Weihnachtserzählungen - Charles Dickens - E-Book

Weihnachtserzählungen E-Book

Charles Dickens.

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mit der Gestalt des Ebenezer Scrooge schuf Dickens 1843 eine der im besten Wortsinn merkwürdigsten Figuren der Weltliteratur: Durch den Besuch dreier Weihnachtsgeister am Heiligen Abend wandelt sich der hartherzige Geizhals in einen gütigen und hilfsbereiten Menschen. Wunderbar festlich, witzig und anrührend sind auch die acht weiteren Erzählungen dieses Bandes, von den berühmten »Sylvesterglocken« bis zu »Doktor Marigold«, geschmückt mit den Illustrationen der Erstausgaben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 947

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



CHARLES

DICKENS

WEIHNACHTS

ERZÄHLUNGEN

Aus dem Englischen von Isabelle Fuchs, Carl Kolb und Julius Seybt

Mit den Illustrationen der Erstausgaben von Edward G. Dalziel, Richard Doyle, Edwin Landseer, John Leech, Daniel Maclise, Clarkson Stanfield, Frank Stone und John Tenniel

Anaconda

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-641-28387-2

© 2021 by Anaconda Verlag, einem Unternehmen

der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotiv: John Leech (1817–1864), »Mr Fezziwig’s Ball«

(1843, coloured engraving), from ›A Christmas Carol‹

by Charles Dickens (1812–1870), Bridgeman Images

Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de

www.anacondaverlag.de

Inhalt

Ein Weihnachtslied in Prosa

Die Sylvesterglocken

Das Heimchen am Herd

Der Kampf des Lebens

Der Verwünschte

Die Geschichte des armen Verwandten

Die Geschichte des Schuljungen

Mrs Lirripers Fremdenpension

Doktor Marigold

Editorische Notiz

EINWEIHNACHTSLIEDINPROSA

Eine Geistergeschichte zur Weihnacht

Vorwort

Ich habe mich in diesem geisterhaften kleinen Buch bemüht, den Geist einer Idee zu beschwören, die meine Leser nicht unzufrieden machen soll, weder mit sich, noch mit anderen, noch mit der Jahreszeit, noch mit mir. Möge es Ihre Häuser auf angenehme Weise heimsuchen und niemand es aus der Hand legen wollen.

Ihr treuer Freund und Diener

C. D.

Dezember, 1843

STROPHE 1

Marleys Geist

Um es gleich vorauszuschicken: Marley war tot. Darüber gibt es nicht den leisesten Zweifel. Die Bestätigung über seine Beerdigung war vom Geistlichen, vom Notar, vom Leichenbestatter und vom Haupttrauernden unterzeichnet. Scrooge unterschrieb ihn, und Scrooges Name galt an der Börse gut für alles, wozu er ihn hergab.

Der alte Marley war so tot wie ein Türnagel.

Wohlgemerkt, ich will nicht behaupten, dass ich aus eigener Erfahrung wüsste, was an einem Türnagel so außergewöhnlich tot sei. Ich für meine Person wäre eher geneigt, einen Sargnagel als das toteste Stück Eisen zu betrachten, das es gibt. Doch das Gleichnis trägt die Weisheit unserer Ahnen in sich, und meine unheiligen Hände sollen daran nicht rütteln, sonst ist es um unser Land geschehen. Es sei mir daher erlaubt, mit Nachdruck zu wiederholen, dass Marley so tot wie ein Türnagel war.

Wusste Scrooge, dass er tot war? Natürlich wusste er’s. Wie sollte es auch anders sein? Scrooge und er waren ja – ich weiß nicht seit wie vielen Jahren – Geschäftspartner gewesen. Scrooge war sein alleiniger Testamentsvollstrecker, sein einziger Nachlassverwalter, Rechtsnachfolger, Haupterbe, Freund und der Einzige, der um ihn trauerte. Und selbst Scrooge war von dem betrüblichen Ereignis nicht so furchtbar erschüttert, als dass er sich nicht auch am Tag des Begräbnisses als vortrefflicher Geschäftsmann erwies; er feierte ihn mit einem guten Handel.

Die Erwähnung von Marleys Begräbnis bringt mich wieder zum Ausgangspunkt meiner Erzählung zurück. Es besteht kein Zweifel, dass Marley tot war. Das muss man sich klar vor Augen führen, sonst ist nichts Wunderbares an der Geschichte, die ich gleich erzählen werde. Wenn wir nicht felsenfest davon überzeugt wären, dass Hamlets Vater vor Beginn des Stückes starb, wäre sein nächtliches Wandeln im Ostwind auf den Mauern seines Schlosses um nichts merkwürdiger, als wenn irgendein anderer Herr mittleren Alters nach Einbruch der Dunkelheit an irgendeinem windigen Ort – etwa auf dem St. Pauls-Kirchhof – plötzlich auftauchte, um die müde Seele seines Sohnes aufzurütteln.

Scrooge ließ den Namen des alten Marley nie übermalen. Noch nach Jahren stand über der Tür des Warenhauses: »Scrooge und Marley«. Die Firma war als »Scrooge und Marley« bekannt. Wer neu war im Geschäft, nannte Scrooge manchmal Scrooge und manchmal Marley; er hörte auf beide Namen. Für ihn war beides dasselbe.

Aber er war ein wahrer Blutsauger, dieser Scrooge! Ein erpresserischer, raffsüchtiger, an sich reißender, knauseriger, nimmersatter, gieriger alter Sünder war er! Hart und scharf wie ein Feuerstein, aus dem kein Stahl je einen edlen Funken geschlagen hat, geheimniskrämerisch, verschlossen und einsam wie eine Auster. Seine innere Kälte ließ seine alten Gesichtszüge erstarren, seine spitze Nase noch spitzer werden, machte seine Wangen runzelig, seinen Gang steif, seine Augen rot, seine dünnen Lippen blau, und brach in seiner schnarrenden Stimme durch. Ein frostiger Reif lag auf seinem Haupt, seinen Augenbrauen und seinem Stoppelkinn. Er schleppte seine eigene Kälte stets mit sich herum, selbst an den Hundstagen kühlte er sein Kontor bis auf Null, und zur Weihnachtszeit machte er es um keinen Grad molliger.

Äußere Hitze oder Kälte wirkten wenig auf Scrooge. Keine Hitze konnte ihn erwärmen, keine Winterkälte frösteln machen. Kein Wind war schneidender als er, kein Schneefall unbarmherziger, kein Platzregen undurchdringlicher. Schlechtes Wetter konnte ihm nichts anhaben. Der heftigste Regen, Schnee, Hagel, Graupel konnte sich nur in einer Hinsicht rühmen, besser zu sein als er: sie gaben oft im Überfluss, das tat Scrooge nie.

Niemand hielt ihn jemals auf der Straße an, um mit freudigem Blick zu sagen: »Mein lieber Scrooge, wie geht es Ihnen? Wann kommen Sie mich besuchen?« Kein Bettler bat ihn um eine Kleinigkeit, kein Kind fragte ihn, wie viel Uhr es sei, kein Mann oder Weib erkundigte sich je in seinem Leben bei Scrooge nach dem Weg zu diesem oder jenem Ort. Selbst die Blindenhunde schienen ihn zu kennen, denn wenn sie ihn kommen sahen, zogen sie ihre Besitzer lieber in Torwege und in Höfe hinein und wedelten mit dem Schwanz, als wollten sie sagen: »Gar kein Auge, blinder Herr, ist immer noch besser als ein böses!«

Doch was kümmerte das Scrooge? Das war ihm gerade recht. Sich alleine seinen Weg durch die engen Pfade des Lebens zu bahnen, und dabei jedem menschlichen Mitgefühl warnend zuzurufen, es solle fernbleiben, das war für Scrooge, wie man so sagt, das größte Vergnügen.

Einmal – es war von allen guten Tagen im Jahr ausgerechnet am Heiligen Abend – saß der alte Scrooge geschäftig in seinem Kontor. Draußen war es schneidend kalt, rau und neblig außerdem. Er konnte hören, wie die Leute draußen im Hof keuchend auf und ab gingen, sich die Hände gegen die Brust schlugen und mit den Füßen auf die Pflastersteine stampften, um sich aufzuwärmen. Die Glocken der Stadt hatten eben erst drei Uhr geschlagen, aber es war bereits stockfinster – es war den ganzen Tag nicht hell gewesen –, und die Lichter hinter den Fenstern der benachbarten Kontors flackerten wie rote Schmutzflecken in der dicken braunen Luft. Der Nebel drang durch jede Ritze und jedes Schlüsselloch und war draußen so dicht, dass die gegenüberliegenden Häuser wirkten wie ein Spuk, obwohl der Hof besonders schmal war. Wenn man die trübe Wolke, die alles verdüsterte, langsam sinken sah, hätte man glauben können, Mutter Natur wohne direkt nebenan und heckte in großem Stil etwas aus.

Die Tür zu Scrooges Kontor stand offen, damit er ein Auge auf seinen Schreiber haben konnte, der nebenan in einer jämmerlich kleinen Kammer, einer Art Burgverlies, Briefe kopierte. Scrooges Feuer war schon sehr klein, aber das Feuer des Schreibers war so sehr viel kleiner, dass es aussah wie ein einzelnes Stück Kohle. Er konnte aber nicht nachlegen, denn der Kohlenkasten stand in Scrooges Zimmer; und immer, wenn der Schreiber mit der Schaufel hereinkam, kündigte sein Herr ihm an, dass es wohl an der Zeit wäre, sich zu trennen. Dann zog der Schreiber seinen weißen Wollschal um und versuchte, sich an der Kerze zu wärmen; was aber jedes Mal fehlschlug, da er ein Mann von schwacher Einbildungskraft war.

