Wege aus der Pflegefalle - Martina Rosenberg - E-Book

Wege aus der Pflegefalle E-Book

Martina Rosenberg

4,7

Beschreibung

Die Pflege unserer Eltern stellt uns vor schier unlösbare Probleme. Wie komme ich meiner Verantwortung nach, ohne mein eigenes Leben zu ruinieren? Wie schaffe ich es, mein eigenes Leben nicht aus den Augen zu verlieren? Gibt es eine biologische Fessel? Was erwartet die Gesellschaft? Was der Staat? Martina Rosenberg zeigt: Wir müssen diese Probleme benennen und sie uns eingestehen, um nicht selbst daran zu zerbrechen.

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Martina Rosenberg

Wege aus der Pflegefalle

Die Eltern pflegen –ein eigenes Leben führen

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: griesbeckdesign

Umschlagmotiv: © Gisela Rüger

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-80633-9

ISBN (Buch) 978-3-451-31570-1

INHALT

Vorwort

1. Was bin ich mir wert?

2. Kinder sind nicht automatisch die Pfleger der Eltern

3. Schicksalhafte Entscheidungen oder: Wenn Eltern Hilfe verweigern

4. Die Pflege zuhause – Kann sie gelingen?

5. Wenn nichts mehr geht

6. Familie redet mit!

7. Die Sache mit dem schlechten Gewissen

8. Der finanzielle Ruin und wie Sie sich davor schützen

9. Individuelle Lösungen – Was passt für wen?

10. Die Last mit der Aufopferung

Anhang

Danksagung

VORWORT

Liebe Leserinnen und Leser,

das Jahr 2013 wurde zu einer großen Überraschung für mich. Nach der Veröffentlichung meines ersten Buches „Mutter, wann stirbst du endlich“ sind Hunderte von Menschen in der einen oder anderen Weise auf mich zugekommen und haben mir ihre Geschichte erzählt. Oder sie haben sich einfach nur dafür bedankt, dass ich die Probleme und die zwiespältigen Gefühle, denen ein pflegender Angehöriger oft ausgesetzt ist, an die Öffentlichkeit gebracht habe.

Meine persönliche Geschichte als pflegende Tochter begann im Jahr 2003, als bei meiner Mutter die ersten Anzeichen der Demenz immer deutlicher wurden. Ein paar Jahre zuvor zogen mein Mann, meine Tochter und ich in das Mehrfamilienhaus meiner Eltern. Was anfangs wunderbar gelang, wurde mit dem rasanten Verlauf der Demenz meiner Mutter immer schwieriger. Mein Vater erlitt parallel einen Schlaganfall und kämpfte zunehmend mit einer Depression. Die Pflege meiner Eltern zu organisieren, die Existenzgrundlage nicht zu verlieren und meine Tochter durch den Schulhorror möglichst erfolgreich zu begleiten – all das wurde zu einer schier unlösbaren Lebensaufgabe. Allen Anforderungen wollte ich unbedingt gerecht werden, und ich habe mich selbst dabei fast verloren. Aber nicht nur ich, sondern auch mein näheres Umfeld hat wie selbstverständlich angenommen, dass dieser Berg an Aufgaben zu schaffen sei.

Es dauerte lange, bis ich begriff, dass dies alles auf Kosten meiner Gesundheit und auf Kosten meiner eigenen Familie ging. Kurz bevor ich den Halt verloren hätte, habe ich die Reißleine gezogen und entsprechende Konsequenzen gezogen.

Ich habe die intensive Pflege meiner Eltern und die Nähe zu ihnen abgebrochen, um mich in mein eigenes Leben zurückzukämpfen.

Nach dem Tod meiner Eltern wollte ich die Geschichte öffentlich machen, um aufzuzeigen, wie schwierig es trotz aller Bemühungen ist, einer Pflege gerecht zu werden. Und welche Gefühle Kinder haben können, die in eine solch schwierige Pflegesituation rutschen.

In diesem Zusammenhang bin ich sehr oft gefragt worden, welche Tipps ich geben kann, um diese schwierige Zeit mit möglichst wenigen Blessuren zu überstehen. Und immer wieder stellte man mir die Frage: Was hätte ich besser machen können, wüsste ich das, was ich heute weiß?

Das hat mir gezeigt, dass viele Menschen in Deutschland in einer ähnlichen oder vergleichbaren Situation sind oder waren wie ich für viele Jahre.

Und ganz sicher werden es immer mehr Menschen werden, die plötzlich in einer Pflegefalle stecken und keinen Ausweg daraus finden. Sie geraten immer weiter in den Strudel der Abhängigkeit ihrer Eltern und können sich aufgrund ihrer moralischen Bedenken, dem gesellschaftlichen Druck oder auch bedingt durch ihr eigenes Verantwortungsbewusstsein nicht daraus lösen.

