Weh - Lisa Olstein - E-Book

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Lisa Olstein

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Beschreibung

Was passiert, wenn Schmerz unser Leben kapert? – Ein entlastendes Buch jenseits der Ratgeberliteratur

Was bedeutet Schmerz für unser Leben? Was geschieht, wenn er unseren Alltag kapert? Und wie können wir mit einem Erleben umgehen, für das uns oft die richtigen Worte fehlen? Lisa Olstein kennt diese Fragen aus eigener Erfahrung. Und sie ist nicht allein – mehr als zwölf Millionen Menschen leiden in Deutschland an chronischen Schmerzen. In ihrem ungewöhnlichen Buch findet Olstein Worte und Bilder für den Schmerz, die über die sterilen Kategorien der Medizin hinausgehen. Sie schöpft aus den Naturwissenschaften, aus Kunst und Philosophie, ihre Quellen reichen von Lukrez bis Virginia Woolf, von Jeanne d’Arc bis „Dr. House“ – Ein beeindruckendes, poetisches Zeugnis des Lebens mit Schmerz.

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Über das Buch

Was passiert, wenn Schmerz unser Leben kapert? — Ein entlastendes Buch jenseits der RatgeberliteraturWas bedeutet Schmerz für unser Leben? Was geschieht, wenn er unseren Alltag kapert? Und wie können wir mit einem Erleben umgehen, für das uns oft die richtigen Worte fehlen? Lisa Olstein kennt diese Fragen aus eigener Erfahrung. Und sie ist nicht allein — mehr als zwölf Millionen Menschen leiden in Deutschland an chronischen Schmerzen. In ihrem ungewöhnlichen Buch findet Olstein Worte und Bilder für den Schmerz, die über die sterilen Kategorien der Medizin hinausgehen. Sie schöpft aus den Naturwissenschaften, aus Kunst und Philosophie, ihre Quellen reichen von Lukrez bis Virginia Woolf, von Jeanne d’Arc bis »Dr. House« — Ein beeindruckendes, poetisches Zeugnis des Lebens mit Schmerz.

Lisa Olstein

Weh

Über den Schmerz und das Leben

Aus dem Englischen von Barbara Schaden

Carl Hanser Verlag

für David und Toby

und in Erinnerung an

Marion Daniels Covich (Annie)

1

Jeder Schmerz ist einfach. Und jeder Schmerz ist komplex. Du bist drin, und du willst raus. Wie kann das Meer nicht schön sein? Heute ist das Meer nicht schön.

Schmerz ist Schmerz: grell auch in seiner Verschattung, vage bei aller Präzision. Schmerz macht klein und dehnt aus, staucht und streckt, schießt auf uns herunter und wallt in uns auf, ist ebenso oft der wie mein und nur selten unser.

»Fuck-fuck-fuck-fuck« war der Moment, in dem die Doula wusste, dass ich, in circa Stunde siebzehn, gegen den Schmerz kämpfte, statt mich hineinfallen zu lassen, darauf zu reiten, hindurchzugehen, was auch immer — ab dem Moment war klar, dass ich sie enttäuschen würde. »Ich will jetzt über eine PDA reden.« Vorgesehen war ursprünglich so etwas wie Bitte-keine-Schmerzmittel-ich-kenne-die-Optionen-und-werde-drauf-zurückgreifen-wenn-nötig. Meine Mutter behauptete immer, sie habe es genossen, Kinder auf die Welt zu bringen, sie hatte sich drei natürliche Geburten erkämpft, bevor es in Mode kam, natürlich zu gebären. »Versuchen wir’s mit der Wanne?«, fragte sie. »Hol mir den Anästhesisten«, sagte ich.

