das Gebäude zu, aus dem gerade die letzten seiner Leute flohen.
Angel und Reyes schauten sich gequält an.
Engagierter Mistkerl. Der verdammte Bürohengst kämpfte bis zum bitteren Ende.
»Wir müssen los«, rief Reyes. »Wenn die Zoner uns in ein Gefecht verwickeln, dann kriegen uns die Jungs in Washington am Arsch. Wenn die eins nicht durchgehen lassen, dann ein Feuergefecht zwischen Bundesstaaten. Wir müssen hier raus, sofort.«
Angel blickte Yu nach. »Gib mir eine Minute.«
»Dreißig Sekunden.«
Angel schaute Reyes angewidert an und rannte dann Yu hinterher.
Um ihn herum hoben Helis ab, schwebten in die Luft wie Blätter im heißen Wüstenwind. Angel lief durch den aufwirbelnden Sand, kniff die Augen zusammen gegen den beißenden Kieselstaub.
An der Tür zur Wiederaufbereitungsanlage bekam Angel Yu zu fassen. »Sie sind stur, das muss ich Ihnen lassen.«
»Lassen Sie mich.«
Angel riss ihn zu Boden. Der Aufprall nahm Yu die Luft, und Angel nutzte die kurze Betäubung des Mannes, um ihm auch an den Fußknöcheln Handschellen anzulegen.
»Lassen Sie mich los, Sie Drecksack.«
»Normalerweise würde ich Sie einfach abstechen und fertig«, brummte Angel, während er sich den Mann im Gamstragegriff auf den Rücken wuchtete. »Aber weil wir ja ganz nach Recht und Gesetz vorgehen, ist das keine Option. Aber reizen Sie mich nicht. Ernsthaft.« Er stapfte zu dem einzigen noch wartenden Heli zurück.
Die letzten Arbeiter sprangen in ihre Wagen und rasten davon, umgeben von Staubwolken entfernten sie sich von Carver Citys Wasseraufbereitungsanlage. Die Ratten verließen das sinkende Schiff.
Reyes schaute Angel wütend an. »Verdammt, nun mach schon.«
»Ja, ja, bin schon da.«
Angel warf Yu in den Heli und stand noch auf den Landekufen, als der Heli schon abhob. Er kletterte ins Innere.
Gupta eröffnete mit ihrem Bordgeschütz das Feuer, während Angel sich auf seinem Sitz festschnallte. In seiner Datenbrille leuchteten Kommandos zum Feuern auf. Er schaute durch die offene Tür während ihm die Software des Militärgeheimdienstes die verschiedenen Bereiche der Wasseraufbereitungsanlage zeigte: Filtertürme, Pumpenmotoren, Energieversorgung, Notstromaggregate …
Raketen schossen aus den Geschützrohren, malten stumm Feuerbögen in die Luft und bohrten sich dann ohrenbetäubend laut in die Eingeweide der Wasserinfrastruktur von Carver City.
Flammenpilze stiegen in den Nachthimmel auf, tauchten die Wüste in orangen Glanz, beleuchteten die schwarzen Heuschreckenkörper der feuernden Helis.
Vor Angel auf dem Boden lag Simon Yu, der an Händen und Füßen gefesselt, machtlos gegenüber der Zerstörung, zusehen musste, wie seine Welt in pilzförmigen Wolken aufging.
Im flackernden Lichtschein der Explosionen sah Angel Tränen auf den Wangen des Mannes. Das Wasser, das aus den Augen eines Mannes kam, verriet ebenso viel wie sein Schweiß: Simon Yu trauerte um den Ort, den er so hart zu verteidigen versucht hatte. Der arme Mistkerl war sicher kalt wie Eis. Sah nicht so aus, aber der Mistkerl hatte sicher Eis im Blut.
Zu schade, dass ihm das nun auch nichts nutzte.
Das ist das Ende der Welt, dachte Angel, als eine Rakete nach der anderen die Anlage traf. Das gottverdammte Ende der Welt.
Und nach diesem Gedanken schoss ihm unweigerlich ein anderer durch den Kopf.
Tja, dann bin ich wohl der Teufel.
2
Das Geräusch von Regen weckte Lucy. Ein sanft prasselnder Segen. Zum ersten Mal seit über einem Jahr entspannte sich ihr Körper.
