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Mit diesem Buch erzähle ich Euch die Geschichte meiner herzkranken behinderten Tochter aus meiner mütterlichen Sicht. Viele Hürden hat sie genommen und trotz oder vielleicht auch gerade wegen ihrer schweren Herzerkrankung verkörpert sie, wie die meisten Menschen mit Down-Syndrom, die Liebe und die pure Lebensfreude. Wenn wir "Normalos" es wagen, unseren Blick auf das zu richten, was wirklich wichtig ist, können wir jeden Tag unsagbar viel für uns von behinderten Menschen lernen. Im Gegenzug dürfen wir ihnen die Unterstützung geben, die nötig ist, damit sie ihr eigenes Leben so leben und genießen können, wie sie es brauchen und können. Leben und Liebe ist das, was Du daraus machst, egal, welche Hürden es dabei gibt, weil Liebe keine Fehler kennt...
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Seitenzahl: 343
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Autorin:
Ulrike Solo lebt im Münsterland, nahe der holländischen Grenze. Anfang 2014 gab sie ihren ursprünglichen Beruf als Arzthelferin auf, um neue Wege zu gehen. Neben ihrer Selbstständigkeit als schamanisch-systemische Lebensberaterin und Selbstfindungscoach arbeitet sie heute auch voller Freude als Schulbegleiterin an der Seite von behinderten Kindern. Im August 2014 hat sie ihr erstes Buch „Weil Liebe keine Fehler kennt“ veröffentlicht, wodurch ihre Kreativität als Autorin geweckt wurde. In all ihren Büchern lässt sie die Menschen teilhaben an ihren privaten und beruflichen Lebenserfahrungen. Ihre größte Gabe ist es, jegliche Emotionen und ihre eigene Sicht auf die Welt auf verschiedenen wundervollen Wegen anderen Menschen nahe zu bringen, ohne sich jemals aufzudrängen. Mit der Lebensgeschichte ihrer Tochter möchte Ulrike der Gesellschaft einen Blick auf das Anders-sein ermöglichen, der keine Bewertung kennt, sondern im Herzen spüren lässt, dass alle Menschen gleichwertig und einzigartig sind.
Mehr über Ulrike Solo findest Du hier:
Webseite: www.seelenumarmungen.de
Inhalt:
Mit diesem Buch erzähle ich Euch die Geschichte meiner herzkranken behinderten Tochter aus meiner mütterlichen Sicht. Viele Hürden hat sie genommen und trotz oder vielleicht auch gerade wegen ihrer schweren Herzerkrankung verkörpert sie, wie die meisten Kinder mit Down-Syndrom, die Liebe und die pure Lebensfreude. Wenn wir „Normalos" es wagen, unseren Blick auf das zu richten, was wirklich ist, können wir jeden Tag unsagbar viel für uns von behinderten Menschen lernen. Im Gegenzug dürfen wir ihnen die Unterstützung geben, die nötig ist, damit sie ihr eigenes Leben so leben und genießen können, wie sie es brauchen und können. Leben und Liebe ist das, was Du daraus machst, egal, welche Hürden es dabei gibt, weil Liebe keine Fehler kennt...
Während ich an diesem Buch schrieb, habe ich auf Facebook eine Seite eingerichtet unter dem Namen des Buchtitels. So hatten dort alle die Möglichkeit, mit ihren persönlichen Fragen und Gedanken aktiv bei der Entstehung dabei zu sein. Wer Interesse hat, ist dort liebend gern in unserer Gemeinschaft willkommen, wo Ihr auch unser Leben in persönlichen Bildern verfolgen könnt.
Gestern habe ich einen Bericht im TV gesehen, in dem Familien gezeigt wurden, die sich für ihr Down-Syndrom-Kind entschieden haben. Und da waren sie alle wieder, all die Bilder, die Gedanken und all die Emotionen von damals, der letzten Jahre. Ich reiste innerlich zurück zu dem Moment, als wir uns das erste Mal begegneten und möchte Dir nun meine Geschichte mit Dir erzählen:
Es war der 02.02.2002, als Dein Vater aus einem Spaß heraus lachend zu mir sagte: „Jetzt bist Du schwanger“. Ich schwieg und lächelte in mich hinein, streichelte gedanklich über meinen Bauch und sagte Dir ohne Stimme: „Hallo Levi, schön, dass Du endlich da bist!“
In diesem Moment trug ich Dich in meinem Leib. In diesem Moment tratst Du aus dem Schatten in mein Leben. Ich hatte Dich schon zuvor gesehen, auch wenn ich es damals noch nicht begreifen konnte. So saß ich doch vier Wochen vorher im Auto Deines Vaters und konnte ihm keine vernünftige Erklärung dafür geben, warum ich JETZT die Pille absetzten wollte und nicht noch einen Tag länger darauf warten konnte. Unter Tränen suchte ich nach Begründungen, warum ich dieses kleine Ding einfach nicht mehr einnehmen konnte, warum mir ein gemeinsamer Urlaub egal sei, warum DU jetzt schon mehr Priorität hattest, als alles andere auf der Welt.
Heute weiß ich, in diesem Moment sind wir uns das erste Mal begegnet. Ich hörte Dein Rufen, denn in diesem Moment entsprang Deine Seele ein Stück weit der meinen. Und an diesem 02.02.2002 warst Du dann wirklich da, in mir, in meinem Mutterleib und ich durfte emotional dabei sein, wie Du in Dein Leben kamst.
Die ersten zwei Wochen vergingen, und wenn mein Blutzuckerspiegel morgens etwas abfiel und mir etwas schwindelig wurde, fragten mich alle, was denn los sei. Ich antwortete: „Ich bin schwanger, es wird ein Mädchen, und sie wird Lea Viktoria heißen. Kurz, meine Levi kommt.“ Zwei Wochen lang wurde ich belächelt und hörte nur: „Als wenn das sofort klappt nach so vielen Jahren der Verhütung. Du hast wohl einfach nur zu wenig gefrühstückt.“ Doch wir beide, Du und ich, wussten es und konnten es allen nach zwei Wochen anhand des Tests auch beweisen. Und so machten wir zwei uns auf eine wunderschöne gemeinsame Reise in meine Schwangerschaft mit Dir und Deinen Weg ins Leben.