In diesem Buch will ich Ihnen unterschiedliche Lösungsansätze zu den einzelnen Pflegesituationen vorstellen. Es geht aber auch darum, zu erkennen, dass wir keiner biologischen Fessel unterworfen sind. Fürsorge, Verantwortungsgefühl oder Liebe können nicht einzig im Erbgut begründet sein. Nein, vielmehr müssen sie ein Leben lang genährt und erhalten werden. Und sie müssen gegenseitig erbracht werden. Mit diesem Buch und den vielen Beispielen aus der Praxis will ich den gesellschaftlichen Druck nehmen, der besonders auf uns Frauen lastet. Manche Probleme lassen sich besser lösen, der Umgang mit ihnen lässt sich erleichtern, wenn man die Ursache dafür versteht.

Wer sich über seine eigenen Möglichkeiten im Klaren ist und erkennt, was er selbst an Fürsorge aufbringen kann, sollte es auch schaffen, eine schwierige Pflegesituation mit den Eltern ohne große Blessuren zu meistern. Dieses Buch soll Ihnen eine Hilfe dabei sein.

1. WAS BIN ICH MIR WERT?

Vielleicht denken Sie jetzt: Was für eine blöde Frage. Woher soll ich denn wissen, was ich mir selbst wert bin? Was hat das denn mit der Pflege zu tun?

Sehr viel, wie ich finde und auch im Laufe des Kapitels erklären werde.

Häuser oder Autos haben einen Wert, aber haben auch Menschen einen Wert? Und wie lässt sich dieser Wert genau feststellen und bemessen? Sicher nicht in Geld oder anderen materiellen Dingen, wie Sie vermutlich schon ahnen. Ihr eigener Wert ist stark mit Ihrem Selbstwertgefühl gekoppelt. Genau dafür habe ich dieses Kapitel geschrieben. Erkennen Sie Ihren eigenen Wert für sich selbst. Nicht gemessen an anderen Personen, Freunden oder Familienangehörigen.

In diesem Kapitel geht es nur um Sie! Sie sollen für sich erkennen und festlegen, was in Ihrem Leben wichtig ist und auf keinen Fall verschwinden darf. Nur so können Sie Verantwortung für Ihr eigenes Leben und das von anderen übernehmen.

Beispiel Anna

Nehmen wir doch mal das Beispiel von Anna K. Sie ist in dörflichen Strukturen groß geworden. Der Ort, an dem sie neben zwei weiteren Kindern geboren wurde und aufgewachsen ist, zählt rund 4000 Einwohner. Anna ist die Älteste von den drei Kindern und die einzige Tochter. Mit 20 Jahren lernt sie ihren Mann Erwin aus dem Nachbarort bei einer Party mit Freunden kennen. Drei Jahre später heiraten die beiden, und wieder fünf Jahre später bekommen sie zwei Kinder. Das Geld reicht nie aus, weswegen Anna sehr früh nach ihren Schwangerschaften wieder zu arbeiten anfängt. Von 8 bis 13 Uhr ist sie in einer Anwaltskanzlei als Rechtsanwaltsgehilfin tätig. Ihr Bruder, drei Jahre jünger, bekommt sein Leben nicht richtig in den Griff. Ständig ruft er bei seiner Schwester an und bittet sie um Hilfe im Haushalt. Eine Freundin hat er im Augenblick nicht. Anna hat Mitleid mit ihm und unterstützt ihn, wo es nur geht. Der Vater stirbt früh an einem Schlaganfall, der ganz plötzlich kam. Zwei Tage lag er auf der Intensivstation, bis der Tod eintrat. Anna verbrachte 48 Stunden am Bett ihres Vaters. Sie tröstete die Mutter, die Brüder und meldete sich für die Zeit neben dem Sterbebett ihres Vaters bei ihrem Arbeitgeber krank.

Beide Brüder hatten große Probleme, mit der weinenden Mutter und dem sterbenden Vater umzugehen, und blieben nur kurz am Sterbebett. Die meiste Zeit war Anna mit ihrer Mutter allein. Ihr Mann kümmerte sich inzwischen um die beiden Kinder, die mittlerweile in der Pubertät waren und zunächst gut alleine zurechtkamen. Als der Vater gestorben war, kümmerte sich Anna um die Beerdigung. Für Trauer hatte sie keine Zeit. Dem Arzt spielte sie eine Krankheit vor, um eine weitere Woche Krankschreibung zu erhalten. Den Jahresurlaub hatte sie bereits in der Ferienzeit ihrer Kinder verbraucht. Sie raste zu den Behörden, telefonierte mit ihren Brüdern und saß nachmittags bei ihrer Mutter, die den Tod des Vaters nicht verkraftet hatte und stark abbaute. Jeden Abend rief ihr jüngster Bruder an und lud noch obendrein all seinen Frust über den frühen und plötzlichen Tod des Vaters bei ihr ab.