»Fröhliche Weihnachten, Onkel! Gott erhalte Sie!«, rief eine muntere Stimme. Sie gehörte Scrooges Neffen, der so rasch auf ihn zukam, dass der Gruß das erste Anzeichen seiner Anwesenheit war.

»Pah!«, sagte Scrooge. »Dummes Zeug!«

Scrooges Neffen war vom schnellen Gang durch Nebel und Frost so warm geworden, dass er regelrecht glühte. Sein Gesicht war hübsch und rot, seine Augen glänzten, und sein Atem dampfte noch.

»Wie, Weihnachten dummes Zeug, Onkel?«, rief Scrooges Neffe, »das ist doch sicher nicht Ihr Ernst?«

»Und ob!«, erwiderte Scrooge. »Fröhliche Weihnachten! Welches Recht hast du, fröhlich zu sein? Welchen Grund hast du, fröhlich zu sein? Du bist doch arm genug.«

»Nun«, antwortete der Neffe heiter, »welches Recht haben Sie, verdrossen zu sein? Welchen Grund haben Sie, mürrisch zu sein? Sie sind doch reich genug.«

Scrooge, der im Augenblick keine bessere Antwort zur Hand hatte, sagte noch einmal »Pah!« – und brummte »Dummes Zeug!« hinterher.

»Nicht ärgern, Onkel!«, rief der Neffe.

»Was denn sonst?«, entgegnete Scrooge. »Ich lebe in einer Welt voller Narren! Fröhliche Weihnachten! Zum Henker mit den fröhlichen Weihnachten! Was ist Weihnachten anderes als eine Zeit, in der man offene Rechnungen ohne Geld begleicht? Eine Zeit, in der man sich um ein Jahr älter, aber keine Stunde reicher fühlt? Eine Zeit, in der man seine Bücher abschließt und jeden Posten aus allen zwölf Monaten des Jahres als Soll zu spüren bekommt? Wenn es nach mir ginge«, setzte Scrooge entrüstet hinzu, »müsste jeder Dummkopf, der mit einem ›Fröhlichen Weihnachten‹ auf den Lippen herumläuft, in seinem eigenen Pudding gekocht und begraben werden mit seinem Herz durchbohrt von einem Stechpalmenzweig. Ja, das sollte er!«

»Onkel!«, beschwor ihn der Neffe.

»Neffe!«, erwiderte der Onkel streng. »Feiere Weihnachten auf deine Weise, und lass mich’s auf meine feiern.«

»Feiern!«, wiederholte der Neffe. »Aber Sie feiern es ja gar nicht.«

»Überlass das nur mir«, brummte Scrooge. »Mag es dir viel Nutzen bringen! Nutzen hat es dir immer gebracht.«

»Es gibt viele Dinge, die mir hätten nutzen können und die ich nicht genutzt habe, das weiß ich«, erwiderte der Neffe, »und Weihnachten gehört dazu. Aber ich habe die Weihnachtszeit, sobald sie nahte – abgesehen von der Verehrung, die wir ihrem heiligen Namen und Ursprung schulden, sofern man das überhaupt voneinander trennen kann –, sicherlich stets als gute Zeit betrachtet. Als eine angenehme, menschenfreundliche Zeit der Vergebung und Barmherzigkeit, als einzige Zeit, die ich im langen Lauf des Jahres kenne, in der Männer und Frauen gleichermaßen bereit scheinen, ihre verschlossenen Herzen frei zu öffnen und an ärmere Menschen zu denken, als wären sie tatsächlich Gefährten auf der gemeinsamen Reise zum Grab und nicht Geschöpfe anderer Art, die ganz andere Wege gehen. Und deshalb, Onkel, glaube ich, auch wenn sie mir nie ein Stückchen Gold oder Silber in die Tasche gelegt hat, dass mir die Weihnachtszeit Gutes getan hat und Gutes tun wird, und ich sage: Gott segne sie!«

Der Schreiber im Burgverlies applaudierte unwillkürlich. Sofort aber kam ihm sein unschickliches Betragen zu Bewusstsein, und er schürte das Feuer, wobei er den letzten schwachen Funken endgültig auslöschte.

»Wenn Sie noch einen einzigen Laut von sich geben«, knurrte Scrooge, »dann können Sie Weihnachten mit dem Verlust Ihres Postens feiern!« Wieder zu seinem Neffen gewandt, fügte er hinzu: »Du bist ja ein ganz gewaltiger Redner. Mich wundert, dass du nicht ins Parlament eintrittst.«

»Seien Sie nicht böse, Onkel. Essen Sie morgen mit uns.«

Scrooge sagte, ihn solle eher …, ja wahrhaftig, so sprach er. Er vollendete den Satz in seiner ganzen Länge und sagte, erst wolle er dieses letzte erlebt haben.

»Aber warum«, rief Scrooges Neffe, »warum nur?«

»Warum hast du geheiratet?«, fragte Scrooge.

»Weil ich mich verliebt habe.«

»Weil er sich verliebt hat!«, brummte Scrooge, als wäre es das Einzige auf der Welt, was noch lächerlicher sei als eine fröhliche Weihnacht. »Guten Abend!«

»Aber Onkel, Sie haben mich vorher ja auch nie besucht. Wie kann es dann jetzt ein Grund sein, nicht zu kommen?«

»Guten Abend!«, rief Scrooge.

»Ich brauche nichts von Ihnen, ich verlange nichts von Ihnen. Warum können wir nicht Freunde sein?«

»Guten Abend!«, sagte Scrooge.

»Ich bedaure wirklich von Herzen, Sie derart hartnäckig zu finden. Wir haben nie einen Zwist gehabt, zu dem ich Veranlassung gegeben hätte. Aber ich habe Weihnachten zu Ehren diesen Versuch unternommen, und ich will meine Weihnachtsstimmung bis zuletzt behalten. Also: Fröhliche Weihnachten, Onkel!«

»Guten Abend!«, sagte Scrooge.

»Und ein glückliches Neues Jahr!«

»Guten Abend!«, sagte Scrooge.

Trotzdem verließ der Neffe das Zimmer ohne ein böses Wort. An der äußeren Tür blieb er stehen, um dem Schreiber seinen Weihnachtsgruß zu entbieten, der, so sehr er auch fror, immer noch wärmer war als Scrooge, denn er gab den Gruß herzlich zurück.

»Das ist auch so ein Kerl«, murmelte Scrooge, der es hörte. »Mein Schreiber, mit fünfzehn Schilling die Woche, Frau und Kindern, und der schwatzt von fröhlichen Weihnachten. Da möchte man wirklich ins Tollhaus verschwinden.«

Dieser Verrückte hatte, während er Scrooges Neffen hinausbegleitete, zwei andere Leute hineingelassen. Es waren stattliche Herren von angenehmen Äußeren, die jetzt, mit dem Hut in der Hand, in Scrooges Kontor standen. Sie trugen Bücher und Papiere unterm Arm und verbeugten sich.

»›Scrooge und Marley‹, wenn ich nicht irre?«, sagte einer der Herren mit Blick auf seine Liste. »Habe ich die Ehre mit Mr Scrooge oder Mr Marley?«

»Mr Marley ist seit sieben Jahren tot«, antwortete Scrooge. »Er starb genau heute Nacht vor sieben Jahren.«

»Wir zweifeln nicht, dass sein noch lebender Kompagnon die gleiche Freigebigkeit besitzen wird«, sagte der Herr, indem er seine Referenzen vorwies.

Und er hatte ganz Recht; denn die beiden waren zwei verwandte Seelen gewesen. Bei dem ominösen Wort ›Freigebigkeit‹ aber runzelte Scrooge die Stirn, schüttelte den Kopf und gab die Referenzen zurück.

»In dieser feierlichen Jahreszeit, Mr Scrooge«, hob der Herr an, eine Feder ergreifend, »ist es mehr als sonst schon wünschenswert, dass wir ein wenig für die Armen und Verwahrlosten sorgen; sie leben gerade jetzt in arger Bedrängnis. Vielen Tausenden fehlt selbst das Nötigste, Hunderttausenden die geringste Behaglichkeit, Sir.«

»Gibt es keine Gefängnisse?«, fragte Scrooge.

»Mehr als genug!«, versetzte der Herr und legte die Feder wieder weg.

»Und die Arbeitshäuser?«, fragte Scrooge. »Bestehen die noch?«

»Allerdings«, entgegnete der Herr, »ich wünschte, ich könnte nein sagen.«

»Die Tretmühle und die Armengesetze sind also noch in voller Kraft?«, sagte Scrooge.

»Beide in voller Wirksamkeit, Sir.«

»Oh!«, versetzte Scrooge. »Nach dem, was Sie zuerst sagten, befürchtete ich, dass etwas vorgefallen sei, das ihren nützlichen Gang hemme. Ich bin froh, das Gegenteil zu hören.«

»In der Überzeugung, dass diese Einrichtungen wohl kaum imstande sind, Leib oder Seele der Armen christliche Beglückung zu geben«, erwiderte der Herr, »sind einige von uns bemüht, einen Geldbetrag aufzubringen, um den Armen Speis und Trank sowie Mittel zur Erwärmung zu verschaffen. Wir haben diesen Zeitpunkt gewählt, weil er vor allen anderen einer ist, zu dem der Mangel am bittersten gefühlt wird und nur der Reiche Grund zur Freude hat. Welche Summe soll ich für Sie aufschreiben?«

»Nichts«, erwiderte Scrooge.

