»Weil ich nun mal ein Gerechtigkeitsfanatiker bin« - Herlinde Pauer-Studer - E-Book

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Herlinde Pauer-Studer

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Beschreibung

Man habe »das moralische Recht«, dieses Volk »umzubringen«, sagte Heinrich Himmler im Oktober 1943 über den millionenfachen Mord an den Juden. »Wir haben aber nicht das Recht«, fuhr er fort, »uns auch nur mit einem Pelz, einer Uhr, mit einer Mark oder mit einer Zigarette oder sonst etwas zu bereichern.« Tatsächlich hatte Himmler 1939 eine SS-Gerichtsbarkeit geschaffen, die über die »Moral« und die Einhaltung des »Ehrenkodex« der Organisation wachen sollte.

Ein solcher SS-Richter war Konrad Morgen (1909-1982). Morgen ermittelte gegen hochrangige Nationalsozialisten, u. a. gegen Karl Otto Koch, den ehemaligen Kommandanten des Lagers Buchenwald, und gegen Adolf Eichmann, dem er vorwarf, Juwelen unterschlagen zu haben. Sich selbst bezeichnete Morgen als »Gerechtigkeitsfanatiker«.

Gestützt auf seine Berichte und Briefe aus der Kriegszeit sowie auf seine Aussagen in Nürnberg und beim Frankfurter Auschwitz-Prozess, zeichnen Herlinde Pauer-Studer und J. David Velleman die wichtigsten Stationen in der Karriere des SS-Richters Konrad Morgen nach. Die Biografie dieses ambivalenten Charakters ist zugleich eine Studie in moralischer Komplexität und verdeutlicht die strukturelle Pervertierung von Recht und Moral im »Dritten Reich«.

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Man habe »das moralische Recht«, dieses Volk »umzubringen«, sagte Heinrich Himmler im Oktober 1943 über den millionenfachen Mord an den Juden. »Wir haben aber nicht das Recht«, fuhr er fort, »uns auch nur mit einem Pelz, einer Uhr, mit einer Mark oder mit einer Zigarette oder sonst etwas zu bereichern.« Tatsächlich hatte Himmler 1939 eine SS-Gerichtsbarkeit geschaffen, die über die »Moral« und die Einhaltung des »Ehrenkodex« der Organisation wachen sollte.

 Ein solcher SS-Richter war Konrad Morgen (1909-1982). Morgen ermittelte gegen hoch-rangige Nationalsozialisten, u. ‌a. gegen Karl Otto Koch, den ehemaligen Kommandanten des Lagers Buchenwald, und gegen Adolf Eichmann, dem er vorwarf, Juwelen unterschlagen zu haben. Sich selbst bezeichnete Morgen als »Gerechtigkeitsfanatiker«.

 Gestützt auf seine Berichte und Briefe aus der Kriegszeit sowie auf seine Aussagen in Nürnberg und beim Frankfurter Auschwitz-Prozess, zeichnen Herlinde Pauer-Studer und J. David Velleman die wichtigsten Stationen in der Karriere des SS-Richters Konrad Morgen nach. Die Biografie dieses ambivalenten Charakters ist zugleich eine Studie in moralischer Komplexität und verdeutlicht die strukturelle Pervertierung von Recht und Moral im »Dritten Reich«.

Herlinde Pauer-Studer, geboren 1953, ist Professorin für Philosophie an der Universität Wien. Im Suhrkamp Verlag gab sie zuletzt (zusammen mit Julian Fink) den Band Rechtfertigungen des Unrechts. Das Rechtsdenken im Nationalsozialismus in Originaltexten heraus (stw 2043).

J. David Velleman, geboren 1952, ist Professor für Philosophie an der New York University.

Herlinde Pauer-Studer/J. David Velleman

»Weil ich nun mal ein Gerechtigkeitsfanatiker bin«

Die englischsprachige Originalausgabe dieses Buches erschien 2015 unter dem Titel Konrad Morgen. The Conscience of a Nazi Judge bei Palgrave Macmillan (London/New York). Der Text wurde für die deutsche Ausgabe überarbeitet und um die theoretische Einleitung ergänzt; auch das Nachwort wurde für die vorliegende Ausgabe erweitert.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2017.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2017

© Herlinde Pauer-Studer/J. David Velleman 2017

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlagfoto: Archiv des Fritz Bauer Instituts, NL-04 Konrad Morgen, Box 4

Inhalt

Vorwort

Zeittafel

Einleitung: Der rechtstheoretische Kontext

1. Eine Art Ausgangspunkt

2. Morgens Eintritt in die SS

3. Die SS- und Polizeigerichtsbarkeit

4. Kriminelle und Spione

5. Die Charaktertypologie des Kriminellen

6. »Rasse« und »Rassenfrage«

7. Von Krakau nach Buchenwald

8. Karl Otto Koch

9. Von Korruption zu Mord

10. Komplizen des Verbrechens

11. »Legale« Tötungen

12. Die »Endlösung«: Widersprüchliche Narrative

13. »Aktion Erntefest«

14. Auschwitz

15. Adolf Eichmann

16. Die SS-Prozesse in Weimar 1944

17. Eleonore Hodys: Zeugin gegen Rudolf Höß

18. Neuerliche Versetzung nach Krakau und Kriegsende

Nachwort

Hauptpersonen

Archivmaterialien und Abkürzungen

Literaturverzeichnis

I. Literatur aus der NS-Zeit

II. Allgemeine Forschungsliteratur

Abbildungsverzeichnis und Nachweise

Personenregister

Sachregister

Vorwort

Im Mittelpunkt dieses Buches steht eine normative Fallstudie, ihr Gegenstand ist die aktive Laufbahn des SS-Richters Konrad Morgen in den Jahren 1940 bis 1945. Grundlage unserer Darstellung von Morgens Tätigkeit, die tiefen Einblick in die moralisch pervertierten Strukturen des NS-Systems gibt, sind die in Archiven verfügbaren Dokumente zu Konrad Morgen und zur SS- und Polizeigerichtsbarkeit sowie Morgens Aussagen in Verhören und Prozessen nach dem Krieg.[1]

Georg Konrad Morgen (1909-1982) war ausgebildeter Jurist und seit 1933 Mitglied der SS und der NSDAP. Nach einer kurzen Einarbeitung wurde er im Herbst 1940 SS-Richter in der SS- und Polizeigerichtsbarkeit. Von Januar 1941 bis Mai 1942 war Morgen dem SS-Gericht in Krakau zugeteilt, wo er als Untersuchungsrichter auch Fälle von finanzieller Korruption unter hochrangigen SS-Offizieren im besetzten Polen verfolgte. Im Mai 1942 enthob ihn Himmler seines Amtes und versetzte ihn im Dezember 1942 als einfachen Soldaten an die Ostfront. Im Juli 1943 wurde Morgen auf Befehl Himmlers zurückbeordert und mit der Untersuchung von finanziellen Unregelmäßigkeiten in den Konzentrationslagern beauftragt. Sein erster Fall betraf Buchenwald, wo sich Hinweise auf die systematische Ermordung von Häftlingen durch den vormaligen Lagerkommandanten ergaben. Die Untersuchung dieser Verbrechen führte Morgen nach Lublin und schlussendlich nach Auschwitz, wo er sich mit der industriellen Massenvernichtung der Juden konfrontiert sah.

In Überschreitung seines Auftrags klagte Morgen den ehemaligen Kommandanten von Buchenwald, den Lagerarzt von Buchenwald und den Leiter der Gestapo in Auschwitz wegen Mordes an. Er versuchte sogar, einen Haftbefehl gegen Adolf Eichmann zu erwirken. Seine Tätigkeiten gründeten auf SS-internen Ermittlungen gegen fünf KZ-Kommandanten. In einem SS-internen Gerichtsprozess, der im Herbst 1944 in Weimar stattfand, wurde der frühere Kommandant von Buchenwald, Karl Otto Koch, zum Tode verurteilt.[2]

Nach dem Krieg wurde Morgen vom amerikanischen Counter Intelligence Corps (CIC)[3] in Gewahrsam genommen und intensiv verhört. Er sagte als Zeuge in einer Reihe von Kriegsverbrecherprozessen aus: zunächst im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, dann in den Nachfolgeprozessen, ebenfalls in Nürnberg, und schließlich, als er sich nach seiner Entnazifizierung als Anwalt und Notar in Frankfurt am Main niedergelassen hatte, in einer Reihe von Gerichtsverfahren, die in den sechziger Jahren begannen. So war er auch Zeuge im ersten Frankfurter Auschwitzprozess (1963-65). Seine letzte Aussage in einem Verfahren erfolgte 1980, zwei Jahre vor seinem Tod.

Morgen erklärte nach dem Krieg, es sei ihm nicht möglich gewesen, Anklage wegen der Ermordung von Millionen Menschen in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau zu erheben, denn die für die Massenvernichtung verantwortliche Instanz sei Hitler gewesen, dessen Wille und Anordnungen im Führerstaat Gesetzen gleichgekommen seien. Die Ahndung »gewöhnlicher« Morde, also nicht im Rahmen der Befehlskette der NS-Administration angeordneter Tötungen, war, wie Morgen argumentierte, sein einziges Mittel, um etwas gegen das Vernichtungsprogramm zu tun.

Unsere Nachforschungen und die intensive Beschäftigung mit dem Archivmaterial ergaben, dass Morgen seine Tätigkeiten als SS-Richter nach dem Krieg zum größten Teil wahrheitsgemäß schilderte. Mit einigen wenigen Ausnahmen, die wir genau darlegen und diskutieren,[4] decken sich seine Aussagen mit den verfügbaren Archivdokumenten, die nicht nur ihn direkt betreffende Materialien umfassen, sondern auch Dokumente über Personen, mit denen er während des Krieges zu tun hatte.[5] Selbst seine gänzlich unwahrscheinlich klingende Behauptung, er habe versucht, einen Haftbefehl gegen Eichmann zu erwirken, wurde von Eichmann im Prozess in Jerusalem bestätigt.