Während sie endlose Zeit am Telefon verbrachte, saß ihr Mann allein vor dem Fernseher. Er sagte in der ganzen Zeit nichts zu ihr, fühlte sich aber immer mehr von seiner Frau zurückgesetzt, in deren Leben es seit Monaten nur noch um die Mutter, den Bruder und um Behördengänge ging. Er kam eigentlich gar nicht mehr vor.

Annas Mutter lebte allein zuhause und wurde von Monat zu Monat immer unselbstständiger. Anna fühlte sich verpflichtet, jeden Mittag nach ihrer Arbeit bei ihr vorbeizufahren und das Mittagsessen zu bringen, das sie am Vorabend gekocht hatte. Die Mutter wünschte sich frisch gekochtes Essen von ihrer Tochter und lehnte alles andere ab.

In dem ganzen Trubel vergaß Anna ihren Mann und ein bisschen auch die Ansprüche ihrer Kinder. Ihr Leben begann ihr mehr und mehr zu entgleiten. Nach einem Jahr war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Tiefe Augenringe prägten ihr Gesicht, das kaum noch ein Lächeln zustande brachte. In all ihrem Eifer bemerkte sie gar nicht, dass sie nur noch selten ein Wort mit ihrem Mann wechselte.

Wenn sie abends erschöpft neben ihm aufs Sofa fiel, schlief sie meist gleich ein. Die Wochenenden verbrachte sie bei ihrer Mutter oder kümmerte sich um den eigenen Haushalt, für den sie unter der Woche kaum mehr Zeit fand. Ein Besuch beim Friseur war in weite Ferne gerückt, ganz zu schweigen von der Möglichkeit einer gemeinsamen Freizeitaktivität mit ihrer Familie. Nach zwei Jahren brach alles zusammen. Ihr Mann zog aus der gemeinsamen Wohnung direkt zu seiner neuen Freundin. Anna hatte von all dem nichts mitbekommen und war völlig überrascht. Wie konnte das passieren? Anna fühlte sich ungerecht behandelt. Wo sie doch immer nur für andere da war und es jedem recht machen wollte.

Ihre Kinder haben gerade mal eben so den Schulabschluss geschafft und sind auch auf dem Sprung in ihr eigenes Leben. Annas Arbeitgeber war mit ihrer Leistung unzufrieden und machte ihr auch noch Stress.

Im August letzten Jahres erreichte mich ihr Brief:

Seit 1995 versorge und pflege ich ohne Haushaltshilfen und dergleichen. Mein Vater ist zwar verstorben, aber seit dieser Zeit braucht mich meine Mutter sechsmal die Woche.

Beide Kinder brauchten extrem viel Unterstützung in der Schule und Schicksalsschläge wie ein schwerer Unfall meiner Tochter machten mein Leben noch schwieriger.

Meine Ehe ist total kaputtgegangen (mein Mann hat mich kein einziges Mal unterstützt), und in der gleichen Zeit hatte ich noch eine ledige Tante zu versorgen.

Meinem Bruder mache ich immer noch Haushalt und Wäsche.

Und warum? Weil ich nicht den Mut gehabt habe und auch immer noch nicht habe, zu sagen N E I N.

Ich glaube, ich hab alles durchlebt, was man durchleben kann, und ich bin froh, wenn alle gestorben sind. Dann beginnt vielleicht – ich bin jetzt 50 – mein Leben.

Anna hätte sich die Frage stellen sollen: Lebe ich das Leben, das ich leben will?

Die Antwort liegt auf der Hand. Längst war es nicht mehr ihr Leben, das sie lebt, sondern ein fremdbestimmtes Leben, in das sie hineingerutscht war. Niemand hatte sie gefragt, ob sie ihr Leben so leben will, und niemand wird sie je fragen, ob sie damit zurechtkommt. Ändern könnte nur sie alleine es.

Eine Checkliste mit folgenden Fragen hilft in dieser Situation:

Kann ich noch viele Jahre in meiner jetzigen Situation leben?Was ist mir in meinem Leben wichtig?Habe ich Zeit für mich selbst?Wen kann ich um Hilfe bitten?Habe ich oft das Gefühl, meine Koffer packen zu müssen und für immer wegzugehen?

Allein die Beschäftigung mit diesen Fragen und deren Beantwortung geben einen ehrlichen Hinweis auf ihre momentane Situation.