Nie zuvor war ich so glücklich. Nie zuvor fühlte ich mich so eins mit mir. Nie zuvor fühlte ich mich so wunderbar weiblich und nie zuvor hatte ich solch eine tiefe Liebe gespürt. Wir zwei hatten das Glück, dass uns die Phasen mit Übelkeit, Stimmungsschwankungen und all das erspart blieb. Der Arzt fragte mich, welche Kontrolluntersuchungen ich mir zum normalen Umfang wünsche und ich sagte: „Sagen Sie mir, was wirklich NÖTIG ist. Ich bin schwanger und nicht krank. Ich bringe keinerlei Risiken mit und werde mir kurz vor meinem 30.Geburtstag selbst das wunderschönste Geschenk machen, welches es auf Erden geben kann. Welche Untersuchungen sind neben dem Standard wirklich nötig?“
Er antwortete: “Rein medizinisch betrachtet in Ihrem Falle keine. Sie haben die Möglichkeit, Ihr Kind auf ein evtl. Down-Syndrom untersuchen zu lassen. Bei jeder 100.Schwangerschaft kann es zu solch einer Behinderungen kommen.“ Ich antwortete: „Aus welchem Grund sollte mein Kind krank sein?“, lächelte und streichelte über meinen Bauch. So buchten wir lediglich bei jedem Arztbesuch Deinen Fototermin, da ich gar nicht genug Ultraschallbilder von Dir bekommen konnte.
Im 6.Monat warst Du dann endlich bereit, Dich auf den Fotos so zu zeigen, dass nun alle sehen konnten, dass Du wirklich eine Lea Viktoria bist, meine Levi halt. Dein Vater konnte es kaum fassen. Sollte es wirklich möglich sein? Ein Mädchen? Wo doch in den letzten drei oder sogar vier Generationen in seiner Familie nur Jungs geboren wurden? Sollte er es geschafft haben, endlich das langersehnte Mädchen zu zeugen? Er und seine Familie konnten das Glück kaum fassen. Deine Monate in meinem Bauch waren wunderbar und wir erlebten eine gemeinsame Zeit voller Lachen, Freude, Leichtigkeit und schienen vor innerer positiver Kraft schier zu explodieren.
Schließlich kam mein letzter Arbeitstag, bevor wir beide gemeinsam in den Mutterschutz starteten. Da Du bei der letzten Untersuchung beim Arzt sehr klein warst und er sicher gehen wollte, dass es Dir wirklich gut geht, fuhren wir am ersten Tag unserer arbeitsfreien Zeit zu einer Doppleruntersuchung ins Krankenhaus. Dies ist eine farbige Ultraschalluntersuchung des Bauches. Deine Oma begleitete mich und war total aufgeregt, durfte sie Dich doch gleich quasi im Fernsehen das erste Mal live und in Farbe erleben.
Wir schauten staunend und mit Tränen der Freude in den Augen auf den Bildschirm, lange Zeit, sehr lange Zeit, zu lange, wie mir mein Gespür sehr schnell sagte.
In meinen Kopf überschlugen sich die Bilder und eine tiefe nie zuvor gespürte Angst machte sich breit. Da ich beruflich jahrelang bereits als Arzthelferin beim Kardiologen arbeitete, konnte ich es erkennen. Dein Herz, Dein kleines Herz, es arbeitete nicht so, wie es sein sollte. Die Herzwand fehlte zum Teil, sauerstoffarmes Blut war dort, wo es nicht sein sollte und in mir machte sich ein emotionales Chaos breit, welches ich in Farbe auf dem Bildschirm sah. Ich registrierte den besorgten und ernsten Blick des Arztes und Deine Oma strahlte noch immer darüber, dass sie Dich sehen konnte. Nach einer gefühlten Ewigkeit brachte ich die Frage über meine Lippen: „Herr Doktor, was ist hier los?“ Er sprach ruhig und mit besorgter Miene: „Das Herz Ihres Kindes ist krank, stark deformiert und es arbeitet nicht so, wie es sein sollte...“
Die Welt schien still zu stehen und obwohl ich auf der Untersuchungsliege lag, schien ich einfach ins Bodenlose zu fallen, und es gab kein Ende in diesem Sturz. So viele Fragen und Ängste waren in meinem Kopf: „Wie sollst Du leben, wenn Dein Herz, Dein Lebensmotor so defekt ist? Warum geschieht das? Was hatte ich übersehen oder vergessen? Hätte ich es verhindern können? Wie kann ich Dir helfen? Bitte Gott, lass nicht zu, dass mein Kind nicht leben kann. Sie ist so klein, unschuldig, rein in ihrem Wesen...“, und immer wieder die Frage nach dem WARUM.
Der Arzt sagte, dass er versuchen wolle, den Kinderkardiologen hinzu zu holen, um eine fachkundige Einschätzung der Situation geben zu können. Ich musste mit Deiner Oma eine halbe Stunde warten. Sie sagte zu mir: „Das ist bestimmt alles gar nicht so schlimm. Warte erst einmal ab. Wird schon alles gut sein. Und ansonsten wird man Lea halt operieren und dann ist alles wieder gut.“
Ich weiß, dass sie mich aufbauen wollte, es gut meinte und selbst in diesem Moment total hilflos und überfordert war. Doch ich wusste und spürte, dass die Realität eine andere war. Der Kardiologe war leider an diesem Tag nicht mehr erreichbar und so erklärte der untersuchende Arzt mir nach einer weiteren Ultraschalluntersuchung, dass Du ein großes Loch im Herzen hast. Die Hauptwege von Deinem Herzen wären verengt und der Bluttransport so nicht gewährleistet.