Die Verkrampfung fiel so plötzlich von ihr ab, dass sie sich einen Augenblick lang schwerelos fühlte, wie mit Helium gefüllt. Traurigkeit und Grauen schälten sich von ihrem Körper wie die Haut von einer Schlange, sie war zu eng, zu kieselig und trocken geworden, um sie noch länger umschließen zu können. Sie stand auf.
Sie fühlte sich neu und sauber und leichter als Luft, und sie schluchzte erleichtert über die Befreiung.
Und dann wachte sie ganz auf, und es war nicht Regen, der die Fenster ihres Hauses liebkoste, sondern Staub, und die Last ihres Lebens stürzte einmal mehr über ihr zusammen.
Sie lag regungslos im Bett, zitterte über den Verlust des Traums und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
Sand klatschte unablässig ätzend gegen das Glas.
Der Traum war ihr so wirklich erschienen: der strömende Regen, die weiche Luft, der Geruch blühender Pflanzen. Ihre verklebten Poren und der harte Wüstenboden öffneten sich weit und hießen das Geschenk willkommen – das Land und ihr Körper saugten das Wunder des vom Himmel fallenden Wassers auf. Gotteswasser hatten es die amerikanischen Siedler einst genannt, als sie langsam in die Prärien des Mittelwestens eingedrungen und dann weiter in die trockenen Gebiete jenseits der Rocky Mountains vorgestoßen waren.
Gotteswasser.
Wasser, das ganz von selbst vom Himmel fiel.
In Lucys Traum war es so sanft wie ein Kuss gewesen. Segen und Absolution, die aus Gottes Himmel herabgestürzt waren. Und jetzt war es vorbei. Ihre Lippen waren rissig und aufgesprungen.
Lucy stieß die verschwitzten Laken vom Bett, stand auf und schaute nach draußen. Die wenigen Straßenlampen, die die Gangs noch nicht zerschossen hatten, versuchten sich wie blasse Monde gegen den rötlichen Dunst zu behaupten. Noch während sie hinausschaute, wurde der Sturm dichter, die Dunkelheit verschluckte das Licht der Straßenlampen und ließ nur glänzende Punkte auf der Netzhaut zurück. Das Licht, das die Welt verlässt. Lucy glaubte das irgendwo gelesen zu haben – irgendeine alte christliche Sache. Der Tod von Jesus vielleicht. Das Licht, das uns für immer verlässt.
Abgang Jesus, Auftritt La Santa Muerte.
Lucy ging zurück ins Bett, streckte sich auf der Matratze aus und lauschte dem peitschenden Nachtwind. Irgendwo draußen heulte ein Hund um sein Leben. Ein Streuner vielleicht. Am Morgen wäre er tot, ein weiteres Opfer der Großen Dürre.
Das Betteln draußen fand sein Echo in einem Winseln unter dem Bett: Sunny, der sich wegen der Luftdruckschwankungen zusammengerollt hatte und zitterte.
Lucy krabbelte wieder aus dem Bett und füllte aus ihrem Tank etwas Wasser in eine Schüssel. Obwohl sie wusste, dass sie noch fünfundsiebzig Liter hatte, schaute sie unbewusst auf die kleine LED-Anzeige und fand die Zahl, die sie im Kopf hatte, bestätigt.
Sie ging neben dem Bett in die Hocke und schob dem Hund die Schüssel hin.
Sunny schaute sie elend aus der Dunkelheit an. Er würde nicht hervorkommen und trinken.
Wenn Lucy abergläubisch gewesen wäre, dann hätte sie angenommen, dass der struppige Australian Shepherd etwas wusste, das sie nicht wusste. Dass er das Böse in der Luft spürte, die schlagenden Schwingen des Teufels am Nachthimmel vielleicht.
Die Chinesen glaubten, dass Hunde Erdbeben wittern könnten. Sie benutzten sie, um Katastrophen vorherzusagen. Die Kommunisten im alten China hatten einmal Stunden vor einem großen Erdbeben neunzigtausend Menschen aus der Stadt Haicheng evakuiert. Sie hatten Leben gerettet, weil sie darauf vertrauten, dass Tiere Dinge wussten, von denen Menschen keine Ahnung hatten.
Einer der Biotekten von Taiyang International hatte Lucy davon erzählt. Er wollte ihr damit zeigen, dass China die Welt zu deuten wüsste und vorausplante. Und deshalb sei China widerstandsfähig verglichen mit diesem rückgratlosen Amerika, in das man ihn geschickt hatte.