Was kann ich für meine Eltern tun, ohne dabei selbst zu verschwinden?

Ein Frage, der Sie sich unbedingt stellen müssen und die Klärung verlangt. Und zwar am besten noch, bevor die Pflegesituation bei einem der Elternteile eintritt. Damit Ihnen nicht das Gleiche passiert wie Anna, müssen Sie sich Ihrer Verantwortung gegenüber Ihrer eigenen Familie und Ihren Freunden bewusst werden. Auch die Verantwortung, die Sie sich selbst gegenüber haben, spielt eine maßgebliche Rolle.

Hilfe anbieten, die Eltern in ihrer Not unterstützen und ihnen helfen, ist richtig, aber nicht um jeden Preis. Anna hat ihren Mann verloren und letztendlich ihr Selbstwertgefühl. Doch vermutlich hatte sie schon vorher ein Problem mit ihrem Selbstwertgefühl. Wie sonst lässt es sich erklären, dass sie nie Nein sagen konnte und stets alles für andere getan hat, ohne dabei auf sich zu achten?

Wer nur für andere da ist und sich selbst immer in die hinterste Reihe stellt, dem fehlt die Liebe zu sich selbst. Aber diese Liebe ist Grundvoraussetzung für ein glückliches und zufriedenes Leben. Nur wer auf sich selbst achtet und sich wertschätzt, kann auch für andere da sein. Andersherum betrachtet führt ein mangelndes Selbstwertgefühl dazu, dass wir alles tun, um Anderen zu gefallen. Das bedeutet auch, dass ein Mensch mit mangelndem Selbstwertgefühl nicht in der Lage ist, etwas abzulehnen. Die Gefahr und Angst ist groß, in Missgunst des Anderen zu geraten, schlimmstenfalls dessen Sympathien zu verlieren.

Also was bleibt dann, als immer Ja zu sagen?

Die Kunst des NEIN-Sagens

Wenn Sie jemand sind, der es selten ablehnt, anderen einen Gefallen zu erweisen, würde ich nicht gleich behaupten, dass Sie über ein mangelndes Selbstwertgefühl verfügen. Sollten diese Gefallen allerdings ihr Leben dermaßen beeinflussen wie in der obigen Geschichte von Anna, wäre es durchaus an der Zeit, darüber nachzudenken, ob Sie an Ihrem Selbstwertgefühl arbeiten müssen. Sie kennen sicher den Satz aus der Bibel: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“

Nun bin ich zwar kein gläubiger Mensch, und ich nehme auch an, dass dieser Satz viel schwieriger zu leben ist, als er sich liest. Aber zieht man in Betracht, dass viele Menschen ihre Eigenliebe sträflich vernachlässigen oder gar verkümmern lassen, bekommt dieser Satz einen ganz anderen Schwerpunkt. Ich möchte ihn einfach einmal umdrehen: „Liebe dich selbst, wie du deinen Nächsten liebst.“ Dann würde Anna in unserer Geschichte sich mehr Zeit für sich und ihre Familie nehmen und ihrem Bruder auch mal eine Bitte ablehnen, wenn der wieder mit seiner Wäsche vor der Tür steht. Anna könnte sagen: „Komm rein, Bruder, aber heute musst du die Wäsche woanders abgeben. Ich schaffe das leider nicht mehr. Mutter braucht mich mehr denn je.“

Üben Sie vor dem Spiegel, NEIN zu sagen

Freundlich und dennoch bestimmt zu sein ist schwer. Anna hätte das vorher im Spiegel trainieren oder diesen Satz immer wieder im Kopf durchspielen können. Es braucht Übung und ein Stück Überzeugung, bis sie es schaffen wird, eine Bitte abzulehnen. Wahrscheinlich wirkt es beim ersten Mal etwas holprig. Aber die Botschaft kommt an, und das ist es doch, worauf es ankommt.

Werden Sie nicht zum Ja-Sager. Besonders Frauen neigen dazu, sich sämtliche Aufgaben aufdrängen zu lassen, und scheuen davor zurück, etwas abzulehnen. Immer in der Angst, nicht mehr zu gefallen, Sympathien zu verlieren.

Ganz besonders in der Rolle als Tochter oder Sohn sind wir oft noch im Erwachsenenalter auf der Suche nach Anerkennung der Eltern. Vielleicht ist es deshalb auch so schwer, dem Vater oder der Mutter eine Bitte abzuschlagen.

Im Falle von Anna halte ich es für absolut vertretbar, die Mutter zu bitten, unter der Woche ein Gericht vom mobilen Essensdienst anzunehmen, damit Anna mehr Zeit für sich selbst hat.