Wir verstehen unser Buch als »moralische Biografie« – als Studie darüber, wie das moralische Bewusstsein eines Mannes mit einer zutiefst unmoralischen Welt zurechtzukommen versuchte, teils aber daran scheiterte. Nicht immer vermochte Morgen den Herausforderungen angemessen zu begegnen. In unserer Darlegung von Konrad Morgens Tätigkeit als SS-Richter vermeiden wir jede literarische Ausgestaltung der Geschehnisse. Morgens Aussagen und Berichten über diese Ereignisse geben wir jedoch breiten Raum, so dass die Leserinnen und Leser ihn gleichsam sprechend erleben. Ungeachtet der erschreckenden Dimension unserer Fallgeschichte bemühen wir uns um Sachlichkeit. Wir zeichnen nach, wie Morgen über die dramatischen Ereignisse, die er miterlebte, fühlte, dachte und urteilte.

Morgens Geschichte ist auch für die historische Forschung zum Nationalsozialismus interessant.[6] Seine Tätigkeiten sind in Berichten an seine Vorgesetzten, in den Vernehmungen durch die amerikanischen Besatzungsorgane und in seinen Zeugenaussagen in den Kriegsverbrecherprozessen der Nachkriegszeit dokumentiert. Als erfahrener Jurist und Richter sah und beurteilte er den Holocaust aus einer – wenn auch verzerrten – moralischen Perspektive. Er war ein hartnäckiger, ja verbissener Untersuchungsrichter, der selbst gegenüber monströsen Verbrechen nicht zurückwich. Da er selbst nie wegen Kriegsverbrechen angeklagt wurde, war Morgen als Zeitzeuge wesentlich offener und gesprächsbereiter als jene Täter, über die er nach dem Krieg aussagte.

Morgen erweist sich vielfach als höchst unsensibler und in seinem Urteilsvermögen eingeschränkter Beobachter seiner Umgebung. Nach 1945 unterließ er es allerdings, seine Berichte über Erlebtes dem anzupassen, was die Zuhörerschaft in der Nachkriegsära wusste oder hören wollte. Ob nun aus Ehrlichkeit, aus bloßer Naivität und einem gewissen Geltungsdrang oder infolge nach wie vor unhinterfragter ideologischer Prägung war Morgen doch ein bemerkenswert freimütiger und authentischer Zeuge.

Morgen entzieht sich der Kategorie des aktiven NS-Täters und NS-Verbrechers. Dennoch war er als SS-Offizier und SS-Richter nicht nur Teil des Systems, sondern aktives Mitglied, ja Vollzugsorgan einer Institution des Regimes. Gleichzeitig zwang ihn sein berufliches Rollenverständnis, das gegenüber gewissen Standards der Rechtsstaatlichkeit nicht gänzlich blind war, ein über der SS-Ideologie stehendes Ideal der Gerechtigkeit im Blick zu haben. Morgen war ein ambivalenter und schillernder Charakter – und die Beschäftigung mit ihm ist eine Studie in moralischer Komplexität.

Morgen beschrieb sich selbst einmal als »Gerechtigkeitsfanatiker«. Diese Selbstbeschreibung ist weit weniger positiv, als Morgen sie verstand oder verstehen wollte. Morgen fühlte sich einer spezifischen Form der Gerechtigkeit bedingungslos, ja »fanatisch« verpflichtet, die er sich zurechtgelegt hatte, um seinen komplexen, teils widersprüchlichen normativen Bindungen zu entsprechen. Manchmal leitete ihn sein Gerechtigkeitsempfinden, das Richtige zu tun, doch häufig verfehlte Morgen dieses Ziel. Sein moralisches Bewusstsein war zu selbstbezogen und ideologisch zu verformt, um kritischer Distanz und unparteilicher Reflexion zugänglich zu sein. Letztlich zeigte sich sein Gerechtigkeitsverständnis der systematischen Inhumanität, die ihn umgab, nicht gewachsen.

Der Versuch, ein nuanciertes Bild eines SS-Offiziers zu zeichnen, der so nahe an den Verbrechen des NS-Regimes war wie Morgen, wirft eine höchst sensible Frage auf: Verpflichtet es die Autoren nicht auf eine Perspektive, die inakzeptabel ist? Bedeutet es nicht, so kann man provokant fragen, eine Art Grenzüberschreitung? Doch Charaktere wie Konrad Morgen sind konkrete Individuen, deren eingehende Betrachtung moralisch wichtig ist.

Die Philosophie hat sich in den letzten Jahren zunehmend für moralpsychologische Fragestellungen interessiert. Methodisch beruht der philosophische Zugang allerdings weitgehend auf reinen Vernunftüberlegungen, die auf allgemeine, von den Komplexitäten des sozialen Lebens abstrahierende Grundsätze zielen. Die historische Aufarbeitung bedeutsamer realer Ereignisse und Charaktere leistet hingegen einen konkreten Beitrag zur philosophischen Analyse moralischer Prinzipien unter konkreten und politisch nichtidealen Verhältnissen – im Falle Morgens sind dies die Rahmenbedingungen eines totalitären Staates. Der Blick auf das Deliberieren eines Individuums, das mit einer Katastrophe wie dem Holocaust unmittelbar konfrontiert ist, ermöglicht Einsichten, die über simple Generalisierungen hinausgehen.

Der Fall Konrad Morgen ist schließlich auch für die Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie relevant. Nach wie vor beschäftigt uns die Frage, welche normativen Entwicklungen der Pervertierung des Rechts im Nationalsozialismus Vorschub leisteten. Dieser theoretische Hintergrund, in den Morgens berufliches Wirken eingebettet ist, wird in der Einleitung dargelegt, die der Rekonstruktion von Morgens Laufbahn als SS-Richter vorangestellt ist.

Im Nachwort folgen zusammenfassende Urteile über Morgens Tätigkeit und seinen Charakter und die sich daraus ergebenden Folgerungen für die Moral- und die Rechtsphilosophie. Diese abschließenden Reflexionen umfassen sicherlich nicht alle Einsichten, die Leserinnen und Leser dieses Buches bis dahin gewonnen haben werden.

In den Originalzitaten aus den Vernehmungen Morgens und anderer SS-Offiziere wurde die ursprüngliche alte Rechtschreibung beibehalten. Zu beachten ist allerdings, dass es in den von den Amerikanern in Maschinenschrift angefertigten Protokollen solcher Verhöre Abweichungen von der alten Rechtschreibung gibt, so dass eine gewisse Uneinheitlichkeit in der Schreibweise nicht vermeidbar war. Dies gilt auch für Morgens teils in Maschinenschrift verfasste Berichte und Eingaben an die SS- und Polizeigerichtsbarkeit. 

Wir danken Raphael Gross (Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur, Universität Leipzig) und Werner Konitzer (Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main), die uns auf den SS-Richter Konrad Morgen aufmerksam gemacht haben. Raphael Gross' Artikel zu Konrad Morgen (2009) war Anstoß für unsere ersten Reflexionen über die normative Bedeutung dieses Falls. Werner Konitzer hat uns während der verschiedenen Stadien unseres Projektes beraten und hat auch das gesamte Manuskript gelesen und kritisch kommentiert. Dank ergeht auch an folgende Historikerinnen und Historiker für Hilfe und Rat: Norbert Frei, Ian Kershaw, Karin Orth, Barbara Schwindt, Sybille Steinbacher und Rebecca Wittmann.

Für Kommentare zum Manuskript danken wir Sarah Buss, David Dyzenhaus, Hans Petter Graver, Christoph Hanisch, Don Herzog, Veronika Hofer, Martin Kusch, David Owens, Nada Ina Pauer, Nishi Shah, Brian Slattery, Sharon Street, Christopher Theel und Renate Zoitl-Wolfsgruber.

Besonderen Dank schulden wir Christopher Theel. Mit seinem umfassenden historisches Wissen über die SS-Gerichtsbarkeit und seinen Hinweisen bei der Suche nach Archivmaterial im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, im Bundesarchiv Ludwigsburg und im Staatsarchiv Ludwigsburg hat er die Arbeit an diesem Projekt maßgeblich unterstützt.

Wir danken David Dyzenhaus, der im Oktober 2013 eine Diskussion des Buchmanuskripts in seinem Seminar an der Law School der New York University organisierte, und allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern für wertvolle Rückmeldungen und Kritik. Dank geht auch an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der vom ERC Advanced Research Grant »Distortions of Normativity« im Mai 2011 an der Universität Wien organisierten Konferenz zu »Autorität, Legalität und Legitimität«, die uns gleichfalls wertvolle Rückmeldungen zu ersten, auf der Tagung präsentierten Ergebnissen unserer Forschungen zu Konrad Morgen gaben. Der Fall Morgen konnte auch an Vorträgen an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, der University of Kentucky, der University of South Carolina und am Philosophischen Seminar der Universität Hamburg vorgestellt werden. Wir danken den Teilnehmern dieser Diskussionen für ihre kritischen Fragen, Rückmeldungen und Hinweise.

Unser Dank geht auch an das Lektorat des Suhrkamp Verlags: Eva Gilmer und vor allem Heinrich Geiselberger haben mit einer Vielzahl kritischer Hinweise und Überarbeitungsvorschläge zur Verbesserung des Manuskripts beigetragen.

Folgende Personen standen uns dankenswerterweise bei Archivrecherchen mit Hilfe, Rat und Auskunft zur Verfügung: Kirsten Carter, FDR Library in Hyde Park, NY; Laura Joy, Hartley Library, University of Southampton; Teresa Gray, Jean und Alexander Heard Library der Vanderbilt University; Andreas Grunwald, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde; Dr. Klaus A. Lankheit und Petra Mörtl, Institut für Zeitgeschichte, München; Dr. Peter Klefisch, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf; Dr. Johann Zilien, Hessisches Hauptstaatsarchiv, Wiesbaden; Rebecca L. Collier, US National Archives in College Park, MD; und last but not least, Werner Renz, Fritz Bauer Institut Frankfurt am Main, wo der Nachlass Morgens aufbewahrt ist.

Dank schulden wir auch Michael Gartler und Christoph Lernpaß für editorische Hilfe, Steven B. Rogers und Simon Gansinger für Assistenz bei Nachforschungen und Alexander Seifert für Hilfe bei der Suche nach Archivmaterial im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde.