Wenn ein Tier sprach, sollte man aufpassen.
Sunny kauerte unter dem Bett. Fell und Haut zuckten, und er gab ein tiefes, durchdringendes, klägliches Winseln von sich.
»Komm raus, mein Junge.«
Er rührte sich nicht vom Fleck.
»Jetzt komm schon, der Sturm ist draußen. Nicht hier drin.«
Keine Reaktion.
Lucy setzte sich im Schneidersitz auf die Fliesen und betrachtete Sunny. Wenigstens waren die Fliesen kühl.
Warum schlief sie nicht einfach auf dem Boden? Was ärgerte sie sich im Sommer überhaupt mit Bett oder Decke herum? Oder im Frühjahr oder Herbst?
Lucy legte sich mit dem nackten Bauch auf die Tonfliesen und griff unter dem Bett nach Sunny.
»Es ist alles gut«, murmelte sie und strich ihm mit den Fingern über das Fell. »Schsch. Schsch. Keine Angst, es ist alles gut.«
Sie versuchte, sich selbst zu entspannen, aber das nervöse Zittern unter ihrer Haut wollte einfach nicht aufhören. Das pulsierende Unbehagen, das ihr waches Bewusstsein erzeugte.
Kein Wunder, dass Sunny sich unter dem Bett verkrochen hatte.
Sosehr Lucy sich auch einzureden versuchte, Sunny sei verrückt, ihr kleines Eidechsengehirn glaubte der Warnung des Hundes.
Da draußen war etwas, etwas Dunkles und Hungriges, und sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass das entsetzliche Ding ihr seine Aufmerksamkeit zuwandte – ihr und Sunny und dieser kleinen sicheren Insel mit ihrem geduckten Adobeobdach, das sie ihr Zuhause nannte.
Lucy stand auf und überprüfte die Türriegel zum Windfang.
Du bist paranoid.
Sunny winselte wieder.
»Sei still, mein Junge.«
Der Klang ihrer eigenen Stimme beunruhigte sie.
Sie machte noch einen Rundgang durchs Haus und überprüfte, ob sie alle Vorhänge zugezogen hatte. Beim Anblick ihres Spiegelbilds im Küchenfenster erschrak sie.
Hatte sie den nicht zugezogen?
Als sie den Vorhang aus guatemaltekischem Stoff vor die Scheibe zog, rechnete sie fast damit, dass aus der Dunkelheit ein Gesicht auftauchen würde. Es war abergläubisch und absurd zu denken, dass tatsächlich jemand aus dem Sturm in ihr Haus schauen könnte, aber trotzdem ging sie ins Schlafzimmer, zog sich eine Jeans an und fühlte sich gleich geschützter, zumindest psychisch. Den Gedanken an Schlaf gab sie endgültig auf. Sie würde jetzt unmöglich wieder einschlafen können. Nicht mit der Angst, die ihr der Sturm eingejagt hatte und die ein Kribbeln zwischen ihren Schulterblättern verursachte.
Dann kann ich auch gleich arbeiten.
Lucy klappte ihren Computer auf, scannte auf dem Trackpad ihre Fingerabdrücke und gab ihre Passwörter ein. Die Windböen peitschten unablässig gegen die Fenster. Die Hausbatterien waren nicht mehr so voll, wie sie hätten sein sollen. Sie hatte zwar zwanzig Jahre Garantie auf die Batterien, aber Charlene erzählte immer wieder, dass das Blödsinn sei. Lucy hoffte nur, dass der Sturm sich bis zum Morgen legen würde, dann könnte sie die Sonnenkollektoren sauber machen und die Batterien wieder aufladen.
Sunny winselte wieder.
Lucy achtete nicht weiter auf ihn und loggte sich in ihre Umsatz-Tracker ein.
Sie hatte eine neue Geschichte mit Originalfotos von Timo gepostet. Wenn sie ehrlich war, die Bilder waren es, die die Geschichte verkauften: ein Pick-up voller Habseligkeiten, der bis zu den Achsen im Staub festsaß und beim Versuch, aus Phoenix zu fliehen, jämmerlich gescheitert war. Das Allerneuste in Katastrophenpornografie. Die Geschichte lief durchs Netz, brachte Hits und machte Umsatz, trotzdem erregte sie nicht so viel Aufmerksamkeit, wie Lucy gehofft hatte.
