Welche Farbe hat eigentlich Sex - Aavid von Herket - E-Book

Welche Farbe hat eigentlich Sex E-Book

Aavid von Herket

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Beschreibung

Ava und ihr etliche Jahre älterer Mann Christoph erleben an sich eine glückliche Ehe, in der Alter und gesundheitliche Faktoren vonseiten Christophs allmählich dazu führen, dass das Liebesleben versiegt. Mitten in dieser kaum je angesprochenen Situation trifft Ava zufällig auf den träumerischen Fintan - eine Begegnung mit Folgen. Nach weiteren Treffen und vielen Gesprächen mit ihrer mütterlichen Freundin Ellen gesteht Ava sich mehr und mehr Freiheit und Experimentierfreudigkeit zu. Doch Fintan soll nicht der einzige Mann bleiben, dem Ava dabei begegnet. Und bald geht es nicht nur noch um flüchtigen Rausch, denn er wird mit einer Tiefe unterfüttert, mit der selbst Ava nicht gerechnet hat.

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Fintan Verführerische Himmelserscheinungen

Christoph

Vera

Rück-sicht

Pest oder Cholera!

Ellen und der Geist der Erinnerung

Theeeeeater … Theeeeeeater

Interference

Verdammte Gefühle

Vergangenheit trifft Gegenwart

Frauengespräche

Mad

Weak Heart

Einblicke

Secret Love

Warnsignale

ALEA IACTA EST (Der Würfel ist gefallen)

Gewissensbisse

Zurück zum Ursprung?

Wohin du auch gehst, geh mit deinem ganzen Herzen Konfuzius

Epilog

EINLEITUNG

Was ist, wenn sexuelle Erfüllung in der Partnerschaft ausbleibt? Als junger Mensch sage ich vielleicht: „Schluss machen und den richtigen Partner suchen.“ Als Ehefrau und Mutter meiner Kinder sage ich vielleicht: „Sex wird überbewertet. Das findet sich schon. Wahre Liebe übersteht das.“

Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Was ist mit den Werten, die Liebe ausmachen, wie Vertrauen, Respekt und sich aufeinander verlassen zu können? Gerade in schwierigen Momenten? Wo ist da eigentlich der Sex untergebracht? Gehört er bedingungslos zur Liebe? Kann die Partnerschaft ohne sexuelle Erfüllung bestehen? Reichen dann Vertrauen, Respekt und Wertschätzung füreinander aus, um es auszuhalten, zu überbrücken oder irgendwie zu überstehen?

Wird Sex doch überbewertet? Wie ist das eigentlich für Männer?

In dieser Geschichte habe ich die Perspektive der Frau und weitestgehend (m)eine persönliche Sichtweise beschrieben. Genügt das? Wahrscheinlich oder mit großer Wahrscheinlichkeit sogar nicht. Ich habe eine ungefähre Ahnung davon, wie viele Milliarden Menschen es auf unserer Erde gibt. Mindestens so viele Meinungen wird es auch über Sex und die dazugehörigen Emotionen und Gedanken geben.

Ava sieht sich nicht nur im Verhältnis zu ihrer Familie in der Verantwortung. Es geht um Werte wie Vertrauen, Respekt und Ehrlichkeit. Sie setzt sich, zu einem großen Teil im Zwiegespräch, mit allen möglichen Eventualitäten auseinander. Dabei ahnt sie jedoch schon selbst, dass diese Gedanken ja immer nur Gedanken bleiben. Was ist mit dem Herz, den Gefühlen und den Emotionen? Ist das wirklich alles miteinander vereinbar? Auch dieser Frage geht sie nach.

Ava erkennt, dass es nicht unbedingt immer um Liebe geht. Das an sich ist schon für sie selbst eine Überraschung.

Sex, mit wem auch immer, zu haben ist das Intimste, das man teilen kann, wenn man es denn kann. Ihr Körper ist nicht perfekt. Sie ist nicht perfekt. Ihr Mann weiß das. Der Körper ihres Mannes ist nicht perfekt. Auch ihr Mann ist es nicht. Sie weiß das. Ihr beider Vertrauen ist unendlich. Gefahr lauert überall. Lohnen sich Gedanken darüber? Wie weit geht Ehrlichkeit? Ehrlichkeit zu sich selbst und zum anderen. Ganz sicher ist das auch ein großes Wagnis. Welche Erwartungen hat sie an sich selbst und denjenigen?

Ihre Empfindungen, vor allem die körperlichen, versetzen sie in enorme Unruhe. Die Gedanken an eine mögliche Untreue bringen sie in große emotionale Konflikte. Es tobt ein ständiger Kampf zwischen Verantwortung und Fürsorge sowie der Frage nach dem Sinn des Lebens an sich. Was macht Leben aus? Was macht Liebe aus? Wie hoch ist der Preis, auf eine erfüllte Sexualität zu verzichten? Zahlen wir, vor allem auch moralisch, für die Liebe? Was bringt es überhaupt, seinen Bedürfnissen nachzugeben? Nicht immer empfindet Ava ihre Antworten als hilfreich.

Eine Erkenntnis und Ernüchterung zugleich ist: Das Leben ist mit all seinen schönen und hässlichen Momenten, bei aller gefühlten Unendlichkeit, ein kurzer Augenblick. Der am Ende für alle ja doch nur auf dem gemütlichen Sofa vor dem Fernseher endet. Wie lange der anfänglich wunderbare, nicht von dieser Welt scheinende Augenblick auch andauern mag. Am Ende, wenn dann die Sofaabende urplötzlich und gleichwohl schleichend da sind, ist es dennoch ein Glück, überhaupt noch miteinander reden und sich begeistern zu können. Manchmal ist es die Rettung, einen gleichen oder ähnlichen Rhythmus zu haben. Lohnt es sich überhaupt, eine Kurskorrektur vorzunehmen?

Die Farbe Rot steht für die Liebe, und Grün für die Hoffnung. Gelb steht oft für Neid, die Farbe Blau für die Kommunikation. Endlos könnte die Liste der Farbenzuordnung sein. In meinen Recherchen gab es nicht wirklich große Unterschiede in der Zuordnung.

Anfänglich überlegte ich, welche Farbe wohl für dieses Buch stehen könnte. Scheinbar reagiere ich, egal in welcher Form, auf Farben. Ja, ich liebe Farben. Ich liebe aber auch Weiß und ganz besonders Schwarz.

Irgendwann fragte ich mich: Welche Farbe steht eigentlich für Sex? Natürlich hatte ich eine ziemlich genaue Vorstellung davon. Aber wie wird sie von anderen wahrgenommen? Und jetzt wurde es interessant. Denn tatsächlich könnten die Unterschiede nicht größer sein. Darüber dachte ich nach und fand für mich einen, wenn vielleicht auch eher philosophischen, Zusammenhang zu meiner Geschichte. Bemerkenswerterweise gibt es nicht die eine Farbe. Denn jeder hat ein anderes Empfinden für Sex. Wenn wir Liebe für uns interpretieren und möglicherweise völlig verschiedene Empfindungen haben, verbinden viele Menschen im westlichen Kulturraum sie dennoch mit der Farbe Rot. Auch wenn sie sich in Nuancen unterscheidet, steht die Farbe Rot für die meisten Menschen für die Liebe.