Das Buch ist ein Ergebnis der im Rahmen des ERC Advanced Research Grant »Distortions of Normativity« durchgeführten Forschungen. Wir danken dem European Research Council für die Förderung des Projekts und der Universität Wien sowie der New York University für zusätzliche Unterstützung. Dem Zukunftsfonds der Republik Österreich danken wir für die Förderung vorbereitender Arbeiten zu diesem Buch.

[1] Vgl. die Auflistung der Archivmaterialien auf S. 309ff.

[2] Die Exekution Karl Otto Kochs, von 1937 bis 1941 Kommandant des Konzentrationslagers Buchenwald, ist belegt. Die Exekution Hermann Florstedts, der unter Koch Lagerführer in Buchenwald und von November 1942 bis Oktober 1943 Kommandant des Lagers Majdanek war, wird von einem Familienmitglied infrage gestellt (vgl. Lindner 1997). Konrad Morgen gibt an, Florstedt im Herbst 1943 in Lublin verhaftet zu haben; dieser sei angeklagt und exekutiert worden. Der gemeinsam mit Karl Otto Koch im Herbst 1944 vor einem SS-Gericht in Weimar angeklagte SS-Aufseher Martin Sommer, der im selben Gefängnis wie Koch inhaftiert war, stellt in einem von ihm verfassten Bericht fest, er könne bestätigen, dass Hermann Florstedt am 5. April 1945 zusammen mit Karl Otto Koch erschossen wurde (vgl. GMSB, S. 33f.).

[3] Das amerikanische Counter Intelligence Corps, die Spionageabwehr des US-Militärs, hatte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges unter anderem die Aufgabe, in Deutschland nach Kriegsverbrechern zu suchen.

[4] Die bemerkenswerteste Ausnahme ist Morgens Bericht über seine Entdeckung der »Endlösung« im Rahmen seiner Zeugenaussage beim Prozess des Internationalen Militärgerichtshofes gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg im August 1946. Wir diskutieren dies eingehend in Kapitel 12.

[5] Nikolaus Wachsmann schreibt in seinem Buch KL: Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager: »Nach dem Krieg sagte der gewiefte Morgen gegen einige Männer der Lager-SS aus und stellte sich selbst als unermüdlichen Vorkämpfer für Recht und Ordnung dar. Verschiedene Historiker sind auf seine Pose hereingefallen, einige Richter ebenfalls. Doch seine Aussagen nach dem Krieg waren Schutzbehauptungen, durchlöchert von Auslassungen und schamlosen Lügen.« (Wachsmann 2016, S. 447)Wir teilen diese Beurteilung Morgens, die sich nur auf einen winzigen Ausschnitt der verfügbaren Dokumente stützt, nicht. Wenngleich die Frage berechtigt scheint, ob und wie weit sich Morgen für mehr als nur für Recht und Ordnung in einem systemkonformen Sinn interessierte – eine Frage, der wir unten weiter nachgehen werden –, so ist sein Einsatz für das, was er unter Gerechtigkeit verstand, doch umfassend dokumentiert. Was Morgens Aufrichtigkeit und den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen betrifft, ist zu bedenken, dass sich Wachsmanns Urteil einzig auf Morgens Zeugenaussage beim Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg stützt. Diese Aussage, die wir in Kapitel 12 im Detail diskutieren, enthält in der Tat bedeutsame Verzerrungen und gewisse Unwahrheiten. Diese Zeugenaussage wurde allerdings vor den beinahe drei Jahre dauernden intensiven Vernehmungen Morgens durch die Amerikaner gemacht. Diese weiteren Vernehmungen, in denen Morgen unter Eid aussagte, brachten wesentlich mehr und genauere Informationen ans Licht, Informationen, die Morgen in seinen nachfolgenden Zeugenaussagen bei späteren Kriegsverbrecherprozessen ergänzte und erweiterte. Wie wohl jeder Zeuge formulierte Morgen seine Aussagen gemäß seinen eigenen Interessen und Vorurteilen, doch die Behauptung, Morgens Aussagen seien von »schamlosen Lügen« »durchlöchert« gewesen, entbehrt der Grundlage.Rebecca Wittman stellt in ihrem Buch Beyond Justice die Frage, ob Morgen in seiner Zeugenaussage beim Auschwitzprozess in Frankfurt am Main wirklich alles sagte, was er wusste. Sie schreibt: »Ich meine, dass Morgen sich nachträglich in einem wesentlich besseren Licht darstellte, vor allem auch, um möglichen Untersuchungen seiner eigenen Aktivitäten zu entgehen. Seine Unwilligkeit, etwas über die konkreten Vergehen auszusagen, die den in Frankfurt Angeklagten angelastet wurden, […] zeigt, dass er gar nicht bereit war, dem Gericht mit spezifischen sachdienlichen Informationen zu dienen.« (Wittmann 2005, S. 166 [Übersetzung H. ‌P.-St.]) Dass sich Morgen in seiner Zeugenaussage in einem vorteilhaften Licht präsentiert, ist offensichtlich. Doch daraus zu schließen, dass er damit versuchte, Ermittlungen zu seinen eigenen Aktivitäten auszuweichen, setzt voraus, dass er während des Krieges in Vorgänge involviert war, die einer Überprüfung nach dem Kriege nicht standgehalten hätten, dass er also etwas zu verbergen hatte. Für eine solche Annahme haben weder Wittmann noch wir irgendwelche Belege. Morgen befand sich von September 1945 bis Mai 1948 in amerikanischer Haft. Und die Amerikaner, die während dieser Zeit seine gesamten Tätigkeiten während des Krieges genau untersuchten, fanden keine Anhaltspunkte, um Morgen anzuklagen. Im Zeugenstand beim Auschwitzprozess in Frankfurt bestätigte Morgen auch die den Angeklagten vorgeworfenen Taten. Was er allerdings nicht lieferte, waren Details über die konkreten Fälle – Namen und Daten der Opfer sowie genaue Angaben über die begangenen Delikte. An diese Einzelheiten, die das Gericht selbstredend gerne von Morgen erfahren hätte, konnte er sich laut seinen eigenen Angaben zwanzig Jahre später nicht mehr erinnern. Anders als Wittmann sind wir nicht der Überzeugung, dass Morgen seine Vergesslichkeit nur vortäuschte.

[6] Unsere Rekonstruktion umfasst nicht Morgens gesamtes Leben, sondern beschränkt sich auf seine Laufbahn als SS-Richter.

Zeittafel

8. Juni 1909

Konrad (Valentin Georg) Morgen wird in Frankfurt am Main geboren.

1930-33

Konrad Morgen studiert Rechtswissenschaften.

1. März 1933

Morgen wird Mitglied der SS (Mitgliedsnummer 124940)

1. April 1933

Morgen wird Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnummer 2536236)[1]

August 1934

Morgen nimmt nicht an der Volksabstimmung teil, mit der Hitlers Übernahme des Amts des Reichspräsidenten nachträglich »legitimiert« werden soll.

12. Mai 1934

Morgen legt die erste juristische Staatsprüfung ab.

1934-38

Morgen absolviert die Referendarausbildung.

20. Februar 1936

Morgen promoviert an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main zum Doktor der Rechte. Er publiziert seine Dissertation Kriegspropaganda und Kriegsverhütung im Verlag Noske (Leipzig).

2. September 1938

Morgen legt die zweite juristische Staatsprüfung ab.

7. März 1939

Morgen wird Assessor am Landgericht Stettin.

30. April 1939

Absetzung Morgens in Stettin. Er beginnt eine Tätigkeit als Rechtsberater bei der Deutschen Arbeitsfront.

1. September 1939

Beginn des Zweiten Weltkriegs; Morgen wird in die Waffen-SS eingezogen und dient beim 12. SS-Regiment in Posen (er wird Sachbearbeiter für Rechtsangelegenheiten).

Herbst 1940

Morgen bewirbt sich bei der SS- und Polizeigerichtsbarkeit in München; Schulung als SS-Richter.

1. Januar 1941

Morgen wird als SS-Hilfsrichter dem SS- und Polizeigericht Krakau zugeteilt.

22. Juni 1941

Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion.

September 1941

Morgen präsentiert seine Untersuchungsergebnisse im Fall Hermann Fegelein.

27. März 1942

Morgen ersucht beim Hauptamt SS-Gericht um Versetzung aus dem Generalgouvernement.

März 1942

Erster Transport von Juden in das Vernichtungslager Belzec.

Mai 1942

Auf Befehl Himmlers wird Morgen aus der SS- und Polizeigerichtsbarkeit entlassen und zum »gemeinen Soldaten« degradiert.

Juli 1942

Morgen befindet sich zur militärischen Ausbildung in Stralsund.

Dezember 1942

Morgen wird zur SS-Division »Wiking«[2] an die Ostfront versetzt.

Mai 1943

Morgen wird von Himmler von der Ostfront zurückbeordert und wieder zur SS- und Polizeigerichtsbarkeit versetzt. Gleichzeitig wird er dem Reichskriminalpolizeiamt in Berlin zugewiesen.

Juni/Juli 1943

Morgen erhält den Auftrag zur Untersuchung von Finanzkorruption im Konzentrationslager Buchenwald.

18./19. August 1943

Letzter Transport von Juden in das Vernichtungslager Treblinka.

24. August 1943

Morgen verhaftet den ehemaligen Kommandanten des KZ Buchenwald, Karl Otto Koch.

(Vermutlich) September 1943

Morgen untersucht eine Hochzeitsfeier von jüdischen Häftlingen im Alten Flughafenlager in Lublin.

14. Oktober 1943

Häftlingsrevolte in Sobibor.

3. November 1943

Erntefest-Massaker in Lublin.

November 1943

Morgen inspiziert das KZ Auschwitz und das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.

Januar 1944

Morgen sucht Odilo Globocnik in Triest auf.

11. April 1944

Morgen verfasst seinen Untersuchungsbericht über Korruption und Morde im KZ Buchenwald.

17. August 1944

Morgen reicht seine Anklageschrift gegen die in Buchenwald verhafteten Personen ein (Karl Otto Koch, Ilse Koch, Lagerarzt Dr. Waldemar Hoven und SS-Aufseher Martin Sommer).