»Wünschen Sie ungenannt zu bleiben?«

»Ich wünsche in Ruhe gelassen zu werden«, sagte Scrooge. »Da Sie mich nach meinen Wünschen fragen, meine Herren, so ist dies eben meine Antwort. Ich selbst bin zu Weihnachten nicht vergnügt, und habe nicht die Mittel, Faulenzern eine Freude zu bereiten. Ich trage meinen Teil zu den von mir erwähnten Anstalten bei – sie kosten genug, und wem es schlecht geht, der mag dorthin gehen.«

»Viele können dort nicht hingehen, und viele würden eher sterben.«

»Wenn sie eher sterben würden«, versetzte Scrooge, »wäre es gut, wenn sie es täten und so die überschüssige Bevölkerung verminderten. Im Übrigen – Sie entschuldigen – weiß ich davon nichts.«

»Aber Sie könnten es wissen«, bemerkte der Herr.

»Das ist nicht meine Sache«, erwiderte Scrooge. »Es genügt, wenn ein Mann seine eigene Sache versteht und sich nicht in die anderer Leute einmischt. Meine beansprucht mich ununterbrochen. Guten Abend, meine Herren!«

Da die Herren einsahen, dass es nutzlos sei, ihr Vorhaben weiter zu verfolgen, entfernten sie sich. Mit einer gehobenen Meinung von sich selbst und in besserer Laune als gewöhnlich ging Scrooge wieder an die Arbeit.

Inzwischen hatten Nebel und Dunkelheit derart zugenommen, dass Leute mit brennenden Fackeln umherliefen und sich anboten, Kutschpferden voranzugehen, um ihnen den Weg zu weisen. Der alte Turm einer Kirche, dessen raue, greise Glocke aus einem gotischen Fenster in der Mauer sonst wissend auf Scrooge herabsah, wurde unsichtbar und schlug die Stunden und Viertelstunden nun in den Wolken, mit zitterndem Nachklang, als klapperten ihm in seinem erfrorenen Haupt die Zähne. Die Kälte wurde immer schneidender. In der Hauptstraße, an der Ecke des Hofes, hatten einige Arbeiter, die die Gasrohre ausbesserten, in einem Kohlebecken ein großes Feuer angezündet, um das sich ein Haufen zerlumpter Männer und Jungen drängte, die ihre Hände wärmten und vor der Glut beglückt mit den Augen blinzelten. Am Pumpbrunnen, der verlassen dastand, gefror das träge strömende Wasser und verwandelte sich in menschenfeindliches Eis. Der Lichtschein aus den Läden, in deren Fenstern Zweige und Beeren von Stechpalmen unter der Lampenhitze knisterten, färbte die fahlen Gesichter der Vorübergehenden rot. Die Gewölbe der Geflügel- und Kolonialwarenhändler wurden zum glänzenden Vergnügen: ein strahlendes Schaustück, dessen Verbindung mit so langweiligen Dingen wie Kauf und Verkauf schier unmöglich schien. Der Oberbürgermeister gab in der Feste des mächtigen »Mansion House« seinen fünfzig Köchen und Butlern den Befehl, Weihnachten zu feiern, wie es einem Oberbürgermeister geziemt, und selbst der kleine Schneider, den er am letzten Montag wegen Trunkenheit und Rauflust auf der Straße noch mit einer Strafe von fünf Schilling belegt hatte, rührte in seiner Dachstube den Pudding für morgen, während sein hageres Weib mit dem Säugling ausging, um das Roastbeef zu kaufen.

Es wurde noch kälter, noch nebliger! Durchdringende, schneidende, beißende Kälte. Hätte der gute Sankt Dunstan die Nase des Teufels auch nur mit einem Hauch solchen Wetters berührt, statt seine gewöhnlichen Waffen einzusetzen, dann hätte dieser erst recht kräftig aufgeheult. Der Eigentümer einer winzigen jungen Nase, von der gierigen Kälte benagt und angebissen wie Knochen von Hunden benagt sind, beugte sich zu Scrooges Schlüsselloch, um ihn mit einem Weihnachtslied zu erfreuen; doch beim ersten Klang vongriff Scrooge so heftig nach seinem Lineal, dass der Sänger entsetzt die Flucht ergriff und das Schlüsselloch dem Nebel und der Kälte überließ, die dem Hausherrn noch viel näherstand.

Gott sei mit Euch, edler Herr,

Mög’ Euch kein Trübsal treffen

Endlich kam die Feierabendstunde. Unwillig stieg Scrooge von seinem Schreibstuhl herab und gab dadurch seinem harrenden Schreiber im Verlies stillschweigend die Einwilligung zum Aufbruch, worauf dieser sogleich die Kerze löschte und seinen Hut aufsetzte.

»Sie wollen vermutlich morgen den ganzen Tag frei haben wollen?«, fragte Scrooge.

»Wenn es Ihnen recht ist, Sir.«

»Ist mir nicht recht«, erwiderte Scrooge, »und gehört sich auch nicht. Wenn ich Ihnen dafür eine halbe Krone abzöge, fühlen Sie sich schlecht behandelt, nicht wahr?«

Der Schreiber lächelte gezwungen.

»Und doch«, fuhr Scrooge fort, »denken Sie nicht daran, dass mir Unrecht geschieht, wenn ich Ihnen einen Tageslohn fürs Faulenzen gebe.«

Der Schreiber bemerkte, dass es ja nur einmal im Jahr geschähe.

»Eine armselige Entschuldigung, um einem an jedem 25. Dezember das Geld aus der Tasche zu stehlen«, murrte Scrooge und knöpfte seinen Überrock bis zum Kinn zu. »Aber ich vermute, dass Sie den ganzen Tag haben müssen. Seien Sie dafür übermorgen umso zeitiger hier.«

Der Schreiber versprach es, und Scrooge ging brummend davon. Im Nu war das Kontor geschlossen, und der Schreiber, dem die langen Enden seines weißen Schals bis an die Hüfte hingen (er konnte sich mit keinem Überrock brüsten), fuhr Heiligabend zu Ehren als Letzter einer Reihe von Knaben zwanzig Mal auf einem Handschlitten Cornhill hinunter und lief dann so schnell wie möglich in seine Wohnung in Camden Town, um dort Blindekuh zu spielen.

Scrooge nahm sein trübseliges Mahl in dem gewohnten trübseligen Wirtshaus ein. Nachdem er alle Zeitungen gelesen und den Rest des Abends über seinem Abrechnungsbuch gebrütet hatte, ging er schließlich zum Schlafen nach Hause. Er bewohnte die Räume, die einst seinem verstorbenen Partner gehört hatten. Es handelte sich um eine düstere Zimmerflucht in einem niedrigen, finsteren Gebäude eines Hinterhofs. In diesem Hof erschien das Gebäude so fehl am Platz, dass man sich der Vorstellung nicht erwehren konnte, es habe sich als junges Häuschen beim Versteckspiel mit anderen Häuschen dorthin verlaufen und nicht mehr herausgefunden. Nun war es alt und traurig genug, denn niemand außer Scrooge wohnte dort, alle anderen Räume waren als Kontor vermietet. Der Hof war so dunkel, dass selbst Scrooge, der jeden Pflasterstein kannte, genötigt war, den Weg mit seinen Händen zu ertasten. Nebel und Frost lasteten derart schwer auf dem schwarzen alten Torweg, als hocke der Gott des Wetters in traurigem Nachsinnen auf der Schwelle.

Sicher ist, dass an dem Türklopfer außer seiner Größe nichts Bemerkenswertes war. Sicher ist auch, dass Scrooge ihn, seit er das Haus bewohnte, jeden Morgen und jeden Abend gesehen hatte; und dass Scrooge von dem, was man Phantasie nennt, ebenso wenig besaß wie irgendjemand sonst in der City von London, einschließlich Gemeinderat nebst Ratsherren und Zünften – was schon ein dreister Vorwurf ist. Festgehalten sei auch, dass Scrooge, seit er an diesem Nachmittag seinen vor sieben Jahren verstorbenen Partner zum letzten Mal erwähnte, keinen weiteren Gedanken an Marley verschwendet hatte. Und nun soll mir ein Mensch, wenn er denn kann, erklären, wie es kam, dass Scrooge, als er seinen Schlüssel ins Türschloss steckte, im Türklopfer, ohne dass dieser sich zwischenzeitlich veränderte, nicht den Türklopfer, sondern Marleys Gesicht sah!

Marleys Gesicht. Es war kein undurchdringlicher Schatten, so wie die anderen Gegenstände im Hof, sondern von einem unheilvollen Licht umgeben, wie ein verdorbener Hummer in einem dunklen Keller. Es war nicht zornig oder böse, sondern sah Scrooge an, wie Marley ihn immer ansah angesehen hatte: mit der gespenstischen Brille, die seine gespenstische Stirn hinaufgeschoben war. Sein Haar stand seltsam zu Berge, wie von Atem oder heißer Luft gesträubt; und obwohl seine Augen weit offen standen, waren sie ohne jede Bewegung. Dies und die leichenblasse Farbe verliehen dem Gesicht ein Grauen, doch schien das Grauen außerhalb zu liegen, aufgezwungen und nicht in dessen Macht.

Als Scrooge auf die Erscheinung starrte, wurde es wieder ein Türklopfer.

Es wäre unwahr, zu behaupten, dass er nicht erschrocken wäre oder sein Blut nicht jenen grausigen Schauder empfunden hätte, der ihm seit seiner Kindheit fremd geworden war. Trotzdem legte er seine Hand wieder an den Schlüssel, den er losgelassen hatte, drehte ihn entschlossen um, betrat das Haus und entzündete eine Kerze.