Neun Monate lang war ich frei von Migräne gewesen, nur an zwei Tagen nicht, aber auch da hatte es nur ein paar Stunden gedauert und war wirklich moderat gewesen — für mich so etwas wie der Schwergewichtsweltmeisterschaftsrekord, den ich kopfwehtechnisch gebrochen hatte. Mein Kopf, sonst besiedelt von einer Fülle anderer Symptome — linker Frontallappen, stirnseitig: Häkchen; rechter Frontallappen, stirnseitig: Häkchen; Schädelbasis, Seitenfläche 4 Zentimeter unter dem Scheitelpunkt: Häkchen; Augen und Augenbrauen, Schläfen: Häkchen —, war komplett schmerzfrei gewesen. Die Wehenschmerzen jetzt waren ein einziger Schmerz, ich war ein einziger Schmerz. »Bitte hol mir den Anästhesisten.«

Später machte ich mir Sorgen, dass es eine Charaktersache ist; dass ich mich zu schnell, zu verzweifelt der erstbesten Lösung in die Arme werfe, Ibu bei Krämpfen, Migränemittel bei Migräne, PDA jetzt. Ich mache mir Sorgen, dass diese Neigung — Schwäche, Angst, mangelnde Fantasie? — auch meine Elternschaft beeinträchtigen könnte. Ich frage mich, ob es eine Folge der ungezählten Stunden unbezähmbarer oder kaum bezähmter Schmerzen ist, ein stets veränderliches Schreckgespenst. Nein, nicht ob. Eher wie oft (oft) und wie (auf so viele Arten).

Aber zu Ihrer Beruhigung — falls Sie es sich nicht ohnehin gedacht haben: Es wird hier nicht um Wehenschmerzen gehen. Darüber könnte ich, offen gestanden, auch gar nicht viel sagen. Bei mir war nach siebzehn Stunden Schluss — nicht mit den Wehen, aber mit dem Schmerz: sauber beendet durch einen Spinalblock — eigentlich im Handumdrehen; eine Erinnerung, sicher, aber eine, die nicht mehr ist als eine recht windige Brücke von hier nach dort. Der Wehenschmerz ist wie jeder Schmerz, wir wissen nichts von ihm, außer in der Zeit, in der wir ihn erleben. Körperlicher Schmerz ist seinem Wesen nach ein Geschöpf der Gegenwart. Erinnerter Schmerz ist, definitionsgemäß, gehabter Schmerz: ohne Verbindung zum Jetzt. Der Unterschied zwischen der Erinnerung an eine Grippe und gegenwärtigem Kranksein — oder zwischen Schwangerschaft und Geburt — ist wie der Unterschied zwischen der Schilderung von Wellen und dem Ertrinken.

Ertrinken ist eines der Wörter, mit denen wir Schmerz gern beschreiben, wenn er uns überschwemmt; allerdings benutzen wir es oft auch für anderes: für seelischen Schmerz, für Überwältigtsein. Wie es ist zu ertrinken, habe ich nie auch nur annähernd erlebt, aber ich stelle mir vor, dass es einen, wie der Schmerz, vollständig in die Gegenwart eintaucht. Ja, er benebelt, der Schmerz, er lässt die Ränder der Erinnerung verschwimmen, aber er ist im Augenblick, er ist der Augenblick, und man ist nirgendwo anders als genau dort, wohin er einen zwingt.

Die Migräne, die in mancher Hinsicht wie jeder akute Schmerz ist und in anderer Hinsicht womöglich auch ganz anders, ist eine eigene Version von Gegenwart. Was passiert, wenn ihre Gegenwart deine Gegenwart wird, jeweils für längere Zeiträume und für einen signifikanten Teil des Lebens? Das ist der Schmerz, das ist die Gegenwart, um die es hier gehen soll.

2

Lässt das Licht des Erwachens den dunklen Frühmorgenschädel zersplittern, oder erwacht der Schädel durch sein Zersplittern zu einem dunklen Frühmorgen? Egal; es ist wie das Brechen eines Eisbergs, aber innerhalb der beengten Verhältnisse eines plumpen Containerschiffs. Heute? Nein, nicht heute. Oder doch — heute, schon wieder. »Aus kleinen Bächen können ohne Vorankündigung wilde Flüsse werden«, blinkt das Warnsignal des Nationalen Wetterdienstes. Ohne Scheiß. Man könnte auch sagen, dass es einen, trotz aller Informiertheit, überrumpelt. (Mich immer.)

