Weltgericht - Karl Kraus - E-Book

Weltgericht E-Book

Karl Kraus

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Beschreibung

Ich habe alles reiflich erwogen." Mit diesem Satz beginnt die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien - jener Text, den Karl Kraus einmal als das einzige Gedicht bezeichnet hat, das in diesem Krieg geschrieben worden sei. Vorausgegangen waren ihm das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau und ein Ultimatum an Serbien, das von vornherein unannehmbare Bedingungen formulierte. Das Ergebnis war jene "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts", die man sich weder in ihren bis dahin ungekannten Ausmaßen noch in ihren weitreichenden Folgen hatte vorstellen können. Gegen diese Mobilmachung der Maschine gegen den Menschen und das "Verschwinden des Einzelschicksals" wird Karl Kraus immer wieder das Antlitz der einzelnen, geschundenen, missbrauchten Kreatur geltend machen. Mit satirischer Spitzfindigkeit deckt Karl Kraus in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift "Die Fackel" die Auswüchse der kollektiven Kriegshysterie und modernen Rationalität auf. Er stemmt sich gegen die Begeisterung vieler Literaten und vermeintlicher Geistesmenschen für den Ersten Weltkrieg, seine Schriften sind eine Mahnung an Vernunft und Wachsamkeit. Hat die Menschheit sich vom Gemetzel des Ersten Weltkriegs erholt, stürzt sie 1933 in den nächsten Albtraum. Selbst in diesem gelingt es Kraus, die Schrecknisse seiner Zeit anzuprangern. Das "Weltgericht" versammelt Kraus' bekannteste Satiren und Polemiken, in denen die Einzigartigkeit seines Stils allgegenwärtig ist.

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KARL KRAUS1874–1936, war österreichischer Schriftsteller und Satiriker. In den fast tausend Bänden seiner Zeitschrift »Die Fackel« und in etwa siebenhundert Vorträgen entlarvte er wortgewaltig die doppelbödige Moral der Zeit, die Phraseologie der Presse und einen verkommenen Literaturbetrieb. Sein großes Drama über den Ersten Weltkrieg, »Die letzten Tage der Menschheit«, machten ihn international bekannt. Nach dem Krieg schlugen Professoren der Pariser Sorbonne, also der ehemalige »Feind«, Karl Kraus für den Literatur- und für den Friedensnobelpreis vor.

DER HERAUSGEBERDr. Bruno Kern, geboren 1958, studierte Theologie und Philosophie in Wien, Fribourg, München und Bonn; er lebt zurzeit in Mainz und arbeitet als selbstständiger Lektor und Übersetzer. Für den marixverlag übersetzte er u. a. Marguerite Poretes »Der Spiegel der einfachen Seelen«.

Zum Buch

Mit satirischer Spitzfindigkeit deckt Karl Kraus in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift »Die Fackel« die Auswüchse der kollektiven Kriegshysterie und modernen Rationalität auf. Er stemmt sich gegen die Begeisterung vieler Literaten und vermeintlicher Geistesmenschen für den Ersten Weltkrieg, seine Schriften sind eine Mahnung an Vernunft und Wachsamkeit. Hat die Menschheit sich vom Gemetzel des Ersten Weltkriegs erholt, stürzt sie 1933 in den nächsten Albtraum. Selbst in diesem gelingt es Kraus, die Schrecknisse seiner Zeit anzuprangern. Das »Weltgericht« versammelt Kraus’ bekannteste Satiren und Polemiken, in denen die Einzigartigkeit seines Stils allgegenwärtig ist.

»KARL KRAUS IST DIE STIMMEDER OHNMÄCHTIGENVERNUNFT IM HÖLLISCHENWIRBEL DES UNTERGANGS.«

HANS WEIGEL

Ich habe alles reiflich erwogen.« Mit diesem Satz beginnt die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien – jener Text, den Karl Kraus einmal als das einzige Gedicht bezeichnet hat, das in diesem Krieg geschrieben worden sei. Vorausgegangen waren ihm das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau und ein Ultimatum an Serbien, das von vornherein unannehmbare Bedingungen formulierte. Das Ergebnis war jene »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«, die man sich weder in ihren bis dahin ungekannten Ausmaßen noch in ihren weitreichenden Folgen hatte vorstellen können. Gegen diese Mobilmachung der Maschine gegen den Menschen und das »Verschwinden des Einzelschicksals« wird Karl Kraus immer wieder das Antlitz der einzelnen, geschundenen, missbrauchten Kreatur geltend machen.

KARL KRAUS

WELTGERICHT

 

KARL KRAUS

WELTGERICHT

SATIREN UND POLEMIKEN

HERAUSGEGEBEN VON BRUNO KERN

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Es ist nicht gestattet, Abbildungen und Texte dieses Buches zu scannen, in PCs oder auf CDs zu speichern oder mit Computern zu verändern oder einzeln oder zusammen mit anderen Bildvorlagen zu manipulieren, es sei denn mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2014Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2014Der Text folgt dem Originaltyposkript.Lektorat: Dr. Bruno KernCovergestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbHHamburg BerlineBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0400-4

www.marixverlag.de

INHALT

Zum ewigen Gedächtnis. Einleitung von Bruno Kern

WELTGERICHT

In dieser großen Zeit

Der Ernst der Zeit und die Satire der Vorzeit

Zwei Stimmen

Schweigen, Wort und Tat

Zum ewigen Gedächtnis

Das Lysoform-Gesicht

Die Historischen und die Vordringenden

Die Schönheit im Dienste des Kaufmanns

Shakespeare und die Berliner

Weltwende

Gruß an Bahr und Hofmannsthal

Das übervolle Haus jubelte den Helden begeistert zu, die stramm salutierend dankten

Das Gegenstück

Der tragische Karneval

Von einem Mann namens Ernst Posse

Diplomaten

Die Laufkatze

Auf der Suche nach dem Menschen im Heros

’s gibt nur an Durchhalter!

Ich warne das neue Österreich

Das österreichische Antlitz

Die Feldgrauen

Der Krieg im Schulbuch

Goethes Volk

Von der Sinai-Front

Made in Germany

Hans Müller in Schönbrunn

Schweizer Idylle

Verkündigung

Wehr und Wucher

Das Unterbewusstsein im Kriege

Unser weltgeschichtliches Erlebnis

Franz Grüner

Eine prinzipielle Erklärung

Die Kriegsschreiber nach dem Krieg

Franz Janowitz

Tagebuch

Solche Kontraste gibt’s nur an der Front

Schonet die Kinder!