Dennoch zögerte er einen Augenblick unsicher, ehe er die Tür schloss, und spähte noch einmal vorsichtig dahinter, als fürchte er wirklich, durch den Anblick von Marleys Zopf, der in die Halle ragte, erschreckt zu werden. Aber hinter der Tür war nichts als die Schrauben und Muttern, die den Türklopfer hielten, darum machte er nur »Puh! Puh!« und warf die Tür mit einem Knall ins Schloss.

Der Knall dröhnte wie ein Donnerschlag durchs Haus. Jedes Zimmer im oberen Stockwerk und jedes Fass im Keller des Weinhändlers unten schien mit einem eigenen Echo zu antworten. Scrooge war aber nicht der Mann, der sich von Echos beeindrucken ließ. Er verriegelte die Tür, durchquerte den Hausflur und ging dann die Treppe hinauf, und zwar langsam: putzte beim Hinaufgehen noch sein Licht.

Man kann ja ungenau sagen, dass sich ein Sechsspänner über eine gute alte Treppenflucht hinaufjagen oder durch eine misslungene junge Parlamentsakte hindurchbefördern lasse, ich behaupte jedoch ernsthaft, dass man über diese Treppe ohne Mühe einen Leichenwagen hätte führen können; auch der Breite nach, die Deichsel gegen die Wand und die Tür in Richtung Geländer. An Breite hätte es nicht gefehlt, und es wäre immer noch Platz gewesen. Vielleicht war das der Grund, warum Scrooge glaubte, einen Leichenzug im Dämmerlicht vor sich her fahren zu sehen. Selbst ein halbes Dutzend Gaslaternen von der Straße hätten den Eingang nicht übermäßig erhellt, und so kann man sich vorstellen, dass er bei Scrooges kümmerlicher Kerze ziemlich finster war.

Scrooge ging hinauf und scherte sich darum keinen Deut. Dunkelheit ist billig, und Scrooge gefiel’s. Aber ehe er seine schwere Tür schloss, ging er durch seine Zimmer, um überall nach dem Rechten zu sehen. Die Erinnerung an das Gesicht war gerade noch stark genug, um das für wünschenswert zu halten.

Wohnzimmer, Schlafzimmer, Rumpelkammer – alles war, wie es sein sollte. Niemand unter dem Tisch, niemand unter dem Sofa; ein kleines Feuer auf dem Herd, Löffel und Tasse griffbereit, und die kleine Pfanne mit Haferschleim (Scrooge hatte Schnupfen) auf dem Kaminsims. Niemand unter dem Bett, niemand im Schrank, niemand in seinem Schlafrock, der auf verdächtige Weise an der Wand hing. Die Rumpelkammer wie gewöhnlich. Ein alter Kaminschirm, alte Schuhe, zwei Fischkörbe, ein dreibeiniger Waschtisch und ein Schürhaken.

Befriedigt schlug er die Tür zu und schloss sich ein, schloss sich sogar zweimal ein, was sonst gar nicht seine Art war. Auf diese Weise vor Überraschungen sicher, legte er seine Halsbinde ab, zog seinen Schlafrock und die Pantoffeln an, setzte die Nachtmütze auf und nahm dann vor dem Feuer Platz, um seinen Haferschleim zu löffeln.

Für so eine bitterkalte Nacht war es wirklich ein sehr kleines Feuer, eigentlich gar keins. Er musste sich dicht davorsetzen und darüberbeugen, um aus einer solchen Handvoll Kohlen auch nur das geringste Gefühl von Wärme zu ziehen. Der Kamin war uralt, vor Jahren von einem holländischen Kaufmann erbaut, und ringsum mit seltsamen holländischen Kacheln beklebt, die Szenen aus der Heiligen Schrift darstellen sollten. Da sah man Kain und Abel, Pharaos Töchter, die Königin von Saba, Engel durch die Luft auf Wolken wie auf Federbetten herabschweben, Abraham, Belsazar, Apostel, die auf Nussschalen in See stachen; Hunderte von Figuren, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln, und doch trat Marleys Kopf, seit sieben Jahren tot, daraus hervor wie der Stab des alten Propheten und verschlang die ganze Bande. Wenn jede glänzende Kachel erst mal weiß gewesen wäre und die Macht gehabt hätte, aus den vereinzelten Fragmenten seiner Gedanken ein Bild auf seine Oberfläche zu zaubern, dann wäre auf jeder wohl ein Abbild vom Kopf des alten Marley erschienen.

»Dummes Zeug!«, brummte Scrooge und stapfte quer durchs Zimmer.

Nachdem er einige Male auf und ab gegangen war, setzte er sich wieder. Als er seinen Kopf im Stuhl zurücklehnte, blieb sein Blick zufällig an einer Glocke hängen, einer unbenutzten Glocke, die im Zimmer hing und zu einem längst vergessenen Zweck mit einer Kammer im obersten Stockwerk des Hauses in Verbindung stand. Zu seinem großen Erstaunen und mit einem seltsamen, unerklärlichen Schauder beobachtete Scrooge, wie sie zu schwingen begann, zunächst so sanft, dass sie kaum einen Ton von sich gab; bald aber schwoll sie laut an, und mit ihr klangen alle Glocken im Haus.

Dies mochte eine halbe oder auch eine ganze Minute gedauert haben, ihm erschien es wie eine Stunde. Die Glocken verstummten, wie sie angeklungen waren: gemeinsam. Dann erfolgte von tief unten ein rasselndes Geräusch, als ob jemand eine schwere Kette über die Fässer im Keller des Weinhändlers zöge. Scrooge erinnerte sich, gehört zu haben, dass Gespenster in Spukhäusern angeblich Ketten schleppen.

Die Kellertür flog mit einem dumpfen Dröhnen auf, und dann vernahm er das Geräusch viel lauter auf dem Hausflur unten, dann kam es die Treppe herauf, dann geradewegs auf seine Tür zu.

»Immer noch dummes Zeug!«, murmelte Scrooge. »Ich glaub’s nicht.«

Schließlich wich ihm die Farbe doch aus dem Gesicht, als es ohne Zögern durch die schwere Tür und vor seinen Augen ins Zimmer trat. Bei seinem Eintreten flackerte die ersterbende Flamme auf, als ob sie riefe: »Ich kenne ihn. Marleys Geist!«, und sank wieder in sich zusammen.

Dasselbe Gesicht: ganz dasselbe. Marley mit seinem Zopf, übliche Weste, enge Hosen und Schaftstiefel, deren Quasten wie der Zopf, die Rockschöße und das Haar auf seinem Kopf steil nach oben standen. Die Kette, die er hinter sich herzog, war um seinen Leib geschlungen. Sie war lang und wand sich um ihn wie ein Schweif und bestand – Scrooge besah sie sehr genau – aus Geldkassetten, Schlüsseln, Vorhängeschlössern, Hauptbüchern, Urkunden und schweren Börsen aus geschmiedetem Stahl. Sein Körper war durchsichtig, Scrooge konnte durch die Weste hindurch die zwei Knöpfe hinten auf seinem Rock erkennen.

Scrooge hatte oft sagen hören, Marley habe kein Herz im Leib, jetzt glaubte er es.

Nein, er glaubte es selbst jetzt noch nicht. Obwohl er durch das Gespenst hindurchschauen konnte und es vor sich stehen sah; obwohl die todeskalten Augen ihn mit frostigem Schauder erfüllten und er sogar die Struktur des gefalteten Tuches erkannte, das ihm um Kopf und Kinn gebunden und das ihm vorher gar nicht aufgefallen war, blieb er dennoch ungläubig und traute seinen Sinnen nicht.

»Was gibt’s!«, rief Scrooge scharf und eisig wie immer. »Was wollt Ihr von mir?«

»Viel!« – Marleys Stimme, ganz zweifellos.

»Wer seid Ihr?«

»Fragt mich, wer ich war.«

»Nun, wer wart Ihr?«, forschte Scrooge mit erhobener Stimme. »Für ein Gespenst seid Ihr recht wunderlich.« Er hätte beinahe »als Gespenst« gesagt, benutzte aber »für«, weil es ihm angebrachter erschien.

»Zu Lebzeiten war ich Ihr Partner, Jacob Marley.«

»Könnt Ihr – könnt Ihr Euch setzen?«, fragte Scrooge und blickte ihn zweifelnd an.

»Ich kann es.«

»So tut’s.«

Scrooge stellte diese Frage nur, weil er nicht wusste, ob ein so durchsichtiges Gespenst imstande sei, auf einem Stuhl zu sitzen, und fühlte, dass eine mögliche Unfähigkeit eine unangenehme Erklärung nötig machen würde. Aber der Geist nahm Platz auf der anderen Seite des Kamins, als wäre er ganz daran gewöhnt.

»Ihr glaubt nicht an mich«, bemerkte der Geist.

»Nein«, sagte Scrooge.

»Welchen Beweis, außer dem Zeugnis Eurer Sinne, wollt Ihr für meine Echtheit haben?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Scrooge.

»Warum misstraut Ihr Euren Sinnen?«

»Weil eine Kleinigkeit genügt, um sie zu verwirren«, versetzte Scrooge. »Eine kleine Unpässlichkeit des Magens macht sie zu Betrügern. Ihr könntet ein unverdautes Stück Rindfleisch, ein wenig Senf, ein Brocken Käse, ein Stück halbrohe Kartoffel sein. Was immer Ihr seid, Ihr habt an Euch mehr Tafelspitz als Todesblitz!«

Es war nicht eben Scrooges Gewohnheit, Witze zu reißen, und auch jetzt fühlte er sich tief im Herzen keineswegs zu Scherzen aufgelegt. In Wahrheit wollte er geistreich sein, um sich abzulenken und seine Furcht niederzukämpfen. Denn die Stimme des Gespenstes erschütterte ihn bis ins Mark.