Jeder aktuell erlebte Schmerz ist immer der schlimmste, und wenn er schlimm ist, ist er unübersetzbar, aber das hält einen nicht davon ab, es immer wieder zu versuchen.

Masturbiere immerfort und skandiere dazu

»Ich bin allein« auf Mittelpersisch

Grabe dich mit den Brüsten durch einen Hügel,

auf dem Kopf einen Mühlstein als Mütze

Sei wie ein unsterblicher Dornbusch

im selbstmörderischen Wald

Die Zeilen stammen aus einem Gedicht zum Thema Unterwelt von Srikanth Reddy: Es sind verschiedene Schmerzformen, die er hier aufzählt, nach einer abgewandelten Version der Wong-Baker-Gesichtsschmerz-Dokumentationsskala, die der Patient (das heißt der Leser; das heißt Sie) nach Schweregrad gewichten soll. Als ich den Autor das Gedicht, oder vielmehr einen abgeschlossenen Ausschnitt aus einem unfertigen Epos, lesen höre, kurz vor meiner Abreise zu einem Stipendiatsaufenthalt, der mir ungestörte Zeit zum Schreiben ermöglichen wird, stelle ich verblüfft fest, wie treffend diese genial beschriebenen Spielarten von Schmerz auch das Gefühl beschreiben, das sich bei dem Versuch einstellt, Schmerz in Worte zu fassen.

Schmerz als Blackbox, als Schließfach, als Ersatztresor für alle wesentlichen Daten. Schmerz als Schrapnell des Gedächtnisses. Schmerz als Vehikel. Schmerz als Weg (spirituell, sexuell, anders). Schmerz als Indiz für die Liebe Gottes. Schmerz als Indiz für den Zorn Gottes. Schmerz als gesund. Schmerz als krank. Schmerz als leerer Anhang. Schmerz als tiefste Bindung. Schmerz als Symptom. Schmerz als Ursache. Schmerz als vorübergehend. Schmerz als anhaltend. Schmerz als Entlarvung, als Nebelwand, als Schmeißfliege der Ablenkung. Schmerz als Phantom. Schmerz als Beweis.

Dumpf, spitz, pochend, brennend, wund, stechend, konzentriert, diffus. Vereinzelt, gelegentlich, intermittierend, häufig, andauernd, schwach, mäßig, stark, gib-mir-den-Strick. Trotz oder vielleicht wegen der schwindelerregend vielen Spielarten, als die wir Schmerz konzipieren und kategorisieren (geschweige denn erleben), gelingt es uns bemerkenswert schlecht, darüber zu reden, auch im wörtlichen Sinn wie: Haben Sie Schmerzen, wie sehr, wo, welcher Art?

»Meine eigenen Körperempfindungen sind vermutlich das einzige Gebiet, auf dem ich mit Fug und Recht Kompetenz beanspruchen kann. Traurig und schlimm daher, wie wenig ich weiß«, schreibt Eula Biss in »The Pain Scale«. Bevor ich auf ihren Artikel stieß, hatte ich eine jahrelange Aversion gegen die übliche numerische Rating-Skala — bewerten Sie Ihren Schmerz auf einer Skala von 1 bis 10, wobei 1 kein Schmerz bedeutet und 10 für den stärksten vorstellbaren Schmerz steht — und gegen mich selbst, wenn mir wieder mal eine vorgelegt wurde und ich wie immer zwischen Empörung, Scham und Ratlosigkeit hin und her wechselte. Dass ich diesen Artikel fand, war eine Art Atempause, die Bestätigung einer Frustration, die mich lange in Verwirrung gestürzt hatte.