1. ‌- ‌10. September 1944

Erste Verhandlung im Buchenwaldprozess der SS-Gerichtsbarkeit in Schloss Kranichfeld bei Weimar (angeklagt sind das Ehepaar Koch, Hoven und Sommer).

13./14. Oktober 1944

Prozess der SS-Gerichtsbarkeit gegen den Chef der Gestapo in Auschwitz, Maximilian Grabner, in Schloss Kranichfeld bei Weimar.

November 1944

Neuerliche Versetzung Morgens an das SS-Gericht in Krakau.

Dezember 1944

Wiederaufnahme des Buchenwaldprozesses in Weimar.

Januar 1945

Morgen flieht vor der Roten Armee aus Krakau.

September 1945

Morgen meldet sich bei den amerikanischen Besatzungsbehörden in Mannheim-Seckenau und wird in Haft genommen.

7./8. August 1946

Morgen sagt als Zeuge der Verteidigung beim Prozess des Internationalen Militärgerichtshofs gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg aus.

11./12. Juni 1947

Morgen sagt als Zeuge beim Prozess gegen den Erbprinz zu Waldeck und Pyrmont aus (United States vs. Josias Prinz zu Waldeck et al.).

21./22. August 1947

Morgen sagt als Zeuge beim Prozess gegen Oswald Pohl (Chef des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamts [WHVA] der SS) aus.

24. März 1948

Morgen sagt als Zeuge im Wilhelmstraßenprozess (»The Ministries Trial«, United States vs. Ernst von Weizsäcker et al.) im Rahmen der Anklage gegen den Chef des Hauptamts SS, Gottlob Berger (Fall XI), aus.

Anfang Mai 1948

Morgen wird aus amerikanischer Haft entlassen und von den deutschen Behörden ins Interniertenlager Kornwestheim überstellt, um sein Entnazifizierungsverfahren abzuwarten.

15. Mai 1948

Morgen stellt den Antrag auf Entlassung aus dem Lager Kornwestheim. Dies wird mit der Auflage gewährt, sich dreimal wöchentlich bei den Behörden zu melden.

24. Juni 1948

Urteil der Spruchkammer des Interniertenlagers Ludwigsburg (Kornwestheim); Morgen wird als »Entlasteter« eingestuft. Dieses Urteil wurde durch das Ministerium für Politische Befreiung aufgehoben. Ein zweites Entnazifizierungsverfahren wird beim Gericht Nordwürttemberg anhängig.

27. September 1948

Morgen heiratet in Frankfurt am Main Maria Wachter, geb. Blank.

18. September 1950

Beschluss der Zentral-Spruchkammer Nordwürttemberg, Morgens Entnazifizierungsverfahren mit Wirksamkeit Mai 1951 abzuschließen.

1951

Morgen arbeitet nach seiner Entnazifizierung als Rechtsanwalt und Notar in Frankfurt am Main.

9. März 1964

Morgen sagt als Zeuge der Anklage im Auschwitzprozess in Frankfurt am Main aus.

19. September 1973

Aussage Morgens (eidesstattliche Vernehmung) im Vorfeld des Majdanek-Prozesses in Düsseldorf.

22. Januar 1980

Majdanek-Prozess in Düsseldorf. Aus gesundheitlichen Gründen tritt Morgen dort nicht persönlich als Zeuge auf, sondern macht seine Aussage in Frankfurt am Main.

4. Februar 1982

Konrad Morgen stirbt in Frankfurt am Main.

[1] Diese Angaben beruhen auf Morgens Personalakte im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, siehe PKM. In einem von Konrad Morgen am 15. Juni 1934 im Rahmen seines Ansuchens um die Zulassung zur ersten juristischen Staatsprüfung handschriftlich verfassten Lebenslauf wird der 24. April 1933 als Datum seines Eintritts in die NSDAP genannt. In dem Lebenslauf gibt Morgen an, ab April 1933 Dienst bei der »Studenten-SA« geleistet zu haben und dann in die SS eingetreten zu sein ( vgl. HAW [3], Blatt 4). Morgen schreibt, im Juni 1933 von der »Studenten-SA« zur »SS-Studentenschaft« übergetreten zu sein. In den Vernehmungen durch die Amerikaner nach dem Krieg wird der 1. Mai 1933 als Datum des Eintritts in die NSDAP genannt (KMI, 4. September 1946, S. 2). In dem mit 24. Juni 1948 datierten Urteil der Spruchkammer des Interniertenlagers Ludwigsburg (Kornwestheim), in das Konrad Morgen nach der Entlassung aus amerikanischer Haft überstellt wurde, wird der Eintritt in die NSDAP auf den 1. Februar 1933 verlegt und das genaue Datum des Eintritts in die SS bis auf die Jahresangabe 1933 offengelassen (SKV EL 903/3, Bü 2196).

[2] Die SS-Division »Wiking« war eine SS-Panzerdivision, in der neben deutschen Soldaten Freiwillige aus Skandinavien, Belgien und den Niederlanden dienten. Die SS-Standarte »Germania« war Teil dieser Division. Konrad Morgen verwendet in seinen Zeugenaussagen beide Begriffe.

Einleitung: Der rechtstheoretische Kontext

Konrad Morgen begann sein Studium der Rechtswissenschaften in der Endphase der Weimarer Republik. Als er 1934 das erste Staatsexamen ablegte, war der normative Umbau zu einem autoritären Führerstaat bereits so gut wie abgeschlossen. Die demokratischen Grundrechte waren dispensiert, andere politische Parteien außer der NSDAP verboten, die Gleichschaltung vollzogen und die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative zugunsten der »Einheit der Führergewalt« aufgehoben. Nach dem Tod Paul von Hindenburgs am 2. August 1934 übernahm Hitler auch dessen Aufgaben. Das Amt des »Führers«, das nun die Funktionen von Reichskanzler und Reichspräsident vereinigte, symbolisierte in der Person Hitlers die angestrebte Einheit von Staat und Partei.

Diese Veränderungen wurden von einer Flut an regimekonformen rechtstheoretischen Publikationen untermauert.[1] Die nationalsozialistischen Rechtstheoretiker waren bestrebt, das neue Staatsgebilde zu legitimieren. Sie versuchten, die Vorstellung zu zerstreuen, ein willkürlicher Maßnahmenstaat würde nun in Konkurrenz zum rechtsstaatlichen Normenstaat treten.[2] Maßnahmen und Befehle der Führung hatten Gesetzescharakter und gehören somit zum NS-Rechtssystem. Die unumschränkte Macht des Führers wurde über seine Bindung an die Volksgemeinschaft legitimiert. Die Autorität des »Führers« gründe, so das Argument, auf einer Selbstverpflichtung, Wohl und Ehre des Volkes zu fördern.

Die NS-Theoretiker rechtfertigten die neuen Rechtsquellen, nämlich das Führer- und das Volksgemeinschaftsprinzip. Die heikle Frage nach der Vorrangigkeit eines dieser Prinzipien umgingen die Rechtstheoretiker mit einer moralisierenden Überhöhung der Person des »Führers«: Dieser verfüge selbstredend über die epistemische und »ethische« Kompetenz, bestmöglich für die Sicherheit der Volksgemeinschaft zu sorgen. Das Prinzip politischer Repräsentation wurde durch eine personalisierte Vertrauensrelation ersetzt. Im Führerstaat erübrige es sich, wie die NS-Juristen betonten, dass Einzelpersonen zu ihrem Schutz subjektive Rechte gegen die umfassende Macht des Staates geltend machten. Die Maßnahmen des Führers wurden als positivrechtlich legal und politisch legitim akzeptiert.[3]

Inwieweit Morgen diese ideologischen Vorgaben innerlich bejahte, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Öffentlich hatte er sich mit seiner Partei- und SS-Mitgliedschaft 1933 als regimekonform deklariert. Seine Skepsis gegenüber der Zusammenlegung der Ämter von Reichskanzler und Reichspräsident im Jahr 1934 ist dokumentarisch belegt. Morgen beteiligte sich nicht an der Volksabstimmung, mit der sich Hitler diesen weiteren Griff nach noch umfassenderer Macht nachträglich absegnen ließ. Und Morgens 1936 eingereichte Dissertation, die dem Thema der Kriegspropaganda und der Kriegsverhütung gewidmet war, lag in Anliegen und Ton nicht in allen Punkten auf der Parteilinie.

Im Bereich des Strafrechtsdenkens geriet Morgen jedoch eindeutig unter den Einfluss der herrschenden politischen Ideologie. Morgens Vorgehen als Untersuchungsrichter und seine Urteile sind ein anschauliches Beispiel der normativen Verschiebungen im nationalsozialistischen Strafrecht, so etwa der Hinwendung zu einem Willensstrafrecht, das nicht mehr den Straftatbestand, sondern den »bösen« Willen des Täters in den Mittelpunkt rückt. Seine theoretischen Reflexionen über den Kampf gegen Korruption und Verbrechen verdeutlichen die ideologische Rechtsmoralisierung im »Dritten Reich«. Und seine harschen Urteile als SS-Richter folgen der verschärften Handhabung des Strafrechts im Nationalsozialismus. Wie stark die Neuausrichtung im Strafrecht und die geänderte Rollendefinition des Richters Eingang in die SS-Gerichtsbarkeit fanden, zeigt auch ein Schreiben seines Vorgesetzten am SS-Gericht in Krakau an das Hauptamt SS-Gericht in München, das wir in Kapitel 5 dieses Buches diskutieren.