Die einzelne Frauengestalt

Klärungen

Der soziale Standpunkt vor Tieren

Die Fundverheimlichung

Feiertage

Warum Pferde wiehern

Ein deutsches Buch

Zum ewigen Gedächtnis

Dialog der Geschlechter

Das technoromantische Abenteuer

Ein Kantianer und Kant

Für Lammasch

Am Sarg Alexander Girardis

Der begabte Czernin

Der darbende Bürger

Ein Staatsstreich

Ausgebaut und vertieft

Die Gerüchte

Auf hoher See

Ein Mord im Weltkrieg

Das verjüngte Österreich

Österreichs Fürsprech bei Wilson

Weltgericht

Die Sintflut

Nachruf

Ad acta

SATIREN UND GLOSSEN ZUM KRIEG

Die wackre Schalek forcht sich nit

Kinder und Vögel sagen die Wahrheit

Kriegsnamen

Die Welt als Vorstellung

Zur Genealogie der Moral

Die letzte Wahrheit über den Weltkrieg

Ein deutsches Kriegsgedicht

Kernstock der Jugend!

Der Praeceptor Germaniae

Ei-Ersatz Dottofix

Zum ewigen Frieden

Reklamefahrten zur Hölle

Wir zwei

Kriegssegen

ZUM EWIGEN GEDÄCHTNIS

Einleitung von Bruno Kern

KARL KRAUS UND DIE PHYSIOGNOMIE DES KRIEGS

„Ich habe alles reiflich erwogen.“ Mit diesem Satz beginnt die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien – jener Text, den Karl Kraus zu Beginn des Krieges als das einzige Gedicht bezeichnet hat, das „diese große Zeit“ bislang hervorgebracht habe.1 Vorausgegangen waren ihm das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau und ein Ultimatum an Serbien, das von vornherein unannehmbare Bedingungen formulierte. Das Ergebnis war jene „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, die man sich weder in ihren bis dahin ungekannten Ausmaßen noch in ihren weitreichenden Folgen hatte vorstellen können. Der historische Streit über die Ursachen des Krieges dauert fort. Während für den Zweiten Weltkrieg die Schuldfrage eindeutig zu beantworten sei, seien die Völker in den Ersten Weltkrieg „hineingeschlittert“2 – so lautet eine immer wieder zitierte These, die allerdings gerade nichts befriedigend beantwortet, sondern beunruhigende grundsätzliche Fragen erst aufwirft: Wie ist es um eine Menschheit bestellt, die in eine derartige Katastrophe nahezu unabsichtlich gerät? Ist der aufklärerische Anspruch des Menschen, die Geschichte „mit Willen und Bewusstsein“ zu gestalten, eine naive Illusion? Wer sind die eigentlichen Akteure der Geschichte, oder welchen unkontrollierbaren Mechanismen sind wir ausgeliefert? Der Erste Weltkrieg mutet wie der blutige Beweis jener Geschichtsauffassung an, die Friedrich Engels folgendermaßen auf den Punkt brachte: „[Die Geschichte macht sich so], dass das Endresultat stets aus dem Konflikt vieler Einzelwillen hervorgeht […]; es sind also unzählige einander durchkreuzende Kräfte, eine unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante – das geschichtliche Ergebnis – hervorgeht, die selbst wieder als Produkt einer, als Ganzes, bewusstlos und willenlos wirkenden Kraft angesehen werden kann. Denn was jeder Einzelne will, wird von jedem anderen verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat.“3 Dass er jedenfalls den Krieg nicht gewollt habe, bekannte Wilhelm II. im holländischen Exil, und Karl Kraus’ großes Weltkriegsdrama Die letzten Tage der Menschheit endet just mit dem äußerst vieldeutigen, der „Stimme Gottes“ zugewiesenen Satz: „Ich habe es nicht gewollt.“

Gerade angesichts des Befundes, dass das bis dahin blutigste Ereignis, das über die Menschen hereinbrach und das doch nur, weil keine Naturkatastrophe, als menschengemachtes zu qualifizieren ist, liegt die Vermutung nahe, dass der Krieg letztlich die logische Konsequenz und der vollendete Ausdruck einer Ökonomie war, die sich eben durch ihren „Fetischcharakter“ auszeichnet: Das aus den Händen und Köpfen der Menschen hervorgehende Produkt gewinnt selbst über diese Menschen unkontrollierbare Gewalt. Ohne das Werk Karl Marx’ und dessen Fetischismusanalyse zu kennen, formuliert Kraus im selben Sinne: „Die Völker, die noch den Fetisch anbeten, werden nie so tief sinken, in der Ware eine Seele zu vermuten.“4

Die große „Gründerzeitdepression“ ab 1873, die erste tiefe Krise des Kapitalismus, scheint unbezweifelbar die ökonomische Basis für die Zuspitzung von Nationalismus, Rassismus und Militarismus zu bilden. Karl Kraus selbst hat diesen Zusammenhang zwischen den blinden Mechanismen der kapitalistischen Ökonomie und dem Krieg immer wieder zur Sprache gebracht. Mehrmals sprach er von der Notwendigkeit, „Absatzfelder in Schlachtfelder“ zu verwandeln, damit daraus wieder Absatzfelder entstehen5, und sowohl in seinem Aphorismenband Nachts als auch in den Letzten Tagen der Menschheit stößt man auf jene unnachahmliche Formulierung: „Es gibt eine Idee, die einst den wahren Weltkrieg in Bewegung setzen wird: Dass Gott den Menschen nicht als Konsumenten und Produzenten erschaffen hat. Dass das Lebensmittel nicht Lebenszweck sei. Dass der Magen dem Kopf nicht über den Kopf wachse. Dass das Leben nicht in der Ausschließlichkeit der Erwerbsinteressen begründet sei. Dass der Mensch in die Zeit gesetzt sei, um Zeit zu haben und nicht mit den Beinen irgendwo eher anzulangen als mit dem Herzen.“ So lässt sich eine Kontinuität aufweisen zwischen der Konkurrenz wirtschaftlicher Akteure, der Konkurrenz der europäischen Kolonialmächte um Einflusssphären weltweit und dem Konkurrenzkampf mit militärischen Mitteln; zwischen der Unterwerfung des Individuums unter die Maschine und der unerbittlichen technischen Kriegsmaschinerie; zwischen der Disziplinierung der Arbeiter in den Fabriken zu stumpfsinniger Tätigkeit und dem disziplinierten Menschenmaterial an den Fronten … Für Karl Kraus jedenfalls war das Bestreben des deutschen Reiches, sich neben den anderen imperialistischen Mächten England und Frankreich seinen „Platz an der Sonne“ zu erobern, ein klar auszumachender Kriegsgrund. In seiner satirischen Pointierung hört sich das so an: „Der Anspruch auf einen Platz an der Sonne ist bekannt. Weniger bekannt ist, dass sie untergeht, sobald er errungen ist.“ Oder: „Ich begreife, dass einer Baumwolle für sein Leben opfert. Aber umgekehrt?“ Und schließlich: „‚Es handelt sich in diesem Krieg‘ – Jawohl, es handelt sich in diesem Krieg!“6

