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Rom – die Stadt der Widersprüche, der marmornen Ruinen und des kometenhaften Wiederaufstiegs zur Welthauptstadt. Tobias Roth entdeckt, übersetzt und kommentiert die literarischen Schätze der Zeit, und entführt in eine Welt voll hoher Kunst und verrückter Kleriker, antikenbegeisterter Dichter und rauer Wirklichkeit. Rom ist zu Beginn der Renaissance ein Trümmerhaufen. Als Petrarca vom Kapitol aus über Rom blickt, ist von der Pracht der antiken Welthauptstadt nicht mehr viel übrig. Statt über einer Million leben auf dem riesigen Areal nur noch knapp 20.000 Menschen, zwischen den steinernen Zeugen einstiger Größe weiden Ziegen und Kühe. Doch mit dem Einzug machtbewusster Päpste geht es aufwärts. Geld fließt in die Stadt, Künstler folgen, riesige Bauprojekte werden angeschoben, Kunst und Poesie beginnen zu florieren. Renaissance-Kenner Tobias Roth führt durch das staunenswerte Leben in Rom mit all seinen Gegensätzen, Höhen und Tiefen. Gelehrte wie Flavio Biondo geraten in der Ruineneinöde in Verzückung, Statuen wie der Laokoon werden ausgegraben, und während im Vatikan Mittagessen mit 130 Gerichten (für den Papst bitte nur ein Ei!) serviert werden, verfasst Pietro Aretino seine erste große Satire – das sarkastische Testament des päpstlichen Hauselefanten Hanno. Mit Vittoria Colonna etabliert sich die erste gedruckte Lyrikerin der Neuzeit und tauscht mit Michelangelo Gedichte aus. Und die mitteilsame Bevölkerung berichtet in Tagebüchern und Memoiren von Aufschwung und Unsicherheit, Pilgerströmen und Verkehrskatastrophen und nicht zuletzt vom Blutbad des sacco di Roma, der Plünderung der Stadt durch deutsche und spanische Söldner 1527.
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Seitenzahl: 301
Veröffentlichungsjahr: 2024
Tobias Roth
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Tobias Roth, geb. 1985, ist freier Autor, Mitbegründer des Verlags »Das Kulturelle Gedächtnis«, Lyriker und Übersetzer. Roth wurde mit einer Studie zur Lyrik und Philosophie der italienischen Renaissance promoviert. 2020 erschien sein aufsehenerregender Foliant »Welt der Renaissance«. 2023 folgte der erste Band der anschließenden Städtereihe Welt der Renaissance: Neapel, 2024 der zweite Band über die Renaissance in Florenz.
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Rom – die Stadt der Widersprüche, der marmornen Ruinen und des kometenhaften Wiederaufstiegs zur Welthauptstadt. Tobias Roth entdeckt, übersetzt und kommentiert die literarischen Schätze der Zeit, und entführt in eine Welt voll hoher Kunst und verrückter Kleriker, antikenbegeisterter Dichter und rauer Wirklichkeit.
Rom ist zu Beginn der Renaissance ein Trümmerhaufen. Als Petrarca vom Kapitol aus über Rom blickt, ist von der Pracht der antiken Welthauptstadt nicht mehr viel übrig. Statt über einer Million leben auf dem riesigen Areal nur noch knapp 20.000 Menschen, zwischen den steinernen Zeugen einstiger Größe weiden Ziegen und Kühe. Doch mit dem Einzug machtbewusster Päpste geht es aufwärts. Geld fließt in die Stadt, Künstler folgen, riesige Bauprojekte werden angeschoben, Kunst und Poesie beginnen zu florieren.
Renaissance-Kenner Tobias Roth führt durch das staunenswerte Leben in Rom mit all seinen Gegensätzen, Höhen und Tiefen. Gelehrte wie Flavio Biondo geraten in der Ruineneinöde in Verzückung, Statuen wie der Laokoon werden ausgegraben und während im Vatikan Mittagessen mit 130 Gerichten (für den Papst bitte nur ein Ei!) serviert werden, verfasst Pietro Aretino seine erste große Satire – das sarkastische Testament des päpstlichen Hauselefanten Hanno. Mit Vittoria Colonna etabliert sich die erste gedruckte Lyrikerin der Neuzeit und tauscht mit Michelangelo Gedichte aus. Und die mitteilsame Bevölkerung berichtet in Tagebüchern und Memoiren von Aufschwung und Unsicherheit, Pilgerströmen und Verkehrskatastrophen und nicht zuletzt vom Blutbad des Sacco di Roma, der Plünderung der Stadt durch deutsche und spanische Söldner 1527.
Eine Stadt aus Ruinen
Francesco Petrarca
Der erste Blick auf Rom. An Giovanni Colonna
Poggio Bracciolini
Über die Wandelbarkeit der Fortuna, Buch 1 (Auszüge)
Aufgang des Humanismus
Flavio Biondo
Ein Ausflug in die Albaner Berge. An Leonello d’Este
Flavio Biondo
Ein Gastmahl in Rom. An Leonello d’Este
Biotop am Vatikan
Lorenzo Valla
Sechs Bücher über die Schönheiten der lateinischen Sprache. Vorrede
Lorenzo Valla
Über die erfundene und erlogene Schenkung Konstantins. Vorrede
Kreuzzug, Druckerpresse und rauer Alltag
Stefano Infessura
Tagebuch der Stadt Rom (Auszüge)
Große Feste, große Tiere
Pietro Aretino
Testament des Elefanten Hanno
Neuer alter Marmor
Jacopo Sadoleto
Laokoon
Raffaello Santi
Über die Ruinen Roms. An Papst Leo X. (Auszug)
Der sacco di Roma
Benvenuto Cellini
Mein Leben (Auszug)
Marcello Alberini
Erinnerungen (Auszüge)
Die Dichterfürstin
Vittoria Colonna
Ist Hoffnung für die schöne Flamme in mir
In das treue Herz neuen Frühling gebracht
Ist auch, Amor, die erste Hoffnung gestorben
Der Wind meiner freudigen Hoffnung brachte
Ewiger Vater des Himmels
Wenn sich der menschliche Geist zum Flug erhebt
Michelangelo Buonarroti
Wendet sich dein schöner Blick
Um wieder zum Ursprung zurückzukehren
Einen Kropf hat mir das Elend zugezogen
Bücherverbot und Mittagstisch
Bartolomeo Scappi
Mittagessen für die zweite Krönung von Papst Pius V.
