Wattgeflüster - Roxane Bicker - E-Book

Wattgeflüster E-Book

Roxane Bicker

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Beschreibung

Seit den Ereignissen rund um das Windjammerfestival wächst der Polizistin Phil Berger das Leben auf der Insel Medderoog über den Kopf. Ihre Frau, die Sirene Harpo, bleibt verschwunden und auch für ihre verwandelte Freundin Elli lässt sich keine Erlösung finden. Phil will alles hinter sich lassen und nur noch fort von der Insel. Doch plötzlich tauchen mitten auf dem Eiland Spuren des Todes auf - Pfade, aus denen alles Leben gewichen ist. Unheil braut sich zusammen. Und dann geschieht ein Mord …

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

06/2024

 

Wattgeflüster

 

© by Roxane Bicker

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2024 by Juliane Buser – Grafikdesign

Lektorat: Matthias Schlicke

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Nadine Engel

Autorenfoto: Jens Bicker

 

Coverbild Wellenbrecher

© 2021 by Juliane Buser – Grafikdesign

Coverbild Windgejammer

© 2022 by Juliane Buser – Grafikdesign

Coverbilder Die Herren des Schakals I-III

© 2000 by Creativ Work Design, Homburg

 

 

ISBN 978-3-96741-265-9

Inhaltswarnungen/Content Notes zum Buch finden sich auf: www.roxanebicker.com

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

 

 

 

Roxane Bicker

 

 

WATTGEFLÜSTER

 

Gezeitenwechsel 3

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kriminalroman

 

 

Nur Dich

 

 

Der Himmel trägt im Wolkengürtel

Den gebogenen Mond.

 

Unter dem Sichelbild

Will ich in deiner Hand ruhn.

 

Immer muß ich wie der Sturm will,

Bin ein Meer ohne Strand.

 

Aber seit du meine Muscheln suchst,

Leuchtet mein Herz.

 

Das liegt auf meinem Grund

Verzaubert.

 

Vielleicht ist mein Herz die Welt,

Pocht —

 

Und sucht nur noch dich —

Wie soll ich dich rufen?

 

 

Else Lasker-Schüler

 

 

PROLOG

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

EPILOG

DANKSAGUNG

DIE HERREN DES SCHAKALS

 

PROLOG

 

 

W

ie eine Spur zogen sich die toten Körper der Tiere über die freie Fläche. Kaninchen, Möwen, selbst Käfer. Und nicht nur das, auch das dürre Wintergras sah grau und tot aus. Eine Spur der Vernichtung, die sich dort mitten über die Insel zog.

Mara blickte auf und sah eine Gestalt auf der Düne stehen. Ihre Aura strahlte wie ein Heiligenschein um ihren ganzen Körper, so hell, dass Mara den Blick abwenden musste. Als sie wieder zur Düne sah, war die Gestalt verschwunden. Hatte sie sich getäuscht, ihr die Augen einen Streich gespielt? Ihr rasendes Herz widersprach dem heftig. Etwas ging hier ganz und gar nicht mit rechten Dingen zu. Sie rieb sich über die Augen.

Sie sollte mit Phil sprechen. Vielleicht auch mit Polizeichef Ahrends.

 

 

1. Kapitel

 

 

P

hil stellte ihr altes, klappriges Fahrrad oben auf den Überweg der Düne. Sie streifte die Turnschuhe ab, steckte ihre Socken hinein und stieg den Plattenweg hinunter zum Strand. Als sie das Wasser erreichte, krempelte sie ihre Hose bis über die Knie. Es war eine mechanische Handlung, die ihr in den letzten Wochen zur Gewohnheit geworden war. Jeden Tag kam sie hier heraus.

Jeden einzelnen verdammten Tag. Und jeden Tag umsonst. Immer umsonst. Doch vielleicht nicht dieses Mal. Vielleicht hört sie mich. Vielleicht.

Heute schien das Meer so grau wie die Wolken, beides vermischte sich miteinander. Ein leichter Sprühregen lag in der Luft, der aus dem Himmel oder von der See kommen mochte. Phil watete in das eisige Wasser. Ihre Füße kribbelten schmerzhaft, doch das hielt sie nicht auf.

Weiter, immer weiter.

Sie ging, bis das Wasser ihre Waden erreichte. Dann blieb sie stehen. Schlang die Arme um sich. Die Kälte des Wassers kroch ihre Beine hoch und ließ sie frösteln. Da halfen auch der warme Pullover und die Regenjacke nicht.