Den Zusammenhang von die Sinne abtötender Disziplinierung der Arbeitskraft im Dienst des Profits und der gefügigen Soldatenmasse im Dienst der Kriegsmaschinerie artikuliert Kraus im Lied des Kommerzienrates Ottomar Wilhelm Wahnschaffe in den Letzten Tagen der Menschheit:

Im Frieden schon war ich ein Knecht,

Drum bin ich es im Krieg erst recht.

Hab stets geschuftet, stets geschafft,

vom Krieg alleine krieg’ ich Kraft.

Weil ich schon vor dem Krieg gefront,

hat sich die Front ja auch gelohnt.

Leicht lebt es sich als Arbeitsvieh

im Dienst der schweren Industrie.

Heil Krupp und Krieg! Ich bin ein Deutscher!7

In welch scharfem Kontrast steht „Wahnschaffes Lied“ zur selbstverleugnenden, sozialdarwinistischen und den Schweiß eines unerträglich platten Patriotismus ausdünstenden Kriegslyrik der „Arbeiterdichter“ jener Tage!8

Das qualitativ Neue des Ersten Weltkrieges bestand ohne Zweifel darin, dass er der erste industrielle Krieg war, der allen früher beschworenen Tugenden von Mut, Tapferkeit etc. und den Vorstellungen von Kämpfen „Mann gegen Mann“ Hohn sprach. Ein Kulturschock für viele – nicht zuletzt für Karl Kraus, der vor Ausbruch des Krieges durchaus den genannten militärischen Tugenden verbunden war. Ausgerechnet der unsägliche Ernst Jünger, der in seinem Machwerk In Stahlgewittern das Massenabschlachten in zynischer Weise ästhetisierte und an dessen Leichengeruch sich gerade heute wieder scharenweise Philologen und Verleger laben, beschreibt diese neue Qualität des Krieges eindringlich und äußerst präzise:

Bei diesem Zusammenprall werden nicht mehr wie zur Zeit der blanken Waffe die Fähigkeiten des Einzelnen, sondern die der großen Organismen gegeneinander abgewogen. Produktion, Stand der Technik, Chemie, Schulwesen und Eisenbahnnetze: Das sind die Kräfte, die unsichtbar hinter den Rauchwolken der Materialschlacht sich gegenüberstehen […] Dieser Zwang, der das Leben des Individuums einem unwiderstehlichen Willen unterwarf, trat hier in furchtbarer Deutlichkeit hervor. Der Kampf spielte in riesenhaften Ausmaßen, vor denen das Einzelschicksal verschwand. Die Weite und tödliche Einsamkeit des Gefildes, Fernwirkung stählerner Maschinen und die Verlegung jeder Bewegung in die Nacht zogen eine starre Titanenmaske über das Geschehen […] Die Entscheidung lief auf ein Rechenexempel hinaus: Wer eine bestimmte Anzahl von Quadratmetern mit der größten Geschossmenge überschütten konnte, hielt den Sieg in der Faust. Eine brutale Bewegung von Massen war die Schlacht, ein blutiger Ringkampf der Produktion und des Materials. Daher kam auch den Kämpfern, diesem unterirdischen Bedienungspersonal mörderischer Maschinen, oft wochenlang nicht zu Bewusstsein, dass hier Mensch gegen Mensch stand […] Es war im Grunde wohl dasselbe Gefühl von Sinnlosigkeit, das aus den kahlen Häuserblöcken von Fabrikstädten zuweilen in traurige Hirne sprang …9

Gegen diese Mobilmachung der Maschine gegen den Menschen und das „Verschwinden des Einzelschicksals“ wird Karl Kraus übrigens immer wieder das Antlitz der einzelnen, geschundenen, missbrauchten Kreatur geltend machen: das Antlitz der serbischen Bauern, die gezwungen werden, ihr eigenes Grab auszuheben, das Antlitz des Flüchtlingskindes, das um Brot fleht, das angsterfüllte Stuttgarter Kind bei einem Bombenangriff, das Porträt seiner im Krieg gefallenen Freunde und nicht zuletzt in einer erschütternden Szene am Ende der Letzen Tage der Menschheit die außermenschliche Kreatur in Gestalt der ertrinkenden Pferde …

Geht man der Frage nach, wie die Kriegskatastrophe möglich wurde, dann kommen bald die einflussreichen gesellschaftlichen Kräfte und deren Verhaltensspielräume in den Blick – zu allererst die deutsche und französische Sozialdemokratie. „Die Arbeiter haben kein Vaterland.“ So heißt es noch lapidar im Kommunistischen Manifest von Marx und Engels. Doch längst schon hatte man sich in einem Gestus der Überanpassung den jeweiligen nationalen Regimen und deren imperialistischen Interessen dienstbar gemacht. Die Zustimmung der Mehrheit der deutschen Sozialdemokraten zu den Kriegskrediten – die rühmlichen Ausnahmen Karl Liebknecht, der seine Zustimmung zu den Kriegskrediten verweigerte, und Rosa Luxemburg, die wegen einer pazifistischen Rede bereits im Gefängnis saß und bis zum Kriegsende in sogenannter „Schutzhaft“ blieb, seien hier wenigstens erwähnt – war keineswegs der „Sündenfall“, als der er vielfach dargestellt wird. Längst schon übte man sich in Komplizenschaft mit Kapital und Regime im vermeintlichen Interesse der jeweiligen nationalen Arbeiterschaft. Die fatale, bei Karl Marx selbst grundgelegte Geschichtsauffassung, dass die Errichtung des Sozialismus einen voll entwickelten Kapitalismus zur Voraussetzung habe, führte zu dessen nahezu bedingungsloser Akzeptanz bis in die Konsequenz des Krieges hinein. Dies belegt etwa das Statement des Sozialdemokraten August Winnig:

Nicht der Kapitalismus war die treibende Kraft unseres Drängens zu den Weltmärkten, sondern der deutsche Arbeiter. Nicht der deutsche Materialismus war der Urheber der politischen Spannung, die sich jetzt im Krieg entlud, sondern die 20 Millionen Deutsche, die von der Arbeit ihrer Hände leben mussten.10

Dass die Tatsache, dass deutsche Arbeiter ihre Existenzbedingungen nur durch Krieg und imperialistische Expansion sichern können, etwas mit genau jenem Produktionsverhältnis zu tun haben könnte, das er als Kriegsursache explizit ausschließt, kommt diesem sozialdemokratischen Kleingeist offensichtlich nicht mehr in den Sinn.

Der Losung „Bebel marschiert“ – August Bebel selbst war allerdings bereits 1913 verstorben – war längst schon der Boden bereitet. Bezeichnend dafür ist etwa eine Reichstagsrede des sozialdemokratischen Abgeordneten Karl von Einem aus dem Jahr 1904:

Sie können künftig keinen siegreichen Krieg ohne uns schlagen […] Wenn Sie siegen, siegen Sie mit uns und nicht gegen uns […] Wenn der Krieg ein Angriffskrieg werden sollte, ein Krieg, in dem es sich dann um die Existenz Deutschlands handelte, dann – ich gebe Ihnen mein Wort – sind wir bis zum letzten Mann und selbst die Ältesten unter uns bereit, die Flinte auf die Schulter zu nehmen und unseren deutschen Boden zu verteidigen …11

Und auch in Frankreich gibt die Sozialdemokratie ein ähnliches Bild ab. Die bereits äußerst ambivalente Haltung Jacques Jaurés’ schlägt nach dessen Ermordung erst recht in eine Rechtfertigung des Krieges um.

Ausführlich einzugehen wäre an dieser Stelle natürlich auch auf die beiden großen Kirchen, die, abgesehen etwa von Papst Benedikt XV. (siehe auch in diesem Band S. 50), in ihrer großen Mehrheit ins jeweilige patriotische Geheul einstimmen. „Das Läuten der Kanonen und das Schießen der Glocken“ war – so formulierte es Karl Kraus – ausgebrochen. Der gebürtige Jude Karl Kraus, der 1913 katholisch getauft worden war, zog nach dem Krieg mit seinem Austritt aus der Kirche die Konsequenz daraus.

Besonders bedrückend – und das steht im Mittelpunkt von Kraus’ Auseinandersetzung mit dem Krieg – ist das fast komplette Versagen der Intelligenz, der Geisteswissenschaften, der Literatur angesichts des kollektiven Selbstmordkurses. Das Bild, das sich uns hier darbietet, ist wahrhaft niederschmetternd. Gerade einmal eine Handvoll Schriftsteller lässt sich ausfindig machen, die sich nicht vom Taumel der Kriegsbegeisterung hinreißen lassen, die wenigstens schweigen – was in diesem Kontext Aussage genug ist. Zu ihnen zählen Hermann Hesse, Ricarda Huch, Franz Werfel, Stefan Zweig und Arthur Schnitzler. In einem Epigramm für Letzteren hat Karl Kraus die Haltung dieser wenigen Besonnenen stellvertretend gewürdigt:

Sein Wort vom Frieden wog nicht schwer.

Doch wo viel Feinde, ist viel Ehr:

er hat in Schlachten und Siegen

geschwiegen.12

Neben eher peinlichen Gestalten wie etwa dem katholischen Priester Ottokar Kernstock (s. S. 482) oder Ludwig Ganghofer waren es Schriftsteller von höchstem Ansehen, die in minderwertigen literarischen Ergüssen oder auch in feinsinnigem Erhabenheitsgeschwafel den Krieg feierten: Hugo von Hofmannsthal (s. S. 76–87), Hermann Bahr, Alfred Kerr (s. S. 480–481) und – für Karl Kraus besonders enttäuschend – Gerhard Hauptmann:

Drei Engel redeten einst aus dir,

ich liebte dich, verzeihe.

Doch Hannele träumt, so träumte mir,

von der sechsten Kriegsanleihe.

Und Pippa tanzt im Hauptquartier

und freut sich, dass jene gedeihe.13

Der Krieg wird von den willfährigen Literaten – von denen sich viele selbst vor der Front drückten, indem sie sich dem Kriegspressequartier als Schreiberlinge andienten – als das große reinigende „kathartische“ Ereignis mystifiziert. So etwa Hermann Bahr:

Alle deutschen Wunden schließen sich. Wir sind genesen. Gelobt sei dieser Krieg, der uns am ersten Tag von allen deutschen Erbübeln erlöst hat! (vgl. in diesem Band S. 499)

Und man begab sich in die Gosse der primitivsten Mordinstinkte hinab, die man – darin wenigstens konsequent – in die primitivste literarische Form goss. Das berühmte Diktum von Karl Kraus, dass der kategorische Imperativ bei den Deutschen nun „Immer feste druff“ lautet (vgl. in diesem Band S. 500), bestätigt eindrucksvoll Ludwig Ganghofer:

Herr Kronprinz Wilhelm, vermöble sie fest

und mache sie springen wie vor der Pest!

Hell leuchtet aus dieser fröhlichen Jugend

Die Sonne des Mannes, die Siegestugend!

Nur druff! Immer feste druff!14

Die Beispiele ließen sich nahezu endlos fortsetzen. Lediglich in der satirischen Bearbeitung von Karl Kraus löst sich der Brechreiz angesichts dieser Ergüsse in befreiendes Lachen auf.