Anhang
Verzeichnis der Medaillen
Quellen
Dank
Verzeichnis der Abbildungen
Förderungshinweis
Von Rom, der marmornen Hauptstadt der Welt, ist kaum mehr etwas zu sehen, als Francesco Petrarca 1337 erstmals seinen Blick vom Kapitol über das Forum schweifen lässt. Seit recht genau tausend Jahren residiert hier kein Kaiser mehr. Als Kaiser Konstantin im Jahr 330 seine Residenz an den Bosporus, in das nach ihm benannte Konstantinopel, verlegt, ist Rom gerade noch eine MillionenstadtMillionenstadt gewesen, eine Weltmetropole sondergleichen. Die Aurelianische Mauer, die Ende des 3. Jahrhunderts um die innere Stadt gezogen wird und durch 14 Haupttore das weitverzweigte Straßennetz des Reiches aufnimmt, ist mit einer Länge von über 18 Kilometern so gewaltig, dass sie schon in der Spätantike nicht mehr voll bemannt werden kann. Register des 4. Jahrhunderts nennen 18 über- oder unterirdische Aquädukte, die die Stadt mit Wasser versorgen, 8 Brücken über den Tiber, zahlreiche Sakral- und Theaterbauten, je ein gutes Dutzend Foren, Basiliken und öffentliche Bäder, allein 36 Triumphbögen, vor allem aber 44000 insulae, also vier- bis fünfstöckige Mietskasernen. Die Dächer des Kapitols, des politischen und spirituellen Zentrums, sind mit vergoldeter Bronze gedeckt. Die Stadt verfügt über 28 Bibliotheken.
Dieses Rom ist nicht an einem Tag erbaut worden, es geht auch nicht an einem unter, aber der Verfall ist trotzdem radikal. 410 wird Rom von den Westgoten erobert und geplündert: Die letzte Plünderung der Stadt liegt da bereits fast 800 Jahre zurück, die nächste aber wird nur 45 Jahre auf sich warten lassen.Untergang Das römische Großreich, das sich von Mesopotamien bis Schottland erstreckte, zerfällt in Teilreiche, die sich bekriegen, während der Druck von außen, besonders von den Barbaren aus dem Norden, wächst. Hunnen, Ostgoten und Vandalen durchkreuzen und bedrängen das wankende Reich, 476 wird der letzte weströmische Kaiser abgesetzt, Rom ist da schon längst nicht mehr die Hauptstadt. Auch die Kämpfe um Italien, die der oströmische Kaiser Justinian erfolgreich führt, setzen der Stadt zu, aber bald schon muss Byzanz den Langobarden weichen, diese bald den Franken. Bereits zur Mitte des 6. Jahrhunderts sind nur noch etwa 30000 Einwohner übrig – das wird, abgesehen von etwaigen drastischen Schwankungen, die Größenordnung für das nächste Jahrtausend der Stadtgeschichte sein. Das sind 3 %Schrumpfung der Millionenstadt und etwa die Hälfte dessen, was ins Kolosseum passt.
Diesen Schwund haben sich nicht nur Feldherren gutzuschreiben. Rom, caput mundi, Kopf der Welt, hat seinen Körper verloren, und nicht nur die Herrschaft über die Völker, sondern auch die über die Natur kommt an ein Ende. Die Lieferketten des Imperiums brechen ebenso zusammen wie die Leitungen, die die Stadt mit Frischwasser versorgen oder aber den Sumpf, auf dem sie steht, drainieren. Der Tiber holt sich seine Bewegungsfreiheit zurück und setzt die Stadt regelmäßig unter Wasser. Hungersnöte also im Wechsel mit Überschwemmungen und Seuchen; die Malaria steht den Römern wenigstens gegen so manches Belagerungsheer bei. Die spätantiken Mauern stehen noch, aber die Stadt in ihrem Inneren schrumpft mehr und mehr zusammen. Da es kaum mehr künstliche Infrastrukturen gibt, müssen die Menschen auf natürliche zurückgreifen: Die Bevölkerung verlagert sich von den Hügeln ans Flussufer.ans Ufer Nur in Trastevere und auf dem Marsfeld am Tiberknie leben noch Menschen, in der bewohnten Zone des abitato. Die unterirdische aqua virgo, eine Leitung, die am Fuße des Quirinal im Trevibrunnen mündet, funktioniert die meiste Zeit über und versorgt die Bewohner; um das Pantheon, eines dieser Wunderwerke, die einfach stehen geblieben sind, beschauliche Einfamilienhäuser mit Streuobstwiesen. Das Kapitol markiert schon den Beginn des unbewohnten disabitato, der über drei Viertel des von der Stadtmauer umschlossenen Gebietes einnimmt. Sumpf und Brache, Weideland, Äcker und Obsthaine breiten sich inmitten der Ruinen aus. Eine Grille zirpt.
Für die unzähligen öffentlichen Gebäude, Speicher, Markthallen, Theater und Paläste des ehemaligen Zentrums hat längst niemand mehr Verwendung, vor allem für die Tempel, deren Ära abrupt endet: 356 werden die heidnischen Tempel geschlossen, 408 wird ihre Umnutzung erlassen, schon 459 wird ihre gewerbsmäßige Abtragung legalisiert. Über Jahrhunderte hinweg werden die Überreste der Antike weiterverarbeitet, wiederverwertet, verdaut. Ganze Teile, sogenannteSpolien Spolien, werden neu verbaut, vor allem Säulen, Kapitelle und Schmuckelemente; wie groß die qualitative handwerkliche Differenz zu den Werken des Mittelalters ist, zeigt sich dabei in teils grellem Nebeneinander, wie in Santa Prassede, einer Kirche des 9. Jahrhunderts, es ist zum Heulen. Spolien werden nicht nur für römische Baustellen, sondern auch für den Export geerntet. Viele Überreste werden zweckentfremdet, der Grabstein von Kaiser Caligulas Mutter Agrippina etwa dient als kommunales Getreidemaß. Kontinuierlich wird die Antike auch zur Verteidigung der Stadt eingespannt: Schon 536 wird der Statuenschmuck des Hadriansmausoleums zerschlagen, um ihn gotischen Belagerern entgegenzuschleudern, und um dasselbe Gebäude, das nun Engelsburg heißt, mit neuen Kanonen auszustatten, wird noch im 17. Jahrhundert Bronze vom Dach des Pantheons umgeschmolzen. Natürlich wird viel an- und umgebaut. Zahlreiche Kirchen wachsen aus antiken Resten.Umnutzung Theater werden zu Festungen mächtiger Clans, indem die Bögen zugemauert werden, ebenso Mausoleen wie das des Augustus und das des Hadrian, dem als Engelsburg größte Bedeutung zukommt. Das Kolosseum ist, Gewölbe für Gewölbe, vermietet, an Werkstätten und Betriebe, ebenso als Wohnraum an Geistliche und Bürger, zudem hat die mächtige Familie Fragipani hier eine Festung eingerichtet. Selbst auf Triumphbögen wie dem des Septimus Severus auf dem Forum Romanum werden noch Wehrtürme aufgesetzt. Überall in Rom rauchen die Kalköfen, in denen Marmor verbrannt wird, um bald Mörtel oder Putz zu werden; das betrifft vor allem Statuenteile.