»Harpo?« Der erste Ruf klang zögerlich und verhallte über den Wellen. Phil holte Luft und rief lauter: »Harpo! Wo bist du?«

Die Wellen rauschten. Der Wind strich leise über den Sand. In der Ferne vernahm Phil den Schrei eines Raubvogels. Stille.

»Harpo!« Und schließlich brüllte sie mit aller Kraft, dienoch in ihr steckte: »HARPO!«

Wellen. Wind. Sand. Stille. Noch einen Schritt. Warten. Immer weiter warten, wie sie es die letzten Wochen getan hatte. Die Gischt mischte sich mit ihren Tränen. Bald wusste Phil nicht mehr, wo sie endete, wo das Meer begann.

Aufgeben. Mich einfach treiben lassen. Vielleicht findet Harpo mich dann wieder. Und wenn nicht, ist auch alles egal.

Phil machte einen weiteren Schritt in das Wasser hinein. Die Wellen leckten an ihren Hosenbeinen. Die Versuchung war groß, doch sie spürte das Band, das sie mit Tom vereinte, das sie hier auf der Insel, an Land hielt. Spürte das Feuer, das sie wärmte.

Feuer und Wasser. Es hätte gegensätzlicher nicht sein können. Das eine hält mich hier, das andere zieht mich weg. Wie lange noch, bis ich zerreiße?

»Komm zurück«, flüsterte sie und spürte, wie ihr der Schmerz durch das Herz zuckte wie ein Messer, das sich hineinfraß. Die Ungewissheit, ob dort draußen überhaupt noch jemand war, der zu ihr zurückkehren konnte. »Ich brauche dich. Ich brauche euch beide.«

Sie widerstand der Versuchung, sich auf die Knie fallen zu lassen, ihre Finger in den nassen Sand zu graben, auf die Wellen einzuschlagen, von ihnen zu fordern, ihr Harpo zurückzugeben. Stattdessen wischte sich Phil mit dem Handrücken das Wasser aus dem Gesicht, drehte sich um und watete an Land zurück. Einen vorsichtigen Schritt nach dem anderen. Kein Blick zurück. Immer weiter. Morgen würde sie wiederkommen. Und am folgenden Tag. Und an dem Tag danach.

Immer wieder. Jeden verdammten Tag. Bis sie wieder bei mir ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2. Kapitel

 

 

V

om Überweg aus ließ Phil das Rad die Pflasterstraße hinab rollen in Richtung des kleinen Industriegebietes, das sich am östlichen Ende der Insel Medderoog befand.

Industriegebiet, dass ich nicht lache. Ein paar abgeratzte Lagerhallen, eine Brauerei und ein Ponyhof für die Touris. Viel mehr gibt’s doch nicht.

Zielgerichtet steuerte sie die eine Halle an, aus der das laute Kreischen einer Flex klang. Funken flogen und der scharfe Geruch erhitzten Metalls lag in der Luft. Phil lehnte ihr Rad gegen das Wellblech und wartete, bis das ohrenbetäubende Geräusch verklang. Erst dann trat sie um die Ecke und in die Werkstatt. Tom drehte sich um, noch bevor er sie gehört haben konnte und zog die Schutzbrille ab.

»Nichts?«, fragte er und sie schüttelte nur stumm den Kopf. Er legte Brille und Flex beiseite und zog sie in seine Arme. Phil drückte sich fest an ihn, sog seine Wärme und den ganz eigenen metallischen Geruch ein.

»Du bist klitschnass«, flüsterte er an ihren Haaren.

»Es nieselt und das Meer ist auch nicht gerade trocken.«

»Hinten steht Kaffee. Zieh dir was Trockenes an.« Tom ließ sie los und schob sie in die Dunkelheit der Lagerhalle, die er in den letzten Wochen zu einer Werkstatt ausgebaut hatte. »Ich muss das hier gerade noch fertigmachen. Enno kommt nachher und will sein Rad abholen.«

»Enno?« Phil schlüpfte aus den nassen Sachen und tastete im schummrigen Licht, das von draußen hereindrang, nach den Haken an der Wand. »Wer ist Enno?« Ihre Finger fanden einen Hoodie, daneben etwas, dass sich wie eine Hose anfühlte. Sie zog beides über, natürlich viel zu weit, weil es Toms Sachen waren, aber immerhin warm und trocken. Sie rieb sich den verbliebenen Sand von den Füßen und zog ihre Socken wieder an. Immerhin die waren trocken geblieben.