Mit einem zunächst undefinierbaren Gefühl beginnt diese Geschichte.

Ava wurde von einer inneren Unruhe begleitet und begab sich in ein Gespräch mit sich selbst:

„Irgendwann bist du einfach da. Seit wann? Das weiß ich gar nicht mehr so genau. Aber was ich weiß, ist, dass du mich ganz schön durcheinanderbringst. Am Anfang nehme ich dich nur als ein irritierendes Etwas wahr und schenke dir keine Aufmerksamkeit. Doch das Ignorieren gelingt nur bedingt. Umso mehr drückst du dich in meinen Träumen aus. Nun bist du da und ich kann nicht anders, als an dich zu denken. Das tue ich nun ständig. Das Schwierige daran ist, dass ich mich nicht mehr unter Kontrolle habe und verwirrt bin. Manchmal ist es anstrengend, mich von dir wegzudenken. Das muss ich hin und wieder tun, um nicht vollends abzudriften. Der Alltag braucht mich und ich brauche ihn. Die vielen Tausend Kleinigkeiten, die mich fordern und beschäftigen, vielleicht auch ablenken.

Zuerst ist es mir egal. Weil ich dich nicht haben will. Als zu störend und verstörend empfand und empfinde ich dich noch immer. Warum? Weil es nicht sein kann und darf! Anfänglich für mich noch völlig absurd, verbanne ich dich in den untersten Abgrund, den ich mir in meiner Gedankenwelt zurechtlegen kann. Da ruhst du noch immer. Dachte ich. Wie du es geschafft hast, aus deinem Verlies herauszukommen, bleibt mir noch immer ein Rätsel. Tag für Tag klopfst du und rüttelst nun an meiner Tür. Noch hat es niemand bemerkt. Zunehmend empfinde ich dich als aufdringlich. Du könntest mein schönes Leben durcheinanderbringen. Doch ahne ich schon, dass du viel mehr bist. Das macht mir Angst. Vor einiger Zeit glaubte ich, dich in meinen Tagträumen wieder gesehen zu haben und erschrak. Mich hast du aber nicht wahrgenommen. Ein kurzer Augenblick und ich fuhr an dir vorbei. Einen Moment überlegte ich, umzudrehen, aber dann fehlte mir der Mut. Was sollte ich auch sagen?“

FINTAN VERFÜHRERISCHE HIMMELSERSCHEINUNGEN

Plötzlich regnete es wie aus Kübeln. Eilig war ich um die Häuserecke gebogen und suchte nach dem Regenschirm. Endlich hatte ich den, gerade noch rechtzeitig, aufbekommen, erfasste den Schirm eine heftige kurze Windböe und zerfetzte ihn.

„Mist! Das hat sich erledigt.“ Mit der nächsten Böe glitt er mir komplett aus der Hand. „Super, nun ist er auch gleich entsorgt.“ Ich gab lachend auf.

Der Regen nahm zu und der Wind ließ nicht ab. Mein langer Rock wehte wild umher. Die Haare versuchte ich einzufangen und festzuhalten. Meine Mappe steckte zwischen dem Oberarm und dem Brustkorb. Mit beiden Händen hatte ich voll zu tun.

„Laufe ich wieder zurück, zur schützenden Häuserwand, oder rette ich mich über die Straße und stelle mich am Taxistand unter?“ Auch diese Entscheidung wurde mir abgenommen.

Neben dem Gehsteig stand ein dunkelblauer Wagen und gab Lichthupe. Im Hintergrund konnte ich ein nobles Anwesen erkennen, schenkte dem jedoch keine weitere Beachtung. Mein Blick schweifte wieder zum Wagen. Die Scheibenwischer arbeiteten im Akkord und kämpften mit den Wassermassen.

Das tun wir wohl gerade alle.

Da ich mir nicht sicher war, ob ich gemeint war, drehte ich mich kurz um und schaute fragend.

Doch dann ging die Beifahrertür auf und noch einmal bekam ich das Lichtsignal.

„Okay, dann bin ich wohl gemeint.“

Nun schnappte ich meine Beine, lief so flott ich konnte und rettete mich in den schützenden Wagen. Im Radio liefen die Eagles, Hotel California.

„Sie sind ein Engel. Puh... mich hat es ja voll erwischt.“

Die Musik etwas leiser machend sagte er:

„Ich dachte schon, dass Sie mein Angebot nie annehmen wollen. Leider konnte ich selbst mit einem Schirm nicht dienen. Sonst wäre ich zu Ihnen gekommen.“

„Sie sind ja einer von den ganz Netten. Zuerst hatte ich Sie überhaupt nicht wahrgenommen.“

„Das habe ich bemerkt. Ein bisschen amüsierte es mich schon. Sie zu beobachten war wirklich köstlich! Offensichtlich hatten Sie Ihren Spaß.“

„Meinen Sie die angeregte Konversation, die ich mit meinem Regenschirm führte?“

„Könnte sein, da war weit und breit niemand“, lachte er.

„Was sollte ich tun? Mich künstlich aufregen?“ Nun musste auch ich lachen.

„Am Taxistand dort drüben werden sie nicht begeistert sein“, bemerkte ich.

„Warum?“

„Stehen Sie hier öfter und nehmen denen die Kundschaft weg?“, grinste ich.

„Sie haben mich durchschaut. Genau das ist meine Masche!“

Darüber mussten wir herrlich lachen. Auf einmal krachte es draußen dermaßen, dass wir für einen Moment stillhielten. Es donnerte und grollte direkt über uns.

„Das ging ja gerade noch einmal gut. Uuuhhh.“

Ich schaute mich etwas um.

„Das ist ein tolles Auto! Ist das ein Amerikanisches?“

„Ja, das ist ein Mustang.“

„Wow! Eine herrliche Ausstattung und es ist superbequem, das muss ich schon sagen. Hier lässt es sich wirklich aushalten. Von mir aus kann es ruhig weiterregnen.“

Wir wandten uns einander zu, so dass wir uns betrachten konnten.

„Ach herrje, halte ich Sie jetzt von irgendetwas ab?“

„So wie es aussieht war ich für heute erfolgreich.“ Dabei warf er mir einen Blick zu, der mich ziemlich berührte.

„Aber außer, dass ich noch die Welt retten wollte und tausend E-Mails zu schreiben habe… Nein, Sie halten mich weder auf noch von etwas ab.“

„Sie stehen einfach so hier und warten?“

„Ja! Da draußen ist es mir gerade zu nass. Sie brauchen sich wirklich keine Gedanken zu machen. Von mir aus kann es ruhig so weiterregnen“, sagte er und ich wurde rot.