Einstige Erdgeschosse sind nun entsprechend vermietete Kellergeschosse, denn mit den Jahren sind mehrere Meter Tiberschlamm aufgeschwemmt worden. Windige Hütten lehnen sich an gewaltige Thermengewölbe, wie sie seit Jahrhunderten niemand mehr mauern kann, in der immer leerer werdenden Stadt drängen sich immer dichter Menschen um die immer seltener funktionierenden Brunnen. Es ist eine schlichtweg dystopische Vorstellung, wie eine Gegenwart derart buchstäblich in den Überresten ihrer Vergangenheit haust. Im unbewohnten disabitato bestimmen Ziegen und Kühe dasWeideland Stadtbild: Bis in das 19. Jahrhundert hinein heißt das Kapitol auch Monte Caprino (Ziegenberg), das Forum Romanum Campo Vaccino (Kuhfeld). Teile des disabitato bleiben bis zum Ende des 19. Jahrhunderts leer. Es gibt Photographien davon.
Deutlich zäher als die Bausubstanz Roms ist indes der Anspruch auf Weltherrschaft, obwohl der Kaiser seine Residenz längst nach Konstantinopel beziehungsweise Mailand, Ravenna oder Aachen verlegt hat. Während die Stadt sich entvölkert, wächst das Christentum heran. Der Bischof von Rom, der Papst, behauptet seinen Führungsanspruch in geistlichen, mehr und mehr auch in weltlichen Dingen. Papst Leo I.,440–461 genannt der Große, erklärt Rom, kraft der Gebeine und der vermeintlich bruchlosen Amtsnachfolge der beiden Apostel Petrus und Paulus, mit imperialer Geste zur Hauptstadt der Welt, auch wenn so manche Kirche mit Schilfrohr gedeckt ist. Unter Gregor I.,590–604 einem weiteren Großen, werden die Grundlagen zur Verwaltung eines Staatsgebietes geschaffen, das sich in der Folge durch (notfalls gefälschte) Schenkungen auch einstellt. Die Päpste auf dem Stuhl Petri erscheinen wie gewöhnliche Fürsten auf anderen Thronen: Sie sind mal schwächer, mal stärker, aber genug haben sie nie. Sie amtieren auf Lebenszeit, aber selten lang, und besetzen, so gut es jeweils geht, Schlüsselpositionen mit Verwandten, um die Herrschaft möglichst lange in ihrer Familie zu halten, wie es »Adel« auch tut. Und doch ist das Papsttum ein sehr eigentümlicher Aggregatzustand gewöhnlicher, weltlicher Macht. Die Entscheidung der Kardinäle, die den Papst aus ihren Reihen wählen, ist ein Instabilitätsfaktor und jedes Mal ein Stellvertreterkonflikt aller christlichen Mächte um Einfluss. Auch die Religion spielt eine gewisse Rolle, als Priesterkönig beansprucht der Papst die Deutungshoheit bezüglich alles Sinnlichen und Übersinnlichen und verfügt dafür neben dem weltlichen auch über ein geistliches Schwert, das tatsächlich im Diesseits schneidet; der Ausschluss aus der Gemeinde der Gläubigen etwa, die Exkommunikation, löst nicht nur Angst und Schrecken aus, sondern wirkt auch als Wirtschaftssanktion. Es ist das wehrhafteste Luftschloss aller Zeiten.
Zudem pflegt das Papsttum die imperiale Tradition,Machtanspruch die die Herrschaft spezifisch an den Ort Rom knüpft – eine Tradition, die die tatsächlichen Kaiser Roms schon in der Spätantike aufgegeben haben. Konkurrenten um einen so intensiven Allmachtsanspruch sind nie weit und der Priesterkönig wird selten sanfter angefasst als ein anderer Fürst. Auch die Kaiser des Mittelalters beziehen sich wieder auf Rom als Quelle der Legitimation, von Zeit zu Zeit gibt es einen zweiten Papst. Zudem muss es nicht immer um alles gehen: Auch Könige treten weltlich gegen den Papst auf, der Baronaladel Roms und seines Umlandes bemächtigt sich mal durch die Ämterlaufbahn, mal durch Waffengewalt der Kirche, und der Rest der Welt ist nicht müßig. 846 etwa wird die Stadt von Sarazenen geplündert, die Peterskirche schwer beschädigt. Auch in den folgenden Jahrhunderten leidet die Stadt Rom schwer unter dem Symbol Rom: Der Theorie der Weltherrschaft entsprechen in der Praxis stets nur Straßenschlachten und verwüstete Felder. Unermesslicher Reichtum und souveräne Macht, wie die Kirche sie etwa in ihrer Architektur seit jeher nahelegt, wird sich erst mit der hohen Renaissance einstellen; die verwüsteten Felder werden dadurch nicht weniger.