Diesen starren, toten Augen auch nur einen Moment lang schweigend gegenüberzusitzen, würde ihn, das fühlte Scrooge, in den Wahnsinn treiben. Etwas Grauenvolles lag auch darin, dass das Gespenst von einer Art eigener Höllenluft umgeben war. Scrooge konnte sie selbst nicht fühlen, aber es war sicherlich der Fall, denn obwohl das Gespenst völlig regungslos dasaß, bewegten sich sein Haar, seine Rockschöße und seine Stiefelquasten, als wehten sie ständig in der heißen Luft eines Ofens.

»Seht Ihr diesen Zahnstocher?«, fragte Scrooge, der aus den eben genannten Gründen rasch wieder das Wort ergriff, um, sei es auch nur für eine Sekunde, den eisigen Blick des Geistes von sich abzuwenden.

»Ja«, antwortete der Geist.

»Ihr seht ihn ja gar nicht an«, rief Scrooge.

»Aber ich sehe ihn trotzdem«, sagte das Gespenst.

»Nun denn«, erwiderte Scrooge, »ich brauche ihn nur herunterzuschlucken, um für den Rest meines Lebens von einer Legion von Kobolden verfolgt zu werden, die ich samt und sonders selbst erschaffen habe. Dummes Zeug, sage ich, alles dummes Zeug!«

Bei diesen Worten stieß das Gespenst einen markerschütternden Schrei aus und ließ seine Kette so grauenvoll und fürchterlich klirren, dass sich Scrooge an seinem Stuhl festhalten musste, um nicht ohnmächtig niederzustürzen. Aber um wie viel mehr wuchs sein Entsetzen, als der Geist die Binde um seinen Kopf abnahm, als wäre es ihm zu warm im Zimmer, und sein Unterkiefer auf seine Brust herabsank!

Scrooge fiel auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht.

»Gnade!«, rief er. »Schreckliche Erscheinung, warum quälst du mich?«

»Mensch mit irdischer Seele!«, versetzte der Geist. »Glaubst du an mich oder nicht?«

»Ich glaube«, sagte Scrooge, »ich muss. Aber warum wandeln Geister auf Erden, und warum kommen sie zu mir?«

»Von jedem Menschen wird verlangt, dass seine Seele unter seinen Mitmenschen wandle, weit und ganz das Land bereise«, antwortete der Geist. »Und wenn die Seele nicht zu Lebzeiten auszieht, ist sie dazu verdammt, es nach dem Tod zu tun. Sie ist dazu verdammt, die Welt zu durchwandern und – wehe mir! – zu sehen, was sie nicht teilen kann, auf Erden aber hätte teilen und in Glück verwandeln können.«

Erneut stieß das Gespenst einen Schrei aus, schüttelte seine Ketten und rang die schattenhaften Hände.

»Du trägst Fesseln?«, sagte Scrooge zitternd. »Sag mir, warum.«

»Ich trage die Kette, die ich mein Leben lang geschmiedet habe«, entgegnete der Geist. »Ich habe sie Glied um Glied und Elle um Elle geschmiedet; mit meinem eigenen freien Willen umgelegt und mit meinem eigenen freien Willen getragen. Kommen dir die Glieder seltsam vor?«

Scrooge zitterte mehr und mehr.

»Oder willst du wissen«, fuhr der Geist fort, »wie schwer und lang die Kette ist, die du selber trägst? Vor sieben Weihnachtsabenden war sie genauso lang und schwer wie diese hier. Seither hast du daran gearbeitet. Es ist eine massige Kette geworden!«

Scrooge blickte vor sich auf den Boden und erwartete, sich von fünfzig oder sechzig Klaftern Eisenkette umschlungen zu sehen, aber er sah nichts.

»Jacob«, flehte er. »Alter Jacob Marley, sag mir mehr. Sprich mir Trost zu, Jacob!«

»Ich habe keinen Trost zu geben«, erwiderte der Geist. »Er kommt aus anderen Regionen, Ebenezer Scrooge, und wird von anderen Boten zu anderen Menschen getragen. Auch kann ich dir nicht sagen, was ich sagen möchte. Ein kleines bisschen mehr ist alles, was mir erlaubt ist. Nirgends kann ich rasten, bleiben oder ruhen. Nie hat mein Geist die Schwelle unseres Kontors überschritten. Höre meine Worte! Zu Lebzeiten ist mein Geist nie jenseits der engen Grenzen unsrer Geldwechslerhöhle gewesen, und mühsame Reisen stehen mir noch bevor!«

Scrooge hatte die Angewohnheit, seine Hände in die Hosentaschen zu stecken, wenn er nachdachte. Das tat er auch jetzt, als er über die Worte des Geistes nachsann, aber ohne nach oben zu sehen oder sich von den Knien zu erheben.

»Du musst dir sehr viel Zeit genommen haben, Jacob«, bemerkte er in geschäftlichem Ton, ließ es aber an Demut und Ehrerbietung nicht fehlen.

»Viel Zeit?«, fragte der Geist.

»Sieben Jahre tot«, sagte Scrooge sinnend, »und die ganze Zeit auf Reisen?«

»Die ganze Zeit«, entgegnete der Geist. »Ohne Rast und Frieden. Unaufhörlich von Reue zerfressen.«

»Du reist schnell?«, fragte Scrooge.

»Auf den Schwingen des Windes«, antwortete der Geist.

»Da hättest du in den sieben Jahren große Strecken zurücklegen können«, bemerkte Scrooge.

Als der Geist dies hörte, stieß er wieder einen Schrei aus und rasselte mit seiner Kette derart schrecklich durch die Grabesstille der Nacht, dass der Nachtwächter ihn zu Recht wegen nächtlicher Ruhestörung hätte anzeigen können.

»Oh! Gefangen, gefesselt bist du und doppelt in Eisen gelegt«, rief das Gespenst, »und weißt nicht, dass für diese Erde Jahrhunderte unablässiger Mühen der unsterblichen Wesen in der Ewigkeit versinken müssen, ehe sich das Gute ganz erfüllen kann, dessen sie fähig ist. Nicht zu wissen, dass jede christliche Seele in ihrem kleinen Kreis, was immer er sei, in Liebe wirkt und dass sie ihr Erdenleben zu kurz finden wird, um die unendlichen Möglichkeiten, von Nutzen zu sein, ausschöpfen zu können. Nicht zu wissen, dass kein Maß an Reue die versäumten Gelegenheiten eines Lebens aufwiegen kann! So einer war ich! Oh! So war ich!«

»Aber du bist immer ein guter Geschäftsmann gewesen, Jacob«, stotterte Scrooge, der nun anfing, die Worte auf sich selbst zu beziehen.

»Geschäftsmann!«, rief das Gespenst und rang erneut die Hände. »Die Menschheit war mein Geschäft! Das allgemeine Wohl war meine Aufgabe; Liebe, Erbarmen, Nachsicht und Wohlwollen: all das war mein Beruf. Alles, was ich in meinem Gewerbe tat, war nur ein Tropfen Wasser im umfassenden Ozean meiner Aufgabe!«

Es hielt seine Kette auf Armeslänge vor sich hin, als ob sie die Ursache all seines fruchtlosen Kummers sei, und schleuderte sie dann dumpf dröhnend wieder auf den Boden.

»Zu dieser Zeit im Jahresablauf«, fuhr der Geist fort, »leide ich am meisten. Warum ging ich mit gesenktem Blick durch das Gedränge der Mitmenschen und hob ihn niemals zu dem gesegneten Stern empor, der die drei Weisen zu einer ärmlichen Unterkunft führte? Gab es denn keine jämmerlichen Hütten, zu denen mich sein Licht hätte leiten können?«

Scrooge erschrak zutiefst, als er das Gespenst so reden hörte, und begann, heftig zu zittern.

»Höre mich!«, mahnte der Geist. »Meine Zeit ist bald vorüber.«

»Ich will ja«, flüsterte Scrooge, »aber sei nicht hart zu mir, Jacob. Sprich unverblümt, ich bitte dich!«

»Ich kann nicht sagen, warum ich dir in einer Gestalt erscheine, die du sehen kannst. Viele, viele Tage habe ich unsichtbar an deiner Seite gesessen.«

Das war kein angenehmer Gedanke. Scrooge schauderte und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Das ist kein leichter Teil meiner Buße«, fuhr der Geist fort, »ich bin heute Nacht hier, um dich zu warnen, um dir zu sagen, dass noch Hoffnung und Möglichkeit für dich bestehen, meinem Schicksal zu entfliehen. Hoffnung und Möglichkeit, die ich dir verschaffe, Ebenezer.«

»Du bist mir immer ein guter Freund gewesen, ich danke dir«, murmelte Scrooge.

»Drei Geister werden dich heimsuchen«, verkündete das Gespenst.

Scrooges Gesicht zog sich fast so in die Länge wie das des Gespenstes.

»Ist das die Möglichkeit und Hoffnung, von der du sprachst, Jacob?«, fragte er mit bebender Stimme.

»Allerdings.«

»Ich – ich weiß nicht, ob ich das will«, stotterte Scrooge.

»Ohne ihr Kommen«, sagte der Geist, »hoffst du vergeblich, den Pfad zu meiden, auf dem ich wandle. Erwarte den Ersten morgen, wenn die Glocke eins schlägt.«

»Könnten nicht alle auf einmal kommen, damit ich es hinter mir habe, Jacob?«, meinte Scrooge.