»Enno. Dunkle Haare, Schnauzer, deine Größe. Lover von Mats. Wir haben ihn letzte Woche getroffen. Bei der Runde im Austernfischer.«

»Hmhm.« Phil hatte keine Erinnerung an den Kerl. Sie tapste hinüber zur Werkbank, wo neben dem Gerippe eines Fahrrades zwischen diversem Werkzeug eine Kaffeemaschine stand. Fast erwartete sie, den obligatorischen Bodensatz zu sehen, den sie immer in der gequälten Maschine auf dem Revier vorfand. Aber diese Erwartung wurde enttäuscht und ihr Herz schlug etwas schneller.

Bester.

Eine frisch aufgebrühte Kanne wartete auf sie und sogar eine Tasse stand erwartungsvoll daneben. Phil schenkte sich ein und schloss die eisigen Finger um die Wärme. Tom trat neben sie und griff nach dem Fahrradrahmen. Die Schutzbrille vom Flexen hatte er gegen einen Schweißerhelm getauscht.

»Bin draußen«, sagte sie in Erwartung des Folgenden. »Gib Bescheid, wenn du fertig bist.«

Tom nickte wortlos, zog mit der freien Hand eine zerdrückte Packung Zigaretten aus der hinteren Hosentasche und warf sie ihr zu. Phil fing sie auf und zog sich mit dem Mund einen Glimmstängel heraus. Noch bevor sie nach dem Feuerzeug tasten konnte, hielt Tom ihr den Zeigefinger entgegen, über dem ein winziges Flämmchen tanzte.

»Poser«, murmelte Phil aus dem Mundwinkel. Dann deutete sie mit dem Kinn auf das metallene Fahrradskelett und seinen Schweißerhelm. »Warum kannst du da nicht einfach …« Sie wedelte mit der linken Hand in der Luft herum.

»Ich hab zwar Feuer, Schätzchen«, antwortete Tom grinsend, »aber so heiß brenne ich nun doch nicht. Raus mit dir.«

Phil folgte der Anweisung und fand ein trockenes Plätzchen unter dem Vordach der Halle. Der Sprühregen war inzwischen zu einem richtigen Regen geworden und prasselte auf die Straße vor ihr, wo das Wasser in kleinen Rinnsalen entlang lief.

Winter. Ich hab diese Insel ja schon im Sommer gehasst. Aber jetzt ist es noch schlimmer.

Phil zog an der Zigarette, trank ihren Kaffee und ließ die Gedanken schweifen. Bald ein halbes Jahr lag ihre Versetzung jetzt zurück. Erst ein halbes Jahr und doch hatten diese Monate ihr Leben gründlich auf den Kopf gestellt. Sie hatte Harpo gefunden, sie geheiratet und wieder verloren. Tom war ihr gefolgt, sie hatte erfahren, dass er ein Incubus ist und sie beide ein Blutband vereinte.

Ein asexueller Incubus. Ein Widerspruch in sich, irgendwie.

Und jetzt führten sie beide eine — wie hatte Ruth es letztens ausgedrückt? — queerplatonische Beziehung. Phil drückte die aufgerauchte Zigarette an der Wellblechwand aus und schnippte sie in den Eimer, der neben dem Eingang stand. Ein quietschgelber Friesennerz, der sich der Halle näherte, fing ihren Blick. Aber noch etwas dahinter. Phil trat einen Schritt vor, um durch den strömenden Regen etwas zu erkennen. Der Friesennerz steuerte auf sie zu, zog die Kapuze herunter und entblößte dunkle Haare und einen Schnauzer.

»Hi, Phil!«, grüßte er fröhlich.

Das muss der … Dings sein. Wegen des Rades.

»Hmhm«, gab sie zurück, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Sie streckte die Hand aus. »Kann ich mir das kurz ausleihen?«

»Was?« Der Kerl sah sie verdattert an.

Enno. Das war der Name.

»Die Jacke.«

»Ähm, klar. Wenn du sie nicht allzu lange brauchst, ich muss gleich zurück.«

»Hmhm.« Phil stellte ihren Kaffeebecher auf den Boden, nahm die Jacke entgegen und schlüpfte hinein. »Bin gleich wieder da.« Sie zog die Kapuze über, versenkte die Hände in den Taschen und erst da ging ihr auf, dass sie keine Schuhe trug, sondern nur in Socken hier draußen stand.

Nun, dann eben so.