Sie überflog die Feeds und suchte nach Gründen für den Rückgang ihres Marktanteils. Am Colorado war etwas im Gange: ein Feuergefecht oder ein Bombenangriff.
#Carver City, #CoRiver, #SchwarzeHelis …
Auch größere Nachrichtenagenturen waren schon an der Geschichte dran. In einem Video sah Lucy den Direktor eines Wasserwerks, der Gift und Galle über Las Vegas spuckte. Sie hätte ihn für einen Irren gehalten, wenn man nicht im Hintergrund die Verwüstung und die Flammen gesehen hätte, die dem Gedanken Glaubwürdigkeit verliehen, dass Las Vegas wirklich seine Waterknives losgeschickt und diese überfallartig ein bisschen aufgeräumt hatten.
Der Mann mit dem schütteren Haar tobte, dass er von Gardis aus Nevada entführt und in der Wüste ausgesetzt worden sei und dann zu Fuß zu den Trümmern seiner eigenen Wasseraufbereitungsanlage habe zurückgehen müssen.
»Da steckt Catherine Case dahinter! Die hat einfach ignoriert, dass die Berufung noch läuft! Wir haben Rechte!«
»Werden Sie vor Gericht gehen?«
»Da können Sie verdammt noch mal drauf wetten. Diesmal ist sie zu weit gegangen.«
Auch andere Webseiten stiegen groß auf die Geschichte ein. TV-Sender und Berühmtheiten aus Arizona schlugen die Trommel des regionalen Zorns, generierten Quoten und Werbeeinnahmen mit den Bildern vom Schlachtfeld und schürten so den Hass der einheimischen Bevölkerung. Der Umsatz würde steigen, wenn die Anzahl der Kommentare explodierte und die Menschen die sozialen Netzwerke mit der Geschichte fütterten.
Lucy markierte die Geschichte für ihre Follower, aber durch den Sturm und die Entfernung hatte sie das günstigste Zeitfenster schon verpasst, um noch viel Umsatz für sich selbst abzweigen oder irgendwas anderes tun zu können, außer im Windschatten anderer Journalisten mitzusegeln.
Um ihren Lesern zu versichern, dass sie über die Ausweidung Carver Citys Bescheid wusste, schob sie die Geschichte in ihre Feeds und suchte dann im tosenden Meer der sozialen Medien bei ihren eigenen Primärquellen nach Geschichten, die sie als Erste für sich beanspruchen konnte.
Dutzende von neuen Kommentaren unter #PhoenixAmEndePhoenixAmEnde:
Hau heute wieder ab, wenn nicht noch so ein Scheißsturm kommt. #Deprimiert #PhoenixAmEnde
Wann weiß man, dass man am Ende ist: Du trinkst deine eigene Pisse und redest dir ein, es ist Quellwasser.
#PhoenixAmEnde #ClearsacLove
Volltreffer! Wir gehen nach Norden!« #BCLotto #BisbaldSchlampen
Helis im Canyon. Weiß wer, was da draußen los ist?
#CoRiver #SchwarzeHelis
Sind immer noch vor meinem Haus! Wo zum Henker bleibt die Kavallerie?!! @PhoenixPD
Nehmt nicht die Route 66 #KaliMiliz #DrohnenMeute #MM16
Was soll der Scheiß? Seit wann ist Samm’s Bar dicht? #BrauchNenDrink ##PhoenixAmEnde
Pic: PHOENIX AUS DER ASCHE. Plakatwand vollgepflastert mit Clearsacs. LOL. #PhoenixAmEnde #PhoenixKunst #PhoenixAusDerAsche
Sie verfolgte die Hashtags und Kommentare der Einwohner von Phoenix schon seit Jahren. Ein Proxy-Netzwerk, das die Implosion der Stadt kartografierte. Der virtuelle Widerhall einer materiellen Katastrophe.
Sie selbst stellte sich Phoenix als einen Krater vor, der alles in sich hineinsaugt – Gebäude, Leben, Straßen, Geschichte. Alles kippt und rutscht in den weit aufgerissenen Schlund der Katastrophe – Sand, Riesenkakteen, Siedlungen.
Und Lucy wanderte am Rand des Kraters entlang und dokumentierte.