»Erwarte den Zweiten in der nächsten Nacht um dieselbe Stunde. Den Dritten in der nächsten Nacht, sobald der letzte Schlag zwölf verklungen ist. Sorge dafür, dass du mich nie wiedersiehst, und sieh zu, dass du um deinetwillen nicht vergisst, was zwischen uns vorgefallen ist.«

Nach diesen Worten nahm das Gespenst das Tuch vom Tisch und band es sich wie zuvor um den Kopf. Scrooge hörte es am knirschenden Ton der Zähne, als die Kinnladen wieder zusammengeklappt wurden. Er wagte es, den Blick zu heben, und sah seinen übernatürlichen Besucher aufrecht vor sich stehen, die Kette über und um seinen Arm geschlungen.

Die Erscheinung bewegte sich rückwärts von ihm fort, und mit jedem Schritt schob sich das Fenster ein wenig nach oben, sodass es weit offen stand, als das Gespenst es erreichte.

Es winkte Scrooge heran, und er ging auf ihn zu. Als sie noch zwei Schritte voneinander entfernt waren, hob Marleys Geist warnend die Hand, dass er nicht näher kam. Scrooge blieb stehen.

Mehr aus Überraschung und Furcht als aus Gehorsam; denn wie die Hand sich erhob, vernahm er wirre Klänge in der Luft; unzusammenhängende Töne von Wehklag und Reue, unsagbar schmerzvolle und schuldbewusste Klagelaute. Das Gespenst lauschte ihnen kurz, stimmte in die trauervolle Klage ein und schwebte in die dunkle, kalte Nacht hinaus.

Scrooge trat in verzweifelter Neugier ans Fenster und blickte hinaus.

Die Luft war mit Schatten erfüllt, die in ruheloser Hast klagend hin und her schwebten. Jeder trug eine Kette wie Marleys Geist, einige wenige – vielleicht verbrecherische Regierungsmitglieder – waren aneinandergekettet, keiner war frei. Viele hatte Scrooge zu ihren Lebzeiten gekannt. Mit einem alten Geist in weißer Weste, der eine mächtige eiserne Geldkasse am Knöchel trug, war er gut bekannt gewesen; der schrie jämmerlich, weil er einem armen Weib mit Kind nicht helfen konnte, das er unten auf einer Türschwelle hocken sah. Allen gemeinsam war sichtlich die Qual, sich vergeblich zu mühen, menschliches Leid zu mildern, dieses Vermögen aber für immer verloren zu haben.

Ob sich diese Wesen im Nebel auflösten oder der Nebel sie einhüllte, vermochte Scrooge nicht zu sagen; doch gemeinsam verschwanden sie und ihre geisterhaften Stimmen, und die Nacht wurde wieder so, wie sie bei seiner Heimkehr gewesen war.

Scrooge schloss das Fenster und untersuchte die Tür, durch die der Geist hereingekommen war. Sie war doppelt verschlossen, wie er es mit eigener Hand getan hatte, und die Riegel waren unversehrt. Er versuchte ›Dummes Zeug!‹ zu sagen, blieb aber bei der ersten Silbe stecken. Und da er wegen der überstandenen Aufregung oder den Anstrengungen des vergangenen Tages oder seines Einblicks in die Welt des Unsichtbaren oder der dumpfen Unterredung mit dem Geist oder der späten Stunde sehr erschöpft war, ging er, ohne sich auszukleiden, sofort zu Bett und fiel augenblicklich in tiefen Schlaf.

STROPHE2

Der erste der drei Geister

Als Scrooge erwachte, war es so finster, dass er, aus dem Bett blickend, kaum das durchsichtige Fenster von den undurchsichtigen Wänden seines Schlafzimmers unterscheiden konnte. Er bemühte sich, die Dunkelheit mit seinen Luchsaugen zu durchdringen, als die Glocken einer benachbarten Kirche vier Viertel schlugen. Er lauschte, um die volle Stunde schlagen zu hören.

Zu seinem großen Erstaunen schlug die schwere Glocke sechs-, dann sieben-, dann achtmal und so fort bis zwölf; dann verstummte sie. Zwölf! Es war nach zwei Uhr gewesen, als er sich zu Bett begeben hatte. Die Uhr ging falsch. Ein Eiszapfen musste ins Uhrwerk geraten sein. Zwölf Uhr!

Er drückte auf die Feder seiner Repetieruhr, um diese äußerst voreilige Uhr zu widerlegen. Ihr kleiner lebhafter Puls schlug zwölfmal und hielt dann inne.

»Nein, es ist unmöglich«, sagte Scrooge, »dass ich den ganzen Tag durch und bis tief in die andre Nacht geschlafen haben soll. Es kann doch nicht sein, dass mit der Sonne etwas nicht stimmt und es mittags um zwölf ist!«

Die Vorstellung war sehr beunruhigend. Er sprang aus dem Bett und tastete sich bis zum Fenster vor. Er musste mit dem Ärmel seines Schlafrocks erst den Reif abreiben, bevor er etwas sehen konnte, und selbst dann sah er nur sehr wenig. Er konnte lediglich erkennen, dass es noch immer sehr neblig und ausnehmend kalt war, man hörte auch keinerlei Geräusch hin und her eilender Schritte und großer Aufregung, das doch gewiss vernehmbar gewesen wäre, wenn die Nacht den hellen Tag verschlungen und die Welt in Besitz genommen hätte. Dies war ein großer Trost, denn »drei Tage nach Erhalt dieses Primawechsels bezahlen Sie an Mr Ebenezer Scrooge oder dessen Order usw.« hätte ihm nicht mehr Sicherheit als in den Vereinigten Staaten geboten, wenn es keine Tage mehr gab, um danach zu zählen.

Scrooge legte sich wieder ins Bett und grübelte, grübelte, grübelte, drehte und wendete die Sache hin und her, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Je länger er nachdachte, desto verwirrter wurde er, und je mehr er bestrebt war, nicht nachzudenken, desto mehr dachte er nach.

Marleys Geist quälte ihn über die Maßen. Jedes Mal, wenn er nach reiflicher Überlegung zu dem Entschluss gekommen war, dass das Ganze nur ein Traum war, flog sein Denken wie eine starke, vom Druck befreite Feder zu seinem Ausgangspunkt zurück und stellte ihn vor die gleiche Frage, die er ganz von vorn erwägen musste: War es ein Traum oder nicht?

In diesem Zustand blieb Scrooge liegen, bis die Uhr drei Viertel weiter gerückt war. Da besann er sich plötzlich, dass ihm der Geist eine Heimsuchung angekündigt hatte, sobald die Glocke eins schlug. Er beschloss, wach liegen zu bleiben, bis die Stunde vorüber sei, und in Anbetracht der Tatsache, dass er ebenso wenig wieder einschlafen wie in den Himmel einfahren konnte, war dies vielleicht die klügste Entscheidung, die er zu fällen imstande war.

Die Viertelstunde war so lang, dass er mehr als einmal überzeugt war, er müsse unbewusst eingeschlummert sein und die Uhr überhört haben. Endlich vernahm sein lauschendes Ohr die Glocke.

Ding-Dong!

»Ein Viertel«, zählte Scrooge.

Ding-Dong!

»Halb«, sagte Scrooge.

Ding-Dong!

»Drei Viertel«, sagte Scrooge.

Ding-Dong!

»Die volle Stunde«, rief Scrooge triumphierend, »und weiter nichts!«

Er rief es, ehe der Stundenschlag ertönt war, der jetzt mit einem einzigen tiefen, dumpfen, hohlen, melancholischen Klang erdröhnte. Augenblicklich wurde es hell im Zimmer, und seine Bettvorhänge wurden zurückgezogen.

Ja, ich versichere Euch, es war eine Hand, die seine Bettvorhänge zurückzog. Und zwar nicht die Vorhänge zu seinen Füßen oder die in seinem Rücken, sondern gerade die, auf die sein Blick sich richtete. Die Vorhänge wurden zur Seite gezogen, und Scrooge, der in eine halb liegende Haltung emporfuhr, sah sich Auge in Auge dem überirdischen Besucher, der sie zurückschlug, gegenüber; so nah, wie ich euch jetzt bin, und ich stehe im Geiste an eurem Ellbogen.

Es war eine sonderbare Gestalt – fast ein Kind; und doch wieder nicht so sehr ein Kind wie ein alter Mann, der durch einen wunderbaren Zauber erschien, als sei er dem Auge entrückt und auf diese Weise auf die Größe eines Kindes geschrumpft. Sein Haar, das in langen Locken auf seine Schultern und über seinen Rücken fiel, war wie vom Alter weiß, und dennoch fand sich keine einzige Falte in seinem Gesicht, und die zarteste Farbe überschimmerte die Haut. Die Arme waren lang und muskulös, ebenso die Hände, als läge eine ungeheure Kraft in ihnen. Seine Beine und Füße waren fein geformt und wie die Arme entblößt. Der Geist trug ein Gewand von reinstem Weiß, und um seine Hüfte war ein glänzender Gürtel geschlungen, der herrlich strahlte. Er trug einen frischen Stechpalmenzweig in der Hand, sein Gewand aber war in seltsamem Widerspruch zu diesem Zeichen des Winters mit Sommerblumen verziert. Das Seltsamste an ihm war jedoch, dass oben aus seinem Kopf ein leuchtend klarer Lichtstrahl entsprang, der all das erst sichtbar machte und gewiss die Ursache dafür war, dass der Geist bei übler Laune einen großen Lichtauslöscher, den er jetzt unter dem Arm trug, als Kappe benutzte.