Nicht zuletzt diese Literaten sind es, anhand derer Karl Kraus die Mentalität bloßlegt, die den Krieg möglich machte, die „geistige Mobilmachung“, die der tatsächlichen vorausging. Und danach wird die Haltung der jeweiligen Schriftsteller im und zum Krieg für Kraus der entscheidende Bewertungsmaßstab sein. Literarische Qualität erweist sich eben nicht zuletzt an der Sache, für die sie dienstbar gemacht wird.

Der Krieg trat keineswegs als überraschendes Ereignis ein. Die Kriegsgefahr lag – auch angesichts der außenpolitisch geschmiedeten Bündnisse, deren Automatismus dann durch das Attentat von Sarajewo ausgelöst wurde – gleichsam in der Luft. Der oben zitierte Karl von Einem ist ein Beleg dafür. Angesichts der drohenden Kriegsgefahr hatten sich pazifistische Bestrebungen formiert. Ein prominentes Beispiel ist die österreichische Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner mit ihrem Roman Die Waffen nieder! Auch Karl Kaus selbst hat in der Fackel die Kriegsgefahr und den fahrlässigen Umgang damit mehrmals thematisiert, vor allem während der Balkankrise des Jahres 1912.

Am 1. August schließlich brach der Krieg aus. Karl Kraus, der Redegewandte, verstummte. Nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger war noch ein Heft der Fackel erschienen, mit einem bemerkenswerten Nachruf auf Franz Ferdinand. Dann stellte die Fackel ihr Erscheinen ein. Kein Wort vom in ganz Wien und weit darüber hinaus gefeierten, wortgewaltigen Satiriker, dessen rote Hefte seit der Jahrhundertwende das Geistesleben in Aufruhr versetzt hatten. Der finanziell unabhängige Kraus, dessen stilistische Kunstfertigkeit Aufmerksamkeit erregt hatte, hatte sich den Anwerbeversuchen der Presse entzogen und ließ in seiner eigenen satirischen Zeitschrift den Stoff der Zeit in seine Form eingehen. Die Fackel enthielt anfangs Gastbeiträge, etwa von Detlev von Liliencron, Wilhelm Liebknecht etc., wurde aber bald ausschließlich von Kraus selbst verfasst. Insgesamt sollten fast tausend Nummern erscheinen. Gegenstände seiner Kritik waren vor allem die Presse, ein verlogener, korrumpierbarer Literaturbetrieb, die Lüge der Zeit, die sich vor allem in einer doppelbödigen Moral ausdrückte. Der Kriegsausbruch stellte für Kraus einerseits eine tiefe Zäsur dar, andererseits war er die gewaltige Bestätigung seiner bisherigen Satiren. Dass in dieser „großen Zeit“ nun „die Federn in Blut tauchen und Schwerter in Tinte“, lag in der Konsequenz seiner Auffassung von der Presse. „Es ist alles so wahr geworden, womit ich die Zeit verleumdet hatte“15, sagt er selbst. Doch hat ein Satiriker nicht genau dann seine Funktion verloren, wenn die Wirklichkeit die Satire einholt? Das Schweigen Karl Kraus’ zu Kriegsbeginn nimmt jenes andere Schweigen angesichts der Ermächtigung Hitlers im Jahr 1933 vorweg.

Und doch ist der Kriegsausbruch für Kraus selber ein biografisch umwälzendes Ereignis. Der bis dahin politisch durchaus Konservative, der Parlamentarismusskeptiker, der sich in der Gesellschaft aristokratischer Kreise wohlfühlte und zum Teil deren überkommene Wertvorstellungen teilte, wandelt sich, als das Ungeheuerliche tatsächlich eintritt, zum unbedingten Pazifisten. Noch sein Nachruf auf den ermordeten Thronfolger ist durchwegs monarchistisch gestimmt. Einige Jahre später wird er von den Habsburgern als von einer „allerhöchst bedenklichen Familie“ sprechen, Franz Joseph I. als den apostrophieren, der in eben dem Blutbad plantschte, das Wilhelm ihm gerüstet habe, und der auf einem „als Thron kaschierten Leibstuhl“ gesessen sei.

Inmitten der lautstarken Kriegsbegeisterung – kein Wort von Karl Kraus. Erst am 19. November 1914 tritt er wieder auf, hält einen seiner insgesamt über siebenhundert Vortragsabende, die er selbst als „Theater der Dichtung“ bezeichnete. Kraus liest Klassiker, er liest aus der Bibel, aus den Prophetenbüchern und der Apokalypse des Johannes, er trägt sein wunderbares Gedicht vom „sterbenden Menschen“ vor – vor allem aber eröffnet er den Abend mit seiner großen programmatischen Anrede, deren Überschrift die Losung jener Tage aufgreift: In dieser großen Zeit (s. S. 31–44). In diesem einzigartigen literarischen Dokument, das später den Band Weltgericht eröffnen sollte, will Kraus nichts weiter als sein Schweigen begründen. „Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige“, heißt es denn auch an entscheidender Stelle darin. Nur so viel will er sagen, wie nötig ist, um selbst dieses Schweigen noch davor zu bewahren, missverstanden zu werden.

Kraus hat dann aber nicht geschwiegen. Der Krieg ließ seine sprachliche Gestaltungskraft zur Höchstform auflaufen. Dokumentiert ist dies in eben dem hier vorliegenden Band Weltgericht, der die großen Essais aus der Kriegszeit enthält, dokumentiert ist dies in den vielen Glossen der etwa hundert Nummern der „Kriegsfackel“, von denen hier exemplarisch einige der besten wiedergegeben sind. Dokumentiert ist dies in seinem Aphorismenband Nachts, vor allem aber in seinem monumentalen Weltkriegsdrama Die letzten Tage der Menschheit.