„Darf ich Ihnen ein Kompliment machen?“

„Sicher, ich bin eine Frau. Wir mögen das!“, gab ich keck zurück.

„Ich mag Frauen wie Sie!“ Ups … der geht ja ran, dachte ich kurz.

„Frauen, die Kleider tragen und ihre Weiblichkeit nicht in Anzügen verstecken.“

„Oha, damit habe ich jetzt nicht gerechnet.“ Wieder wurde ich, aber diesmal richtig, rot. Verlegen schaute ich nach unten. „Danke, das ist sehr nett! Fühlen Sie sich nicht so sicher. Hosenanzüge trage ich auch sehr gerne.“

Irgendwie war mir die Situation peinlich und ich versuchte, etwas Distanz zu bekommen.

„Bis jetzt habe ich mich bei Ihnen noch gar nicht bedankt.“

„Doch, haben Sie!“

Etwas ungläubig schaute ich ihn an.

„Sie sagten, dass ich ein Engel bin.“

„Stimmt! Trotzdem sollte ich mich auch bei einem Engel bedanken. Danke!“

„Gern geschehen.“

Weiter in Gedanken schaute ich auf meine Uhr. Das war heute kein gutes Timing. Egal, Aktionismus hilft mir jetzt auch nicht weiter. Bis zum Bahnhof würde ich es, selbst mit einem Taxi, nicht mehr schaffen. Der Zug ist weg.

„Im Übrigen, ich bin Ava. Ich glaube, dass wir uns duzen können, und keine Angst, du musst mich nirgends hinfahren.“

Dabei reichte ich ihm meine Hand. Er nahm sie und sagte:

„Sehr angenehm, ich bin Fintan.“

Sein Händedruck war überraschend fest. „Apropos Angst, ich habe keine.“

„Fintan“, wiederholte ich überrascht. „Das ist ein sehr schöner Name. Wo kommt der her?“ Noch immer hielt er meine Hand. Doch tat er das jetzt sanfter.

„Der Name ist irischer Herkunft. Wahrscheinlich bedeutet er ‚weißer Stier‘ oder ‚weißes Feuer‘.“

„Das hört sich ja richtig mystisch an.“

Plötzlich klingelte mein Handy. Für einen kurzen Moment war ich mir nicht sicher, ob ich danach suchen wollte. Fintan ließ ab.

„Geh ruhig an dein Handy. Ich schalte auf stumm.“

„Das kann ich nachher auch noch tun“, wiegelte ich ab.

In diesem Moment erfasste uns ein Sonnenstrahl. Er hatte sich durch die dunklen Wolken gekämpft und erleuchtete unsere Gesichter. Nun konnte ich seine hellbraunen Augen sehen. In diesem Licht wirkten sie wie reinster Bernstein.

Ein merkwürdiges Empfinden machte sich in mir breit. Schade! Eigentlich ist das ganz nett hier. Und … der Mann gefällt mir richtig gut.

„Tja, so wie es aussieht …“, sagte ich.

„Wie sieht es denn aus?“, fragte er nach und hielt dem Blick stand. Doch ich wich ihm aus.

„Ich glaube, ich sollte jetzt gehen.“

Die Musik lief im Hintergrund mit Desperado weiter.

Fintan hatte mittelbraunes kurzes Haar und trug eine moderne Brille. Es war eines von diesen leichten Titangestellen. Sie stand ihm. Er war mit einem weißen Hemd, Bluejeans und Sneakers bekleidet.

Die Ärmel hatte er lässig nach oben gekrempelt.

Wir könnten gleichaltrig sein.

Allmählich schien sich das Wetter zu beruhigen. Es war so schwül, dass sich die Feuchtigkeit auf die Scheiben legte. Fintan ließ sie etwas nach unten. Ein Hauch von Frischluft zog sich durch, um dann doch nur zu verpuffen. Mein feuchtes Haar klebte mir am Hals. Das Make-up hatte sich so gut wie aufgelöst. Die Tropfen liefen mir über das Dekolletee.

„Puh, ist mir warm … ist das eine CD? Diese Musik mag ich sehr.“

Ohne darauf einzugehen fragte er nun: „Lust auf ein kaltes Wasser?“

„Ja! Das ist eine gute Idee“, reagierte ich spontan. Gerade wollte ich doch noch gehen … mh. Verfolgte den Gedanken jedoch nicht weiter.

„Dann können wir jetzt aussteigen.“ Er deutete auf das Haus zu seiner Seite. „Hier wohne ich.“

„Ach, du wohnst hier?“ Es ist jenes Anwesen, welches anfangs kurz meine Aufmerksamkeit erweckte.

„Ja, das tue ich.“ Für einen Augenblick trafen sich unsere Blicke.

Oh Ava, überlege dir genau, was du jetzt machst. Natürlich entging mir nicht ein gewisses Knistern.

Die Chemie zwischen uns passte!

„Und? … Wollen wir?“, blieb Fintan dran.

„Okay, ich bin jetzt ganz mutig und gehe mit dir dort in das Haus.“ Ich lachte etwas unsicher.

„Gerne!“ Cool stieg er aus und lief zu mir herum. Fintan öffnete die Tür und reichte mir seine Hand.

Und wieder war da diese Verbindung, die nicht nur durch unsere Hände spürbar war. Es irritierte mich ein wenig. Wir gingen einen schmalen Weg, der direkt zum Hauseingang führte. Fintan lief neben mir. Er war etwas größer als ich und wirkte mit seiner Figur recht sportlich.

Fintan betrachtete mich. Was wohl in ihm vorgeht? Irgendwie wirkte er in Gedanken versunken.

Die mächtige Tür war mit Motiven aus Metall verziert. Das mondäne Haus mit seinem kräftigen Farbanstrich schien aus der Epoche der Gründerzeit zu sein. Es war von der Straße aus so nicht gleich zu vermuten.

Im Hauseingang hielten wir kurz. Die Tür fiel mit einem klackenden Geräusch ins Schloss.

Fintan drehte sich zu mir, kam mir ganz nah und sagte: „Du solltest wissen, dass es nicht meine Art ist. Normalerweise mache ich das so nicht. Ich bin gerade von mir selbst etwas überrascht.“ Und da war wieder dieser entrückte Blick.

Oha, ist das jetzt ein Rückzieher? Was mache ich nun? Das ist ja echt peinlich, schoss es mir durch den Kopf.

„Du, ähm … mir geht das genauso, Fintan. Es ist okay. Wir können das auch lassen“, gab ich mich abgeklärt.

„Möchtest du denn?“

„Gehen?“

„Nein, ein Wasser trinken.“

„Mh … ja doch … aber eigentlich möchte ich auch …“

Wam!