Ihre Kritiker behaupteten, sie betreibe auch nichts anderes als Katastrophenpornografie, und an ihren schlechten Tagen stimmte sie dem zu: eine Journalistin mehr, die nach obszönen Bildern gierte, wie die von den Geiern, die sich nach einer Cat 6 über Houston hermachten, oder die vom untergegangenen Detroit, das sich die Natur zurückeroberte. Aber an anderen Tagen hatte Lucy das Gefühl, dass sie weniger den Tod einer Stadt erotisierte als die Zukunft freilegte, die sich vor ihnen auftat. Als wollte sie sagen: Das sind wir. So werden wir alle enden. Es gibt nur eine Tür da raus, und durch die gehen wir alle.
Als sie als unbedarfte Reporterin in die Stadt gezogen war, hatte sie das alles nicht berührt. Damals hatte sie sich lustig gemacht über die Zoner, war zufrieden gewesen mit den leichten Geschichten und den Micropayment-Beträgen, dem schnellen Geld, das sie über die Klickrate machen konnte, indem sie voyeuristische Köder auslegte.
#Clickbait
#KatastrophenPorn
#PhoenixAmEnde
Die Bewohner von Phoenix und ihrer Vorstädte, das waren die neuen Texaner, diese Merry Perry-Idioten, und Lucy und ihre Kollegen von CNN, Xinhua, Kindle Post, Agence France-Presse und Google/New York Times taten sich mit Freuden an der Leiche gütlich. Das Land hatte gesehen, wie Texas zerfallen war, es wussten also alle, wie es funktionierte. Phoenix war Austin, aber größer, schlimmer und totaler.
Katastrophe 2.0: Leugnung, Katastrophe, Akzeptanz, Flüchtlinge.
Lucy war zur passenden Zeit da, um aus nächster Nähe mitzuerleben, wie die Zoner an die Wand liefen. Obduktion der Leiche mit einem Hochleistungsmikroskop und einem eiskalten Dos Equis.
#BesserDieAlsWir
Doch dann hatte sie ein paar Zoner kennengelernt. Hatte in der Stadt Wurzeln geschlagen, half ihrem Freund Timo, sein Haus zu entkernen. Sie rupften die Rohre und Kabel aus den Wänden wie die Knochen aus einer Leiche.
Sie stemmten die Fenster aus den Rahmen wie Augäpfel aus ihren Höhlen. Das Haus starrte blind auf die ebenfalls augenlosen Häuser auf der anderen Straßenseite. Sie hatte die Geschichte aufgeschrieben – ein Haus, das drei Generationen einer Familie ein Heim gewesen war, wurde wertlos, weil die Brunnen der Vorstadt versiegten und Phoenix einen Anschluss an ihr Netz verweigerte.
#KatastrophenPorn, sicher, nur dass Lucy jetzt zu den Akteuren gehörte – neben Timo, seiner Schwester Marta und deren dreijähriger Tochter, die nicht aufhörte zu weinen, während die Erwachsenen das einzige Haus abrissen, das sie je gekannt hatte.
Unter dem Bett winselte Sunny wieder.
»Ist bald vorbei«, sagte Lucy abwesend und fragte sich dann, ob das stimmte.
Die Wettervorhersage meinte, die Sandstürme würden einen neuen Rekord erreichen. Bis jetzt waren es fünfundsechzig, und weitere waren im Anmarsch.
Was, wenn die Stürme nie aufhörten?
Die Metereologen redeten, als gäbe es Rekorde und Rekordbrecher, als ob dahinter ein Muster steckte, das sie entziffern könnten. Die Wettervorhersage im Fernsehen benutzte das Wort Dürre, aber dieser Begriff implizierte, dass eine Dürre auch enden konnte. Es war ein vorübergehendes Ereignis, nicht der Normalzustand.
Aber vielleicht war ihnen ein einziger, ununterbrochener Sturm vorherbestimmt – eine endlose Plage aus Staub, Dürre und Steppenbrandrauch, und die einzigen Rekorde, die man brechen konnte, waren die für die Tage, an denen die Sonne zu sehen war …
Auf Lucys Bildschirm tauchte eine Eilmeldung auf. Ihr Funkscanner schaltete sich ein, der knackende Polizeifunk war zu hören. Irgendwas stimmte nicht. Die Meldung lief auch über ihre sozialen Netzwerke.
Überall Bullen @Hilton6. Tote, jede Wette.
ENDE DER LESEPROBE