Sie streifte die Strümpfe ab, schob sie mit der Zehenspitze ins Trockene und lief barfuß in den Regen hinaus.

Quietschgelb. Unauffälliger geht nicht. Wobei, vielleicht kann das auch ein Vorteil sein.

Vor der gegenüberliegenden Halle stand ein Kleintransporter. Einer von denen, die immer wieder vom Festland per Fähre hier auf die Insel kamen. Eine verwaschene Aufschrift konnte Phil erkennen. DE.inc stand auf der Seitenwand des Fahrzeugs.

Stehenbleiben im strömenden Regen wäre zu auffällig gewesen, so versuchte Phil im Vorbeigehen einen Blick ins Innere der Lagerhalle zu erhaschen. Vollgepackte Paletten, der Inhalt unkenntlich durch die schwarze Plastikfolie, die darum gewickelt war. Metallregale, in denen elektrische Geräte standen. Einige Menschen im Blaumann, die den Wagen entluden. Nichts Ungewöhnliches.

Und doch …

Ein Gefühl drohenden Unheils bemächtigte sich Phils. Ihr Herz schlug schneller und sie fröstelte, nicht nur wegen des Wetters.

Paranoia, ja? Seh ich jetzt an jeder Ecke finstere Gestalten, die Böses wollen? Dies ist eine Urlaubsinsel im Winterschlaf! Phil blieb stehen. Eine Urlaubsinsel, auf der es Sirenen gibt, wo sich ein Incubus niedergelassen hat und wo Mara meint, ihren Garten mit magischen Symbolen schützen zu müssen. Sie schüttelte den Kopf. Wann war ihr Leben eigentlich so aus den Fugen geraten? Wo war ihre Zuversicht, ihr Vertrauen in die Realität geblieben? Tja, scheiße ’ne, wenn man feststellt, dass die Wirklichkeit ganz anders ist, als man uns glauben machen will. Und man, wer ist eigentlich man? Phil wollte schreien. Sich auf den Boden werfen und mit den Fäusten trommeln. Sie wollte, dass alles wieder so war wie vorher. Früher. Damals. Als der Incubus unerkannt mit dir gearbeitet und sich unwissentlich von dir genährt hat. Als du mit einer Hexe zusammen warst und es nicht wusstest. Welches ›Früher‹ meinst du denn, Schätzchen? Ruths Worte klangen ihr in den Ohren.

Phil hatte ihre Ex Lucy vor einigen Wochen angerufen, um Toms Aussage, dass sie eine Hexe sei, zu verifizieren. Sie hatten sich sogar auf dem Festland getroffen. Und danach konnte Phil nicht mehr abstreiten, dass Lucy eine Hexe war und, ja, Magie nutzen konnte. Dass Magie existierte. Dass sie es mit eigenen Augen gesehen hatte.

Fuck. Phil ging auf, dass sie schon viel zu lange im quietschgelben Mantel bei strömendem Regen auf der Straße vor einer Lagerhalle stand und ins Nichts starrte. Sie setzte sich wieder in Bewegung, warf noch einen letzten Blick über die Schulter und vermeinte, im Augenwinkel eine Gestalt mit einem Kapuzenmantel in der Halle zu sehen, doch als sie genauer hinschaute, war sie verschwunden.

Paranoia. Phil bog in die nächste Straße ab. Sie schlug einen Bogen und kam dann von der entgegengesetzten Seite der Straße wieder zurück zu Toms Werkstatt, wo die beiden Männer im Eingang standen — Enno mit seinem neu gepimpten Fahrrad an der Seite — und nach ihr Ausschau hielten. Phil trat unter das Vordach, schlüpfte aus der Jacke und hielt sie Enno wortlos entgegen. Dann bückte sie sich, griff nach den Socken und nahm ihre Kaffeetasse, um sie in der Halle wieder aufzufüllen. Sie fischte noch eine der Kippen aus der Packung, zündete sie diesmal mit einem richtigen Feuerzeug an und hörte mit halbem Ohr, wie Tom und Enno herum flachsten — und sich scheinbar für den Abend verabredeten — bevor Enno sich verabschiedete und auf den Weg machte.

»Und was war das bitteschön?« Toms Stimme hinter ihr klang nicht erfreut.