Während Fintan und ich so dastanden und keinen Ton mehr herausbrachten, war klar, was hier passierte. Mir jedenfalls. In diesem Augenblick packte ich mich selbst und drehte mich auf dem Absatz um. Für einen Bruchteil einer Sekunde verharrte ich noch und stand mit dem Rücken zu ihm. Doch dann öffnete ich die Tür und lief davon. Dabei rief ich noch ein: „Danke für das Asyl!“

Weg war ich. Ohne mich noch einmal umzudrehen, winkte ich nach dem ersten Taxi, welches ich erblickte, und stieg ein. Etwas außer Atem rang ich nach Luft.

„Bitte bringen Sie mich so schnell Sie können zum Bahnhof.“ Der Fahrer schaute mich etwas ungläubig an.

„Flüchte ich jetzt hier etwa? Ich frage mich nur, vor was?“, murmelte ich vor mich hin.

Während ich mich noch im Taxi sortierte, konnte ich es nicht lassen und wagte einen vorsichtigen Blick zur Seite. Zu meiner Überraschung stand Fintan angelehnt am Tor und schaute mir nach. Wie in Zeitlupe fuhr ich an ihm vorbei. Unsere Blicke trafen sich und verharrten, solange es eben ging. Ich konnte es nicht verhindern und drehte meinen Kopf noch im Vorbeifahren mit. War das Traurigkeit, die ich da sah?

Wieder klingelte mein Handy. Diesmal nahm ich das Gespräch an.

„Bitte entschuldige, Christoph. Ich habe den ursprünglich angedachten Zug verpasst. Holst du mich ab?“

Nach zwei Minuten Fahrt waren wir am Bahnhof. Nun konnte ich den Blick vom Taxifahrer deuten. „Ich wollte nicht noch einen Zug verpassen“, entschuldigte ich mich und zeigte auf meine Absatzschuhe.

Er grinste dann doch.

Mein Zug kam mit Verspätung an und so hatte ich genügend Zeit, mich in meine Gedanken zu vertiefen. Was für eine verrückte Situation! Wie zum Henker konnte ich mit ihm gehen? Na ja, das ging ja noch einmal gut. Aber warum habe ich das überhaupt zugelassen? Ach Ava, es ist doch nichts passiert. So versuchte, ich mein Gewissen reinzuwaschen. Allmählich waren meine Haare wieder trocken. Mein Gesicht frischte ich mit etwas Rouge auf.

CHRISTOPH

Christoph wartete bereits am Bahnsteig.

„Entschuldige bitte wegen der Verspätung … ich … bin in ein Unwetter geraten. Irgendwie lief es nicht gut …“

Oh, was erzähle ich hier eigentlich für einen Müll, ermahnte ich mich selbst.

„Ava, schön, dass du da bist. Schon gut. Du siehst ziemlich geschlaucht aus.“

„Genauso fühle ich mich auch.“

„Hast du nur eine Handtasche?“

„Ach du meine Güte.“ Der Schreck fuhr mir sofort in die Glieder. Total entsetzt fiel es mir ein.

Mist, meine Mappe liegt noch in Fintans Wagen. Die habe ich vollkommen vergessen. Wie erkläre ich mich jetzt?

„Herrje … die Unterlagen habe ich bei Hanna im Büro liegengelassen. Egal, ich komme schon noch rechtzeitig daran. Jetzt lass uns erst einmal ankommen.“

Zu Hause versuchte ich, mich mental auf uns einzustellen. Irgendwie fehlte mir eine gewisse Bodenhaftung. In mir schwelte eine nicht definierbare Unruhe.

„Ava, hast du Hunger?“

„Ja, nein … eher Durst.“

„Möchtest du einen gut gekühlten Weißwein?“

„Oh ja, bitte!“

„Wie ist es denn überhaupt gelaufen?“

„Ganz gut. Der Andrang war groß. Am spannendsten empfand ich das Interview. Keine Frage, anstrengend war es, und viel zu schwül. Irgendwie haben sämtliche Klimaanlagen versagt. Wie ist es dir ergangen?“

„Wie soll es mir ohne dich schon ergehen?“

„Ach Christoph! Bitte. Bei mir kommt das jedes Mal wie ein Vorwurf an. Wir können doch nicht ewig die gleichen Diskussionen führen. Waren wir uns nicht einig?“

„Es ist eben so. Was soll ich tun? Du hast mich gefragt.“

Meine Laune flachte ab. Plötzlich empfand ich meine Ankunft irgendwie als verfrüht. Er bemühte sich ja, aber reichte das aus?

„Entschuldige, Ava! Ich bin ein Dummkopf! Du hast recht. Mit meinem Gejammer erreiche ich dich nicht. Anstatt mich einfach nur zu freuen, dass du bei mir bist, mache ich dir indirekt Vorwürfe.“

Christoph kam auf mich zu und nahm mich in seine Arme. Doch seine ständigen halbseidenen Rettungsversuche empfand ich zunehmend als nervig. Er hatte recht. So erreichte er mich nicht. Er wusste es, trotzdem bediente er sich der alten Hebel.

Ohne mich darauf einzulassen, drohte ich schon mit dem nächsten Termin.

„Später treffe ich mich mit …“

„Du bist gerade erst angekommen“, unterbrach er mich. „Und willst schon wieder weg“, bemerkte er enttäuscht.

„Darüber solltest du dir Gedanken machen“, gab ich leicht genervt zurück. Und dann sah ich ihn dastehen, mit seinem Kampf, und konnte nicht anders.

„Natürlich gehe ich heute nirgendwo mehr hin“, ruderte ich zurück.

Schon klingelte das Telefon. Ellen wollte sich mit mir verabreden.

„Komm einfach vorbei. Christoph freut sich auch, dich zu sehen. Bring Kuchen mit und für den Rest ist gesorgt. Bis später.“

„Ellen will hierherkommen?“

„Ja, ich dachte, es ist besser so. In einer Stunde ist sie da. Ist das okay?“

Natürlich war es das. Alles war ihm lieber, als dass ich schon wieder weg ginge.

Ellen war da und brachte augenblicklich die verloren gegangene Leichtigkeit ins Haus zurück. Sofort spürte sie die Stimmung.

Einst hatten wir uns auf einer Buchpräsentation vor 20 Jahren kennengelernt. Seitdem sind wir befreundet. Ellen war fast siebzig und für ihr Alter, nicht nur mit ihren Ansichten, ziemlich jung geblieben. Ihre Betrachtungsweise über das Leben gefiel mir und hin und wieder war sie mir auch eine gute Ratgeberin. Sie wusste um unsere Befindlichkeiten. Schon lange machte ich daraus kein Geheimnis mehr. Wenn ich mit ihr darüber nicht hätte reden können, wäre ich schier verrückt geworden.

Nachdem wir eine wirklich angenehme Kaffeerunde zu dritt genossen hatten, zog sich Christoph zum Nachmittagsschläfchen zurück.