Ich hörte all seine Erklärungen und doch hörte ich nichts, außer, die Angst um Dich in mir. Ich hörte ihn sprechen: „Kinder, welche ein Loch im Herzen haben, haben in 65% der Fälle auch ein Down-Syndrom.“ Ich schaute ihn an und verstand nicht und fragte: “Bitte?“ „Das ist ein Chromosomenschaden, Trisomie 21, früher sagte man auch Mongolismus“, antwortete er und ich spürte auch seine Betroffenheit. „Sie haben nur noch vier Wochen Zeit bis zu Ihrem Geburtstermin. Wenn wir das eher gewusst und gesehen hätten, hätten Sie noch etwas tun können. Sie hätten sich entscheiden können.“
Wie in Trance bekam ich einen weiteren Termin zur Untersuchung, bei dem dann auch der Kardiologe anwesend sein sollte, um mich weiter aufzuklären, über das, was auf mich, auf uns zukommen würde. Während ich das Auto nach Hause fuhr, hörte ich Deine Oma reden: „Wie kann ein Arzt Dir so etwas sagen? Wie kann man so kalt und herzlos sein? Wie kann er Dir einfach sagen, dass Lea herzkrank ist? Woher will er das wissen? Wieso hat er sich nicht netter ausgedrückt? Das wird schon alles nicht so schlimm sein...“
Doch was hätte er tun sollen, mich anlügen? Mir das, was die Wahrheit ist, verschweigen? Es war für mich genau richtig es ehrlich und direkt zu sagen, denn es war Realität. Kein Wegschweigen oder Verschönern hätte daran etwas ändern können. Doch ich verstand die Hilflosigkeit Deiner Oma, auch wenn sie mir in diesem Falle nicht geholfen hat. In mir war Angst, nicht nur um Dein Herz, sondern auch um die Aufgabe, welche mit all diesen neuen Fakten auf mich zukommen würden. Was ist, wenn ich dem nicht gewachsen bin? Ist mein Leben jetzt vorbei? Wie verläuft Dein Leben, wenn Deine Behinderung so stark ausgeprägt ist, dass Dir ein eigenständiges Leben verwehrt bleibt? Ist mein Leben ab jetzt dazu bestimmt, Dich auf ewig zu pflegen? Wirst Du niemals eine eigene Wohnung haben oder eine Partnerschaft führen? Du wirst selbst niemals eine Mama werden. Wie wird Dein Vater damit umgehen? Wird er bei uns bleiben oder uns verlassen? Werden Dein Vater und ich uns dabei als Paar verlieren?
Manche Menschen sind evtl. erschrocken über diese Fragen und Gedanken in meinem Kopf, aber ich schreibe sie bewusst auf, da sie nun mal in diesen ersten Momenten da waren. Als ich abends mit Deinem Vater zusammen im Wohnzimmer saß und wir über alles redeten, sagte er: „Für eine Abtreibung ist es nun zu spät. Willst Du das Kind behalten oder sollen wir es zur Adoption frei geben?“
Ich weiß, dass viele entsetzt reagieren, wenn sie diese Fragen von ihm hier lesen, und doch war ICH damals nicht verletzt darüber. Für mich war es eine Frage aus einem ehrlichen Herzen heraus, auch wenn andere das wohl nie verstehen werden.
Ich schaute ihn an und sagte: „Ich habe unser Kind schon sehen und spüren können, bevor sie überhaupt in mir war. Ich spüre ihr heranwachsendes Leben von der ersten Sekunde an und sie ist ein Teil von mir, von meinem Herzen, von meiner Seele. Ich habe Angst vor dem was kommt, eine verdammt große Angst sogar und ich frage mich, ob ich dem gewachsen bin, weil ich auch weiß, dass ein schwer krankes Herz bedeuten kann, dass wir sie verlieren werden. Ich weiß selbst aus meinem eigenen Leben, wie es ist, nicht wirklich gewollt zu sein, abgegeben zu werden, in einer Familie aufzuwachsen, in die man eigentlich nicht gehört. Dieses Kind, unsere Tochter gehört zu mir und ich bin Dir nicht böse und auch nicht entsetzt über Deine Frage. Das ist o.k., ich verstehe Dich. Du kannst Dich entscheiden, was Du möchtest für Dein Leben. Wenn Du mit mir zusammen sein willst, dann kannst Du mich nur mit diesem Kind in Deinem Leben haben. Wenn Du das nicht kannst, wenn Du glaubst, dass Du die Verantwortung für Lea nicht tragen kannst, dann kannst Du gehen, aber dann kann ich nicht mehr in Deinem Leben sein. Denn mich gibt es nur noch zusammen mit Lea, niemals alleine, denn wir gehören zusammen.“
Ein langes Schweigen folgte, bis er schließlich sagte: „O.k., dann behalten wir sie.“ Vielleicht war das der Moment, indem ich innerlich spürte, dass es eine Frage der Zeit war, bis er gehen würde oder bis ich ihn verlassen würde. Doch zu dieser Zeit war ich nicht bereit, diese Realität anzunehmen, noch nicht...
In der kommenden Nacht habe ich noch ewig wach gelegen, während Du ganz ruhig warst. Während in meinem Kopf weiter das Chaos herrschte, streichelte ich über meinen Bauch und somit Dich: „Gott, wenn Du da bist, wenn Du mich hören kannst, warum passiert das? Warum tust Du das? Habe ich mich nicht schon genug in meinem Leben beweisen müssen? Ist dies die Strafe dafür, dass ich mit Anfang 20 einmal zu einer Freundin sagte, dass ich ein behindertes Kind nicht austragen würde? Was habe ich nur falsch gemacht? Ich habe schon vor Jahren das Rauchen aufgegeben, trinke so gut wie nie Alkohol, achte so sehr auf Lea und mich. Warum kommst Du meinem innigsten Wunsch nach einem eigenen Kind nach, um es mir womöglich direkt wieder zu nehmen?“ Ich war damals noch nicht im Ansatz in der emotionalen Verfassung, um Dich voll und ganz als Geschenk zu begreifen und doch liebte ich Dich von der ersten Sekunde an mehr, als alles andere bisher auf der Welt.