Bei aller Rede von Untergang, Zerfall und Schrumpfung aber ist Rom noch immer eine große, wichtige Stadt, wenn auch kleiner als Florenz, Venedig oder Neapel. Denn zu den festen Bewohnern gesellen sich noch zahlreiche Besucher: die Pilger.Pilger 637 kommt Jerusalem unter muslimische Herrschaft, was einen Aufschwung Roms als Wallfahrtsort nach sich zieht. Mitte des 8. Jahrhunderts wird das altrömische Begräbnis- und Leichenverbot innerhalb der Stadtmauern aufgehoben, die Reliquien der Märtyrer werden wagenladungsweise in Kirchen verbracht und ausgestellt. Die Fremdenverkehrsindustrie ist eine wichtige Einnahmequelle der Stadt und des Papstes gleichermaßen. Die Pilgerströme aus der ganzen Welt beleben das Gast- und Baugewerbe, sie bringen Spenden, Ablässe und Schmiergelder und machen Rom so zu einem internationalen Finanzplatz. Besonders frisch bekehrte Stämme wie Franken oder Friesen kommen zahlreich, bleiben zuweilen lang und siedeln sich, wie eine ganze Reihe Häuptlinge von den Britischen Inseln, rings um den wichtigsten Wallfahrtsort, das Grab des Apostels Petrus, an. Das Gewerbe Roms zieht seiner Kundschaft hinterher.
Durch den Übergang von Heiden- zu Christentum dreht sich die Stadt ganz buchstäblich um: Die übriggebliebenen Bewohner orientieren sich an den neuen Kultorten und den Straßen, die sie verbinden. Um wichtige Kirchen entstehenNebenzentren Siedlungskerne, die zwar innerhalb des Mauerrings liegen, aber dennoch durch den disabitato vom Tiberknie getrennt sind: um Santa Maria Maggiore auf dem Esquilin und um San Giovanni auf dem Lateran, die Bischofskirche von Rom und bis Ende des 14. Jahrhunderts die Residenz des Papstes. Vor allem aber das Grab des Apostels Petrus saugt die Stadt an. Die Siedlung auf der anderen Seite des Tibers, der sogenannte Borgo und der Vatikan, bekommt im 9. Jahrhundert eigene Mauern und wird immer mehr zum Gravitationszentrum der Stadt. Am deutlichsten ist diese NeuorientierungDrehung Roms vom Kapitol aus sichtbar: War es einst der Mittelpunkt der Stadt, der sich nach Osten zum Forum öffnete, liegt es jetzt am Rand der bewohnten Zone und kehrt der Peterskirche im Westen den Rücken zu.
Zudem sind die Kräfte, die sich das Kapitol zum besonders passenden Repräsentationsort erwählen könnten, notorisch schwach: Eine freie Kommune, wie sie sich im Spätmittelalter in vielen Städten Nord- und Mittelitaliens etabliert, hat in Rom gleich zwei massive Kräfte zum Gegner, nämlich den Papst und den Adel. Besonders die beiden mächtigen Familien Colonna und Orsini, die sich alsBarone Barone deutlich von einem Mittelbau anderer Edelmänner abheben, kontrollieren das Leben der Stadt: Sie halten ausgedehnte Ländereien im Umland, besetzen zu Festungen ausgebaute Ruinen innerhalb der Mauern, haben die wichtigen Verkehrswege in der Hand. Vor allem aber verfügen sie über ein weites und belastbares Netzwerk aus Klienten, das die Gesellschaft von ganz unten bis ganz oben durchzieht. Die Kommune ergreift hin und wieder Möglichkeiten, die sich ergeben, wenn die irdischen und himmlischen Mächte einen schwachen Moment haben, aber das ist nie von Dauer und wird stets bündig und blutig niedergeschlagen. 963 wird der Stadtpräfekt nach einer Reihe von Aufständen festgenommen und mit den Haaren an der Reiterstatue des Kaisers Marc Aurel aufgehängt, die vor der päpstlichen Residenz auf dem Lateran steht und damals für Kaiser Konstantin gehalten wird. 1143 erhebt sich die Kommune unter dem Einfluss des charismatischen Predigers Arnold von Brescia, der unter anderem ein Armutsgelübde aller Geistlichen, auch außerhalb des Klosters, fordert. Ein Senat wird gewählt, der sich auf dem Kapitol versammelt beziehungsweise verschanzt, aber schon 1155 wird er vom Papst und seinem Verbündeten Friedrich Barbarossa wieder beseitigt.
Das größte Machtvakuum bietet sich, als der Papst nicht nur zwischenzeitlich vertrieben wird oder mit einem Gegenpapst beschäftigt ist, sondern Rom tatsächlich verlässt: 1309, nur wenige Jahre nach dem triumphalen und lukrativen Jubiläum von 1300 mit seinen unerhörten Pilgermassen, wird der Papstsitz für gut 70 Jahre nach AvignonAvignon verlegt. Zwar fehlt mit der Kurie ein wichtiger Industriezweig der Stadt, zwar rafft auch hier die große Pest von 1348 unzählige Menschen dahin, aber es gibt doch Raum für etwas revolutionären Schwung: Von Mai bis Dezember 1347 und von August bis Oktober 1354 gelang der aus einfachen Verhältnissen stammendeCola di Rienzo Cola di Rienzo an die Macht, der sich als Tribun oder Ritter (seine Titel zeugen von großer Phantasie) an die Spitze der Kommune stellt. Er schafft es tatsächlich, die Baronalfamilien der Colonna und Orsini vorübergehend aus der Stadt zu drängen und ihre Klientele zu lockern. Mit großer, pompös antikischer Geste predigt Cola die Herrschaft des Volkes im Besonderen, die Herrschaft Roms im Allgemeinen. Damit gewinnt er zunächst viele Anhänger – darunter auch Francesco Petrarca, der Cola bereits vor seinem Aufstieg kannte und für ihn sogar das Einvernehmen mit seinen Patronen, der Familie Colonna, aufs Spiel setzt. Aber bald lenkt Petrarca ein, begeistert von der Idee, aber enttäuscht von der Person, und nimmt beschämt Abstand. Denn selbst für römische Verhältnisse klaffen Anspruch und Wirklichkeit sehr weit auseinander. Cola kann sich gegen den Adel nicht lange behaupten, er wird exkommuniziert und exiliert und wird bei seinem zweiten Anlauf 1354 den Römern zunehmend suspekt; sein Prophetengehabe ist das eine, seine immer drakonischere und ungehemmtere Regierung das andere. Er wird gelyncht, bevor ihm der Prozess gemacht werden kann.