Die Wahrheit schützt beide gleichermaßen!

Andersherum gefragt: Hätten Sie es gerne, wenn Ihr Kind Ihnen nicht ehrlich sagt, wann es überfordert ist? Was würden Sie empfinden, wenn Sie später erfahren, dass Ihre Tochter oder Ihr Sohn unter den vielen Aufgaben fast zusammengebrochen wäre? Niemandem ist geholfen, wenn wir eine Last nach der anderen auf uns laden, immer mit dem Vorsatz: Ich schaffe das schon. Obwohl wir insgeheim längt erkennen mussten, dass wir es überhaupt nicht mehr schaffen. Aber stur den Blick auf die Aufgabe gerichtet, erkennen wir keine Zeichen mehr von außerhalb oder verdrängen die eigenen Wünsche und Gefühle.

Bleiben Sie Herr Ihrer Zeit und hoffen Sie nicht vergeblich auf die große Anerkennung der anderen. Allzu oft bleibt diese nämlich aus, und gerade Sie werden für Ihre Dienste eher angeschnauzt. Das Lob bekommen womöglich andere, die viel bessere Laune zum sonntäglichen Besuch mitbringen, denn die sind nicht so gestresst wie Sie.

Spätestens, wenn Sie bemerken, dass die Anerkennung für Ihre Leistung ausbleibt, dass für Sie nur die nörgelnden Worte reserviert sind und das Verständnis für Ihre Ungeduld gegenüber der Mutter oder dem Vater bei den anderen gleich null ist, kommt ein Riesenfrust in Ihnen hoch. Und das ist kein guter Ratgeber für die Pflegenden. Aus Frust wird Wut, aus Wut manchmal auch Gewalt. Dazu lesen Sie mehr im 5. Kapitel. Denn Gewalt in der Pflege durch Angehörige ist leider auch ein Thema, das meist aus einer Überforderung resultiert. Und diese Überforderung müssen Sie vermeiden, indem Sie sich und Ihrem eigenen Leben mehr Wert zuschreiben.

Selbstanalyse: Was kann ich leisten?

Nehmen Sie sich selbst unter die Lupe und stellen Sie sich die Frage, was Sie an Zeit und Aufgaben übernehmen können.

Spätestens in dem Moment, in dem man eine eigene Familie gründet, wird der Kontakt zu den Eltern dünner. Meist beginnt der Abnabelungsprozess mit Mitte Zwanzig oder mit der Geburt eines eigenes Kindes. Der Wunsch nach Unabhängigkeit und einem eigenständigen Leben wird immer größer. So ist es mehr als natürlich, dass beide Parteien, Eltern wie Kinder, ihr eigenes Leben unabhängig voneinander aufbauen. Die Gemeinsamkeiten werden weniger, ebenso wie die gegenseitigen Besuche.

So weit, so gut. Meist sind die Eltern noch sehr rüstig und führen ein aktives Leben, während die Kinder mit eigener Familie und Existenzsicherung beschäftigt sind. So ist es auch nicht verwunderlich, wenn man sich etwas voneinander entfernt und seinen eigenen Lebensrhythmus schafft.

Im Falle einer angehenden Pflegebedürftigkeit der Eltern rückt man jedoch auf einen Schlag wieder enger zusammen. Gerade war der eigene Tag noch bis auf die letzte Minute verplant, muss man jetzt noch zusätzlich Zeit für die Pflege einbringen. Da stellt sich unweigerlich die Frage: Wie viel Zeit haben Sie eigentlich zur Verfügung? Damit sollten Sie sich schon zu Beginn einer Pflegebedürftigkeit beschäftigen, und Sie sollten es bestenfalls mit ihren Eltern, Geschwistern und mit ihrem Ehepartner besprechen. Wer seinen eigenen Zeitrahmen kennt, minimiert das Risiko, sich Hals über Kopf in eine Pflegesituation zu begeben, die die eigenen Kräfte übersteigt.

Der 30-Stunden-Tag

Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen. Brigitte ist 53 Jahre alt und unverheiratet. Als die Demenz ihres Vaters zunimmt und die Mutter nicht mehr allein mit ihm klarkommt, stellen sich die Kinder ihrer Mutter unterstützend zur Seite. Brigitte hat noch einen Bruder und eine Schwester, mit denen sie sich frühzeitig trifft, um abzuklären, wer was übernehmen kann. Und in diesem Fall hat die Familie Glück, da alle Kinder in der Nähe wohnen. Oft ist es anders, denn oft sind die Familienangehörigen über ganz Deutschland verstreut, was dazu führt, dass meist der, der in der Nähe wohnt, den Großteil der Arbeit und Verantwortung trägt.