Ich weinte lautlos die halbe Nacht und irgendwann kam ER mir in den Sinn. Wie viele Jahre war es her, 10 oder gar 12? Ich war damals auf einer Sprachreise in England, damit ich endlich in der Schule bessere Noten ablieferte. Die Familie verstand kein Wort Deutsch, wie ich aus Briefwechseln zuvor erfahren hatte. Dann stand er vor mir, mit seiner Mutter an der Hand und holte mich vom Bus ab. Als ich ihn sah, war ich sofort verliebt. Ich kann es heute nicht mehr anders beschreiben, aber ohne auch nur eine einzige Sekunde darüber nachzudenken, SAH ich ihn einfach. Lester war damals ca. acht Jahre alt und ein absolut charmanter Junge mit Down-Syndrom. Jeder seiner Blicke und Worte gingen direkt in mein Herz. Morgens hatte ich innerhalb der kommenden drei Wochen Englischkurs, und wenn wir nicht gerade Pflichtprogramm vom Reiseveranstalter hatten, verbrachte ich jede freie Sekunde meiner Zeit mit Lester und seiner Familie. Wie habe ich sein Lachen und seine Faszination für Zauberei geliebt. Er war so geduldig mit mir, wenn ich manchmal sein englisch nicht verstand und lachte sich kaputt, wenn ich etwas falsch aussprach. Ich habe diese drei Wochen mit ihm und seiner Familie so sehr genossen und ganz nebenbei bemerkt, dass ich auch auf Englisch eine Quaktasche sein kann, grins. Nach drei Wochen sollte es wieder nach Hause gehen. Er fuhr mich mit seiner Mutter zum Bus. Beim Abschied gab er mir ein Geschenk und sagte, dass er traurig sei, dass ich wieder Heim müsse und das er mich tierisch vermissen werde. Er umarmte mich und beide weinten wir. Er schenkte mir einen kleinen Teddy, der für den einen oder anderen vielleicht gar nicht so toll gewesen wäre, doch für mich war dieser Teddy alles. Es war, als würde ich einen Teil von Lester von nun an immer bei mir haben. Diese tiefe Liebe, diese Ehrlichkeit, diese Einfachheit, diese unbändige Lebensfreude, alles war darin. Ich weiß heute noch, dass ich auf der gesamten Heimfahrt mit dem Bus und der Fähre geweint habe.
Und in dieser Nacht weinte ich wieder. Wie konnte ich nur denken, dass ich bestraft werde? Die Erinnerungen und die Zeit mit Lester waren genau das Gegenteil, es war pures Glück. Ich stand auf und kramte in dem Schrank, in dem ich alle alten Stofftiere aus meiner Kindheit aufbewahrte und da war er. So viel Spielzeug hatte ich an ein Kinderheim verschenkt, wo ich selbst einige Monate gelebt hatte, doch niemals diesen Teddy. Ich nahm ihn in den Arm und sagte: „Ich danke Dir Lester. Damals hatte ich eine Ahnung, doch heute WEIß ich. Ich liebe Dich und ich werde alles tun, was nötig ist, damit meine Lea ein Leben bekommt, wie es für sie gut und richtig ist. Ich habe schreckliche Angst, aber das ist o.k. Ich darf Angst haben. Ich darf hineinwachsen, Stück für Stück. Lieber gebe ich mein eigenes Leben, als aufzugeben. Das habe ich noch nie getan, egal, was war. Ich habe so unglaublich viele Dinge erlebt, überstanden und selbst erschaffen. Das war nicht umsonst. Ich habe gelernt zu kämpfen und durch Dich Lea, spüre ich eine Liebe, wie ich sie noch nie erlebt habe. Bitte sei geduldig mit mir, wenn ich zwischendurch Phasen habe, wo ich mich schwach oder überfordert fühle, schuldig und hilflos. Auch wenn ich es heute noch nicht verstehen kann, das WARUM, eines Tages werde ich es. Deine Behinderung, Dein Down-Syndrom ist eine Kleinigkeit. Das wuppen wir mit links. Aber zuerst kümmern wir uns um Dein Herz.“
Und so ging ich entschlossen und mit dem Teddy im Arm wieder ins Bett und schlief endlich für einige Stunden ein.
Am nächsten Tag fuhr ich mittags zu meinem Chef und sprach mit ihm über Dich. Ich brauchte seinen Rat und sein Zuhören als Arzt, Kardiologe und als Mensch, dessen Bruder das Down-Syndrom hat. Als ich mit dem Auto wieder nach Hause fuhr, lief ein junges Mädchen trotz hohem Verkehrsaufkommen einfach über die Straße. Sie war nach meinen Einschätzungen vielleicht 15 oder 16 Jahre alt und hielt eine Bierflasche in der einen Hand und in der anderen Hand eine Zigarette. Und sie war schwanger, wie an ihrem Bauch nicht zu übersehen war. Als ich das sah, hätte ich am liebsten angehalten und sie angeschrien: „Was tust Du da? Warum tust Du Dir und Deinem Kind das an? Warum achtest Du nicht besser auf Dich und auf das kommende Leben in Dir?“ Entsetzt, aufgewühlt und vor allen Dingen wütend fuhr nach Hause, fluchte dort vor mich hin, klagte Gott an und wusste doch mit einem anderen stillen Teil in mir, dass es vielleicht auch in anderer Situation irgendwie normal für manche Menschen ist, sich über solche Gefahren weniger Gedanken macht.
In den Folgetagen sprach ich mit vielen Menschen über Dich und das, was wohl auf uns zukommen wird. Auch hörte ich Sätze wie: „Warum hast Du Dich in der Schwangerschaft nicht richtig untersuchen lassen? Du hättest das Kind wegmachen können. Es gibt heute doch so viele Möglichkeiten, um so etwas nicht erleben zu müssen...“
Sicher werden jetzt viele beim Lesen nach Luft schnappen und entsetzt sein. Ich war es damals auch und zudem zutiefst verletzt. Warum sahen diese Menschen nicht, dass sie mir eine Schuld zusprachen, für die es gar keine Schuld gibt? Warum glaubten die Menschen, dass dies alles nicht in unsere Welt gehört? Ich antwortete ab und an auf diese Aussagen: „Glaubst Du wirklich, dass ich sie hätte wegmachen können? Ich habe sie schon gespürt, bevor sie in mir war. Ihre Liebe, einfach alles, ist schon viel länger bei mir, als man es sehen kann. Niemals könnte ich diesen Teil von mir weglöschen, egal was kommt.“
Doch meistens blieb ich in solchen Momenten stumm, weil etwas in mir das Gefühl hatte, dass es dabei etwas gab, was diese Menschen nicht oder noch nicht nachempfinden und sehen konnten. Schon damals wie heute finde ich es wichtig und richtig, dass betroffene Eltern ihre eigene Entscheidung treffen dürfen und zwar OHNE anschließende Verurteilung durch die Außenwelt. Es gibt Lebensumstände und Entscheidungen anderer, die wir als Beobachter sicher nicht immer verstehen und nachvollziehen können, doch wir haben eben auch nicht deren Leben, sondern das unsrige. Ich habe in meinem Leben stets alles akzeptiert und toleriert, was andere für sich selbst entschieden haben.