Phil drehte sich nicht um, starrte einfach weiter auf die Wellblechwand, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Sie hob eine Schulter. »Ein schlechtes Gefühl.«

»Ein schlechtes Gefühl.«

»Hmhm.«

»Phil, du hast ein schlechtes Gefühl, seit …«

Sie fuhr herum. Schon zu oft hatten sie über dieses Thema gestritten. »… seit ich fast abgesoffen bin? Seit meine Frau verschwunden ist? Seit auf dem Leuchtturm Elli als Vogel-Sirene sitzt? Ja, verdammt, ich hab auch keinen Grund, dass mein Gefühl besser wird.«

»Aber du lebst noch. Und es sind jetzt fast drei Monate, seit Harpo … seit sie … meinst du nicht, dass du langsam …«

»Sag es nicht, Tom. Dass ich langsam loslassen soll? Akzeptieren, dass sie fort ist?«

Tot. Er meinte tot.

Tom zuckte mit den Schultern und sagte nichts. Ihre Hand krampfte sich um die Kaffeetasse. Und dann ließ sie los. Die Kaffeetasse zerschellte am Boden. Heiße Flüssigkeit spritzte auf ihre bloßen Füße, über Toms Schuhe und benetzte ihrer beider Hosen.

»Fick dich, Tom.« Phil drehte sich um und ging.

 

 

3. Kapitel

 

 

D

er Regen ließ nach, während Phil in die Pedale trat.

Tot, tot, tot, echote es mit jedem Tritt in ihrem Kopf. Nein, sie lebt. Sie muss leben!, ermahnte sie sich und doch erklang da diese zweite, rationale Stimme in ihrem Kopf. Sie war schwer verletzt. Gefoltert. Und es sind schon drei Monate vergangen! Vielleicht hatte sie doch einfach genug von den Menschen, nach dem, was Toula ihr angetan hat. Phil hielt dagegen. Aber sicher lebt sie. Sicher …

Wieder vermischten sich ihre Tränen mit den letzten Regentropfen und dem Wasser, das aus ihren Haaren troff. Sie war klitschnass, als sie ihr kleines Haus in der Dorfstraße erreichte.

Mein Haus. Unser Haus.

Tom wohnte nun auch seit drei Monaten hier. Länger, als sie mit Harpo hier gewohnt hatte. Länger, als sie Harpo überhaupt gekannt hatte.

Habe ich sie gekannt? Konnte ich sie überhaupt kennen? War es nicht doch wie ein Traum?

»Scheiße«, murmelte Phil und lehnte ihre Stirn gegen die Holztür, während sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel kramte. Ihre Finger ertasteten die Zigarettenpackung von Tom. Sonst nichts. Ihr Schlüssel befand sich in ihrer Hose. Und die hing in der Werkstatt zum Trocknen. »Verfluchte Scheiße.« Zusammen mit ihrem Handy. Und ihrem Geldbeutel.

Phil drehte sich um, rutschte rückwärts an der Tür herunter, umschlang ihre Beine mit den Armen und legte den Kopf auf die Knie.

Und jetzt? Zurück zu Tom kriechen, den ich gerade angepflaumt habe? Bei Alex vorbeischauen und ihm auf den Senkel gehen? Lola belästigen?

Es war alles nicht das Richtige und sie hätte sich nirgendwo wirklich wohl und willkommen gefühlt. Immer noch fühlte sie sich wie ein Fremdkörper in dieser Gemeinschaft. Tom hatten die Leute nach kürzester Zeit integriert, auch wenn er vom Festland kam. Seine Versetzung nach Medderoog hatte er schnell gedeichselt, Stellentausch mit Yannik Westorf, der nichts dagegen hatte, zur Abwechslung mal Großstadtluft zu schnuppern. Tom hatte sich hier eingelebt wie ein …

… Fisch im Wasser. Haha.

Sie hatte das Gefühl, er kannte alle und jeden und sie blieb außen vor. Von ihr wollte niemand etwas wissen, auf einmal war sie nur noch Toms Anhängsel.

Du gibst dir aber auch nicht wirklich Mühe, auf andere zuzugehen, oder? Schau dich doch an. Hockst hier und heulst dir deine Hose voll.

Phil wischte sich mit dem nassen Handrücken durch das Gesicht. Ihr war kalt, sie zitterte und musste aus den nassen Klamotten raus. Und plötzlich hörte sie das Bremsgeräusch eines Fahrrades, dann stand Tom vor ihr und zog sie hoch in seine Arme.

»Es tut mir leid«, murmelte er, während er den Schlüssel aus seiner Tasche zog und die Tür aufsperrte. Dann hob er Phil ohne viel Umschweife in seine Arme und trug sie nach drinnen.