Doch nicht einmal dies war seine seltsamste Eigenschaft, wie Scrooge bemerkte, als ihn zunehmend genauer betrachtete. Denn wie sein Gürtel bald an dieser, bald an jener Stelle glitzerte und funkelte und wie das, was eben noch hell gewesen, dunkel wurde, so verwandelte sich in ihrer Deutlichkeit auch die gesamte Gestalt: mal hatte sie nur einen Arm, mal nur ein Bein, dann zwanzig Beine, dann ein Paar Beine ohne Kopf, mal einen Kopf ohne Rumpf; und in dem tiefen Dunkel, in dem sie verschwammen, war von den sich auflösenden Teilen nie ein Umriss mehr zu sehen. Und während man sich noch darüber wunderte, wurde die Gestalt wieder sie selbst, deutlich und klar wie eh und je.

»Sind Sie der Geist, Sir, dessen Erscheinung mir vorausgesagt wurde?«, fragte Scrooge.

»Ich bin es!«

Die Stimme war sanft und wohlklingend und so sonderbar leise, als käme sie nicht aus nächster Nähe, sondern aus der Ferne.

»Wer und was seid Ihr?«, fragte Scrooge.

»Ich bin der Geist der vergangenen Weihnacht.«

»Einer lang vergangenen?«, fragte Scrooge im Hinblick auf die zwergenhafte Gestalt.

»Nein, deiner vergangenen.«

Vielleicht hätte Scrooge, wenn ihn jemand gefragt hätte, niemandem sagen können, warum, aber er fühlte ein besonderes Verlangen, den Geist in seiner Kappe zu sehen, und bat ihn, sich zu bedecken.

»Was!«, rief der Geist. »So rasch willst du das Licht, das ich spende, mit irdischer Hand verlöschen? Ist es nicht genug, dass du zu denen gehörst, deren Leidenschaften diese Kappe schufen und die mich zwingen, durch eine endlose Reihe von Jahren hindurch meine Stirn damit zu verhüllen?«

Scrooge entschuldigte sich ehrfurchtsvoll: er habe nicht die Absicht gehabt, ihn zu beleidigen, und sei sich nicht bewusst, dass er dem Geist je willentlich zu irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens die Kappe übergezogen habe. Dann erkundigte er sich kühn, was ihn herführe.

»Dein Wohl!«, sagte der Geist.

Scrooge versicherte, ihm dafür sehr verbunden zu sein, konnte aber nicht umhin, zu denken, dass eine ungestörte Nachtruhe diesem Zweck zuträglicher gewesen wäre. Der Geist musste seine Gedanken gehört haben, denn er sagte sofort:

»Deine Besserung also. Nimm dich in Acht!«

Bei diesen Worten streckte der Geist seine starke Hand aus und ergriff sanft seinen Arm.

»Steh auf und folge mir!«

Vergebens würde Scrooge eingewendet haben, dass Wetter und Uhrzeit zu Wanderzwecken nicht geeignet seien; dass das Bett warm sei und das Thermometer beträchtlich unter dem Gefrierpunkt stehe; dass er nur leicht in Pantoffeln, Schlafrock und Nachtmütze gekleidet und obendrein gerade erkältet sei. Dem Griff, war er auch sanft wie eine Frauenhand, war nicht zu widerstehen. Er erhob sich. Doch als er bemerkte, dass der Geist dem Fenster zuschwebte, fasste er ihn flehend am Gewand.

»Ich bin ein Sterblicher«, wandte Scrooge ein, »und könnte fallen.«

»Dulde nur dort eine Berührung meiner Hand«, erwiderte der Geist und legte sie auf sein Herz, »und du wirst noch viel Größeres überwinden als dies.«

Kaum waren diese Worte gesprochen, tauchten die beiden durch die Wand und standen plötzlich auf einer offenen Landstraße, die ringsum von Feldern umgeben war. Die Stadt war zur Gänze verschwunden, keine Spur von ihr war zu sehen. Dunkelheit und Nebel waren mit ihr verschwunden, denn es war ein klarer, kalter Wintertag, und der Boden war schneebedeckt.

»Du lieber Himmel!«, entfuhr es Scrooge. Er klatschte die Hände zusammen, als er um sich blickte. »Hier bin ich geboren, hier lebte ich als Junge!«

Der Geist sah ihn wohlwollend an. Seine sanfte Berührung, obgleich nur leicht und flüchtig, schien noch immer im Herzen des alten Mannes zu beben. Er fühlte, wie tausend Gerüche die Luft durchzogen, jeder mit tausend Gedanken, Hoffnungen, Freuden und Sorgen verbunden, die längst vergessen waren.

»Deine Lippen zittern«, sagte der Geist, »und was glänzt da auf deiner Wange?«

Scrooge murmelte mit ungewöhnlich gefühlvoller Stimme, es sei nur eine Pustel, und bat den Geist, ihn hinzuführen, wo immer er wolle.

»Erinnerst du dich des Weges?«, fragte der Geist.

»Ob ich mich seiner erinnere?«, rief Scrooge mit Innigkeit. »Mit verbundenen Augen könnte ich ihn gehen.«

»Seltsam, dass du ihn so viele Jahre hindurch vergessen hast«, sagte der Geist. »Komm!«

Sie schritten die Straße entlang. Scrooge erkannte jedes Tor, jeden Pfosten, jeden Baum wieder, bis in der Ferne ein kleiner Marktflecken mit seiner Kirche, seiner Brücke und dem gewundenen Fluss erschien. Einige Jungen, die auf zottigen Ponys ritten, kamen ihnen jetzt entgegen und riefen anderen Jungen in Wagen und Karren etwas zu, die von Bauern gefahren wurden. All diese Knaben waren munter und lustig, sie jauchzten einander zu, bis die weiten Felder so voller fröhlicher Klänge waren, dass die klare Luft selbst mitzulachen schien!

»Dies sind nur Schatten von Geschöpfen, die einst waren«, sprach der Geist. »Sie wissen nichts von uns.«

Die fröhliche Reisegesellschaft kam näher. Scrooge erkannte sie jetzt alle und konnte jeden beim Namen nennen. Warum freute er sich so unbändig, sie wiederzusehen? Warum wurden seine kalten Augen feucht, warum schlug sein Herz höher, als sie vorbeieilten? Warum erfüllte es ihn mit Freude, als er hörte, wie sie einander fröhliche Weihnachten wünschten, als sie sich an Kreuzungen und Seitenwegen trennten, um nach Hause zu gelangen? Was bedeuteten fröhliche Weihnachten für Scrooge? Zum Henker mit den fröhlichen Weihnachten! Was hatten sie ihm je Gutes gebracht?

»Die Schule ist nicht ganz verwaist«, sagte der Geist. »Ein Kind, von seiner Familie vernachlässigt, sitzt noch einsam dort.«

Scrooge sagte, er kenne es, und begann zu schluchzen.

Sie verließen die Hauptstraße auf einem wohlbekannten Feldweg und erreichten bald ein Gebäude aus dunkelrotem Backstein, über dessen Dach eine kleine, von einem Wetterhahn gekrönte Kuppel emporragte, in der eine Glocke hing. Es war ein stattliches Haus, das aber bessere Tage gesehen hatte; denn die geräumigen Gemächer wirkten wenig benutzt, die Mauern waren feucht und moosbewachsen, die Fenster zerbrochen und die Türen halb zerfallen. Hühner gluckten und scharrten in den Ställen, Wagenschuppen und Scheunen waren von Gras überwuchert. Auch im Innern war nichts von seiner alten Pracht geblieben: als sie die verödete Eingangshalle betraten und durch die offenen Türen in viele Zimmer blickten, sahen sie nur armselig möblierte, kalte und riesige Räume. Dumpfer Modergeruch lag in der Luft, eine frostige Unbehaglichkeit beherrschte den Ort, die irgendwie an zu häufiges Aufstehen bei Kerzenlicht und mangelnde Nahrung gemahnte.

Der Geist und Scrooge durchquerten die Eingangshalle und gingen zu einer Tür an der Rückseite des Hauses. Sie tat sich vor ihnen auf und gab den Blick auf einen langen, kahlen, trübseligen Raum frei, der durch Reihen einfacher Bänke und Pulte aus Kiefernholz noch kahler wirkte. An einem dieser Pulte saß ein einsamer Knabe, der neben einem schwachen Feuer las; und Scrooge setzte sich in eine Bank und weinte, als er sein armes vergessenes Ich erblickte, wie es einst gewesen war.

Kein schwaches Echo tönte durchs Haus, kein Mäuschen piepste und raschelte hinter der Täfelung, kein Tropfen fiel aus dem halb aufgetauten Wasserrohr hinten im düsteren Hof, kein Seufzer entfloh den entlaubten Zweigen einer vereinzelten, mutlosen Pappel, keine Tür eines leeren Vorratshauses schwang träge in den Angeln, selbst das Feuer gab kein Knistern von sich, das sich Scrooge nicht sänftigend aufs Herz gelegt und seinen Tränen umso freieren Lauf verschafft hätte.

Der Geist berührte seinen Arm und wies auf sein jüngeres, in ein Buch vertieftes Ich. Plötzlich stand draußen vor dem Fenster ein Mann in fremder Tracht: wunderbar echt und zum Greifen deutlich. Er trug eine Axt im Gürtel und führte einen holzbeladenen Esel am Zügel.