Obwohl ich in den ersten Schwangerschaftsmonaten so sehr auf meine Ernährung geachtet hatte, erlaubte ich mir ab sofort nur noch das zu essen, was ich emotional brauchte und das bedeutete, gaaaanz viel Schokolade. Weißt Du noch Levi, wie der Gynäkologe mich im 6. Monat besorgt anschaute und sagte: „Sie haben erst 200g Gewicht zugenommen. Essen Sie zu wenig? Muss ich mir Sorgen machen?“ Und ich antwortete damals lachend: „Nein Herr Doktor, mir geht es super und das mit dem Gewicht ist doch klasse. Ich esse genug und gesund und warten Sie mal ab. Zum Ende der Schwangerschaft sieht das Ganze bestimmt anders aus.“
Wie Recht ich damit hatte, denn in den letzten vier Wochen vor Deiner Geburt legte ich pro Woche zwischen 1,5-2kg zu. Wieder sagte mein Gynäkologe besorgt: „Sie nehmen sehr viel an Gewicht zu. Passen Sie auf, dass das nicht problematisch wird.“ Ich sah ihn an und sprach: „Ich verstehe Ihre Einschätzung, aber wissen Sie, mir geht es zurzeit NUR darum, dass ich emotional auf der Höhe bleibe, dass ich aufgrund all meiner Ängste nicht zusammenbreche und dass ich die Kraft habe, all das zu tragen. Ich werde mir jetzt nicht auch noch den Druck machen, mir das zu verbieten, was meiner Seele guttut und mir hilft. Mein Gewicht ist ein Thema, um das ich mich kümmere, wenn es dran ist und jetzt habe ich andere Prioritäten.“, und er verstand.
Zehn Tage nach der Erstdiagnose hatte ich mit Deinem Vater wieder einen Termin zur Doppleruntersuchung im Krankenhaus, eben diesem Ultraschall, wo man Dich in Farbe und super genau erkennen konnte. Der Kinderkardiologe war an diesem Tag auch da. Er war wunderbar, ehrlich, herzlich und nahm sich wirklich Zeit für uns. Er erklärte: „Ihre Tochter hat ein großes Loch in der Herzscheidewand, die Wand, welche rechte und linke Herzseite voneinander trennt. Dadurch fließt sauerstoffreiches und sauerstoffarmes Blut nicht nur da, wo es jeweils hingehört, sondern ziemlich durcheinander. Die linke Herzhälfte Ihrer Tochter sieht kleiner aus, als die rechte, soweit ich das durch Ihre Bauchdecke und durch die Bewegungen des Kindes beurteilen kann. Das kann unter bestimmten Umständen schwierig sein für Ihr Kind. Doch als hätte Ihre Tochter nicht schon genug in die Scheiße gepackt (er hat es genauso ausgedrückt und ich war dankbar für das väterliche Mitgefühl, welches ich darin spüren konnte), hat sie wahrscheinlich auch noch die wichtigen großen Blutgefäße am Herzen verengt, wodurch eine Sauerstoffversorgung Ihres Kindes ebenfalls gefährdet wäre.“
Er erklärte uns, dass man eigentlich erst wirklich sagen könne, was genau an Deinem Herzen kaputt ist, wenn Du auf der Welt bist. Er zeichnete uns verschiedene mögliche Varianten Deines Herzens auf Papier und erklärte uns auch, was im schlimmsten Fall passieren und an Deinem Herzen defekt sein könnte, wovon er aber erst einmal nicht ausgehe. Er wollte uns Mut machen, uns Kraft schenken und konnte doch in diesem Moment nicht ahnen, dass all das gegeben war, was medizinisch an Risiko möglich war.
Er erklärte weiter: „Sie werden hier bei uns im Krankenhaus entbinden und wir werden Sie auf keinen Fall zum Schutz Ihres Kindes über den errechneten Geburtstermin hinaus gehen lassen. Während der Geburt werde ich mit meinen Kollegen, Kinderkardiologen, Anästhesisten und Pflegepersonal bereitstehen, und wir werden uns sofort um Ihre Tochter kümmern, mit allem, was sie dann braucht. Sie werden Ihre Lea also nicht zuerst im Arm halten dürfen. Es kann passieren, dass Lea nach der Geburt mit einem Hubschrauber in die Herzklinik nach Sankt Augustin bei Bonn geflogen werden muß, falls eine Situation entsteht, die wir trotz Können, Ausstattung und Erfahrung hier nicht leisten können. Wir haben viel Erfahrung in diesem Bereich und arbeiten stets eng mit dem Herzzentrum dort zusammen. Wir werden alles tun, damit es Ihrem Kind gut geht und Lea das bekommt, was sie für ihren Start in ihr Leben braucht. Ich muss Ihnen aber auch sagen, dass es sein kann, dass Ihre Tochter direkt oder wenig später nach der Geburt verstirbt. Jetzt geht es ihr super, geschützt und gut versorgt im Bauch bei ihrer Mama. Doch wenn sie auf die Welt kommt, sehen wir erst, ob sie selbst atmen kann, ob das Herz seine Aufgabe schafft. Erst dann wissen wir wirklich, was medizinisch gegeben ist. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass Ihre Tochter leben wird, aber sie kann eben auch nicht im Bauch bei Ihnen bleiben…“
Ich sah ihn unter Tränen an und sagte: „Ich weiß, und ich bin unendlich dankbar für Ihre Offenheit und Ehrlichkeit. Lea wird es allein entscheiden. Es ist ihr Leben und sie wird leben, wenn sie es KANN und WILL. Ist es möglich, dass Lea auf normalem Wege zur Welt kommt, also ohne Kaiserschnitt, sofern es ihr dabei gut geht? Ich kann es Ihnen nicht erklären, aber ich spüre einfach, dass dies wichtig ist für Lea und für mich. Sie wird es uns zeigen, wenn sie es doch so nicht schaffen sollte. Dann tun Sie das, was für Lea nötig ist.“
Er antwortete sichtlich gerührt: „Ich bin beeindruckt und es ist wunderbar, dass Sie danach fragen, denn in meinen Augen ist es der bessere Weg, Ihr Kind ins Leben zu holen. Sobald wir sehen, dass sie es doch nicht schafft, helfen wir ihr dabei. Wie gehen Sie damit um, dass Ihre Tochter evtl. auch eine Behinderung hat?“ Ich lächelte unter Tränen: „Wissen Sie, das Down-Syndrom ist NICHTS. Was bedeutet das schon? Evtl. wird Lea für manche Dinge länger brauchen, um zu lernen. Manches wird sie evtl. nie können, aber das überlasse ich auch ihr. Sie allein wird entscheiden, was geht und was nicht geht. Sie hat alle Zeit der Welt. Das Herz ist wichtig. Ihr Motor muss laufen können. Darum kümmern wir uns gemeinsam. Alles andere regelt sich von selbst.“ Wir verabschiedeten uns für diesen Tag und in der Luft spürte ich stille Anteilnahme, Vertrauen zueinander und die Bereitschaft, die kommenden nächsten Schritte gemeinsam zu gehen.