Bei ihrer Suche nach besseren Messsystemen verweist uns Biss auf die Beaufortskala, die Sir Francis Beaufort — sicher zusammen mit vielen namenlosen anderen — 1805 im Auftrag der englischen Kriegsmarine entwickelt hat, um Windgeschwindigkeiten zu klassifizieren. Sie reicht von 0 bis 12, wobei die Zahlen nur eine sekundäre Rolle spielen: Eigentlich sind sie nur eine Art Kurzschrift für ausnehmend fein differenzierte Doppelbeschreibungen — an Land und auf See — für die Phänomenologie des Windes. Biss zitiert einige der Beschreibungen für das, was an Land vor sich geht — »Wind im Gesicht spürbar; Blätter rascheln« —, aber für mich liest sich das, was auf See passiert, auf geradezu unheimliche Weise wie eine anschwellende Migräne:

Völlig ruhige, spiegelglatte See

Leichte Kräuselwellen, keine Schaumkronen

Kleine kurze Wellen, Kämme glasig, brechen nicht

Schwach bewegte See, Kämme beginnen zu brechen, Anfänge der Schaumbildung

Kleine, länger werdende Wellen, recht regelmäßige Schaumköpfe

Mäßige Wellen von größerer Länge, überall Schaumköpfe, beginnende Gischt

Größere Wellen mit brechenden Köpfen, überall weiße Schaumflecken, mehr Gischt

Sehr grobe See, weißer Schaum von brechenden Wellenköpfen, legt sich in Schaumstreifen in die Windrichtung

Mäßig hohe See mit langen Wellenbergen, deren Köpfe verweht werden, überall Schaumstreifen

Hohe See, Rollen beginnt, Wellen mit verwehter Gischt, beeinträchtigt die Sicht; Brecher beginnen sich zu bilden

Sehr hohe Wellen mit langen, überbrechenden Kämmen, See weiß von dichtem, verblasenem Schaum, schwere Brecher; beeinträchtigte Sicht

Brüllende See, Wasser wird waagerecht weggeweht, starke Sichtverminderung

See vollkommen weiß, Luft mit Schaum und Gischt gefüllt, keine Sicht mehr

3

Einstieg ins Flugzeug, eine Gegenwart, die jetzt Monate in der Vergangenheit liegt: Ich fliege mehrere Stunden durchs Land, werde weitere Stunden lang von einer großen Grenzstadt in eine winzige Grenzgemeinde chauffiert, direkt zum Abendessen an einem hellerleuchteten Tisch. »Woran werden Sie während Ihres Aufenthalts hier arbeiten?«, ist die unausweichliche Wendung des Gesprächs. »Ich möchte über Schmerz schreiben«, sage ich beinahe unwillkürlich zu den gastfreundlichen Fremden — ein paar Leuten von der Stiftung und meinen beiden Mitstipendiaten. Bei längerem Nachdenken, oder kürzerer Reisezeit, wäre ich wohl zurückhaltender gewesen. Warum? Um den Raum zu schützen, der die Vorstellung umgibt, den Raum rund um die unbeantwortete, bis jetzt nicht einmal geäußerte Einladung an die Sprache, aufzusteigen, niederzufahren. Und weil ich dieses Thema nicht vor mir hertrage, nie. Allen äußeren Zeichen und allen Jahren zum Trotz: Ich sehe mich nicht — und ganz sicher nicht von vornherein — als leidende Person.

Heute? Nein, nicht heute. Heute Morgen ist wieder ein Morgen, an dem ich in den Schmerz hinein erwache: die linke Braue wie eine Prellung unter einem drückenden Daumen, wie ein überreifer Pfirsich, in den sich versehentlich ein Finger bohrt; eine Porzellanvase in einem Schraubstock, der nach und nach zugedreht wird, nichts als Lärm und schräges Echo. Manchmal fährt irgendwo ein Stemmeisen dazwischen, Metall auf Metall.

Einzunehmen beim allerersten Anzeichen von Symptomen. Kann bei übermäßigem Gebrauch zu Abhängigkeit führen. Aufrecht und völlig reglos im Bett sitzen und nein nein nein flüstern. Vor dem Griff nach den Tabletten erst mal dehnen, trinken, das Abendessen gestern ins Protokoll potentieller Auslöser eintragen. Griff nach den Tabletten Stunden zuvor, noch halb in krankem Schlaf. Entscheidung zwischen Rigips und Spitzhacke.