Die Strafrechtskonzeption im nationalsozialistischen Staat

Mit der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten Ende Januar 1933 begannen unter führenden Rechtstheoretikern, die dem NS-Regime loyal gegenüberstanden, Diskussionen darüber, welche Art von Strafrecht den Werten des Nationalsozialismus am dienlichsten sei. Eine Ende 1933 von Hitler persönlich eingerichtete Strafrechtskommission unter dem Vorsitz des Reichsjustizministers Franz Gürtner hatte den Auftrag, das Strafrecht im nationalsozialistischen Sinn zu reformieren.[4] Im Dezember 1939 weigerte sich Hitler allerdings, den von dieser Kommission ausgearbeiteten neuen Strafrechtskodex zu unterschreiben.[5]

Ungeachtet dessen hatten sowohl die Arbeit der Kommission als auch die daraus resultierenden Publikationen der Kommissionsmitglieder beträchtlichen Einfluss auf die Rechtsprechung im »Dritten Reich«. Erklärtes Ziel war es, dem liberalen Strafrechtsdenken der Weimarer Republik eine autoritäre Konzeption entgegenzusetzen, die den Sinn der Strafe in Abschreckung und Vergeltung sah.[6] Nach der liberalen Auffassung obliegt dem Strafrecht der Schutz grundlegender Rechtsgüter wie Leben, Freiheit und Eigentum. Die NS-Theoretiker sahen die Aufgabe des Strafrechts hingegen in Grundwerten wie »Rasse, Ehre, Arbeit, Boden und Staat«.[7] An die Stelle der Sicherung negativer Abwehrrechte trat die Forderung nach einer aktiven Verfolgung materialer Rechtsprinzipien, die inhaltlich einer rassisch konnotierten »völkischen Ethik« entsprachen.[8]

Das Strafrecht transformierte sich in ein politisches »Kampfinstrument«.[9] Die erbarmungslose Ahndung von Rechtsverstößen und Verletzungen der für die Volksgemeinschaft konstitutiven Normen und Werte wurde zur Staatsmaxime. In dieses Bild fügte sich, dass für die NS-Juristen die Frage der gesamtgesellschaftlichen Verbrechensvorbeugung (Generalprävention) Priorität gegenüber einer auf den individuellen Täter gerichteten Verbrechensvorbeugung (Spezialprävention) genießt, die auch Fragen der Resozialisierung berührt. Ein vielsagendes Beispiel ist folgende Aussage des Strafrechtstheoretikers Hellmuth Mayer: »Allen spezialpräventiven Maßnahmen fehlt das starke sittliche Pathos der vergeltenden Strafe, keine appelliert unmittelbar an die sittliche Selbstverantwortung, keine spricht ein deutliches Verdammungsurteil über die böse Tat.«[10]

Unter den Strafrechtstheoretikern bestand ab Mitte der dreißiger Jahre weitgehend Konsens darüber, dass ein Willensstrafrecht den weltanschaulichen und politischen Vorstellungen des Nationalsozialismus am besten gerecht werde. Maßgeblich für das Willensstrafrecht ist, wie erwähnt, die These, der verbrecherische Wille des Täters und nicht vorrangig der Taterfolg sei für die strafrechtliche Schuldzumessung ausschlaggebend.[11] Der Staat solle nicht erst auf eine erfolgte Rechtsverletzung reagieren, sondern müsse jede Schädigung der Volksgemeinschaft bereits in der vorbereitenden Willensartikulation unterbinden.[12]

Der Wille des Straftäters galt nun als konstitutives Element der Tat und nicht bloß, wie im liberalen Strafrecht, als eventuell erschwerender Umstand bei der Strafzumessung. Der kriminelle Wille rückte moralisch und juristisch ins Zentrum. In den Worten des Strafrechtstheoretikers Wilhelm Sauer:

Wie nach der Kant-Fichteschen Ethik nichts gut ist als allein der gute Wille, so liegt umgekehrt der Schwerpunkt des Verbrechens im bösen Willen. […] Verdunkelt konnte jener Zusammenhang von Verbrechen und moralischer Verwerflichkeit nur werden, als eine übertrieben liberalistische Auffassung einen haarscharfen Strich zwischen Moral und Recht, wie zwischen Willen und äußerem Verhalten zog.[13]

Das Willensstrafrecht war dennoch kein reines Gesinnungsstrafrecht, da im Willensstrafrecht die internalistisch-subjektiven Komponenten doch noch an den objektiv feststellbaren Tatversuch oder die begangene Tat gebunden blieben.[14] Das Willensstrafrecht unterschied sich auch von einem reinen Täterstrafrecht, das zwischen der Persönlichkeit des Täters und der Schuld einen direkten Zusammenhang sah und die Relevanz der objektiven Tatmerkmale weitgehend überging.[15]

Das Willensstrafrecht hing jedoch eng mit einer Tätertypologie zusammen. Da sich das Auge des Gesetzes bereits auf den bösen Willen richten sollte, von dem Unheil ausging, musste es entsprechende Hinweise auf diesen geben. Aus diesem Grund nahmen die NS-Juristen an, dass es bestimmte Typen potenzieller Täter gab, die auf einen verbrecherischen Willen schließen ließen. Dies erklärt, warum im nationalsozialistischen Strafrechtsdenken Täterkategorien wie »der Gewohnheitsverbrecher«, »der Volksschädling«, »der Volksverräter« so zentral wurden. Wie wir sehen werden, fixierte sich Konrad Morgen als Untersuchungsrichter besonders auf den Typus des Korruptionsverbrechers, eine von ihm selbst geschaffene und auch publizistisch vertretene Täterkategorie.[16]

Die maßgebliche normative Stellung des Willens lenkte den strafrechtlichen Blick auf den Charakter des Täters. Dem Rechtstheoretiker Edmund Mezger zufolge sind Wille und Charakter eng verbunden, denn »den einzelnen Verbrechen liegt ein typischer Willensentschluß zugrunde und durch ihn kennzeichnen sich einzelne bestimmte Tätertypen in den verschiedenartigen Straftaten«.[17] Mezger entwickelte deshalb den Begriff der »Lebensführungs-Schuld«, die sich im schlechten Charakter des Täters und in seiner gesamten Art zu leben manifestiert: »Schuld ist Tat-Schuld, aber auch Lebensführungs-Schuld und deshalb richtet sich die Strafe nicht nur nach der Einzel-Tat, sondern auch nach der Persönlichkeit des Täters, soweit aus ihr gegen den Täter ein Vorwurf erhoben werden kann.«[18]

Das politisch-weltanschaulich erweiterte Ermessen des Richters

Die NS-Juristen lehnten das im deutschen Strafgesetzbuch von 1871 als Teil von § 2 verankerte rechtsstaatliche Prinzip des nullum crimen, nulla poena sine lege (»Keine Strafe ohne Gesetz«) ab. Dieses lautete: »Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn diese Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.«[19]

Dieser Grundsatz, der Bürger vor gesetzlicher und richterlicher Willkür schützen sollte, wurde von den nationalsozialistischen Juristen als die »Magna Charta des Verbrechertums« verunglimpft.[20] Die Regelung nehme »in Kauf […], daß es dem Findigen gelingen könnte, sich zwischen den Maschen des geschriebenen Rechts hindurchzuwinden und straflos zu bleiben trotz eines Verhaltens […], das von Sitte und Rechtsempfinden verurteilt wird«.[21] Das Prinzip nulla poena sine lege verlangt, die Fakten eines Falles unter das geschriebene Gesetz zu subsumieren. Der NS-Rechtstheoretiker Karl Schäfer hielt dem entgegen, dieser Grundsatz würdige den Richter zu einer reinen »Subsumtionsmaschine« herab.[22] Er forderte, die liberale Richtlinie durch das Prinzip des nullum crimen sine poena (»Kein Verbrechen ohne Strafe«) zu ersetzen.

§ 2 des Strafgesetzbuchs wurde deshalb 1935 auf Vorschlag der amtlichen Strafrechtskommission durch folgende Formulierung ersetzt:

Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesunder Volksanschauung Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft.[23]

Der letzte Satz dieses umformulierten Paragraphen erlaubte es dem Richter, von der Analogie in der Rechtsprechung Gebrauch zu machen, das heißt, auch Handlungen zu bestrafen, die nicht explizit durch eine Gesetzesnorm untersagt waren, die aber eine Ähnlichkeit mit gesetzlich verbotenen Handlungen hatten. Diese Formulierung bezog sich auf die »Gesetzesanalogie«, also die Anwendung besonderer Normen auf analoge Fälle. Eine Reihe von NS-Juristen sprach sich dafür aus, die Zulässigkeit der Analogie im Strafrecht auf die sogenannte »Rechtsanalogie« auszudehnen. Rechtsanalogie bedeutet die »Anwendung eines der gesamten Rechtsordnung innewohnenden Gedankens auf einen gesetzlich nicht geregelten Fall, der diesem Gedanken im Sonderfall entspricht«.[24]

Damit erweiterte sich der richterliche Ermessensspielraum erheblich.[25] Gesetze wurden zu bloßen »Richtlinien« der Urteilsfindung herabgestuft.[26] Solange sich der Richter darauf berufen konnte, in seiner Urteilsfindung die »ethische Ordnung« und die »gesunde Volksanschauung« umzusetzen, konnte er relativ autonom bestimmen, ob ein Tatbestand unter eine gesetzliche Regelung fiel. Zudem galten die objektiven Elemente eines kriminellen Tatbestandes nicht länger als einzig relevante Grundlage der Rechtsprechung.[27] So spielten, wie bereits erwähnt, gemäß dem auch von der Strafrechtskommission unter Gürtners Leitung propagierten »Willensstrafrecht« der Wille und der Charakter des Täters bei der Urteilsfindung die entscheidende Rolle.[28]

Die hinter diesen Veränderungen stehende »Ethisierung« des Strafrechts war eine Folge der Aufhebung des Unterschieds von Recht und Moral, die der Staatssekretär für Justiz und spätere Präsident des Volksgerichtshofs, Roland Freisler, folgendermaßen begründete: »Eine Kluft kann sich zwischen Rechtsgebot und Sittengebot nicht auftun. Denn Gebote des Rechtes sind Gebote der Anständigkeit; was anständig ist, sagt aber das Gewissen des Volkes wie des Volksgliedes.«[29]

Die übergesetzliche Moralordnung sollte als Standard der Rechtsprechung neben das Gesetz treten. Freisler schrieb dazu:

[W]ir glauben, daß im Strafrecht eine materielle Rechts- und Unrechtsauffassung durchweg maßgebend sein muß, weil wir das Recht nicht dem Gesetze gleichstellen, sondern es aus der völkischen Sittenordnung entwickeln. Das Strafrecht soll man daher auch nach unserer Ansicht nicht allein aus dem Gesetz entnehmen und erkennen; wir wollen vielmehr eine außergesetzliche Rechtserkenntnisquelle ebenfalls anerkennen.[30]

Dies besagt, dass der Richter neben den beschreibenden Tatbestandsmerkmalen noch spezifisch normative Elemente berücksichtigen soll, die eine »wertausfüllende Rechtsprechung« ermöglichen. Die Liste der von Freisler genannten »echten normativen Elemente« umfasst: Wohl des Reiches, Wohl des Volkes, gute Sitten, Unzuchtbegriff, Anstandsverletzung, Wehrlosigkeit, gesundes Volksempfinden.[31] Über diese normativ wertenden Komponenten etabliert sich nach Freisler eine zweite gleichwertige Rechtserkenntnisquelle neben dem Gesetz.