„So! Dann leg mal los! Ich bin ja zur rechten Zeit am rechten Ort“, meinte Ellen und umarmte mich dabei. Früher reagierte ich gleich mit Wut oder Theatralik. Oft überflutete ich sie damit. Irgendwann waren diese unterschwelligen Andeutungen über mein Fernbleiben einfach nur noch anstrengend. Na ja, nicht immer, dennoch mühselig. Natürlich gab es auch schöne Momente mit Christoph, doch ploppten solche unliebsamen Diskussionen immer mal auf.

„Ellen! Es ist und bleibt ein Drama“, sagte ich etwas erschöpft.

„Wie lange seid ihr jetzt eigentlich zusammen?“

„Wir haben nächstes Jahr Jubiläum! Dann sind es 30 Jahre.“

„Wow! Respekt!“

„Ja schon, danke … und doch bleibt gefühlt gerade der auf der Strecke.“

„Ach Ava, das kannst du so nicht sagen. Diesen Eindruck macht ihr nicht auf mich.

Ihr seid ein großartiges Paar und ihr liebt euch. Und nur das zählt! Selten erlebe ich Eheleute, die so wertschätzend miteinander umgehen. Beide seid ihr euch vom ersten Tag an auf Augenhöhe begegnet. Daran hat sich bis heute nichts geändert.“

„Danke, dass du das sagst. Ich bin mir da in letzter Zeit nicht mehr so ganz sicher.“

„Womit?“

„Das mit dem respektvollen Umgang ist nicht immer ganz einfach. Hin und wieder ertappe ich mich selbst dabei, dass ich ungerecht zu ihm werde.“

„Wann ist das so?“

„Vorhin erst, als ich angekommen bin. Ich weiß, dass es ihm schwerfällt, mich allein gehen zulassen. Er kann eben seine Bemerkungen nicht lassen.“

„Was für Bemerkungen?“

„Ohne mich würde ihm nichts Spaß machen … solche Aussagen eben.“

„Und? Was ist da so schlimm daran? Ich glaube ihm das sogar.“

„Bei mir melden sich dann sofort Schuldgefühle und ich fange an, mich zu rechtfertigen.“

„Das kann ich verstehen. Aber er sagt nur die Wahrheit. Oder möchtest du angelogen werden?“ „Nein, natürlich nicht. Oder vielleicht doch?“

„Damit du dich dann besser fühlst? Erwartest du da nicht ein bisschen viel?“

„Warum? Warum muss ich mich immer so schlecht fühlen?“

„Ja, warum eigentlich? Hast du dich das wirklich einmal gefragt? Indirekt wirfst du Christoph vor, dass er dich einengt. In Wirklichkeit, so sehe ich das, gewährt er dir große Freiheiten. Ava, du warst eben noch für drei Tage zum Seminar fort.

Das ist doch super. Was machst du? Du regst dich darüber auf, dass er dich vermisst hat?“

„Das ist jetzt nicht fair!“

„Nicht fair? Ihr wohnt in einem schönen Haus und ihr könnt euch ein gutes Leben leisten. Die Kinder sind groß und selbstständig. Und du, meine Liebe, hast dich in allem verwirklichen können.“

„Ja, in deinen Augen sieht das so einfach aus.

Und auch bei deiner Aussage schwebt ein gewisser Undank mit.“

„Das mag sein. Aber ich sehe das eben mit meinen Augen und Christoph mit seinen. Was sehen deine? Einengung und Frust? Ist das so?“

„Nein, so meinte ich das nicht. Ich weiß es doch auch nicht. Nur, warum reagiere ich so gereizt auf ihn und seine Aussagen?“

„Das klingt schon besser. Wahrscheinlich geht es auch darum nicht.“

„Wie? Was meinst du damit?“, fragte ich völlig überrascht.

„Ich meine gar nichts. Grab selbst nach. Erforsche dich! Mich brauchst du für deine Antworten nicht.“

In diesem Moment meldete sich mein Bauch mit einem leichten Ziehen. Abrupt hatte ich die Antwort und doch war sie mir auch schon wieder entfallen. Was war das? Prompt fiel mir meine Begegnung ein. Langsam drückte sich ein Gefühl durch, welches ich nicht definieren konnte. Noch weigerte ich mich, weiter hinzuschauen. Das kann doch gar nicht sein!

„Wie viele Jahre älter ist Christoph genau?“

„18 Jahre.“

„Und wie läuft es ansonsten?“ Ellen schaute mich sehr direkt an. So, als wüsste sie schon, worum es hier eigentlich ging.

„Mh, wie soll es laufen? Es lief schon besser“, wich ich ihr etwas aus.

„Du möchtest wissen, was los ist. Dann bleibe dran! Mir ist das doch egal.“

Natürlich läuft nicht mehr viel. Seit Jahren nicht! Richtigen Sex so wie früher gibt es kaum noch. Es gibt ihn, jedoch selten, sinnierte ich.

„Na, was läuft jetzt in deinem Köpfchen ab?“, fragte sie bohrend nach.

„Okay, du hast mich wohl auf die Spur gebracht. Darüber muss ich echt nachdenken. Das kommt für mich etwas überraschend. Damit habe ich nicht gerechnet. Christoph hat vor Kraft und Energie nur so gesprüht. Früher hätte sein Tag 48 Stunden haben können. Geliebt hatten wir uns täglich. Da bin ich nicht immer mitgekommen.“

Schweigen

„Das war früher. Und jetzt kommt er möglicherweise mit dir nicht ganz mit. Dein Mann ist 70 Jahre, wir sind fast ein Jahrgang und du wirst 52 Jahre. Gibt es da noch Fragen?“

„Oh Mann, ich hätte mich das jetzt nicht getraut … das so zu formulieren …“

„Das weiß ich. Deswegen tue ich das!“

„Ja, das passt jetzt auch mit …“

„Was?“ Ellen grinste schon. „Wie heißt er?“

„Du bist eine Hexe! Wie kannst du das wissen?“

„Ich bin eine Hexe. Nein, natürlich nicht. Nur kann ich Eins und Eins zusammenzählen.“

„Was soll ich sagen. Eigentlich gibt es da nichts zu erzählen. Und doch ist etwas passiert. Es gab eine Begegnung, die mich ziemlich verwirrt hat.“

Ich berichtete Ellen von meiner merkwürdigen Geschichte. Sie grinste noch immer und bestätigte durch Kopfschütteln unser Gespräch.

„Und nun?“, fragte ich sie flehend.