Als Francesco Petrarca also 1337 seinen Blick vom Kapitol über das Forum schweifen lässt, steht er nicht im Zentrum eines Weltreiches, sondern am Rande eines Städtchens. AmKapitol Westhang des Hügels wird ein alteingesessener Markt gehalten, ein erstaunlich langlebiger Seilerbetrieb hat sich in den Ruinen des (vermutlich) Jupitertempels etabliert. Die unebene, von meterhohem, antikem Schutt bedeckte Hügelkuppe wird beherrscht von der Festung der Familie Corsi über dem Tabularium, dem einstigen Staatsarchiv Roms, die oft zerstört und noch öfter umgebaut wird und an die sich (vermutlich) der kommunale Palast des senatore anschließt; sie werden im Zuge der Neugestaltung des Platzes durch Michelangelo Buonarotti ab 1538 überbaut. Das andere prägende Gebäude des Hügels ist ein Neubau, die Franziskanerkirche Santa Maria in Aracoeli, die Ende des 13. Jahrhunderts fertig wird; die gewaltige Treppe zur Kirche hinauf kommt erst 1347 hinzu. Dass die Franziskaner seit 1249 auf dem Kapitol ansässig sind, ist bezeichnend: In anderen Städten befinden sich ihre Niederlassungen am Rand, in den Armenvierteln.
Von all dem schreibt Petrarca im Brief FamiliaresII, 14 an seinen Dienstherrn Giovanni Colonna nichts.Petrarca Petrarca, Anfang dreißig und zum ersten Mal in Rom, ist sprachlos und das, wie immer, sehr beredt. Das prägnante Schreiben ist der reine Enthusiasmus, der keine Begründung mitliefern muss: Die von Adressat wie Absender befürchtete Desillusionierung beim Anblick des tatsächlichen Rom stellt sich nicht ein. Giovanni Colonna, dessen Bruder Giacomo mit Petrarca in Bologna studiert und Freundschaft geschlossen hat, ist ein Spross jener mächtigen Familie, die mit den Orsini um die Herrschaft Roms konkurriert und im Laufe der Zeit mehrfach einen Papst vertreibt, verhöhnt und/oder beraubt. Giovanni Colonna amtiert als Kardinal am päpstlichen Hof zu Avignon, wo Petrarca 1330 sein Kaplan wird. Petrarcas Lebenszeit1304–1374 deckt sich fast vollständig mit dem Aufenthalt der Kurie in1309–1377 Avignon. Er wird in Arezzo geboren, aber die Familie zieht bereits 1312 dem Arbeitsplatz und dem Papst hinterher: Obwohl er viel unterwegs ist, wird Südfrankreich bis 1353 sein Lebensmittelpunkt bleiben, seinen Lebensabend verbringt er in Norditalien. Ein diffuses, sowohl geographisches als auch chronologisches Heimweh prägt seinen Blickwinkel und trägt gewiss einiges zu Petrarcas unantastbarer Begeisterung für die Antike im Allgemeinen und die Stadt Rom im Besonderen bei.
Begeisterung für die Antike ist Begeisterung für eine fremde Kultur. Die (verschiedentlich verhängnisvolle) Gleichsetzung von »Römern« und »Italienern« ist, bei Gelehrten wie bei Politikern, nur rhetorische Pose. Echte Kontinuitäten, wie etwa das Gewicht Vergils im Sprachunterricht, gibt es sehr wenige, hauptsächlich in der Literatur. An diesen Texten aber ist vieles geradezu suspekt. Auch hält zu viel Lesen von der Tätigkeit des Tages ab. Selbst Petrarcas Vater, der Lektüre und Studium seines Sohnes früh fördert, wirft dessen Büchersammlung ins Feuer, weil sie das Studium der Juristerei in Montpellier behindert; Bücher sind Gegenstände von erheblichem Wert. Aber nicht alles wird verdammt, Vergil und Cicero werden einvernehmlich aus den Flammen gerettet.
Petrarcas Verehrung der klassischen Antike hat, wie es für den Humanismus typisch werden wird, eine gelehrte und eine künstlerische Seite,zwei Seiten die nicht voneinander zu trennen sind. Die Dichter, die rezipieren, zitieren, nachahmen, umkrempeln und neu schreiben, sind auch die Philologen, die die alten Texte einrichten, korrigieren, erläutern, vervielfältigen. Eine besondere Leidenschaft Petrarcas gilt dem Historiker Livius, der nicht nur gefeilte Prosa bietet, sondern auch Sachinformation und Beispiele für römisches Ethos. Petrarca liest (als einer der Ersten) verschiedene Handschriften, findet Abweichungen, ist empört und bemüht sich, vergleichend zur Quelle vorzudringen. Als Dichter und Moralphilosoph arbeitet er sich durch das Formenspektrum der antiken Literatur, er schreibt Eklogen und Epen, sammelt bedeutende Biographien, Exempel und Kurzdialoge, verfasst Abhandlungen und Invektiven. Er überarbeitet und ordnet seine Briefe in verschiedene Sammlungen, die nach dem Vorbild Ciceros (dessen Briefe an Atticus er 1345 als mittelalterliches Manuskript in Verona selbst entdeckt) zur Veröffentlichung bestimmt und zugleich privat sind. Auch seine volkssprachigen Werke, vor allem der Canzoniere, für den er noch heute berühmt ist, sind durchtränkt von antikem Bildungsgut und verbinden es experimentell mit anderen Dichtungstraditionen, etwa der Liebesdichtung in Sonettform oder der allegorischen Verserzählung in Dantes Terzine.