Ein Arzt sagt, ich bestrahle Sie so viel, wie Sie brauchen. Ein Arzt sagt, Ihre Schmerzen müssen auf anderer Ebene behandelt werden. Ein Arzt sagt, Sie müssen vorsichtig sein, die Nebenwirkungen von Röntgenstrahlen sind unkalkulierbar; in den Niederlanden ist Röntgenreizbestrahlung verboten. Ein Arzt sagt, Bestrahlung ist eine unserer ältesten und sichersten Therapien. Ein Arzt sagt, Bestrahlung ist okay, aber der Körper gewöhnt sich — wirkt sie dann noch?

Heute? In Heather Abels Text »How to Prevent a Tsunami in Three Easy Steps« mündet die kindheitsbeherrschende Furcht der kalifornischen Autorin vor The Big One, vor dem jederzeit erwartbaren Großen Beben mit anschließender Flutwelle, in der auf der Schwelle zu Mutters Schlafzimmer gestellten Frage: »Kommt heute ein Tsunami? Nein, sagt Mom, heute nicht. — Das war unser Drehbuch.« Schmal, die Öffnung; Wiederkehrwahrscheinlichkeit zerlegt in begreifbare Portionen.

In meiner Version habe ich die Gleichung umgedreht, weil meine Hoffnung nicht dem Status quo gilt, sondern der wundersamen Anomalität. In meinem Heute? sitzt die Frage: Wird es heute anders? Wird es heute schmerzfrei? Die tief in der Antwort Nein, heute nicht vergrabene Beruhigung ist das Beste, was ich zustande bringe. Begreifbare Portionen. Vielleicht morgen?

Vor Jahren, als die Migräne noch nicht chronisch war, fiel der Bruder eines Klassenkameraden von einem Balkon im zweiten Stock (Dunkelheit, Alkohol, kein Geländer) und brach sich nahezu jeden Knochen. Ein paar Wochen später reichte mein Klassenkamerad ein Gedicht ein, das am Krankenbett seines Bruders spielte und mit einer Erklärung der Dauer von Liebe endete: Er zerlegte die Zeit von der Geburt seines Bruders bis zur Gegenwart des Gedichts am Krankenbett in Stunden und Minuten. Diese Berechnung, diese akkurate Buchhaltung angesichts gesichtsloser Zeit, dieses Beharren auf der Tatsache und der Endlichkeit individueller Existenz — das war etwas, das mir im Gedächtnis geblieben ist. Schönheit und Schrecken zu gleichen Teilen.

Zu ticken begann meine Uhr eines Morgens im Herbst 1997, als ich mit einem Kopfweh erwachte, das drei Monate nicht mehr aufhören sollte und die Ära einläutete, in der ich noch heute lebe: akut-chronisch, chronisch-akut. Davor hatte ich als Kind ein-, zweimal Migräne, dazu eine Handvoll Auren — eine plötzliche, seltsam gezackte Grellheit des Lichts, ein Akkordeonieren des Tons, ein unerklärliches Schleppen im Takt eines Augenblicks oder Nachmittags — alles erst verständlich in der Rückschau. Zwischen achtzehn und fünfundzwanzig hatte ich, was ich im Nachhinein als »Normalomigräne« bezeichne: zeitweilig und stressbedingt, genau wie meine Mutter. Dann, bumm!, tage-, wochen-, manchmal monatelang ohne Pause.

Immer lautet die Antwort auf die Frage »Wie oft?« innerhalb eines beliebigen Zeitabschnitts »oft«. Eine vorsichtige Schätzung für meine gegenwärtige Zeitrechnung: ungefähr 3472 Tage Migräne. Das sind 83.328 Stunden (migränegefluteter Schlaf inbegriffen), das sind 4.999.680 Minuten. Oder, alternativ, neuneinhalb Jahre. Aber wer zählt schon?