In den nächsten Tagen redeten viele Menschen auf mich ein, ich müsse direkt in der Herzklinik entbinden, ich würde uns in Gefahr bringen und Dir evtl. einen Hubschraubertransport zumuten, nur, weil ich mich für das falsche Krankenhaus entscheide. Ich habe stets diese Worte gehört und doch spürte ich immer, dass meine Entscheidung für Dich und mich die richtige war. Ich vertraute diesem Kardiologen und es war für mich richtig, Deine ersten Sekunden hier auf Erden in seine Hände zu legen. Dein Vater überließ mir diese Entscheidung, wie die meisten kommenden, vielleicht aus Angst, das Falsche zu tun und sicher aus einem tiefen Gefühl der Hilflosigkeit und Überforderung heraus. Ich glaube heute, er war sehr dankbar, dass ich den Mut hatte zu sagen, was wir wann tun und was für Dich das Beste wäre.
Am 15.10.2002 war wieder Untersuchungstag im Krankenhaus, zu dem ich dieses Mal allein mit Dir fuhr. Wieder wurde ich von dem behandelnden Arzt wunderbar versorgt, umsorgt und wieder nahm er sich für uns zwei die Zeit, die wir brauchten. Bis zum errechneten Geburtstermin waren es noch zehn Tage und nachdem alle Untersuchungen für diesen Tag abgeschlossen waren, sagte er zu mir: „Das war heute unser letzter Termin zur Doppleruntersuchung. Spätestens an Ihrem errechneten Geburtstermin sehen wir uns wieder. Wenn in der Zwischenzeit irgendetwas sein sollte, was Sie beunruhigt, wenn es Ihnen nicht gut gehen sollte, melden Sie sich bitte vorher.“ Ich dankte ihm für alles und machte mich mit Dir mit dem Auto wieder auf den Heimweg.
Während der Autofahrt redete ich mit Dir: „Hast Du gehört Levi? Alles ist gut unter den Umständen. Ich bin bereit für Dich, für unser Leben mit Dir. Ich weiß, dass Du Dich von Dir aus auf den Weg machen wirst und bitte hab keine Angst vor der Geburt mein Schatz. Ich bin hier, bei Dir und werde es immer sein. Wir schaffen das. Wir schaffen ALLES gemeinsam. Ich warte auf Dich und weiß, dass Du bald da sein wirst.“ Innerlich spürte ich, dass Du meine Worte gehört hattest und Deinen kleinen Daumen zustimmend nach oben gerichtet hattest. Vom Krankenhaus aus fuhr ich nochmals beim Gynäkologen vorbei und er bestätigte mir, wie schon der Arzt zuvor, dass mein Muttermund noch verschlossen sei und riet mir gemeinsam mit seinen Mitarbeiterinnen, die nächsten Tage nochmals ausgiebig zu schlafen und quasi die Ruhe vor dem Sturm zu genießen.
Am Nachmittag habe ich mit Deinem Vater noch seine Mutter, Deine Oma besucht und wie die meisten Schwangeren im Endstadium war ich auch dort Dauergast auf dem WC. Kurz vor der Heimfahrt sagte ich lächelnd: „Ich habe gerade auf dem WC etwas Schleim verloren. Lea macht sich auf dem Weg.“ „Ach, das muss nichts heißen, das kann trotzdem noch Tage dauern“, antwortete Deine Oma aus eigener Erfahrung. Doch dieses Gefühl in mir war da, glasklar und unübersehbar.
An diesem Abend putze ich zu Hause nochmals die Wohnung und bügelte den Wäschekorb leer. Dein Vater schaute verdutzt und fragte irritiert: „Was machst Du da? Warum setzt Du Dich nicht auf die Couch und schaust Deine Lieblingsserie im TV?“ „Weil ich keine Zeit dafür habe, denn Lea macht sich in den nächsten Stunden auf den Weg“, antwortete ich und verschwieg ihm erst einmal, dass ich bereits hin und wieder leichte Wehen spürte, die anders waren, als bisher. Ich telefonierte noch mit einer damaligen Freundin, der ich von den Wehen erzählte und sie riet mir: „Na dann geh mal noch etwas schlafen, wenn Du kannst. Dann geht es bald los, Lea kommt, yippi, ich werd verrückt und freu mich. Du schaffst das.“
Ich erzählte Deinem Vater davon und ich bin sicher, dass er plötzlich tierisch nervös war, auch wenn er versuchte, das zu verbergen. So legten wir uns ins Bett, obwohl ich kein Auge zumachte. Gegen 23:15 weckte ich ihn und sagte: „Wir müssen los, Lea möchte raus.“ Wir nahmen meine Tasche, setzten uns ins Auto und fuhren los. Trotz all der Ängste und Sorgen der letzten Tage war ich so voller Freude, Liebe und Frieden in mir. Ich konnte es kaum erwarten, Dich wirklich zu sehen, Dich wirklich in den Armen zu halten. Ich hatte mit meinem Chef während der Schwangerschaft oft autogenes Training gemacht und auch die Akupunktur beim Gynäkologen durch die Hebamme hatte mir alles gegeben, was ich brauchte, um für die Geburt ruhig und gelassen zu bleiben.