„Na, nichts und nun! Gehe in dich und erforsche dich. Punkt. Dann wirst du es wissen.“

„Ist das alles?“

„Ja! Im Prinzip, ja! Zumindest weißt du schon einmal, wo das schlechte Gewissen herkommt.“

„Es ist doch nichts geschehen!“

„Findest du? Meiner Meinung nach ist schon jede Menge passiert! Denn warum sollte es dich verwirren? Wovor hast du Angst?“

„Hallo? Ich bin verheiratet.“

„Na, dann brauchst du dir auch weiter keine Gedanken zu machen.“

„Wie? Das verstehe ich jetzt nicht.“

„Soll ich es ganz direkt sagen?“

„Ja! Nein! ... Ja!“, stotterte ich.

„Du bist unzufrieden, sexuell frustriert und du willst dich bumsen lassen!“ Sie lachte so laut, dass ich mich ängstlich nach Christoph umsah.

„Du spinnst doch total“, zischte ich sie an.

„Ava, manchmal habe ich den Eindruck, dass ich dich besser kenne als du dich selbst. Ich sage dir jetzt mal etwas: Das ist vollkommen normal, was da mit dir passiert! Du bist eine Frau und im besten Alter! Du hast Bedürfnisse und die sind menschlich. Dass du sie unterdrückst, ist zwar typisch für uns Frauen, aber auch kein probates Mittel. Wenn du deinen Mann liebst, dann verändere etwas! Sonst wird deine Wut auf ihn ins Unermessliche gehen. Du wirst ihn für alles verantwortlich machen. Vor allen Dingen für das, was nicht läuft.“

„Ich bin doch nicht wütend auf ihn! Nicht deswegen“, echauffierte ich mich.

„Worauf dann? Und wenn nicht jetzt, wird das noch kommen.“

„Ich kann doch das nicht so einfach darauf herunter brechen!“

„Nein? Am Ende wird es genau darauf hinauslaufen. Und das spürt dein Mann ganz sicher auch.

Er ist nicht blöd, nur weil er etwas älter ist und seinen Mann nicht mehr so steht!“

„Dann geschieht genau das, wovor er Angst hat.“

„Wovor hat er denn Angst?“

„Das weiß ich nicht genau. Oder vielleicht doch? Gesagt hat er das so noch nicht. Aber ich kenne ihn! Natürlich hat er Angst davor, dass ich mich auf einen anderen Mann einlassen könnte.“

„Dann nimm bis ans Ende eurer Tage Rücksicht darauf oder auf ihn! Dann ist alles gut. Und ich sage dir: Dann ist nichts gut! Genau das wirst du ihm indirekt vorwerfen. Seine Ängste wirst du ihm vorwerfen! Nicht offensichtlich. Zunächst nicht.

Die Wut wird so groß auf ihn werden, dass du sie eines Tages gegen dich wendest. Und es wird von eurer Liebe und eurem Respekt nicht mehr viel übrigbleiben.“

„Das hört sich ja wie Armageddon an.“

„Ja, das kann es auch sein. Genauso habe ich es erlebt. Lass dir etwas von einer alten Dame sagen. Gut, es ist vielleicht nur meine Wahrheit und mein Leben. Aber ich kann dir versichern, dass es bei den meisten Paaren, ob nun mit Altersunterschied oder nicht, so oder ähnlich abläuft. Dass ihr einen nicht ganz unerheblichen Altersunterschied habt, macht es nicht einfacher. Die Verletzungen sind vorprogrammiert. Ganz ohne Schmerz wird es nicht gehen. Noch bist du in der Lage, den in eine bestimmte Richtung zu lenken. Möglicherweise wird es dir danach nicht unbedingt besser gehen. Die Schuldgefühle werden bleiben. Und trotzdem wird es dir besser gehen. Darum geht es nämlich! Christoph selbst wird nicht viel tun können dafür, dass es ihm sexuell besser geht. Was ist mit dir? Ava, ihr habt ein Leben miteinander, welches viel reicher ist. Und das gilt es zu schützen, zu halten, wenn du mit ihm zusammenbleiben willst. Genau das solltest du für dich klären.“

Plötzlich erreichte mich eine unglaubliche Welle der Traurigkeit, mir liefen die Tränen. Für mich klang das alles nicht wirklich schön. Und es baute mich seelisch nicht auf.

„Hast du mit Christoph einmal über deine Bedürfnisse gesprochen?“

„Wir sprachen in unseren Anfangsjahren, wenn auch eher spielerisch, über Impotenz oder andere mögliche Erkrankungen. Also, was wäre, wenn … Doch in einer besten Zeit, einer Phase der sexuellen Sättigung, über einen möglichen Mangel zu sprechen ist einfach. Gut kann ich mich noch an meine Reaktion erinnern. Früher schon war ich die Großzügigere und hätte meinem Mann durchaus eine andere Frau erlaubt. Schließlich hätte auch mit mir etwas sein können. Mein Mann allerdings konnte sich das umgekehrt schon damals nicht vorstellen. Ellen, ich kenne Christoph. Würde ich mich ihm wirklich öffnen und ihm sagen, von welchen Leidenschaften ich verzehrt werde, würde ihn das in eine weitere Krise bringen. Außerdem weiß ich doch noch überhaupt nicht, was mit mir los ist.

Christoph würde sich in seinen Ängsten, die er damals schon zugab, bestätigt sehen. Er wüsste nun um mich, und? Eifersucht kann quälend sein. Und meine Fahrten und Kurzreisen würden bestimmten Kontrollmechanismen auch meinerseits unterworfen sein.“

„Wieso das?“

„Nur, um ihm zu beweisen, dass er sich keine Gedanken zu machen braucht, würde ich bestimmte Termine nicht mehr wahrnehmen. Ich würde anfangen, mich einzugrenzen. Auch ich kenne mich. Ich würde es ihm nicht zumuten wollen. Da hast du mit deiner Einschätzung nicht so ganz unrecht. Du machst mir Angst. Puh ...

Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass ich mit mir selbst noch einmal so zu kämpfen habe.

Ich liebe Christoph und ich werde ihn immer lieben! An unserer Ehe gibt es kein Rütteln. Nur weil wir uns sexuell etwas auseinandergelebt haben, würde ich unsere Ehe nicht in Frage stellen und sie schon gar nicht darauf reduzieren oder gar aufs Spiel setzen. Ohne ihn wäre ich nicht die Frau, die ich heute bin und …“ Ellen unterbrach mich.

„Dann ist es Dankbarkeit, an der du festhältst?“

„Nein, nicht nur. Du sagtest doch selbst, dass unsere Beziehung besonders und reich ist. So ist es! Das geht weit über das Genannte. Es sind die tausend Kleinigkeiten in ihrer Summe, aber auch in jeder Einzelheit für sich genommen. Ich kann mich blind auf Christoph verlassen. Auch wenn meine Rücksicht auf seine Befindlichkeiten manches Mal unbegründet scheint.