»Lass mich runter, du blöder Arsch«, protestierte sie schwach.

»Mit dem blöden Arsch hast du recht«, stimmte Tom zu. »Aber ich lass dich erst im Bad runter, sonst tropfst du hier den ganzen Boden voll.«

Tom bugsierte sie die enge Treppe ins Obergeschoss hoch und stellte sie im Bad ab. »Klamotten runter, heiß duschen, warm einpacken, hörst du? Brauchst du Hilfe?«

Phil schüttelte den Kopf und während er die Tür schloss, sagte Tom noch: »Ich mach dir einen heißen Tee und dann reden wir, okay?«

 

Eingepackt in dicke Socken, eine kuschlige Hose und einen übergroßen Hoodie und nach der Dusche leidlich wieder warm, tapste Phil die Treppe hinunter. Tom drückte ihr einen dampfenden Becher Tee in die Hand und deutete auf das Sofa. Phil nahm Platz, schlug die Beine unter und klammerte sich an die Tasse.

»Ich höre«, meinte sie dann und sah Tom, der sich neben ihr niederließ, scharf an.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich weiß, wie du fühlst. Ich weiß, was du durchmachst. Und ich hätte nicht sagen sollen, was ich gesagt habe.«

Phil nickte und versenkte dann den Blick im Tee. »Trotzdem hast du recht und vielleicht habe ich mich da reingesteigert. Vielleicht sollte ich wirklich akzeptieren, dass Harpo … dass sie …«, Phil schluckte, »… dass sie nicht mehr zurückkommt.«

Tom antwortete nicht. Er schaute sie nur an.

»Vielleicht …« … vielleicht werf ich alles hin. Gehe hier weg, lasse alles hinter mir. Fange irgendwo nochmal neu an. Ohne Harpo. Ohne dich.

Aber konnte sie das? Konnte sie Tom einfach zurücklassen? Nachdem sie wusste, dass sie beide ein Blutband vereinte?

Ist es meine Schuld, dass er ein Incubus ist und unser Blut uns zusammengeschweißt hat? Er braucht mich. Ich brauche ihn nicht.

Phil hob den Kopf und sah, dass kein Regen mehr an die Fensterscheiben prasselte. »Vielleicht sollten wir mal wieder nach Elli schauen.«

Tom hob eine Augenbraue. »Das ist ein krasser Themenwechsel, das ist dir schon klar.«

Phil hob die Schultern und trank ihren Tee in einem Zug leer. »Wir können nicht ewig abwarten. Wenn Harpo nicht zurückkommt …« Hab ich das jetzt einfach so für mich akzeptiert? »… dann müssen wir uns um eine Lösung für das Problem kümmern. Es muss einen Weg geben, Elli zurückzuverwandeln.«

»Es ist nicht so, dass wir nicht schon in antiken Sagen und Legenden nachgeforscht haben, nicht wahr? Die Vogel-Sirenen wurden von Demeter geschaffen. Die waren nicht dazu gedacht, sich von alleine zurückzuverwandeln.«

Phil stand auf und fuhr sich durch die Haare. »Diese ganz spezielle Sirene ist aber nicht von Demeter persönlich verwandelt worden, sondern hat sich in einem Akt des Zorns selbst gewandelt und wahrscheinlich steckt Elli einfach fest und kann nicht zurück.«

»Und du meinst, wenn wir jetzt hoch zum Leuchtturm stiefeln und sie noch ein wenig beobachten, dann kommt dir die Erkenntnis, wie es mit einer Rückverwandlung klappt?«

Phil funkelte Tom an. »Nichts tun ist keine Alternative«, erwiderte sie zornig. »Ich werde Elli nicht einfach so ihrem Schicksal überlassen! Ich gehe jetzt zu ihr. Kommst du mit oder nicht?« Sie warf einen Blick aus dem Küchenfenster, zog dann ihr Smartphone aus der Tasche und checkte die Wetter-App. »Immerhin regnets nicht mehr und soll auch die nächsten Stunden leidlich trocken bleiben.«

Tom schüttelte den Kopf und hob entschuldigend die Hände. »Ich muss nochmal zur Werkstatt und die Sachen wegräumen. Hab vorhin alles stehen und liegen lassen, als du weg bist. Ich ping dich an, vielleicht komm’ ich noch nach. Nicht vergessen, wir sind heute Abend mit Enno und den anderen im Austernfischer verabredet.«

Wir? Und wer sind die anderen?