So sitzen die drei Kinder zusammen und entwerfen gemeinsam mit der Mutter einen Betreuungs- und Unterstützungsplan. Brigitte legt fest, dass sie ihren Sport dreimal die Woche unbedingt weitermachen will, dafür aber bereit ist, an den Wochenenden, an denen ihre Schwester wegen ihrer Kinder eingeschränkt ist, mehr Zeit einzubringen. Der Bruder, ebenfalls berufstätig, fügt sich in den Plan ein.

Das hört sich einfach an, ist es aber nicht immer. Eine Zeitlang klappt es bei den dreien dennoch ganz gut. Doch dann nimmt sich die Schwester immer mehr heraus, sie ist der Situation mit dem Vater nicht mehr gewachsen, der aufgrund seiner Demenz immer anstrengender wird. Für Brigitte bleibt immer weniger Zeit, da sie stets für ihre Schwester einspringt, um ihre Mutter nicht zu enttäuschen. Spätestens nach einigen Monaten hätte Brigitte auf die veränderte Situation reagieren müssen, was sie nicht tut. Ohne Diskussion übernimmt sie die „Dienstzeiten“ ihrer Schwester, weil sie die Verantwortung bei sich sieht. Der Bruder, der meist nicht vor 19 Uhr abends aus der Arbeit kommt, kann sie nicht so entlasten, wie es nötig wäre. Brigitte selbst, nach außen eine starke Frau, wird immer depressiver, ohne dass jemand es bemerkt. Ihre Sportstunden fallen die meiste Zeit dem Dienst an ihrem Vater zum Opfer. Der Kontakt zu ihren Freunden dünnt ebenfalls immer mehr aus, es fehlt die Zeit dafür. Brigitte läuft Gefahr, sich zu isolieren und sich gesellschaftlich ins Aus zu rücken.

Frühzeitig auf Änderungen reagieren

Jetzt wäre es an der Zeit, ein Gespräch in der Familie zu führen. Ist die Schwester nicht mehr in der Lage, die Mutter bei der Betreuung zu unterstützen, muss die Familie eine Ersatzlösung finden. Möglichkeiten gäbe es in Form von ehrenamtlicher Unterstützung oder auch einer Tagespflege. Dennoch ist immer wieder zu beobachten, dass Geschwister und andere Verwandte sich nur allzu gerne auf dem bedingungslosen Einsatz eines Menschen ausruhen, um dann völlig überrascht zu reagieren, wenn der Pflegende zusammenbricht. Oft zu hören ist dann: Ja, hätte sie doch mal was gesagt!

Richtig! Doch nicht jeder ist in der Lage, lange Gespräche zu führen, wenn die Situation schnelles Handeln verlangt. Brigitte hat mal eben das Ruder übernommen, ohne darüber nachzudenken, was es für sie in letzter Konsequenz bedeutet. Ihre Schwester wiederum war froh, das Problem gelöst zu haben, und die Mutter hat von all dem nur wenig mitbekommen. Der Bruder nahm den Mehreinsatz der Schwester billigend in Kauf, er selbst hatte keine andere Lösung parat. Menschen, die eine Stärke ausstrahlen, werden von anderen, aber auch von sich selbst stark beansprucht. Ihre Stärke führt dazu, dass sie keinen Schutzreflex bei anderen auslösen und sich daher gerne selbst zu viel zumuten. Familie und Freunde erkennen erst viel zu spät, dass ein Mensch überbeansprucht wurde. Es ist also Ihre Sache, sich selbst zu schützen, wenn Sie zu diesen Menschen gehören.

Erst Monate später wurde Brigitte klar, was sie persönlich der Mehreinsatz kostete. Doch jetzt war es zu spät, eingefahrene Gewohnheiten wieder rückgängig zu machen. Das kostet mehr Kraft, als gleich zu Beginn zu sagen: Wir haben ein Problem. Aber genau das hätte sie tun müssen.

Besser noch wäre gewesen, das Problem ihrer Schwester nicht zu ihrem zu machen, sondern alle daran zu beteiligen, um gemeinsam eine Lösung zu finden.

Vergessen Sie nicht, dass es äußerst ungewiss ist, ob Ihnen jemals jemand dafür danken wird. Sorgen Sie lieber dafür, dass Sie die Ihnen übertragenen Aufgaben gut ausführen können, denn nur so ist auch gewährleistet, dass Sie mit sich selbst zufrieden sind.

Legen Sie fest, wer welche Aufgaben übernehmen kann

Mein persönlicher Fehler war es, alle anliegenden Dinge anstandslos selbst zu erledigen. Einfach schon deshalb, weil ich am nächsten dran war und den besten Kontakt zu meinen Eltern hatte. Doch Aufgaben, die man bereits übernommen hat, sind im Nachhinein schwer wieder abzugeben. Besser ist es, sie von Beginn an gut zu verteilen.