Christoph hat immer zu mir gestanden, mich in allem unterstützt. Er hat mich gefordert und in mir Dinge gesehen, von denen ich keine Ahnung hatte. Er selbst war es, der mich ermutigte, Seminare zu geben. Damals arbeiteten wir zwei ja noch im Marketing. Darunter fielen auch die PR und der Vertrieb. Christoph war da noch mein Chef. In seinen Verlag bin ich mehr oder weniger als Quereinsteiger gestolpert. Das Studium für Germanistik brach ich ab. Spontan entschied ich mich für ein Volontariat und blieb dort hängen. Durch ihn bin ich mutig geworden, habe mich getraut, etwas zu riskieren …“ Ein weiteres Mal unterbrach mich Ellen.

„Auch du hast zu ihm gestanden und vor allem ihn unterstützt. Ich sage dir: Die Dankbarkeit ist das Erste, was flöten geht! Von Dankbarkeit kann man sich nichts kaufen und schon gar nicht satt werden! Du bist Christoph nichts schuldig! Nicht mehr als er dir! Diese Rechnung wird nicht aufgehen. Horche in dich hinein!“

„Aber was ist mit Loyalität und den Werten wie Vertrauen und auch eine stückweite Demut vor dem gemeinsam Erreichtem? Wir interessieren uns ehrlich füreinander. Seine Nöte und Sorgen sind meine, ohne dass ich mich dafür schuldig fühlen muss.“

Ellen schaute mich schräg und provozierend an.

„Ja, okay, manchmal passiert genau das und ich fühle mich schuldig. Niemals zuvor wäre ich auf den Gedanken gekommen, meinen Mann zu betrügen. Denn das wäre es für mich! Ein Betrug! Das war für mich zu keiner Zeit, nicht einmal im Ansatz, eine Lösung für irgendetwas! Und das ist es bis heute nicht!“

„Jetzt in allen Ehren und bei allem Respekt! Bist du eine Nonne, die sich Gott verschrieben hat? Du kannst nicht alles zum Einheitspreis bekommen!

Nur weil es irgendwann einmal vor fast 30 Jahren meinetwegen eure gemeinsamen Grundwerte waren. Doch müssen die dann bis an das Ende eurer Tage genauso gelten? Du bist auch nicht mehr die Frau von vor 20 Jahren. Du hast dich verändert. Ihr habt euch verändert. Und auch Werte verändern sich. Einstellungen verändern sich.

Betrüge dich selbst weiter! Denn das wird es sein. Für was steht deine Definition eigentlich? War das jetzt ein Statement an die Liebe, an eure Liebe oder der Verhaltenskodex für Verheiratete? Glaubst du, dass das von jedem so unterschrieben wird?“

„Das muss es nicht! Für mich sind das die wichtigen Grundwerte! Und du brauchst gar nicht zu polemisieren“, reagierte ich etwas verärgert.

„Mir ist schon klar, dass es nicht um jeden und alle geht. Aber teilt dein Mann auch diese Einschätzung?“

Stille!

„Dann geht es am Ende nur um die Frage, wen ich nun betrüge? Meinen Mann oder mich selbst?“

„Pest oder Cholera!“ Ellen zwinkerte mir frech zu.

„Ava, entschuldige bitte. Das war eben etwas heftig. Bewusst habe ich das auch ein bisschen provoziert! Ich bin davon überzeugt, dass es dich so oder so weiterbringen wird. Als ich mich damals in dieser Situation befand, löste sich bei mir ein richtig dicker Knoten auf und die Krise war vorbei. Mein Mann war allerdings etwas jünger! Jedoch half das nichts. Er war kein leidenschaftlicher Liebhaber und hatte dafür auch keinen Sinn. Tatsächlich scheiterte unsere Ehe, aber nicht nur daran!“

So verlief weitgehend unser Nachmittag. Ellen hatte mich fix und fertig gemacht.

Doch konnte ich die Gedanken zu unserem Gespräch nicht einfach beiseitelegen. Egal, wie es sein würde. Gebe ich mich meinen Bedürfnissen hin, würden mich Schuldgefühle plagen. Tue ich es nicht, würde ich vom Frust zerfressen? War hier die Entscheidung wirklich: Pest oder Cholera? Das konnte und wollte ich so nicht akzeptieren. Es musste noch einen anderen Weg geben!

Zudem machte ich mir Gedanken darüber, wie ich an meine Unterlagen kommen könnte. Und das ohne großes Aufsehen! Eins war klar! Ich musste dort hin, um an meine Sachen zu gelangen. Selbstverständlich hätte ich auch irgendjemanden dorthin schicken können. Doch die Blöße wollte ich mir nicht geben. So viel Courage hätte ich doch wohl noch! Aber ging es mir wirklich nur um die Unterlagen?

Christoph und ich verbrachten noch einen wunderbaren Abend. Beide konnten wir aufeinander zugehen.

Es war ja nicht so, dass ich nicht wusste, auf was beziehungsweise wen ich mich einließ. Als Christoph und ich uns kennenlernten, war ich blutjung und er in seiner besten Schaffenskraft. Natürlich hatten Christoph und ich unsere Gedanken zu unsrer Beziehung und auch schwache Momente. Doch beide waren wir voneinander fasziniert und sahen eher die Dinge, die funktionieren und passen könnten. Und so ganz verkehrt lagen wir mit unserer Einschätzung ja nicht. Viel wichtiger war uns das Gefühl füreinander. Für mich würde es der Lebensendpartner sein. Punkt!

Von Anfang an war mir klar, dass er der Richtige ist. Es gibt Dinge, die weiß man einfach! Groß erklären braucht man das nicht. Kann man auch nicht. Welche Worte könnten unsere Verbindung wahrhaft beschreiben? Das geht weit über eine körperliche Anziehung hinaus. Die Grundbasis war und ist ein tiefes, geistiges Verständnis, nicht nur füreinander. Das sollte es wohl in jeder Beziehung geben.

Verständlicherweise brachte mein Mann, allein durch sein Alter bedingt, einen immensen Erfahrungsschatz mit. Die geistige Erwartungshaltung, wenn es so etwas überhaupt gibt, ist auf beiden Seiten rein biologisch gesehen unterschiedlich. Auch und gerade weil wir diesen Altersunterschied hatten, konnte es in unserem Fall funktionieren. Wirklich gespürt habe ich den in seiner Persönlichkeit. Körperlich nie. Christoph lernte ich als unglaublich taffen und selbstsicheren Mann kennen. Das imponierte mir, gerade als junge Frau!

Und doch waren wir von Anfang an in der glücklichen Lage, einfach sein zu dürfen. Wir konnten uns lassen, so wie wir sind. Denn genau darin bestand unsere gegenseitige Anziehungskraft. Ihm habe ich nie irgendetwas beweisen müssen und Christoph brauchte sich mir gegenüber nie zurückzuhalten. Da waren zwei, die sich trauten! Dass im Laufe einer Beziehung über einen so langen Zeitraum nicht alle Ebenen und Aspekte in einem ausgeglichenen Verhältnis wirken und ausgeschöpft werden können, ist Fakt. Eine gute Basis jedoch übersteht Krisen. Und auch wir hatten die. Nichtsdestoweniger konnten wir über alles reden, auch wenn wir nicht alles verstanden. Blieb das Gespräch aus, ertrugen wir uns im Schweigen.