»Okay«, entgegnete Phil, was eine Antwort auf alles sein konnte. »Eins noch, Tom. Mein schlechtes Gefühl vorhin … da ist bei dir schräg gegenüber diese Lagerhalle. Weißt du, wem die gehört?«

»Bei mir schräg gegenüber sind eine ganze Reihe Lagerhallen.«

»Da stand ein Kleintransporter davor, DE.inc irgendwas.«

Tom schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, aber ich kann mal drauf achten. Und das hat dir ein schlechtes Gefühl verursacht?«

Phil hob hilflos die Hände. »Irgendwie schon. Ich kann es nicht ganz greifen, aber irgendwas war da seltsam.«

»Schmuggel? Hehlerei?« Plötzlich machte sich hinter Toms Fassade doch wieder der Polizist bemerkbar.

»Keine Ahnung. Schau mal, ob du was rausfindest. Wir sehen uns.« Sie hielt Tom kurz die Hand hin, die er mit seinen Fingern streifte, dann lief sie wieder die Treppe hoch, um sich warm und wetterfest anzuziehen. Die Witterung auf der Insel bewies immer wieder ihre Unberechenbarkeit.

 

4. Kapitel

 

 

D

iesmal verzichtete Phil auf das Fahrrad. Sie hatte keine Lust, sich die steile Straße vom Watt her zur hohen Leuchtturmdüne hinauf zu kämpfen. Stattdessen lief sie durchs Dorf, um die Treppe zu erklimmen, die am Ende des Dorfes zum Leuchtturm führte.

Seltsam ausgestorben lag die Dorfstraße vor ihr. Wo sich noch im Sommer und vor allem zum Windjammer-Festival am Saisonabschluss die Touristenmassen gedrängt hatten, herrschte nun Leere. Die Souvenirläden hatten für den Winter dicht gemacht, in den Auslagen gähnende Leere. Es war schon faszinierend zu sehen, wie sehr das Dorf vom Tourismus abhing. Auch auf den Dienst in der winzigen Polizeistation wirkte sich das aus. Sie hatten kaum etwas zu tun. Alles war ruhig. Langeweile und Däumchen drehen herrschten vor.

Schon kurz nachdem Tom offiziell seinen Dienst auf der Insel angetreten hatte, beschwerte er sich, dass es nichts zu tun gebe. Bald darauf kam er mit der Idee der Fahrradwerkstatt an, mietete sich eine der Hallen im Industriegebiet und begann, die Fahrräder der örtlichen Bevölkerung aufzumotzen. Phil war fasziniert davon. Sie hatte nicht gewusst, dass Tom das Talent besaß, an Fahrrädern herumzuschrauben und zu schweißen.

Polizeichef Ahrends hatte den Dienstplan umstrukturiert, damit Tom und sie in der gleichen Schicht zusammen arbeiteten. Es hatte Phil etwas geschmerzt, dass sie nicht mehr Alex als Kollegen hatte, aber sie rechnete es Ahrends hoch an, dass er ihre Beziehung zu Tom akzeptierte und duldete.

So seltsam es auch ist — eine menschliche Lesbe und ein ace Incubus. Nun, über sexuelle Präferenzen müssen wir uns definitiv keine Sorgen machen.

Was sein würde, wenn — wenn! — Harpo zurückkam, und wie sie dann diese Dreier-Beziehung ordnen würden, diesen Gedanken schob Phil ganz weit von sich fort.

Eins nach dem anderen.

In Gedanken versunken erklomm sie die Leuchtturmtreppe. Wind und Wetter hatten den Stufen schon arg zugesetzt und sie blickte konzentriert nach unten, um nicht zu stolpern und sich den Fuß zu vertreten. Viel zu selten war sie in den letzten Wochen hier oben gewesen und in ihr nagte das Gefühl, dass sie Elli im Stich gelassen hatte, dass es ihre Schuld war, dass Elli nun ein Vogel-Mensch-Hybrid war und keinen Weg zurück fand.

Hätte ich Elli nicht mitgenommen, hätte sie sich nicht verwandelt. Hätten wir Harpo nicht befreit, wäre sie nicht verschwunden … hätte, hätte. Wenn ich mir hier Vorwürfe mache, wird es auch nicht besser. Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen.