Kraus findet sich nicht ab mit dem Ungeheuerlichen. Er nimmt den Kampf auf gegen das Morden, und zwar nicht nur als Satiriker, als öffentlich Vortragender, sondern auch als politisch Handelnder. Er nutzt seine Beziehungen zu Aristokratenkreisen, fährt nach Italien, in der Hoffnung, wenigstens der Kriegseintritt Italiens könne durch diplomatische Initiative verhindert werden.16

Die satirische Begabung des Karl Kraus bewährt ihre Treffsicherheit, ihre Pointierungskunst im Krieg in besonders eindrucksvoller Weise. Gerade unter den Bedingungen einer rigorosen Zensur beweist Kraus, wie man dieselbe unterläuft – und damit vorführt. Seine Satire kommt mit den sparsamsten Mitteln aus. Vielfach druckt er nur ab, was andernorts bereits erschienen und von der Zensur genehmigt ist. Seine Eigenleistung besteht in der Anordnung des Abgedruckten, in der Wahl einer entlarvenden Überschrift, in knappsten Kommentaren. In diesem Band finden sich exzellente Beispiele für dieses Verfahren, etwa: Zwei Stimmen: Benedikts Gebet – Benedikts Diktat (s. S. 50), wo er einem Text Papst Benedikts XV. einfach einen Leitartikel des Herausgebers der Neuen Freien Presse, Moriz Benedikt, gegenüberstellt. Er druckt eine scheinbar belanglose Lokalnachricht aus der Rubrik „Vermischtes“ ab, die von der Arretierung einer Frau handelt, welche durch provozierendes Heben ihres Rocks öffentliches Ärgernis erregt habe. Der knappe Kommentar von Karl Kraus: „Hoch der Rock, die Waffen nieder!“ (s. S. 478–479)

Die Zensur war weitgehend machtlos gegen den Satiriker. Oft genügte es schon, dass etwas in der Fackel abgedruckt wurde, um zur Satire zu werden. Der Bericht über ein „Gesellschaftsereignis“ wurde allein aufgrund der Tatsache, dass die Fackel ihn mitten im Krieg würdigte, zur von allen verstandenen Kritik. Und selbst die Überschriften vor den von der Zensur verfügten „weißen Flecken“ schlugen als satirische Attacke auf diese selbst zurück. Genau in diesem Zusammenhang formulierte Kraus seinen schönen Aphorismus: „Satiren, die der Zensor versteht, werden mit Recht verboten.“17 Oder in Versen ausgedrückt:

Nie wird bis auf den Grund meiner Erscheinung

der kühnste Rotstift eines Zensors dringen.

Verzichtend auf die Freiheit einer Meinung,

will ich die Dinge nur zur Sprache bringen.18

Es bot sich seinerzeit allerdings auch ein Trick zur Umgehung der Zensur an, dessen sich Kraus – mithilfe der Arbeiter-Zeitung, der er attestierte, „dem durch Tat und Flucht grausamen Tag etwas Besinnung beizubringen“19 – bediente: Wörtliche Protokolle aus dem Abgeordnetenhaus durften nicht der Zensur unterworfen werden. Und so konnte so mancher sozialdemokratischer Abgeordnete durch eine Anfrage an den zuständigen Minister einen bestimmten, der Zensur zum Opfer gefallenen Zeitungsbericht ins Protokoll bringen, das daraufhin publiziert werden konnte.

Gegen Ende des Krieges allerdings wurde es gefährlich für Karl Kraus, nachdem er nach einer Vorlesung, in der er von der „chlorreichen Offensive“ gesprochen haben soll, denunziert worden war. Das Kriegsende kam seiner Verurteilung zuvor. (vgl. in diesem Band S. 453–470).

In seinem Drama Die letzten Tage der Menschheit lässt Karl Kraus Gedrucktes einfach auf der Bühne sprechen. Mit den einleitenden Worten „Melde gehorsamst, Herr Oberst“ referiert der im Kriegsarchiv beschäftigte Feuilletonist Hans Müller (vgl. in diesem Band S. 173–177) seinen eigenen Artikel. Die mündliche Wiedergabe genügt, um die Blamage perfekt zu machen.

Karl Kraus findet nicht nur die Sprache wieder, sondern mit ihr auch seinen unnachahmlichen Witz. Die verlogene Phraseologie, mit der der Krieg gerechtfertigt wird, die erhabenen Menschheitsideen, die ihr eigenes Abschlachten legitimieren sollen, blamieren sich gründlich vor dem Kraus’schen Witz. So haben die Kriegsschreiberlinge in vielfachen Variationen den Gedanken propagiert, der Krieg trage zur „Hebung der Sittlichkeit“ der Menschheit bei, er sei ein Segen für deren moralische Höherentwicklung und dergleichen mehr. Kraus führt genau das durch eine kleine Szene in den Letzten Tagen der Menschheit ad absurdum: Ein Fahrgast beschwert sich bei einem Droschkenkutscher („Fiaker“ nennt man diese in Wien) über den ungewöhnlich hohen Fahrpreis. „In Kriag kriag i s’Doppelte“, lautet die in Mentalität und Idiom unübertrefflich wienerische Antwort des Fiakers, der damit wahrlich ein eindrucksvolles Beispiel für die postulierte gesteigerte Sittlichkeit abgibt. Die viel beschworene unverbrüchliche Bündnistreue zwischen Deutschen und Österreichern, in Feiertagsreden immer wieder in abgestandenen Phrasen bekräftigt, gibt Kraus in seinem legendären Dialog zwischen dem deutschen „Wachtmeister Wagenknecht“ und dem österreichischen „Feldwebel Sedlatschek“ der Lächerlichkeit preis, die sich innerhalb der gemeinsamen deutschen Sprache20 ständig missverstehen. „Herr Oberbombenwerfer, derf ich jetzt eine Bomben obawerfen?“, lautet einer der Spitzensätze, der die „Bündnistreue“ dem Hohngelächter ausliefert. Und während für den Österreicher die „Niederlage“ eine Kaufhausfiliale meint, versteht der Deutsche darunter nur das militärische Desaster – was die Bündnistreue natürlich in erhebliche Gefahr bringt, wenn Sedlatscheck von „einer unserer schönsten Niederlagen“ spricht. Beim Lesen seines Weltkriegsdramas kann man sich manchmal auch des Eindrucks nicht erwehren, dass Kraus so manche Szene lediglich um der Pointe willen aufgenommen hat.

Allerdings bestätigt Kraus gerade im Krieg seine Auffassung, dass ein Witz nur dann Bestand habe, wenn er eine ethische Deckung aufweise. Das Leid der Opfer wird Kraus zum absoluten Maßstab. In ihrem Antlitz spiegelt sich die gesamte Pervertierung der Zivilisation im Krieg, sie – einschließlich der Tiere – sind die Helden seines Kriegsdramas.