Zugleich besitzt Petrarca ein bitteres Bewusstsein für den fast unüberbrückbaren Abstand zur Antike und auch für die Einsamkeit, die die Liebe zu ihr bedeutet. Er verabscheut seine Gegenwart gründlich. Rom hat nicht nur keinen Kaiser, sondern auch keinen Papst mehr, alle Welt erscheint eitel, korrupt, oberflächlich, rücksichts-, ahnungs- und geschmacklos. Petrarca steht auch deshalb am Beginn der Renaissance, weil er maßgeblich an der Erfindung des Mittelalters mit seinerDunkelheit charakteristischen Dunkelheit beteiligt ist. Über diese Dunkelheit können ihn nur Bücher und Freundschaft trösten. In seinem autobiographischen Brief an die Nachwelt resümiert er: »Neben vielem anderen habe ich ganz besonders über dem Altertum gebrütet, denn meine eigene Zeit hat mich immer abgestoßen. Wenn nicht die Liebe zu den Meinen gewesen wäre, so hätte ich vollends gewünscht, in irgendeiner anderen Zeit als dieser geboren zu sein und dieses Jetzt ganz zu vergessen. Deshalb habe ich versucht, mich im Geiste in andere Zeiten zu versetzen.« Diese Versetzung scheint zu gelingen. Petrarcas zehnte Ekloge, ein langes, dialogisch gerahmtes Gedicht in lateinischen Hexametern, trägt den Titel Laurea occidens,Lorbeer der sterbende Lorbeerbaum. Petrarca erzählt hier seine Lesebiographie und Menschwerdung als eine Weltreise und fasst die Literatur, ihre Schönheit und Weisheit, in das Bild des Lorbeers. Dieser Lorbeer wird auf der letzten Seite des Gedichts in wenigen brutalen Versen vom Sturm entwurzelt, zerfetzt, zerstreut. Der Schäfer Silvano, Petrarcas Alter Ego, wird in ein geistiges Exil geworfen, er verliert die Orientierung, die Lebenslust und (ein schweres Wort für einen Christen) die Hoffnung. Alles scheint vorbei. Bereits Anfang des 12. Jahrhunderts hatte der französische Kleriker und Dichter Hildebert von Lavardin zwei großartige Hexameterdichtungen über die Zerstörung Roms geschrieben, ebenfalls unter dem Einfluss antiker Dichtung und aus eigenem Augenschein: Roma fuit, »Rom ist gewesen«, abgeschlossene und irreparable Vergangenheit. Nur die Ruine erzählt noch von einstiger Größe, aber der Sturz ist so tief, dass Rom selbst sich nicht mehr an Rom erinnern kann. Und das ist gut so, denn an die Stelle der antiken Kultur ist die des Kreuzes getreten: Rom ist nicht mehr die Herrscherin der Welt, sondern die Dienerin des einen Gottes, sie hat im Diesseits alles verloren, um im Jenseits alles zu gewinnen. Bei Petrarca ist dieser Tausch weder gut noch der Tod endgültig. Die zehnte Ekloge ist, nachdem Silvano die Hoffnung verloren hat, noch nicht zu Ende. Ein anderer Schäfer namens Sokrates, das Alter Ego von Petrarcas flämischem Lebensfreund Lodewijk Heyligen, weiß Trost und Rat:Steckling Das edle Gewächs, so schließt der Sterbende Lorbeer, wird aus neu gepflanzten Stecklingen, die die Götter gerettet haben, anderswo wieder austreiben.
Dass sich Rom selbst vergessen hat, bestätigt Petrarca in dem langen Brief Familiares VI, 2 an den Dominikanermönch Giovanni Colonna (nicht der oben genannte Kardinal gleichen Namens), aber fügt sogleich hinzu, dass Rom wiederauferstehen werde, sobald es sich selbst erkennt. Der Brief, vermutlich 1342 entstanden, enthält nicht nur Überlegungen zum Status heidnischer Philosophie (völlig akzeptabel, sofern sie sich mit christlicher Wahrheit deckt; ansonsten sind Irrtümer zu entschuldigen) und zur Datierung von »Antike« (der Zeitraum vor dem Aufkommen des Christentums), sondern auch eine eigentümliche und ausufernde Schilderung Roms. Petrarca beschreibt Spaziergänge in der übervölkerten, dennoch leeren Stadt, urbs vacua, sowie den Ausblick bei einer Ruhepause auf den Dächern der Diokletiansthermen – vermeintlich. Denn die überlange Liste an Orten und Gegenständen vermischt Legenden und Historie, sie benennt vieles, was gar nicht zu sehen ist. Die Liste breitet die Fülle eines idealen, zeitlosen Rom aus, hier folgen Antikes und Christliches bruch- und problemlos. Der lange wortreicheBeschwörungen Brief ist gerade so wie der kurze sprachlose Brief keine Beschreibung, sondern eine Beschwörung der Stadt Rom, mit deren Namen schon alles gesagt ist. Jedes Element der Liste wird mit einem vehementen hic, »hier, an dieser Stelle«, eingeführt. Die Magie des Ortes und seines Namens ist nicht macht- oder religionspolitisch, sondern kulturell.
Im Brief Familiares XV, 9 an Lelio Tosetti, auch er ein Jugendfreund aus dem Umkreis der Colonna, erwägt Petrarca sogar, seinen Wohnsitz nach Rom zu verlegen. Aber Petrarca ist ein Dichter und Mensch des Schwankens und Pendelns, heiß und kalt, süß und bitter wechseln schnell in ihm. Im Brief an die Nachwelt beschreibt er einen schnellen Aufbruch aus Rom, »da ich für alle Städte, aber besonders für Rom, diese anstrengendste aller Städte, Abscheu, ja Hass empfinde«. Nur um wenige Absätze später die nächste Reise an den Tiber zu beschreiben; schließlich ist er »in der Seele Römer« (Familiares XVI, 8).
In seinen Briefen gibt Petrarca auch intensive, körperliche Beweise für seine Liebe zu Rom, die über das Ertragen gewöhnlicher Beschwernisse des Reisens, wie Straßenräuber und Witterung, deutlich hinausgehen. 1350 pilgert er zum fünften Mal dorthin, allerdings geschieht, wie er an Giovanni Boccaccio schreibt (Familiares XI, 1), zwischen Bolsena und Viterbo ein Unglück: Ein Pferd der Reisegruppe, mit der er unterwegs ist, schlägt aus und trifft sein linkesSchienbein Schienbein. Abgestoßen von der rauen Gegend und angezogen von der Hauptstadt der Welt setzt er seinen Weg trotzdem fort und zieht erst vier Tage später, endlich in Rom angelangt, einen Arzt für die bereits stinkende, bis auf den Knochen klaffende Verletzung zurate. Das ist in einer Welt des Wundbrands lebensgefährlich, Petrarca zeigt sich stoisch und akzeptiert die Strafe Gottes. Der Vergleich zu seinem literarischen Werk drängt sich auf: Seine Ablehnung der Gegenwart und seine Liebe zu einem idealen Rom geben ihm doppelten Schub.