Was genau waren nun die Normen der »völkischen Sittenordnung«? Manche NS-Denker griffen zu deren Bestimmung auf die Tugendethik zurück. So bildeten für Sauer »ureigentliche, deutsche (gotische) Tugenden«, wie sie sich in der »deutschen Sitten- und Kulturgeschichte« finden, die Inhalte der »Volksmoral«.[32] Er nannte Wahrhaftigkeit, Treue (Zuverlässigkeit), Zielstreben und Selbstbeherrschung, wobei Zielstrebigkeit sich in Gemeinschaftssinn und Opfergeist ausdrückte und die Tugend der Selbstbeherrschung umfasste. Als »typisch kriminelle Laster« galten Unredlichkeit (Verstellung), Verrat (Treubruch), Ausbeutungsgier (Selbstsucht) und Zügellosigkeit (Neid).[33]

Letztlich aber bestimmte die nationalsozialistische Weltanschauung, hinter welcher der Führerwille stand, was die »gesunde Volksanschauung« ausmachte. Dies unterstrich auch Georg Dahms Behauptung, für das Rechtsleben seien neben dem Gesetz »außerjuristische Äußerungen des Führerwillens, maßgebende literarische Auslassungen, programmatische Erklärungen der dazu Berufenen auch dann ausschlaggebend«, »wenn diese Äußerungen nicht in juristische Formen gekleidet sind und nicht unmittelbar eine Beeinflussung des Rechtslebens bezwecken«.[34]

Der Richter war aber nicht nur der hinter dem Gesetz stehenden »völkischen Moralordnung« verpflichtet, sondern auch der politischen Führung, weil

der nationalsozialistische Gemeinschaftsgedanke mit dem Grundsatz der autoritären Führung untrennbar verbunden ist. Denn in der politischen Führung und insbesondere im Führer selbst findet das Volk seine wahre Vertretung, und eben darauf beruht die Autorität von Führer und Staat.[35]

Der Weg zur Politisierung des Rechts war somit vorgezeichnet. Folgen zeigte dies besonders in einer Institution wie der SS-Gerichtsbarkeit: Die Aufgabe des SS-Richters beschränkte sich hier nicht auf eine an Gesetzen orientierte Urteilsfindung. Der SS-Richter war angehalten, in seiner Rechtsprechung auch die weltanschaulich-politischen Prinzipien der SS umzusetzen.

Die Untergrabung der Justiz

Kennzeichnend für den NS-Staat war eine äußerst brutale Handhabung des Strafrechts. Die Hinwendung zum blanken Terror hing damit zusammen, dass sich im Strafvollzug zunehmend eine Rivalität von Justizstrafrecht und Polizeistrafrecht ergab, in der sich Letzteres durchsetzte. Ein Auslöser dieser Entwicklung war, dass Himmler, der ab 1936 neben seiner Stellung als »Reichsführer-SS« auch Chef der deutschen Polizei war, mit allen Mitteln versuchte, seinen Machtbereich auf die gesamte Kontrolle der inneren Sicherheit auszudehnen. Die Justiz verlor zunehmend ihre Kompetenzen. So wurde ihre Position als vorrangige Instanz der Strafrechtsanwendung von den diversen Abteilungen der Polizei, insbesondere der Geheimen Staatspolizei unterwandert, so dass sich »die Polizei als ein der Justiz gleichgeordnetes oder sogar übergeordnetes Organ der Verbrechensbekämpfung etablierte«.[36] Parallel zur justiziellen Strafrechtspflege entwickelte sich eine polizeiliche Strafjustiz, die durch die Eingliederung der Polizei in den Autoritäts- und Herrschaftsbereich Himmlers eine Radikalisierung erfuhr.

Bereits ab 1933 kam es zu polizeilichen Freiheitsentziehungen ohne vorherige oder nachträgliche Gerichtsverfahren. Die Vorbeugungshaft bei nichtpolitischen Verbrechen und die Schutzhaft bei politischen Verbrechen bedeuteten Einweisung in ein Konzentrationslager.[37]

Konkret besagte dies, dass Straftäter in Konzentrationslager kamen, wo sie über die Verbüßung ihrer Haftstrafen hinaus festgehalten wurden und vielfach keine Chance auf Entlassung und Rückkehr in ein ziviles Leben hatten.[38]

Himmlers SS war ein Instrument der »Weltanschauungsherrschaft« und die Polizei das ausführende Organ. Die Polizei verwandelte sich von einem exekutiven Instrument des Staates in ein politisches Instrument der Gegnerbekämpfung. Und wieder bediente sich das Regime einer klassischen Quelle der Normativität, nämlich der Formel von der allgemeinen politischen Willensbildung. Die Idee des »allgemeinen Willens« und der Volkssouveränität wurde in ideologiekonformer Weise uminterpretiert. Ein diffuser Appell an einen allgemeinen politischen Willen als der höchsten Norm imitierte formal das aus der klassischen politischen Philosophie bekannte Konzept einer allgemeinen Willensbildung, das dort jedoch als Grundlage einer die Freiheit und Gleichheit aller respektierenden Gesellschaftsform dient.[39] Die NS-Juristen reduzierten den allgemeinen Willen auf eine Identifikation mit den der arischen Volksgemeinschaft inhärenten weltanschaulich-politischen Grundsätzen. Wie Werner Best, der juridische Experte der Gestapo, dies 1936 in seinem Kommentar zur dritten Fassung des Gestapo-Gesetzes formulierte:

Der politische Totalitätsgrundsatz des Nationalsozialismus, der dem weltanschaulichen Grundsatz der organischen und unteilbaren Volkseinheit entspricht, duldet keine politische Willensbildung in seinem Bereiche, die sich nicht der Gesamtwillensbildung einfügt. Jeder Versuch, eine andere politische Auffassung durchzusetzen oder auch nur aufrecht zu erhalten, wird als Krankheitserscheinung, die die generelle Einheit des unteilbaren Volksorganismus bedroht, ohne Rücksicht auf das subjektive Wollen seiner Träger ausgemerzt.[40]

Bests Interpretation der »Gesamtwillensbildung« war eine programmatische Aufhebung der Trennung zwischen der juridischen, der politischen und der ideologischen Sphäre. Politische Maßnahmen vermischten sich mit biologistischen Konzeptionen von Stärke, Macht und Gesundheit. Die Politische Polizei wurde zur Superinstitution, die nicht nur die Sicherheit des Staates, sondern die Entwicklung zu einer rassisch reinen und biologisch gesunden Volksgemeinschaft überwachte.

Die Tendenz zu Gewalt und Terror, die von Beginn an die Strafrechtskultur des »Dritten Reichs« charakterisierte, gewann besonders unter den Bedingungen des Kriegs an Dynamik. Zahlreiche Gesetze, die ab 1939 geschaffen wurden, brachten eine extreme Verschärfung der Strafzurechnung und der Strafmaßnahmen mit sich.[41]

Besonders radikal waren die Gesetze in den besetzten »Ostgebieten«. Ein vielsagendes Beispiel war die Verordnung zum sogenannten »Polen- und Judenstrafrecht vom 4. Dezember 1941«.[42] Diese Regelung verschärfte die »Verordnung über die Einführung des deutschen Strafrechts in den eingegliederten Ostgebieten vom 6. Juni 1940«. Die Verordnung drohte in Absatz I (2) Polen und Juden die Todesstrafe an, »wenn sie gegen einen Deutschen wegen seiner Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum eine Gewalttat begehen«; gleichfalls drohte Polen und Juden gemäß Absatz I (3) die Todesstrafe, in weniger schweren Fällen Freiheitsstrafe,

wenn sie durch gehässige oder hetzerische Betätigung eine deutschfeindliche Gesinnung bekunden, insbesondere deutschfeindliche Äußerungen machen oder öffentliche Anschläge deutscher Behörden oder Dienststellen abreißen oder beschädigen, oder wenn sie durch ihr sonstiges Verhalten das Ansehen oder das Wohl des Deutschen Reiches oder des deutschen Volkes herabsetzen oder schädigen.[43]

Wesentlich ist auch Absatz II, in dem klar der Grundsatz der Rechtsanalogie zum Ausdruck kommt:

Polen und Juden werden auch bestraft, wenn sie gegen die deutschen Strafgesetze verstoßen oder eine Tat begehen, die gemäß dem Grundgedanken eines deutschen Strafgesetzes nach den in den eingegliederten Ostgebieten bestehenden Staatsnotwendigkeiten Strafe verdient.[44]

Der Einfluss des Gesinnungsstrafrechts auf diese Verordnung, die eine besonders extreme Form der Strafrechtsgewalt verkörpert, wird nicht nur in Absatz I (3) deutlich, sondern auch in Absatz III (2), der festlegt, dass eine Tat, die von besonders niedriger Gesinnung zeugt, mit dem Tode bestraft werden kann. Teil der Verordnung war auch die Bestimmung, dass Polen und Juden deutsche Richter nicht wegen Befangenheit ablehnen konnten (Absatz VII). Zudem galt, dass Polen und Juden im Falle schwerer Ausschreitungen gegen Deutsche oder wegen Straftaten, die »das deutsche Aufbauwerk ernstlich gefährdeten«, von Standgerichten zum Tode verurteilt werden konnten (Absatz XIII). Den Standgerichten oblag es auch, die Täter ohne Verfahren oder Aburteilung an die Geheime Staatspolizei zu überweisen.