Gegenstand der Satire sind nicht so sehr politische Konstellationen, Ergründung politischer Ursachen etc. Kraus entwirft vielmehr die geistige Anatomie, er konfrontiert die Menschen mit der eigenen inneren Disposition, ohne die diese Menschheitskatastrophe nicht möglich gewesen wäre. Und darin erweist er sich heute noch als aktueller denn je. Die letzten Tage der Menschheit, die Kraus selbst als Bühnendrama für unaufführbar hielt und die er „einem künftigen Marstheater zugedacht“ habe, sind eine monumentale Collage von Einzelszenen, die sich als Sprech- oder Vorlesedrama zu einem Gesamtbild zusammenfügen und die geistige Jauche offenbaren, aus denen dieser Krieg emporstieg. Da sind die reichlich dekadenten Söhne aus höherem Haus, deren Zusammenkünfte an der „Sirkecke“21 jeweils die einzelnen Akte einleiten und deren Oberflächlichkeit den ganzen Zynismus offenbart, der dem Krieg zugrunde lag. Da ist das „Ehepaar Schwarzgelber“, das den Krieg dazu benutzen will, in die höheren Gesellschaftskreise aufzusteigen, indem es sich bei Wohltätigkeitsveranstaltungen hervortut („Geschleppt hast du mich in die Tees und Komitees, getrieben hast du mich …“ beschwert sich der geplagte Ehemann bei seiner allzu ehrgeizigen Frau), da ist Wilhelm II. selbst, der dem Hof-und Kriegsdichter Ganghofer kumpelhaft aufmunternd aufs Hinterteil klopft, und da ist nicht zuletzt der im „Nachruf“ (s. S. 362–452) gewürdigte österreichische Erzherzog Friedrich, dessen Ausruf bei der Filmvorführung der neuesten Kriegstechnologie die ganze abgestumpfte Primitivität der Kriegstreiber auf die knappeste Art zusammenfasst: „Bumsti!“ Fiktive Figuren und Szenen stehen hier durchaus neben der satirischen Gestaltung von verbürgten Nachrichten (Die launischen Tätlichkeiten Kaiser Wilhelms sind bekannt, und das „Bumsti“ des Erzherzogs Friedrich ist Realität, wie sie Kraus nicht besser hätte erfinden können). Kraus zeichnet mit spitzer Feder die Profiteure des Kriegs. Unnachahmlich schildert er den physischen Zusammenbruch eines Mannes, der in Skoda-Aktien investiert hatte, als die ersten Gerüchte von einem möglichen Waffenstillstand aufkommen. Und natürlich bildet die Presse einen Hauptgegenstand der Satire, die gerade im Krieg all das bestätigt, was ihr Kraus schon in Friedenszeiten attestiert hat. Der „alte Biach“ verkörpert in den Letzten Tagen der Menschheit den zeitungsgläubigen Leser, der schließlich an einem nicht auflösbaren Widerspruch im Leitartikel zugrundegeht! Und geradezu die Verkörperung des sensationslüsternen, hyänenhaften und um Menschenleben unbekümmerten Gebarens der Presse ist die Kriegsberichterstatterin Alice Schalek (s. vor allem „Die wackre Schalek forcht sich nit!“, S. 473–475). Auch sie ist keine Erfindung, und man wundert sich, wie sie, nachdem sie in Kraus’ Satire Eingang fand, tatsächlich noch bis in die Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts physisch existieren konnte. Wie bedrückend aktuell ist dies alles angesichts der Live-Fernsehbilder aus den Kriegen der letzten Jahre! Eine der wiederkehrenden Figuren im Kriegsdrama ist „der Nörgler“, das Alter Ego von Karl Kraus. An dieser Gestalt kann man Kraus’ eigenen Reflexions- und Wandlungsprozess nachvollziehen und den Weg hin zu seinem unbedingten Pazifismus ermessen.

Seit dem Jahr 1913 – und es dürfte kein Zufall sein, dass es dasselbe Jahr ist, in dem seine Liebe zu Sidonie von Nadhérny beginnt, die so tragisch zu Ende gehen sollte22 – schreibt Kraus auch Gedichte. Wenige insgesamt, aber sie zählen zu den schönsten der deutschen Sprache überhaupt. Er orientiert sich dabei der Form nach an den Klassikern, Matthias Claudius etwa oder Goethe.23 Eines seiner schönsten, bewegendsten Gedichte stammt aus dem Krieg und ist Kants Schrift Zum ewigen Frieden gewidmet (vgl. S. 487–488). Welchen Stellenwert dieser Text für Kraus selbst besaß, ist daran abzulesen, dass es der einzige Text war, den er in seinen Vorlesungen, um Kant die Ehre zu erweisen, stets im Stehen vortrug.

Das Gedicht ist nicht zuletzt ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass Kraus sich inmitten der Kriegsgräuel den Glauben an die Menschheit bewahren wollte. Die „Gegenwelten“, die den Kontrast zum Krieg bilden und die viele als Eskapismus missverstanden haben, gewinnen für ihn an Bedeutung: das Erleben der unberührten Natur (die Letzten Tage der Menschheit entstehen hauptsächlich in den Schweizer Alpen), die Rückbesinnung auf die Kindheit, die Sprachästhetik (mitten im Krieg schreibt Kraus Gedichte über den „Tod eines Lautes“ und den „Reim“) und all das, was sich noch mitten in der Kriegshölle an aufrichtiger Menschlichkeit ausmachen lässt. Kraus ist trotz allem berechtigten Pessimismus einer, der die Menschheit nicht aufgibt – um der Opfer willen, denen er in seinen Kriegsschriften ein Denkmal setzt. Man spürt die Erleichterung in seinem „Nachruf“, den er kurz vor Ende des Krieges öffentlich vorträgt, man spürt die Hoffnung auf den Neubeginn und seinen Antrieb, gerade deshalb seinen Kampf auch nach dem Krieg nicht aufzugeben.24 Kraus tut es mit aller Konsequenz. Überall, wo er die alten Kriegsgespenster weiterwirken sieht, erhebt er seine Stimme. Nichts lässt er den einstigen Sängern des Kriegs durchgehen, die gesellschaftlich wieder ihre Anerkennung genossen, und gibt sie wie einst dem Gelächter preis. Gern stimmt man in Kraus’ befreiendes Lachen ein, wenn er nach dem Krieg Hermann Bahrs Büchlein Kriegssegen und den darin enthaltenen „Gruß an Hofmannsthal“ zur Hand nimmt und vermerkt, dass noch heute „die Lachtauben und Spottdrosseln keinen anderen Text als Grundlage ihrer beruflichen Wirksamkeit“ wissen. (s. S. 497)