Doppelt ist auch eine hohe Ehrung, die Petrarca für seine Dichtung erhält: Angeblich am selben Tag erhält er einen Brief von der Universität Paris, der starken Institution mittelalterlicher Gelehrsamkeit, und vom Senat Roms, dem schwachen Abglanz antiker Größe, die ihm beide die DichterkrönungDichterkrönung mit dem Lorbeer antragen. Petrarca muss nicht lange überlegen. Er reist über Neapel, wo er seine Lorbeerwürdigkeit vom hochgebildeten König Robert d’Anjou prüfen lässt, nach Rom und wird am 8. April 1341 auf dem Kapitol gekrönt. Stefano Colonna, Oberhaupt des Clans, hält eine Laudatio, Petrarca selbst eine prachtvolle Festrede, die der Verteidigung und Aufwertung der Dichtung gewidmet ist, der antiken Dichtung vor allem: Es sei eine besondere Eigenschaft des immergrünen Lorbeers, dass seine Berührung unsere Träume Wirklichkeit werden lässt. Die Ehrung mit solchem Kranz ist seit der Antike keinem Dichter mehr zuteilgeworden, es ist ein Neubeginn – aber keine Wiederholung. Denn zum antikischen Gepräge der Inszenierung tritt eine ebenso deutliche, christliche Symbolik. Verse Vergils und das Ave Maria folgen in Petrarcas Festrede ohne Überleitung aufeinander. Die Krönung fällt auf den Ostersonntag und der Lorbeerkranz wird im Anschluss auf dem Altar der Peterskirche niedergelegt. Auch Petrarca wendet sich also vom Kapitol nicht nach Osten, auf das Forum, sondern nach Westen, zum Vatikan. Nach bestandener Zeremonie macht er sich auf den Weg nach Pisa und wird direkt hinter den Stadtmauern von Räubern überfallen (Familiares IV, 8).
Gut zwei Gelehrtengenerationen später sind zwar immer noch Räuber da, aber der Blick auf den unbewohnten Teil der Stadt hat sich gewandelt, weiterentwickelt.Poggio Als Poggio Bracciolini recht genau hundert Jahre später, 1431, ebenfalls seinen Blick vom Kapitol über das Forum schweifen lässt, sieht er nicht die Größe, sondern die Zerstörung, erhebt er nicht Jubel, sondern Klage. Poggio, 1380 geboren, stammt wie Petrarca aus dem Arnotal südlich von Florenz, er ist ein Schützling Coluccio Salutatis, der Petrarca noch gekannt hat und als Schüler Giovanni Boccaccios den Humanismus in Florenz prägt. Poggios Beschreibung der Ruinen Roms stellt das erste von vier Büchern seines Werkes Über die Wandelbarkeit der FortunaFortuna dar, ein Thema, dem fast jeder frühe Humanist eine Schrift widmet. Poggio präsentiert eine durchaus optimistische Gliederung, die von der Vergangenheit in die Gegenwart führt: Buch 1 ist der destruktiven Kraft der Fortuna in Rom gewidmet, Bücher 2 und 3 versammeln exemplarische Anekdoten der Zeitgeschichte über ihr Wanken und ihre Macht, Buch 4 notiert aus erster Hand den Bericht des Niccolò de’ Conti, den eine zwanzigjährige Entdeckungsreise bis nach Indien führt und der 1439 wieder am Hof Papst Eugens IV. in Florenz ankommt. Das erste Buch über die Ruinen Roms aber löst sich schnell aus dem Werkzusammenhang und verbreitet sich einzeln, es bietet überall benötigte Grundlagenforschung.
Beide Toskaner stehen also auf dem gleichen Kapitol, aber Poggio beschreibt ein Panorama aus Verlusten, aus offenen Fragen, und um sie zu beantworten, führt der Weg durch das Gestrüpp zu den Inschriften, anhand derer man hoffen kann, den Gebäuderest zu identifizieren, vielleicht gar zu datieren. Das ist ein völlig neuer, erfolgversprechender Weg, aber auch ein beschwerlicher und langwieriger – bei manchen Ruinen gelingt das erst im 20. Jahrhundert, die Arbeit dauert an. Poggio weiß im Grunde weniger über das antike Rom als die Bewohner und die Reisenden des Mittelalters, die die Ruinen in ein Erklärungsgespinst aus Legenden eingewoben haben. Ein Reiseführer aus dem 12. Jahrhundert trägt die Mirabilia, die WunderMirabilia Roms, im Titel und listet viele Namen auf, ohne viel Orientierung zu geben. Für die wichtigsten Orte aber hat er eine Erklärung und eine Geschichte parat: Die große pigna, ein vier (!) Meter hoher Pinienzapfen aus Bronze, soll oben auf dem Pantheon gestanden haben, das Kolosseum soll ein Sonnentempel gewesen sein, auf dem Kapitol, mit Glas überkuppelt,Magie sollen magische Glocken Unruhe in den fernen Ecken des Reiches angezeigt haben. Ähnlich gilt der Monte Testaccio, ein Berg antiker Scherben, als hoheitlich-rituelle Sammlung von Bodenproben aus den unzähligen unterworfenen Provinzen; tatsächlich ist der Testaccio einMüllberg Müllberg. Nicht nur die Macht, auch das Alter Roms wird voll Fabulierlust übertrieben: Aus einem Bogen des Kaisers Nerva, arcus Nervae, wird die Arche Noahs, der die Stadt nach vollendeter Bauarbeit am Turm zu Babel begründet haben soll.
Obwohl Poggio auch mittelalterliche Quellen berücksichtigt und auswertet, so geht er doch zu solchen Legenden auf kritische Distanz. Er ist an Tatsachen im modernen Sinne interessiert, um den Preis der Entzauberung: Der unverrückbare vatikanische Obelisk wird in den Mirabilia ausgiebig als Grab Gaius Julius Caesars beschrieben, dessen Asche befinde sich wie ein Talisman im goldenen Knauf an der Spitze; bei Poggio bekommt der Obelisk einen knappen Satz, Caligula habe ihn nach Rom gebracht. Das ist nüchtern, aber so steht es bei Plinius und so ist der Kenntnisstand bis heute.