Im Auto lief ein Song von Ozzy Osbourne, „Dreamer“, so wunderschön, und leise singend schaute ich aus dem Fenster und war ganz bei Dir. Jedes Mal, wenn ich seit diesem Moment diesen Song höre, denke ich an diesen Tag zurück, der unser und vor allen Dingen mein Leben so sehr wunderbar verändern sollte, wie ich es damals nur erahnen konnte. Erst jetzt beim Schreiben werde ich mir der Worte und der Bedeutung in diesem Song bewusst und deshalb ist hier für Dich meine Levi und für all unsere lesenden Begleiter/innen die deutsche Übersetzung des Liedes:
Ich starre aus dem Fenster auf die Welt da draußen
Frage mich ob Mutter Erde überleben wird
Ich hoffe, dass die Menschheit irgendwann aufhören
wird sie zu missbrauchen, irgendwann...
Nach allem gibt es nur noch die zwei von uns
Und hier kämpfen wir immer noch für unser Leben
Der gesamten Geschichte zusehend, wie sie sich jedes
Mal wiederholt
Ich bin nur ein Träumer
Ich träume mein Leben davon
Ich bin nur ein Träumer
Der von besseren Zeiten träumt
Ich sehe die Sonne untergehen, wie jeder von uns
Ich hoffe das die Dämmerung ein Zeichen bringt
Einen besseren Platz für solche, die nach uns kommen
werden, dieses Mal
Ich bin nur ein Träumer
Ich träume mein Leben davon, heute
Ich bin nur ein Träumer
der von besseren Zeiten träumt
Du vertraust vielleicht mehr in Gott oder Jesus Christus
Es bedeutet mir nicht wirklich viel
Ohne gegenseitige Hilfe
Gibt es für uns keine Hoffnung
Ich lebe in einem Traum, einer Phantasie
Oh yeah, yeah, yeah
Wenn wir nur alle Klarheit finden könnten
Es wäre schön, wenn wir gut leben könnten
Wann werden all der Ärger, Hass und Engstirnigkeit
verschwunden sein
Ich bin nur ein Träumer
Ich träume mein Leben davon, heute
Ich bin nur ein Träumer
Der von besseren Zeiten träumt, oh yeah
Ich bin nur ein Träumer
Der Nach dem Weg sucht, heute
Ich bin nur ein Träumer
mein Leben davon träumend
Oh yeah, yeah, yeah
Im Krankenhaus angekommen meldeten wir uns direkt im Kreißsaal, wo ich erst einmal an das CTG angeschlossen wurde. Die Hebamme war überrascht, wie ruhig und ausgeglichen Du und ich waren. Der diensthabende Anästhesist besuchte uns und fragte wie es uns geht. Ich antwortete lächelnd: „Sehr gut Herr Doktor, wir sind einfach total aufgeregt und freuen uns, dass es jetzt bald losgeht.“ Er erzählte, dass er selbst 5-facher Vater sei und erst vor kurzem sein jüngstes Kind in der Welt begrüßen durfte, welches mit einer Behinderung geboren wurde. Weiter sagte er: „Wann immer ich gleich während der Geburt etwas für Sie tun kann, um Ihnen Schmerzen zu nehmen, sagen Sie es einfach und ich kümmere mich sofort um Sie. Wir schaffen das zusammen und werden alles tun, damit es Ihrer Tochter gut geht und Sie nicht zu starke Schmerzen haben. Unser Team steht bereit, um Lea in Empfang zu nehmen.“
Er war einfach wunderbar, Arzt UND Mensch, genau, wie wir es in diesem Moment brauchten. Ich antwortete: „Ich möchte zunächst versuchen, ohne PDA oder andere Medikamente auszukommen, aber ich melde mich, wenn ich doch Unterstützung brauche.“
Danach durfte ich mich selbst noch an der Pforte anmelden und somit mein Zimmer beziehen. Dein Vater und ich saßen ca. zwei Stunden bei dem netten Pförtner, der uns von seinem letzten Urlaub am Meer erzählte. Diese Ablenkung und das herrliche Urlaubsgefühl in seinen Worten war genau das Richtige, um weiter ruhig zu bleiben. Schließlich sagte ich gegen 3:00 zu Deinem Vater: „Ich glaube, wir sollten jetzt wieder in den Kreißsaal gehen. Jetzt ist es soweit.“ Ich lächelte und so gingen wir zurück, wo schon eine Krankenschwester und eine Hebamme auf uns warteten.
Ich hatte nie die Sorge, dass sich diese Geburt ewig hinziehen würde, sondern spürte einfach wieder, so klar und deutlich wie alles andere zuvor, dass wir zwei einfach bereit waren. Dein Vater stand hinter mir, während ich auf der Geburtsliege lag und so kräftig mitpresste, wie es nur ging. Eine Seite meines Muttermundes war nicht weich geworden und die Hebamme musste hier immer wieder massieren. Ab dem Moment wusste ich, was WIRKLICHE Schmerzen sind. Die Pausen zwischen den Wehen und vor allen Dingen zwischen den Massagen nutze ich immer wieder, um für uns zwei zu atmen und Kräfte zu sammeln. Der Schmerz beim Massieren war jedoch so dermaßen groß, dass ich die eigentlichen Wehen bald nicht mehr spürte, denn die waren ein Klacks.
Nach ca. 1,5 Stunden kam der Anästhesist hinzu und obwohl ich quasi in den letzten Wehen lag, bat ich jetzt doch um eine PDA. Ich hörte, wie die Hebamme oder die Krankenschwester sagte: „Das geht nicht mehr Herr Doktor, sie ist schon zu weit.“ Doch er sagte: „Doch, das geht. Wenn sie eine PDA möchte, dann kriegt sie diese jetzt. Sie wird trotz Wehen stillhalten und alles ist gut.“
Ich war ihm so dankbar, denn in den letzten Minuten war zwar immer noch die unbändige Vorfreude auf Dich in mir, aber mein Kopf redete auch unaufhörlich auf mich ein: „Erinnere Dich, was der Kardiologe Dir sagte. Im Bauch geht es Lea gut, doch wenn sie draußen ist, stirbt sie vielleicht...“
Ich setzte mich aufrecht auf die Liege und bekam die PDA, ohne auch nur im Geringsten zu zucken, obwohl ich gleichzeitig stärkste Wehen hatte. Ich legte mich wieder hin und sah Deinen Vater an, der immer stiller geworden war. Ich glaube, dass auch er Angst hatte und gleichzeitig emotional so ergriffen war, gleich seine Tochter das erste Mal wirklich sehen zu können. Das Medikament fing an zu wirken und endlich spürte ich die Wehen. Endlich spürte ich, wann ich wie für Dich atmen und pressen musste. Plötzlich ging alles ganz schnell. Dein Vater feuerte mich an, wie man es sonst von anderen in den Erzählungen gehört hatte. Ich atmete nochmals tief durch und legte all meine Energie in Dich, obwohl mein Kopf noch immer unaufhörlich auf mich einredete. Es war ein Gefühl, als würde ich zwischen Himmel und Hölle hängen und doch wusste ich, dass dies jetzt sein musste.