Die Grenze zwischen Politik und Recht war im »Polen- und Judenstrafrecht« aufgehoben. In der auch in den Ostgebieten starken Rivalität zwischen Justiz und Polizei setzte sich Himmler durch. Ende 1942 einigte er sich mit Justizminister Otto Georg Thierack darauf, dass die Polizei die Strafgewalt in Polen übernehmen sollte.

In den besetzten Ostgebieten reduzierte sich das Strafrecht auf ein Instrument der Disziplinierung und politischen Machtausübung – ohne jede Garantie von Rechtssicherheit oder gar Schutz und, in diesem Kontext, ohne jeden Bezug auf den Standard einer »völkischen Sittenordnung«.[45] Die Strafe ist in diesem Fall also schlicht eine Maßnahme zur Wahrung und Festigung der Besatzungsordnung. Das »Polen- und Judenstrafrecht« war zwar Teil der deutschen Rechtsordnung, doch konstitutiv für diese Verordnung ist das Prinzip der »völkischen Ungleichheit«. Bereits in dem für die deutsche Bevölkerung geltenden Strafrecht vermischten sich Recht und Politik. Gegenüber einer Bevölkerungsgruppe, die als andersartig und ungleichwertig angesehen wurde, schlug diese Politisierung jedoch zwangsläufig in blanke Gewaltausübung um. Moralische Ausklammerung bedeutete, dass die letzten Beschränkungen, die eine »völkische Sittlichkeit« überhaupt noch aufzubringen vermochte, entfielen.

Für Konrad Morgen war als SS-Richter in erster Linie das Militärgesetz maßgeblich, da die SS- und Polizeigerichtsbarkeit die Funktion einer Militärgerichtsbarkeit für Mitglieder der Waffen-SS innehatte. Das »Polen- und Judenstrafrecht« und der strafrechtliche Rahmen bildeten allerdings den Hintergrund für seine Tätigkeit im Generalgouvernement von Januar 1941 bis Mai 1942.

Recht und Moral

Eine besondere Rolle im Rechtssystem des Nationalsozialismus spielte, wie wir gesehen haben, die Durchdringung des Rechts mit der der Moral entlehnten, jedoch der politischen Ideologie angepassten Rede- und Begründungsfiguren. Die folgenden Bemerkungen sollen die theoretische Einordnung und Bewertung dieser politisch motivierten Rechtsmoralisierung erleichtern.

Moral ist zu trennen von Moralisierung. »Moralisierung« bedeutet die Zweckentfremdung moralischer Grundsätze. Die Berufung auf solche Prinzipien dient in dem Fall nicht der Verwirklichung moralischen Handelns, sondern Zielen wie zum Beispiel der Manipulation und Kontrolle anderer sowie der Durchsetzung machtpolitischer Interessen. Besonders brisant wird es, wenn die politischen Zielsetzungen gar nicht im Einklang mit weitgehend anerkannten moralischen Prinzipien sind. Dann kommt der moralisierenden Rhetorik die weitere Aufgabe zu, die nicht gerechtfertigte und verzerrende Inanspruchnahme moralischer Argumente und Werte zu verschleiern.

Die Trennung zwischen Moral und Moralisierung setzt voraus, dass wir inhaltlich zumindest in Ansätzen benennen können, was unter »Moral« zu verstehen ist. Aus theoretischer Perspektive bezieht sich »Moral« auf die Normierung individueller Handlungen und institutioneller Praktiken, die das Wohlergehen anderer und ihren Status als Personen berühren. Moralische Überlegungen und Gründe werden relevant, wenn die Behandlung, die Menschen durch andere erfahren, berechtigte Reaktionen der Abwehr, Missbilligung und Empörung hervorrufen. Missbilligung und Empörung sind dann angemessen, wenn grundlegende Prinzipien des sozialen Zusammenlebens verletzt werden, die konstitutiv für Koordination und Kooperation unter Gleichen sind.[46] Ausgehend von der Idee gleicher Achtung für andere als Personen, umfassen die elementarsten moralischen Grundsätze das Tötungsverbot, das Verbot der Verletzung der körperlichen Integrität, das Verbot von Herabsetzung, Demütigung, Ausgrenzung und Benachteiligung. Der Geltungsbereich dieser unparteilich anzuwendenden Prinzipien ist universell.

Der Nationalsozialismus stellte diese Bedingungen infrage. An die Stelle universell geltender Prinzipien traten Grundsätze, deren Geltungsbereich auf eine bestimmte Gruppe von Menschen zugeschnitten war. So setzten die NS-Juristen dem Grundsatz allgemeiner Gleichheit das Prinzip einer »rassischen Artgleichheit« entgegen.[47] Die »arisch reine Volksgemeinschaft« definierte sich über ethnische und rassische Besonderheiten, also über Merkmale, die eine am Konzept geteilter Menschlichkeit und Menschenwürde orientierte Moraltheorie als irrelevant für die Zuschreibung moralischer Rechte betrachtet.

Diese Verschiebungen werfen die Frage auf, ob und in welcher Form wir von einer »nationalsozialistischen Moralordnung« sprechen können.[48] Manche Theoretiker schreiben dem Nationalsozialismus eine Art »partikulare Moral« zu.[49] Andere Philosophen stehen dieser These skeptisch gegenüber, da der Nationalsozialismus für einen eklatanten Bruch mit elementarsten moralischen Werten steht.[50]

Die Vorstellung, dass der Nationalsozialismus eine in sich geschlossene Konzeption von Moral hatte,[51] scheint wenig plausibel. Zum einen war die nationalsozialistische Ideologie zu heterogen, zu plakativ, zu sprunghaft und zu widersprüchlich, um daraus einigermaßen stimmige und kohärente Werte und Prinzipien abzuleiten. Aus den einschlägigen Schriften, Kundgebungen, Reden lassen sich lediglich gewisse programmatische Leitlinien ablesen, so zum Beispiel, dass eine »völkische Sicht« von Moral rassisch homogen, deutsch, antijüdisch und antichristlich zu sein habe.[52] In begrifflicher Hinsicht wurde zwar an absolute Werte und unbedingte Imperative appelliert. Doch diese Formeln wurden in den unterschiedlichen organisatorischen Strukturen gemäß den jeweiligen politischen Notwendigkeiten und Interessenlagen interpretiert.

Zum anderen wäre es vom strukturellen Entstehungskontext her irreführend anzunehmen, der Nationalsozialismus habe eine »nationalsozialistische Moral« geschaffen, die dann die normative Grundlage für Staat, Gesellschaft und Weltanschauung bildete und solcherart für die ideologischen Pervertierungen verantwortlich zeichnete. Wie Werner Konitzer überzeugend argumentiert, war der Rassismus des Nationalsozialismus nicht Ergebnis eines neuen moralischen Kanons; vielmehr folgten die neuen »ethischen« Vorgaben dem bereits tief in die Gesellschaft eingesickerten Rassismus und Antisemitismus des NS-Regimes.[53]

Die religiösen Vorstellungen nachgebildete These, Moral sei ein System von Normen, das einer Gesellschaft extern und ab initio gegenübertritt, ist, für sich genommen, wenig überzeugend. Methodisch gesehen, sind philosophische Theorien der Moral und deren Standards des moralisch Richtigen und Falschen das Ergebnis einer Rekonstruktion der allgemeinsten normativen Voraussetzungen und Prinzipien, die moralischen Urteilen und Argumenten zugrunde liegen. Moralische Vorstellungen und Werte sind also bereits in sozialen Praktiken verankert und bestimmen das normative Selbstverständnis einer Gesellschaft. Und deren kritische Hinterfragung und Rechtfertigung ist an ein Nachdenken über normative Standards gebunden, die wir aus guten Gründen für allgemein verbindlich erachten – nämlich wenn diese Standards zustimmungsfähig und vernünftigerweise nicht zurückweisbar sind.

Kennzeichnend für den Nationalsozialismus war, dass sich mit dem aggressiven politischen Umbau der deutschen Gesellschaft auch grundlegende moralische Überzeugungen und Standards verschoben. So bemerkt Hannah Arendt mit Blick auf die Situation vor 1933, die Maxime habe gelautet: »Das Moralische versteht sich von selbst.«[54] Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten kam dieses Vertrauen abhanden. Das NS-Regime bediente sich der gleichen begrifflichen Konzepte und Ressourcen (Werte, Tugenden, Pflichten) wie der herkömmliche Diskurs, doch die ideologische Auslegung von Tugenden und Werten sowie die Erosion gängiger moralischer Standards endete letztlich im Bruch mit grundlegenden Gesetzen der Menschlichkeit.

Nach diesen Bemerkungen können wir uns nun einer Diskussion über den Zusammenhang von Recht und Moral zuwenden. Wie wir gesehen haben, durchzieht die Forderung nach der Aufhebung des Unterschieds von Recht und Moral die Texte der NS-Rechtstheoretiker. Doch unter den Bedingungen einer politisch-weltanschaulichen Umdeutung moralischer Prinzipien durch einen autoritären Staat verkehrt sich die Einheit von Recht und Moral in ein Machtinstrument des Staates.

Die NS-Theoretiker unterschieden nicht klar zwischen Normen der Sozialmoral und der politischen Moral, die sich auf Institutionen richten, und den Normen der Individualmoral, die das eigene Personsein und die Beziehungen zu anderen betreffen. Die von den NS-Juristen befürwortete Synthese von Recht und Gerechtigkeit, Recht und Moral, Recht und Sittlichkeit beschränkte sich demnach nicht auf die Gestaltung der staatlichen Institutionen, sondern berührte auch die persönlichen ethischen Gesinnungen der Einzelperson. Somit legitimierte die geforderte Einheit von Recht und Sittlichkeit den Zugriff des Staates auf die inneren Haltungen der Bürger und erweiterte die Macht des Regimes. Die für liberale Staaten konstitutive Neutralität gegenüber persönlichen Werthaltungen und weltanschaulichen Prinzipien[55] wich den umfassenden normativen Eingriffen des Staates.