Poggio beklagt nicht nur den Verlust an Bausubstanz, sondern auch den Verlust an Wissen, den Mangel an Historikern und Autoren, und »selbst der hochgelehrte Francesco Petrarca« kassiert einen Seitenhieb, auf volkstümlichen Aberglauben hereingefallen zu sein und die Grabpyramide des Cestius für das Grab des Remus gehalten zu haben. Ohne solche Legenden ist nicht mehr viel übrig: Die Ruinen schweigen unerklärt, sie stehen da nur, weil sie noch niemand weggeräumt hat, sie sind unleserlich geworden – corruptus, verderbt, nennt Poggio den Stadtkörper, so bezeichnet man auch fehlerhafte oder unlesbare Textstellen.
Typisch für die Renaissance wie für Poggio ist, dass solche Leerstellen einen Sammelimpuls auslösen. Gleich nach seiner Ankunft in Rom 1403 beginnt Poggio auf Bitten des greisen Coluccio Salutati, der bereits seit überInschriften dreißig Jahren als Kanzler von Florenz amtiert, Inschriften zusammenzutragen und aufzuschreiben. So entsteht Poggios Sylloge. Bei dieser Arbeit ist Poggio nicht alleine. Der einige Jahre jüngere Kaufmann und Gelehrte Ciriaco d’Ancona etwa, bestens vernetzt in den Kreisen der Macht und der Gelehrsamkeit von Mailand bis Rom, bereist mehrfach den östlichen Mittelmeerraum, um Inschriften zu sammeln und Überreste der Antike zu zeichnen. Besondere Bedeutung kommt Poggio als Entdecker von verschollen geglaubten Büchern zu, die er immer systematischer jagt, von Neapel bis Köln. Der Einfluss, den Poggio über diesen Umweg auf die Literatur- und Geistesgeschichte Europas nimmt, ist kaum zu überschätzen, die Liste seiner Funde ist hochkarätig und lang.
Seine Bücherfunde sind nicht von seinen Reisen zu trennen: Bezeichnenderweise gibt es in Rom selbst kaum wichtige Bücherfunde. Mit Ausnahme eines Aufenthalts in England von 1418 bis 1423, über den wir kaum etwas wissen und der eine triste Episode gewesen sein muss, bleibt Poggio fünfzig Jahre im Dienst der Kurie, was ihn auch immer wieder dienstlich auf die Nordseite der Alpen führt.Bücherjagd Vor allem in den Klöstern und Kirchen Deutschlands und der Schweiz wird Poggio, gleichsam im Windschatten seiner Sekretärstätigkeit, fündig. So bringt er etwa den vollständigen Text des Rhetoriklehrers Quintilian wieder ans Licht, ein großes Stück der Argonautica des Valerius Flaccus, den spätantiken Militärtraktat des Vegetius, sowie, einzig in seiner Art, die zehn Bücher des Vitruv über Architektur. Letztgenannter Fund hat unmittelbare Auswirkung auf die Baukunst der Renaissance und prägt die Gestalt unserer Städte bis heute. Poggio entdeckt fast zwei Dutzend Reden Ciceros, Texte der frühchristlichen Kirchenväter, die Silvae des Statius, Columellas Werke über den Landbau, ein großes Stück des Romans Satyricon von Petron sowie das epikureisch-atomistische Lehrgedicht De rerum natura des Lukrez und anderes mehr. Die Entdeckungen werden sofort abgeschrieben und im Freundeskreis der Humanisten verteilt: Die alten Bücher sind die neuen Bücher.
Wie tief das Vergessen ist, aus dem Poggio so manches Werk reißt, zeigt ein Brief über die Entdeckung Quintilians, den er an den Pädagogen Guarino Veronese schreibt, dessen Schule in Ferrara zu den besten des Kontinents zählt: Die antiken Werke stehen im Kloster Sankt Gallen gar nicht mehr in der Bibliothek,Quintilian im Kerker sondern liegen »mit Schimmel und Staub bedeckt (…) in einem abscheulichen und dunklen Kerker, im untersten Stockwerk eines Turmes, in den man selbst die zum Tode Verurteilten nicht gesteckt hätte«. Durch Poggios Fund wird gleichsam die Vollstreckung des Urteils ausgesetzt, durch die philologische und literarische Arbeit mit und an Quintilian wird das Urteil aufgehoben, der Delinquent gründlich rehabilitiert. Petrarca formulierte in seinem Epos Africa, für das er, obwohl Fragment, mit dem Dichterlorbeer ausgezeichnet wird, den Gedanken eines drei Todedreifachen Todes: Auf den Zerfall des Körpers und den Verfall der Grabmäler folgt als dritter Tod die Vernichtung der Bücher. Der christlichen Tradition des zweiten Todes in der Verdammnis tritt hier eine innerweltliche, diesseitige Staffelung von Toden gegenüber, die sich aus dem Wechselspiel von memoria, Gedächtnis, und gloria, Ruhm, ergeben. Unser Körper, Kerker der Seele, der Fortuna und der Fäulnis unterworfen, wird unweigerlich absterben, aber gegen den zweiten und den dritten Tod lässt sich kämpfen. Oder wie Poggio an Guarino schreibt: »Ich halte es für eine ausgemachte Sache, dass jeder, der in den Zuchthäusern der Barbaren nach solchen gefangenen Männern sucht und sich der Sitte der Alten entsinnt, ähnliches Glück haben wird wie ich. Viele werden wiederauftauchen, die wir jetzt als tot beweinen.«
Das pedantische Beharren auf dem Wortlaut einer Inschrift, um den Humanisten so ausdauernd und prestigehungrig streiten können, ist vor allem eines: ausweglos. Es steht sonst nirgends, es gibt weder Landkarten noch Grabungen, geschweige System. Es steht alles ganz am Anfang und die Furcht ist begründet, dass es weiterhin rückwärtsgeht, dass das Vergessen wächst. Dieser Bedrohung treten die Bücher Poggios und seiner Kollegen als handgeschriebene Unikate entgegen; die Antike findet außerhalb der betreffenden Kreise noch nicht statt. Das Irritierendste an den humanistischen Berichten über die Ruinen Roms ist nicht das Minimum an Information oder das Maximum an informierter wie uninformierter Verehrung, sondern die klamme Selbstverständlichkeit, mit der der andauernde Verlust, die kaum Zerstörunggebremste Zerstörung antiker Bau- und Kunstwerke, konstatiert wird. Das alte Rom ist auch in der Epoche, die später nach seiner Wiedergeburt benannt wird, weiterhin im Untergang begriffen.