Das half über einige schwierige Momente hinweg.

Nie gab es einen ernsthaften Zweifel oder Situationen, in denen ich mich zu etwas hinreißen ließ das ich bereuen würde. Niemals!

Hindernisse schienen Christoph nur noch mehr anzuspornen. Als junge Frau habe ich mir nicht unbedingt Gedanken gemacht, wie es zwanzig Jahre später sein könnte. Obwohl wir auch darüber redeten. Da waren schon seine Ängste, ob er mir da nicht zu viel zumutete.

Das gefiel mir an ihm und zeigte, dass er sich seiner Verantwortung bewusst war. Für mich gab es keine Zweifel. Als wir uns näher kamen, sprachen wir immer mal darüber und natürlich versuchte ich, ihn mit meiner Liebe davon zu überzeugen. Mit der Liebe und Zuneigung einer blutjungen Frau.

Schon früh war mir klar, dass ich mit ihm mehr als nur Kaffeetrinken und Sex haben möchte. Obwohl mein Freiheits- und Unabhängigkeitsdrang schon da größer war als seiner. Er war nicht übermächtig, von Zeit zu Zeit allerdings aktiviert. Das ist für eine Beziehung mitunter eine Herausforderung. Tatsächlich haben wir es ohne Allüren, ohne Fremdgehen, ohne irgendwelche zwischenzeitliche Pausen geschafft. Wie sollte es auch anders gehen? Die Kinder kamen schnell. Ganz klassisch eben!

Wie es sich nach 20, sogar 30 Jahren anfühlt, weiß ich erst heute als erwachsene Frau. Und es war manchmal nicht einfach für mich! Nicht einfach, Gefühle und unerfüllte Leidenschaft auszuhalten. Und ganz sicher war es für Christoph auch nicht leicht.

Wie sollte ich plötzlich mit meinem Gefühl hadern? Es hatte einfach gepasst. Irgendwann waren wir über den Punkt der, wenn auch nur leisen, Unsicherheit, und haben es einfach laufen lassen. Wir haben uns einander zugetraut. In den ganzen Jahren gab es keinen Anlass, an unserer Liebe füreinander zu zweifeln. Wir hatten uns beide nie wirklich voneinander entfernt, weder geistig noch körperlich.

Es wurde ruhiger. Sehr ruhig. Zu ruhig?

Christoph musste eine Operation über sich ergehen lassen. Nicht irgendeine! Die Diagnose lautete Hodenkrebs.

25 Jahre lief alles gut und mehr als das. Wir glaubten es wäre überstanden. Für Immer. Bereits in jungen Jahren wurde ihm ein Hoden entfernt. Schon damals gab es Probleme, jedoch war der Krebs erst einmal außer Gefecht gesetzt. Seit einiger Zeit gab es Auffälligkeiten. Zunächst dachten wir an Stress oder andere Ursachen. Ahnten dennoch, auf Grund der Symptome, nichts Gutes.

Die Operation war vor drei Jahren und brachte Christoph um seine Männlichkeit. Das war seine Sichtweise der Dinge. Ihn darauf zu reduzieren würde ich nie tun. Was für ein Desaster. Es ist wie einen Stehpinkler aufs Hinsetzen zu nötigen. Natürlich hinkt der Vergleich. Trotzdem ist es gerade der Stehpinkler, der in diesem Punkt so auf seiner Männlichkeit beharrt. Als ob einen Mann nicht mehr ausmachen würde. Das sagt sich natürlich so einfach. Was unterscheidet einen Mann von der Frau?

Es ist und bleibt mies! Es kam richtig dick! Seither gab es mehr oder weniger eine eindeutige, zweideutige Entwicklung. Meine Aufbau- und Beschwichtigungsversuche fruchteten zwar anfänglich noch. Doch die Hoffnung und Zuversicht auf bessere Zeiten schwanden mit jedem Versuch, an alte Erfolge anzuknüpfen.

Später dann wurden Frust und Versagensangst übermächtig und meine Angebote weitgehend wirkungslos.

Andere Möglichkeiten der Befriedigung sind eine enorme Herausforderung. Die Bemühungen, Lust am Sex aufrecht zu erhalten, können durchaus anstrengend sein. Wenn auch nicht hoffnungslos. Da ich meinerseits manchmal selbst kämpfte. Das heißt aber nicht, dass ich die Lust verloren hatte.

Nicht nur mein Mann veränderte sich. Auch ich war keine Zwanzig mehr und zeitgleich in die Wechseljahre gekommen, mit all den dazu gehörenden Nebenwirkungen. Der Begriff gefällt mir. Es ist stimmig! Das Alter verändert alles und man ist einem Wechsel unterworfen. Einem Wechsel von Einstellungen zu den Dingen im und am Leben an sich. Nicht nur das Äußere wechselt sein Erscheinungsbild, auch das Innere beginnt sich zu verändern. Möglicherweise verläuft es auch umgekehrt. Ganz sicher sogar.

Für mich persönlich empfand ich es trotzdem als Segen. Obschon mir nicht alles gefiel. Es war nicht wirklich schön, mitten im Gespräch plötzlich eine Attacke zu bekommen und im Gesicht knallrot zu werden. Allein das würde ja schon ausreichen. Aber nein! Es mussten sich noch Schweißperlen am ganzen Körper bilden. Und wenn es ganz unerfreulich wurde, lief mir die Schminke übers Gesicht. Na, einfach aushalten und durch, könnte die Devise lauten. Ging ja nicht anders. Es gibt einfach Dinge, die auch ich nicht ändern kann. Sie sind, wie sie sind. Schreiend davonlaufen und sich währenddessen die Kleider vom Leib reißen war keine Option. In solchen Momenten sagte ich mir dann; mein Körper lebt, ist doch auch ganz schön! Einzig die Einstellung dazu, die kann man, kann ich, ändern.

Ein weiterer Aspekt war: Ich wurde immer gelassener. Tausend andere hatten es vor mir ja auch überstanden und werden es auch nach mir überstehen. Mein Zustand hatte sich in der Vergangenheit Gott sei Dank wieder beruhigt. So hatten und haben wir beide unsere Kämpfe und insgeheim war ich dankbar, dass meine Veränderung zeitgleich mit der seinen kam.

Hatten wir uns doch früh auf gewisse Abläufe eingeschossen und an Rituale gewöhnt. Natürlich sind wir im Laufe der Jahre bequem geworden und unser eingespieltes Programm gepflegt. Schön war es trotzdem, und die Erfolgsquote war hoch. Meinem Mann war das schon wichtig, immer zum Höhepunkt zu kommen. Ich war da entspannter.