4

In der zeitgenössischen Werbesprache ist Rot gleichbedeutend mit billig. Wenn Wörter für Farben in die Sprache einziehen, dann, sagen Linguisten, kommen zuerst Schwarz — was, wie wir in der Schule lernen, keine Farbe ist, sondern ein Fehlen von Farbe — und Weiß. Dann Rot. Für Blut? Für etwas Viszerales, Instinktives, tief aus dem Bauch heraus Auftauchendes? Blau, heißt es, sei eine der letzten Farbbezeichnungen, aber das scheint mir nicht ganz zu stimmen. Vielleicht brauchen wir keine Namen für das, was ringsum so allgegenwärtig ist (Meer, Himmel)? Vielleicht beschwichtigt Stille jedes Benennungsbedürfnis? Blau gilt als die Farbe geistiger Klarheit und zugleich tiefer Spiritualität, und ich wüsste nicht, dass mit dieser Farbe je Attribute wie beunruhigend oder seelisch aufwühlend in Verbindung gebracht worden wären.

In der Schwebe zwischen Aktivität und Passivität, Reiz und Ruhe, macht die Farbe Blau, schreibt Goethe, »für das Auge eine sonderbare und fast unaussprechliche Wirkung … Sie ist als Farbe … gleichsam ein reizendes Nichts.« Vielleicht ist Blau wegen der unendlichen Weite, als die es uns oft begegnet (Meer, Himmel), zwangsläufig durchdrungen von dem, was sich entzieht, von stets unerreichbar Fernem. »Wie wir den hohen Himmel, die fernen Berge blau sehen, so scheint eine blaue Fläche auch vor uns zurückzuweichen.« Vielleicht können wir nicht anders als diese Unfassbarkeit anziehend zu finden. »Wie wir einen angenehmen Gegenstand, der vor uns flieht, gern verfolgen, so sehen wir das Blaue gern an, nicht weil es auf uns dringt, sondern weil es uns nach sich zieht.«

Auch Kandinsky hatte eine Farbtheorie, ein synästhetisches Zusammenwirken von Personifizierung, Empfindung und Klang. Orange zum Beispiel klingt für ihn wie eine Kirchenglocke mittlerer Tonhöhe, wie eine Altstimme. Grün (eine Geige in mittlerer Lage) ist wie eine sehr dicke, sehr gesunde Kuh. Grau ist tonlos. Blau hat in seiner Annäherung an Schwarz einen Beiklang von nichtmenschlicher Trauer. Mit dem Farbton ändert sich auch der Sound, von der Flöte (helles Blau) über das Cello (dunkles Blau) bis hin zum Klang einer tiefen Orgel (tiefstes, feierliches Blau).

Ich persönlich habe den Drang, es zu essen, aber der lässt sich beherrschen. Ich glaube nicht, dass ich gegenüber Blau schon so empfunden habe, als die Migräne noch nicht Ganzfarben-Ganzkörper-Phänomen war: Die Farben durch die Augen aufzunehmen ist wie Trinken durch einen Doppelstrohhalm, die Nerven registrieren Vibration oder Stillstand, Gefäße glätten oder sträuben sich, ein Konzert der Empfindungen windet sich vom Auge über den Magen zum Hinterkopf, und tief in den Armen beginnt ein Surren. An Tagen, an denen die Lider Notvorhänge sind, ist Gelb ein Grauen. Manche Grüntöne sind reiner Brechreiz. Rot — nein, danke. Weiß ist die Krankenschwester, die man nicht auf sich zukommen sehen will. Blau jedoch spricht eine Sprache ohne Arg.

5

Bevor ich zu meinem Stipendiatsaufenthalt aufbreche, der es mir ermöglichen wird, mehrere Wochen lang ungestört über Schmerz zu schreiben, lege ich meinem Sohn eine Nachricht auf das Kopfkissen. Sie zielt schamlos darauf ab, sein siebenjähriges Empfindungsvermögen anzusprechen, und drückt dennoch meine bedingungslose Zuneigung aus (in der Zwischenzeit? für alle Zeit, falls mein Flugzeug abstürzt?). Ich hab dich lieb x 1.000.000. Ich hab dich ununterbrochen lieb. Ich hab dich bis in alle Ewigkeit lieb. Ich hab dich mehr lieb, als der Marianengraben tief ist. Ich hab alles an dir lieb.