Und wie Tom schon ganz richtig bemerkt hatte, ergab ihre ausführliche Recherche nach einer Möglichkeit der Rückverwandlung nichts. Ohne Harpo und deren Erfahrung blieben sie ziemlich aufgeschmissen. Auch Lola, selbst wenn sie die Tochter einer Sirene war, wusste keinen Rat. Sie hatten versucht, die restlichen verbliebenden Sirenen ausfindig zu machen, doch waren auch dort nicht wirklich weitergekommen. Lolas Mutter war irgendwo auf der Welt unterwegs, bisher ohne sich zurückzumelden, während die anderen beiden einfach zu alt waren. Vielleicht fehlte ihnen auch einfach das Wissen.

Auf halber Höhe der Düne blieb Phil stehen und schaute hinaus aufs Watt. Es war Ebbe, das Wasser stand nur noch vereinzelt in den Prielen, dafür hatten sich Massen von Vögeln auf Nahrungssuche im Schlamm niedergelassen. Phil meinte, den Geruch nach Seetang und Muscheln, nach Tod und Leben wahrzunehmen. Sie wusste, dass sie die Begegnung mit Elli hinauszögerte.

Hilft ja nichts.

Sie drehte sich um und stieg die verbliebenen Stufen empor. Oben auf der Düne gab es einen der wenigen Orte auf der Insel, von dem man Watt und Nordsee gleichermaßen sehen konnte und bei klarem Wetter einen Blick über ganz Medderoog und sogar bis zu den anderen umgebenden Inseln erhaschen konnte.

So winzig. Und manchmal fühle ich mich hier wie verbannt, wie eingesperrt.

Seit sie hierher versetzt wurde, hatte Phil keine der anderen Inseln aufgesucht. Erst hatte sie sich hier eingewöhnen müssen, dann die Sache mit Harpo und dem Skelett im Brombeerdickicht, schließlich das Festival, der erschossene Doktor und danach … danach hatte ihr der Sinn nicht mehr nach Ausflügen gestanden. Im Gegenteil, seit der Geschichte auf dem umgebauten Fischkutter, dessen Explosion sie fast das Leben gekostet und die sie nur dank Toms Heilkräften überstanden hatte, setzte sie keinen Fuß mehr auf ein Schiff.

Phil schritt den Muschelkalkweg entlang. Über die Schulter warf sie einen kurzen Blick auf die alte, aufgelassene Wasserzisterne, die sich in den Büschen verbarg und die das Archiv des Käptns beinhaltet hatte, dann blieb sie in einiger Entfernung zum Leuchtturm stehen. Seit dem Tod des Käptns blieb er geschlossen, es hatte sich noch kein Ersatz gefunden, der das Amt des Wächters übernehmen wollte. Wer hätte auch den alten, raubeinigen Seemann ersetzen können, der mit seinen Piratengeschichten das Touristenvolk so gut unterhalten konnte. Phil hatte ihn nur so kurz gekannt und das machte den Schmerz um seinen Verlust nur schlimmer.

Die Steuerung der Lichtsignale lief inzwischen digital über die Gemeindeverwaltung, denn seit dem Ende des Windjammer-Festivals konnte niemand mehr den Leuchtturm betreten. Die kleine Plattform, die oben an den Turm angebaut war und die den besuchenden Menschen einen noch besseren Blick über die Insel ermöglichen sollte — sie hatte Elli sich als ihren Aufenthaltsort auserwählt. Vielleicht auch, weil sie hier die Insel gut überblicken konnte.

Phil scheute sich, das Ganze als Nest zu bezeichnen, aber irgendwie hatte sich Elli aus alten Stoffresten, Zweigen und anderen Dingen dort oben eine Heimstatt geschaffen, in der sie hockte. Man hätte sie für einen überdimensionierten Raubvogel halten können, wäre nicht der menschliche Kopf gewesen, der auf dem Körper saß. Der Kopf, der Ellis Züge trug und doch irgendwie nicht mehr menschlich war mit seinen scharfen Zähnen und ebenso scharfen Raubvogelaugen.

Geschaffen, um Demeters entführte Tochter Persephone zu finden. Aber sie hatten keine Chance, befand sich Persephone doch bereits in der Unterwelt, zu der ihnen der Zugang verwehrt blieb. Und als sie nicht mehr gebraucht wurden, hat Demeter sich ihrer entledigt, sie auf eine abgelegene Insel verbannt und vergessen. Eine Rückverwandlung war nie vorgesehen. Haben wir überhaupt eine Chance? Und kann man diese Situation überhaupt mit den Sagen und Legenden vergleichen?

---ENDE DER LESEPROBE---