Machen Sie sich dazu eine Liste mit den Aufgaben, die es zu erledigen gilt. Beziehen Sie, falls möglich, Vater/Mutter ebenso mit ein wie eventuell vorhandene Geschwister. Mehr dazu finden Sie in Kapitel 4: Wie kann Pflege gelingen?

Pflege fängt bei Ihnen persönlich an

Klären Sie den Zeitumfang und stellen Sie zunächst für sich selbst fest, wie viel davon Sie maximal einbringen können. Haben Sie Hobbys oder anderweitige Verpflichtungen? Gehen Sie regelmäßig tanzen oder haben Sie einen festen Freundeskreis, den Sie treffen? Dann sorgen Sie dafür, dass die nötige Zeit dafür bleibt. Auch wenn Ihnen das im Moment übertrieben erscheint, denken Sie daran, dass sich eine Pflege über viele Jahre hinweg erstrecken kann. Ich habe auf meinen Veranstaltungen Menschen getroffen, die seit zwölf, 15 und 20 Jahren ihre Eltern (Vater oder Mutter) pflegen. Sie glauben gar nicht, wie oft mir gesagt wurde, man würde sich davor fürchten, dass man vor den Eltern sterbe. „Aber wo bleibt denn dann mein Leben?“, lautet die Frage, die oft folgt. Die Pflege kann zu einem Teil Ihres Lebens werden, sie darf aber nicht Ihr ganzes Leben bestimmen!

In einer Talkshow habe ich den Heimleiter Armin Rieger getroffen. Er betreibt ein Heim für Demenzkranke in Augsburg und erzählte mir: Wenn Angehörige mit einem demenzkranken Menschen mit ihm am Tisch zum ersten Gespräch sitzen, würden diese meist viel schlechter aussehen als der Kranke selbst.

Das darf nicht so weit kommen!

Umso wichtiger ist es, dass Sie lieb gewordene Gewohnheiten und Hobbys weiter pflegen.

Wann und wo kann ich mich erholen?

Es ist erstaunlich, wie wenig die Menschen von sich selbst wissen. Sie beobachten Freunde und Nachbarn, aber kennen nicht ihre eigenen Vorlieben. Wenn sie gefragt werden, wo sie sich denn gerne entspannen oder erholen, kommt als Antwort: Im Urlaub halt. Doch zum einen ist der Urlaub eher ein seltenes Glück, zum anderen ist er erwiesenermaßen nicht immer von Glück und Entspannung geprägt. Wer sich also auf die wenigen Wochen im Jahr konzentriert, läuft Gefahr, wenig bis gar keine Erholung zu finden.

Genau aus diesem Grund sollten Sie sich kleine Oasen im Leben schaffen, um sich vom Alltag erholen zu können. Nehmen Sie sich die Zeit und überlegen Sie, welche Orte oder Begegnungen Ihnen Freude bereiten. Ist es ein Spaziergang im Wald, ein Museumsbesuch, der Sie in eine andere Welt entführt, oder vielleicht ein schöner Kinoabend mit Freunden? Wann haben Sie das letzte Mal so richtig gelacht? Notieren Sie sich diese Ereignisse und planen Sie sie in Zukunft fest in Ihren Alltag ein. Ich selbst habe immer den noch zu erledigenden Aufgaben die Priorität verliehen, und falls dann noch Zeit gewesen wäre, was natürlich nie der Fall war, dann hätte ich mir noch das ein oder andere gegönnt. Wozu es dann eben meist erst gar nicht kam.

Ein großer Fehler, wie ich heute zugeben muss. Denn um nicht auszubrennen, muss man sich diese Oasen bewusst schaffen. Wer wie ich damals darauf hofft, nach getaner Arbeit eine Lücke für sich selbst zu finden, der wird enttäuscht werden. Meist steht immer irgendwo Arbeit herum, die getan werden muss. So bleibt kaum Zeit für einen selbst. Besser ist es, für die Dinge, die in Ihrem Leben nicht fehlen dürfen, einen festen Termin einzuplanen.

Zum Bespiel ein Abendessen mit Ihrem Ehepartner, ein Familienausflug mit den Kindern oder was auch immer für Sie wichtig ist. Tragen Sie sich das in Ihren Terminkalender ein.

Zeitmanagement

Für die Finanzen gibt es meist einen Plan. Man nimmt die Einnahmen und stellt sie den Ausgaben gegenüber. So weiß jeder, welche Summe den Monat über verfügbar ist. Eine einfache Rechnung, die Sie sicher kennen.