»Sieh an, das ist ja Ali Baba!«, rief Scrooge begeistert aus. »Der gute, alte, ehrliche Ali Baba! Ja, ja ich kenne ihn genau! Einmal zur Weihnachtszeit, als dieses einsame Kind hier ganz allein zurückgeblieben war, erschien er tatsächlich zum ersten Mal, gerade wie heute. Armer Junge! – Und Valentin«, fuhr Scrooge fort, »und sein wilder Bruder Orson! Dort gehen sie! Und wie hieß noch gleich der, den man mitten im Schlaf in Unterhosen vor das Tor von Damaskus setzte? Siehst du ihn nicht? Und der Stallknecht des Sultans, der von den Genien auf den Kopf gestellt wurde, dort steht er umgekehrt! Geschieht ihm recht! Was musste er sich auch mit einer Prinzessin verheiraten!«

Wenn sie gehört hätten, wie Scrooge den ganzen Ernst seines Wesens in solche Dinge legte, mit einer höchst außergewöhnlichen Stimme, schwankend zwischen Lachen und Weinen, und wenn sie sein vergnügtes und aufgeregtes Gesicht gesehen hätten – seine Geschäftsfreunde in der City wären gewiss nicht wenig erstaunt gewesen.

»Da ist ja auch der Papagei!«, rief Scrooge. »Grüner Leib und gelber Schwanz, und dieses Ding, das oben aus seinem Kopf wuchs und das aussah wie Salat! Der arme Robinson Crusoe, er rief ihn, als er von seiner Umsegelung der Insel heimkehrte. ›Armer Robinson Crusoe, wo bist du gewesen, Robinson Crusoe?‹ Der Mann glaubte, er träume, aber nein. Es war der Papagei, weißt du. Da ist Freitag, er rennt um sein Leben in die kleine Bucht! Holla! Hopp! Hallo!«

Dann, mit einem raschen Stimmungswechsel, der seinem sonstigen Charakter ganz fremd war, brach er in Mitleid mit seinem früheren Ich aus. »Armer Knabe!«, rief er und weinte wieder.

»Ich wünschte«, murmelte Scrooge, steckte seine Hand in die Tasche und sah sich um, nachdem er sich mit dem Ärmelaufschlag die Augen gewischt hatte, »aber jetzt ist’s zu spät.«

»Was ist?«, fragte der Geist.

»Nichts«, erwiderte Scrooge. »Gar nichts. Gestern Abend sang ein Knabe ein Weihnachtslied vor meiner Tür. Ich wünschte, ich hätte ihm etwas gegeben – das ist alles.«

Der Geist lächelte nachdenklich, winkte mit der Hand und sagte: »Lass uns ein anderes Weihnachtsfest betrachten!«

Bei diesen Worten vergrößerte sich Scrooges einstiges Ich, der Raum wurde ein wenig dunkler und schmutziger. Die Täfelung schrumpfte, die Fensterscheiben barsten, Verputzstücke fielen von der Decke und blanke Bretter zeigten sich statt dessen; aber wie das alles vor sich ging, wusste Scrooge ebenso wenig wie ihr. Er wusste nur, dass alles ganz richtig war und sich genau so zugetragen hatte; dass er abermals allein war, während die anderen Jungen nach Hause geeilt waren, um fröhliche Weihnachtsferien zu feiern.

Diesmal las er nicht, sondern ging verzweifelt auf und ab. Scrooge schaute den Geist an und blickte mit traurigem Kopfschütteln erwartungsvoll auf die Tür.

Sie öffnete sich, und ein kleines Mädchen, viel jünger als der Knabe, sprang herein, schlang die Arme um seinen Hals und begrüßte ihn mit vielen Küssen als ihren »lieben, lieben Bruder«.

»Ich komme, um dich nach Hause zu holen, lieber Bruder!«, sagte das Mädchen, schlug seine kleinen Händchen zusammen und lachte fröhlich. »Dich nach Hause zu holen, nach Hause, nach Hause!«

»Nach Hause, kleine Fanny?«, fragte der Knabe.

»Ja!«, rief das Kind freudestrahlend. »Nach Hause, für immer. Nach Hause, für immer und ewig. Vater ist so viel freundlicher als früher, es ist jetzt wie im Himmel! Eines Abends, als ich zu Bett ging, sprach er so zärtlich mit mir, dass ich mich nicht gefürchtet habe, ihn noch einmal zu fragen, ob du nach Hause kommen darfst; und er hat Ja gesagt und schickte mich mit der Kutsche her, um dich zu holen. Und du sollst jetzt dein eigener Herr sein«, sagte das Kind mit großen Augen, »und nie mehr hierher zurückkommen! Aber erst sollen wir alle miteinander das Weihnachtsfest feiern und die fröhlichste Zeit der Welt verbringen.«

»Du bist ja eine richtige Dame geworden, kleine Fan!«, rief der Knabe aus.

Sie klatschte in die Hände, lachte und versuchte, seinen Kopf zu berühren; aber sie war zu klein. Da lachte sie wieder und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu umarmen. Hierauf begann sie, ihn mit kindlicher Ungeduld zur Tür zu zerren, und er, nicht abgeneigt, begleitete sie.

Eine fürchterliche Stimme in der Vorhalle schrie: »Bringt sofort Master Scrooges Koffer herunter!«, und der Schulmeister selbst erschien in der Halle. Er starrte Master Scrooge mit grimmiger Herablassung an und versetzte ihn mit seinem Händedruck in Angst und Schrecken. Dann geleitete er ihn und seine Schwester in das schauerlichste alte, feuchte Loch von Besuchszimmer, das man je gesehen hat, wo die die Landkarten an der Wand und die Erd- und Himmelsgloben an den Fenstern vor Kälte glänzten. Hier zog er einen Krug höchst seltsam leichten Weins und ein Stück höchst seltsam schweren Kuchens hervor, und verabreichte häppchenweise diese Leckerbissen dem jungen Volk; gleichzeitig schickte er eine magere Magd hinaus, um dem Kutscher ein Gläschen anzubieten, worauf dieser antwortete, er danke dem Herrn, aber wenn es von demselben Fass sei wie das letzte, wolle er lieber nicht davon kosten. Da Master Scrooges Koffer auf dem Dach der Kutsche inzwischen fest vertäut war, sagten die Kinder dem Schulmeister leichten Herzens Lebewohl, stiegen in die Kutsche und fuhren die Gartenallee vergnügt so rasch hinunter, dass die schnellen Räder Raureif und Schnee von den dunklen Blättern des Immergrüns wie Sprühregen durch die Luft wirbelten.

»Sie war immer ein zartes Geschöpf, ein Hauch hätte sie versehren können«, sagte der Geist. »Aber sie hatte ein großes Herz!«

»Ja, das hatte sie in der Tat«, rief Scrooge, »Ihr habt Recht. Gott verhüte, dass ich das bestreite, Geist!«

»Sie starb als verheiratete Frau«, fuhr der Geist fort, »und hatte Kinder, glaube ich.«

»Ein Kind«, gab Scrooge zurück.

»Ja«, sagte der Geist. »Dein Neffe!«

Scrooge schien unruhig zu werden und antwortete kurz angebunden: »Ja.«

Obwohl sie die Schule die Sekunde erst verlassen hatten, befanden sie sich plötzlich mitten in den geschäftigen Hauptstraßen einer Stadt; schattenhafte Menschen eilten hin und her, schattenhafte Kutschen und Karren erkämpften sich den Weg, und es herrschten ein Lärm und ein Getümmel wie in einer wirklichen Stadt. Die Schaufenster - dekorationen ließen deutlich erkennen, dass auch hier wieder Weihnachten war, aber es war Abend, und die Straßen waren erleuchtet.

Der Geist hielt vor der Tür eines bestimmten Warenhauses inne und fragte Scrooge, ob er es kenne.

»Ob ich es kenne?«, fragte Scrooge. »Hier war ich Lehrling!«

Sie traten ein. Beim Anblick eines alten Herrn mit Wollmütze – er saß hinter einem so hohen Schreibpult, dass er mit dem Kopf die Decke berührt hätte, wäre er nur zwei Zoll größer gewesen – rief Scrooge in großer Erregung:

»Das ist ja der alte Fezziwig! Gott segne ihn; Fezziwig, wie er leibt und lebt!«

Der alte Fezziwig legte seine Feder nieder und sah nach der Wanduhr, die auf sieben zeigte. Er rieb sich die Hände, straffte seine geräumige Weste, lachte am ganzen Leib vom Scheitel bis zur Sohle, und rief mit behäbiger, öliger, satter, fetter, gönnerhafter Stimme:

»Heda! Ihr! Ebenezer! Dick!«

Scrooges früheres Ich, das jetzt zum jungen Mann gereift war, eilte mit seinem Lehrlingskollegen eifrig heran.

»Dick Wilkins, ich glaub’ es nicht!«, sagte Scrooge zu dem Geist. »Meiner Treu, er ist es wirklich. War mir sehr zugetan, der Dick. Armer Dick! Lieber, Guter!«

»Heda, meine Jungens!«, rief Fezziwig. »Für heute ist Feierabend. Heilig Abend, Dick. Weihnachten, Ebenezer! Schließt die Läden«, rief der alte Fezziwig und klatschte laut in die Hände, »und zwar schneller, als ein Mann Jack Robinson sagen kann!«

Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie schnell die beiden Jungen das erledigten! Eins, zwei drei – eilten sie mit den Läden auf die Straße hinaus; vier, fünf, sechs – setzten sie sie an ihre Stelle; sieben, acht, neun – stießen sie die Querstangen und Riegel hinein und waren zurück, ehe einer bis zwölf zählen konnte, atemlos wie die Rennpferde.

»Heißa!«, rief der alte Fezziwig, und sprang mit wunderbarer Behändigkeit von seinem hohen Pult herunter. »Räumt aus, Jungens, lasst uns hier Platz machen! Heißa, Dick! Hoppla, Ebenezer!«