Dies kommt einer radikalen Abkehr von Grundprinzipien der Aufklärungsphilosophie gleich. So verankerte Immanuel Kant die Trennung von Recht und Ethik in seiner praktischen Philosophie, um die Grenzen staatlicher Macht und Kontrolle aufzuzeigen. Die Regelung der Beziehungen externer Freiheit ist nach Kant Aufgabe des Staates; doch die Sphäre der inneren Freiheit, also der Bereich der ethischen Haltungen und Gesinnungen, ist der Selbstverpflichtung der Person anheimgestellt. Dem Staat kommt die Autorität zu, die Einhaltung der Gesetze notfalls mit Zwang durchzusetzen. Die persönlichen Gründe, die Individuen bewegen, sich an die Gesetze des Staates zu halten, haben den Staat jedoch, wie Kant klar festlegt, nicht zu interessieren. Natürlich können ethische Gründe für die Gesetzeskonformität einer Person ausschlaggebend sein, doch dies fällt in den Bereich der ethischen Tugendhaftigkeit und somit der inneren Freiheit der Individuen.[56] Der NS-Staat missachtete diese Grenzen und stellte bewusst eine die Gesinnungen der Subjekte berührende normative Forderung: Eine im Sinne der Weltanschauung des NS-Staates handelnde Person befolgt die Rechtsregeln aus innerer Überzeugung und Selbstbindung. Dies machte den Weg frei zur politischen Gesinnungskontrolle.

Die Synthese von Recht und Moral hatte Konsequenzen für die Haltung der Einzelnen gegenüber Führeranordnungen. Da im NS-Staat Führerbefehle Rechtsgeltung hatten, waren diese wegen der Aufhebung zwischen Rechtspflichten und ethischen Pflichten aus einer Einstellung des »Ethos« und der Treue zu befolgen. Eine Haltung der inneren Loyalität dient den Zielen des Führerstaates erheblich mehr als die erzwungene Konformität mit Gesetzen und Normen.

Rechtsphilosophische Überlegungen

Der normative Kontext, in den Morgens Tätigkeit als SS-Richter eingebettet ist, berührt auch die Frage nach der philosophisch angemessenen Theorie des Rechts.

Die beiden klassischen philosophischen Positionen, nämlich Rechtspositivismus und Naturrecht, unterscheiden sich genau in der Bestimmung der Relation von Recht und Moral. Während der Rechtspositivismus die notwendige Trennung der Sphären von Recht und Moral betont, bestehen Vertreter des Naturrechts darauf, dass Recht, das diesen Namen verdient, Grundsätze der Moral und Gerechtigkeit umfasst.

Die Erfahrungen mit dem NS-System zeigen, dass die Kontroverse zwischen diesen beiden Rechtstheorien nicht rein akademisch ist. In seinem im Jahre 1946 publizierten Artikel »Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht« warf Gustav Radbruch dem Rechtspositivismus vor, »den deutschen Juristenstand wehrlos […] gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts« gemacht zu haben. Radbruch argumentiert des Weiteren, dass nicht Macht und faktische Geltung die normative Kraft von Rechtsnormen begründen, sondern nur der dem Recht innewohnende Wert der Gerechtigkeit.[57]

Die Annahme, dass Rechtssysteme, die grundlegende Prinzipien der Moral und Gerechtigkeit verletzen, nicht wirklich Recht verkörpern, bildet bis in die Gegenwart den Kern einer naturrechtlichen Rechtskonzeption.[58] Solche Formen von Recht sind, wie John Finnis in seinem 2011 erschienen Buch Natural Law and Natural Rights argumentiert, »periphere« und »verwässerte Versionen« des Rechts.[59] Doch ein ungerechtes Rechtssystem ist und bleibt de facto Recht und hat Macht über die ihm unterstehenden Personen.[60] Es bestimmt nach wie vor das Handeln der betroffenen Personen durch Androhung von Sanktionen. So betont H. ‌L. ‌A. Hart, die Behauptung, ungerechtes Recht sei kein Recht, wirke ähnlich paradox wie die Behauptung, Verfassungsgesetze seien kein Recht.[61]

Vorrangiges Anliegen des Rechtspositivismus ist es, eine politisch gesteuerte Moralisierung des Rechts zu verhindern. Die Sorge vor einer Unterwanderung des Rechts durch politische und vor allem auch religiöse Interessen motivierte Hans Kelsens Forderung nach einer reinen Rechtslehre, in der rechtsimmanente prozedurale Verfahren die Rechtserzeugung bestimmen und damit Legalität definieren.[62] Die Unparteilichkeit des Rechts ist demnach nur gegeben, wenn dieses über politisch-weltanschaulichen Auseinandersetzungen steht.

Moral ist und bleibt auch für Rechtspositivisten ein Standard, um die Qualität von Rechtsregelungen zu bewerten – allerdings ein externer. Wie Positivisten immer wieder betont haben, vermag die Moral ihre kritische Funktion als Maßstab für intakte Rechtssysteme nur dann zu erfüllen, wenn eine Grenzziehung der beiden normativen Sphären von Recht und Moral gegeben ist. Um überhaupt von einem »schlechten«, also moralisch reformbedürftigen Rechtssystem sprechen zu können, muss die Moral einen außerhalb dieses Systems stehenden Parameter bilden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass moralische Grundsätze, die wir als unverzichtbar für ein die personale Würde von Menschen achtendes Zusammenleben betrachten, nicht Eingang in das Recht finden können und sollen. Allerdings bedarf dies der Übersetzung dieser moralischen Prinzipien in rechtliche Normen und Grundsätze.[63]

Moral spielt, wie Rechtspositivisten betonen, auch in bestimmten Fällen richterlichen Urteilens eine Rolle. Der Rechtspositivismus räumt ein, dass richterliches Urteilen nicht immer einem einfachen Schema der Ableitung eines Urteils aus der Anwendung einer allgemeinen Gesetzesregel auf einen besonderen Fall entspricht. Manchmal sind, wie insbesondere H. ‌L. A. Hart betont, Rechtsregeln unbestimmt und eröffnen eine Grauzone. Solche »schwierigen Rechtsfälle« (hard cases), die durch eine gegebene Rechtsregel nicht unmittelbar entscheidbar sind, bleiben dann dem über das positive Recht hinausgehenden Ermessensspielraum des Richters überantwortet. Und hier werden auch moralische Überlegungen und Urteile des Richters relevant.

An diesem Punkt setzt die Kritik von Ronald Dworkin an, der dem Rechtspositivismus eine Konzeption des »Rechts als Form von Integrität« (law as integrity) gegenüberstellt. Für Dworkin steht nicht die metaphysisch-philosophische Frage »Was ist Recht?« im Vordergrund, sondern die Frage nach einer Rechtsprechung, die grundlegenden Standards der Gerechtigkeit entspricht. Dworkins Bedenken richten sich auf den außerhalb des Rechts liegenden Ermessensbereich, den der Rechtspositivismus dem Richter in schwierigen Fällen zugesteht.[64] Richterliche Entscheidungen können nach Dworkin nicht dem subjektiven Deliberieren des Richters in einem gleichsam außerrechtlichen Bereich überlassen bleiben. Grundlegende moralische Prinzipien sind deshalb Teil des Rechts.[65]

Dworkins These ist, dass es auch in schwierigen Fällen, wo Rechtsregeln keine eindeutige Antwort mehr liefern, eine im Sinne der Gerechtigkeit richtige Entscheidung gibt, die zu finden Aufgabe des Richters ist. In diesem Prozess der Rechtsfindung müsse der Richter, so Dworkin, von Prinzipien geleitet sein, die neben die Regeln des Rechts treten, dabei aber selbst Teil des Rechts sind. Diese Prinzipien sind laut Dworkin Grundsätze der Moral, vor allem auch der politischen Moral. Als Beispiele nennt Dworkin, dass niemand von einem Unrecht, das er anderen zufügt, profitieren dürfe, und das Prinzip der moralischen Sorgsamkeit bei Verträgen (Verbot »sittenwidriger« Verträge). Ein in Dworkins Theorie des Rechts maßgeblicher Grundsatz der politischen Moral ist das Prinzip gleicher Achtung und Rücksichtnahme (equal concern and respect). Dworkin setzt voraus, dass es moralische Wahrheiten gibt und dass Moral und Gerechtigkeit uns immer klare Antworten geben.[66]

Ein Richter, der nach den angeführten moralischen Prinzipien urteilt, erfüllt die Standards von Dworkins idealer Konzeption der Rechtsintegrität. Richter sollen in ihren Entscheidungen die bestmögliche moralische Rechtfertigung des positiven Rechts, also der gegebenen Regeln, Präzedenzfälle und Rechtsgrundsätze, entwickeln.

Dworkin veranschaulicht seine Rechtskonzeption am Beispiel eines idealtypischen Richters, den er »Herkules« nennt. »Herkules« ist unparteilich, er verfügt über umfassende juridische Kenntnisse und die Fähigkeit, die grundlegenden politisch-moralischen Prinzipien, auf denen die Verfassung beruht, zu erkennen und diese in seinen Entscheidungen konstruktiv umzusetzen. »Herkules« ist als Richter in einen demokratischen Verfassungsrahmen mit einem fest verankerten Grundsatz der gleichen Achtung und Rücksichtnahme eingebunden.

Doch was gilt unter Bedingungen wie im NS-Staat? Dworkin gesteht zu, dass die Forderung an den Richter, eine bestmögliche moralische Interpretation und Rechtfertigung der bestehenden Rechtsregeln zu leisten, im NS-System sinnlos würde. Das Rechtssystem sei dafür zu pervertiert. Unter den Bedingungen des NS-Staates müsse sich ein idealtypischer Richter – Dworkin nennt ihn »Siegfried« – nicht länger am Recht, sondern direkt an der Moral orientieren, um in seinen Urteilen Gerechtigkeit und Fairness zu verwirklichen.

Aber verkennt dies nicht die institutionelle Einbettung der richterlichen Tätigkeit in einen administrativen und hierarchisch geregelten Kontext? Dworkins Rechtskonzeption ist auf das isolierte Deliberieren des einzelnen Richters zugeschnitten. »Herkules« verfügt über die rationale Einsicht in moralische Wahrheiten – und dies gilt auch für den unter den Bedingungen des NS