Mit unserer Zeit gehen wir aber ganz anders um. Wir vergeben die Zeit oftmals ohne Sinn und Verstand. Zugegeben, wenige Menschen tun das auch mit ihrem Geld, aber mit der Zeit machen wir es fast alle so. Obwohl auch hier unsere Mittel nur beschränkt verfügbar sind, verteilen wir sie großzügig.

Starten Sie einen Versuch. Schreiben Sie einen gewöhnlichen Tagesablauf auf und notieren Sie sich den einzelnen Zeitaufwand für die verschiedenen Aufgaben.

Beispiel Anna:

6.00 – aufstehen

6.00–6.15 – Bad

6.15–6.30 – Frühstück herrichten

6.30–6.45 – Frühstücken

6.45–7.00 – Frühstück abdecken, Pausenbrote schmieren

7.00 – Anfahrt Arbeit – 13.00 Arbeit

13.30 – Ankunft zuhause / Einpacken Mittagsessen für Mutter; Nebenher Telefonat mit Mutter, die wissen will, wann Anna kommt. Herrichten Mittagessen für Kinder.

14.00–15.00 – Fahrt zur Mutter (10 Minuten) Aufwärmen des Mittagessens; Gesellschaft leisten

15.15–17.00 – Kinder brauchen Hilfe bei den Hausaufgaben, anschließend Fahrt zum Sport. Nebenher räumt Anna die Küche auf und erledigt ein Telefonat.

17.15 – Termin beim Allgemeinarzt ihrer Mutter wegen Krankheitszustand

18.00 – Ehemann kommt nach Hause. Abendessen kochen.

19.00 – Gemeinsam mit Ehemann wird die Küche aufgeräumt.

19.30 – Anna fährt noch mal zu ihrer Mutter, um zu sehen, wie es ihr geht. (Ehemann bringt Kinder ins Bett.)

20.15 – Rückkehr von der Mutter.

20.30 – Anna muss einen Antrag für einen Gehwagen an die Krankenkasse stellen.

21.30 – Anna schläft auf dem Sofa neben ihrem Mann ein.

22.00 – Anna geht ins Bett.

Ein 16-Stunden-Tag für Anna, der völlig ausgefüllt ist und keine Stunde für ein Hobby zulässt. Nur zu dumm, dass sie jetzt auch noch eine Zusage für ein kleines Ehrenamt an der Schule der Kinder gegeben hat; oder es nicht schafft, ihrem Bruder zu vermitteln, dass er seine Wäsche selbst machen soll.

Würde Anna sich ihre Zeit notieren, könnte sie erkennen, dass sie all ihre Aufgaben gar nicht schaffen kann! Und dass das nicht daran liegt, dass sie es nicht will, sondern dass die Zeit eines jeden Menschen schlichtweg limitiert ist.

Ich will Ihnen damit zeigen, dass Sie sich genau darüber im Klaren sein müssen, wie viel Zeit Sie für Ihre Eltern zur Verfügung haben. Nur wer seinen Zeitrahmen kennt, kann seine Hilfe auch ehrlich anbieten.

Wie steht mein Ehepartner dazu?

Nicht selten wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass der Ehepartner oder die Ehepartnerin die Last der Pflege mitträgt. Doch ebenso oft kommt es auch vor, dass die Ehepartner unterschiedliche Ansichten über den Umfang der Unterstützung bzw. des Pflegeaufwands haben. Hinter solch einem Konflikt steht oft das Gefühl eines Partners, vernachlässigt zu werden. Wenn plötzlich keine Zeit mehr für ein gemeinsames Gespräch bleibt oder für ein gemütliches Abendessen oder wenn über Monate hinweg nur noch ein Thema den Tag beherrscht, dann sollten Sie bei all dem Stress nicht Ihren Partner übersehen und auch ihm die notwendige Aufmerksamkeit schenken.

Treffen Sie gemeinsame Entscheidungen

Schon vor Beginn der ersten Pflegebedürftigkeit sollten die Ehepartner gemeinsam entscheiden, wie sie mit der Situation umgehen wollen. Wie weit reicht die Akzeptanz des Partners, wenn es um den Zeitumfang der Pflege geht?

Anna hatte keinen Moment darüber nachgedacht, sich mit ihrem Mann zu besprechen, ob er mit ihrem Engagement einverstanden ist. Vielmehr war es für sie selbstverständlich, dass sie alles für ihre Mutter tun will. Doch das Ergebnis fiel verheerend aus. Ihr Mann fühlte sich vernachlässigt und lernte eine andere Frau kennen. Eine Frau, die ihn wieder zur