Und dann, ja dann warst Du da, am 16.10.2002 um 06:41 wurdest Du geboren. Ich habe keine Worte für das Gefühl in diesem Moment. Dein Vater hinter mir brach in Tränen aus und versteckte sein Gesicht in meinem Kissen. Innerhalb von Sekunden wurdest Du von der Nabelschnur getrennt und von dem Anästhesisten mit in einen anderen Raum genommen, um Dich medizinisch mit allem zu versorgen. Als er Dich mitnahm fühlte ich mich, als würde man mir mein Herz bei lebendigem Leibe herausreißen. Ich betete innerlich: „Bitte Gott, lass sie schreien. Bitte gib mir einen Ton von ihr. Bitte, ich flehe Dich an, gib mir etwas, damit ich weiß, ob sie lebt...“
Und dann hörte ich Dich. Laut und deutlich drang Dein Schrei zu mir an mein Ohr und niemals habe ich zuvor einen Schrei so sehr geliebt, wie diesen. „Danke Gott, danke für diesen Schrei. Sie lebt, sie lebt...“
In diesem Moment brachen auch bei mir alle Dämme und ich weinte mir den gesamten Druck der letzten Stunden von der Seele. Dein Schrei wurde lauter. Ich öffnete die Augen und sah, dass Dich jemand im Arm hielt und Dich zu mir brachte. In dem Moment, wo Du auf meinen Brustkorb gelegt wurdest, wurdest Du sofort ganz still. Ich spürte Deinen Atem auf meiner Haut und konnte Dich endlich sehen. Ich kann Dir mit Worten nicht beschreiben, wie verdammt gut Du gerochen hast. Ich hätte ewig so mit Dir liegen bleiben können. Für mich war der Moment eine gefühlte Ewigkeit, doch Dein Vater erzählte mir später, dass Du nur wenige Sekunden bei mir lagst, bevor man Dich wieder mit ins Nebenzimmer nahm. Unter Tränen habe ich mich bei dem Pflegepersonal für diesen kostbaren Augenblick bedankt und jetzt spürte ich auch mein Herz wieder bei mir.
Viele Mütter haben mir in den Folgejahren gesagt: „War die Geburt nicht das Schönste, was Du bisher erlebt hast? So eine Geburt des eigenen Kindes zu erleben ist ein Traum und es gibt keine schönere Erfahrung.“ Doch für mich war es anders. Es war ein Alptraum. Sicher, Du warst und bist ein absolutes Geschenk und nichts auf der Welt hatte ich bis dahin so geliebt wie Dich. Doch Dich auf die Welt zu bringen, obwohl es Dir in meinem Bauch gut ging, ohne das Wissen, ob Du leben und atmen kannst, sobald Du da bist...
Ich habe Jahre gebraucht, um ohne Weinkrämpfe eine Geburt im TV ansehen zu können, ohne diesen Herzschmerz wieder und wieder zu spüren, der mir die Luft zum Atmen nahm. Selbst heute gibt es viele Momente, wo ich bei Bildern von Geburten wegschaue, weil es emotional einfach zu viel ist.
Wie viele Gemeinsamkeiten Deine und meine eigene Geburt miteinander haben, sollte ich erst einige Jahre später erfahren. Acht Wochen vor meiner Geburt hatte meine Mutter unendlich viel Blut verloren und die Ärzte sagten ihr: „Sie werden evtl. Ihr Kind verlieren. Sie haben zu viel Blut verloren. Selbst, wenn Ihr Kind den Weg nach draußen schafft, wird es höchstwahrscheinlich wegen des hohen Blutverlustes nicht gesund sein.“ Doch meine Mutter hat ab diesem Moment nur noch im Bett gelegen und sich geschont. Sie hatte unbeschreibliche Angst mich zu verlieren und hat innerlich, wie ich bei Dir, zu Gott gebetet: „Bitte lass meine Tochter leben, bitte.“
Auch wenn sie in meiner Kindheit nicht die Mutter sein konnte, die ich mir gewünscht hätte, auch wenn sie aufgrund vieler Umstände nicht als meine Mutter und somit als Deine Oma in unserem Leben sein kann, bin ich ihr unendlich dankbar, denn in diesen Wochen hat sie alles von sich gegeben, um mir überhaupt ein Leben zu ermöglichen. Und so wurde ich geboren, kerngesund und voller Lebensfreude und Lebenswillen und habe diese Kraft und Quelle an Dich weitergegeben.
Immer noch total überwältigt und voller glücklicher, liebevoller Emotionen wurde ich mit meinem Bett in einen anderen Raum geschoben, um etwas zur Ruhe zu kommen. Dein Vater saß neben mir und nahm meine Hand. Ich glaube, wir waren uns in diesem Moment innerlich das erste Mal wirklich nahe. Was auch immer später mit ihm und mir passierte, was unausweichlich war, weiß ich einfach, dass er Dich auf seine Art liebt. Ich konnte in seinen Augen erkennen, dass er, so wie ich auch, wohl nie zuvor in seinem Leben solch eine tiefe Liebe zu einem anderen Menschen empfunden hatte. Unabhängig davon, wie unser Leben sich auch später verändern sollte, wünsche ich Dir, dass Du niemals vergisst, dass Dein Vater Dich liebt Levi. Ohne die frühere jahrelange Verbindung zwischen ihm und mir gäbe es Dich nicht in meinem Leben. Du bist das Beste, was wir gemeinsam geschaffen haben und ich werde ihm für dieses Geschenk auf ewig dankbar sein.