Das Lachen allerdings wurde allzu rasch erstickt. Die fatalen politischen Folgen des Ersten Weltkriegs sind bekannt. Als einer der Ersten warnte der hellsichtige Kraus bereits im Jahr 1923 (!) vor den Nationalsozialisten, die damals noch niemand so recht ernst nehmen wollte. Und die Geschichte wiederholte sich – nicht als Farce, sondern durchaus als Steigerung der Tragödie. Als Hitler von den konservativen Kräften, allen voran der christlichen Zentrumspartei und ihrem Obergeistlichen, Prälat Kaas, an die Macht gehievt wurde, verstummte Karl Kraus wiederum wie 1914. In einer der letzten Nummern der Fackel findet sich das Gedicht:

Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.

Ich bleibe stumm;

und sage nicht, warum.

Und Stille gibt es, da die Erde krachte.

Kein Wort, das traf;

man spricht nur aus dem Schlaf.

Und träumt von einer Sonne, welche lachte.

Es geht vorbei,

nachher war’s einerlei.

Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.

Alles ist zu Ende.

Alles ist gesagt.25

Seine Anhänger waren irritiert, einzig Bert Brecht wusste das Schweigen des Satirikers zunächst recht zu deuten und widmete ihm folgende Zeilen:

Als der Beredte sich entschuldigte

dass seine Stimme versage

trat das Schweigen vor den Richtertisch

nahm das Tuch vom Antlitz und

gab sich zu erkennen als Zeuge.26

Was damals allerdings keiner wusste: Kraus hatte dem Geschehen einen dicken Band gewidmet: Die dritte Walpurgisnacht. Sie beginnt mit dem legendären Satz: „Mir fällt zu Hitler nichts ein“, erörtert dann das Problem der Satire, deren sprachliche Gestalt von den blutigsten Metaphern der Realität selbst eingeholt wird, und legt dann an eben diese Realität das satirische Seziermesser an. Das Material, aus dem Kraus schöpft, sind allgemein zugängliche Quellen, in der Hauptsache Zeitungsberichte, aus denen er den wahren Charakter des Regimes ableitet: ein eindrucksvolles Zeugnis dafür, dass alle, die es wirklich wissen wollten, es spätestens 1933 auch wissen konnten! Es sind wiederum vor allem die geistigen Wegbereiter des Naziterrors, die Kraus satirisch bloßstellt – Leute übrigens, die unbeschadet ihrer Regimenähe nach dem Krieg hohe Reputation genossen, wie etwa Gottfried Benn oder Martin Heidegger. Und wiederum ist es die knappe, zielgenaue Formulierung, mit deren Hilfe Kraus den Gegenstand seiner Satire entlarvt, so etwa, wenn er nach dem ausführlichen Zitat eines jener dunklen, verquasten Sätze Heideggers bloß den Kommentar hinterherschickt, er habe es immer schon geahnt, dass ein böhmischer Schuster dem Sinn des Lebens näher stünde als ein neudeutscher Denker. Ohne Zweifel ist Kraus in dieser Zeit auch politischen Irrtümern unterlegen. So verteidigt er etwa den Austrofaschismus unter Engelbert Dollfuß damit, dass dieser außenpolitisch alles darauf abstelle, den „Anschluss“ zu verhindern.27 Das Buch war schon im Druck. Kraus ließ den Druck stoppen – nicht aus persönlichen Rücksichten, sondern allein deshalb, weil er es nicht verantworten konnte, dass einer seiner Leser im „Reich“ aufgrund dieses Buches in Schwierigkeiten käme. Erst nach dem Krieg, in den Fünfzigerjahren, erschien dieses letzte große Werk des Satirikers und Pazifisten.

Die Naziherrschaft blieb Kraus selbst erspart. Zwei Jahre vor dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich verstarb er, gepflegt von der getreuen Helene Kann, wohl an den Spätfolgen eines Unfalls. Dem Arzt, einem „Illegalen“, also einem österreichischen Anhänger des Nationalsozialismus, schleuderte der Totkranke noch ein beherztes „Pfui Teufel!“ entgegen, als dieser ihm „bei Odin“ geschworen hatte, dass er in der Lage sein werde, demnächst eine geplante Reise anzutreten.

Den hier endlich wieder neu vorgelegten Band Weltgericht hat Karl Kraus selbst im Jahr 1919 redigiert und – ursprünglich in zwei Bänden – herausgegeben. Sie sind also die authentische Stimme des Autors, der mit diesem Band jene größeren Essais aus dem Krieg publiziert hat, die für ihn selbst einen entsprechend wichtigen Stellenwert hatten.28 Diese Neuauflage ergänzt den Band allerdings durch kleinere Glossen aus der Kriegsfackel und einige wichtige Glossen aus der Nachkriegszeit, um ein möglichst vollständiges Bild des satirischen Wirkens Karl Kraus’ angesichts des Krieges zu bieten. Auch diese ergänzenden Glossen sind nach langer Zeit hier wieder zugänglich. Wer sich dem großen Weltkriegsdrama Die letzten Tage der Menschheit widmen will, der findet in diesem Band einen unentbehrlichen Schlüssel zum Verstehen. Viele der Glossen und Aufsätze liefern den nötigen Hintergrund für das Verständnis so mancher in das Drama eingeflochtener Episode.

Hundert Jahre sind nun seit Kriegsbeginn vergangen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ließ sich einigermaßen ermessen, welch grundlegende Bedeutung dieser Krieg für das 20. Jahrhundert und darüber hinaus bis heute hat. Erschreckend ist die Kontinuität der Kräfte, die am Werk sind. Der in sprachlicher Ausdrucksstärke Karl Kraus durchaus verwandte und ebenbürtige Carl Amery hat in seinem Buch Hitler als Vorläufer29 die Kontinuität heutiger imperialistischer Politik „demokratischer“ Mächte zur damaligen Barbarei aufgezeigt. Und es ist paradox: Während sich im Ersten Weltkrieg das erste Mal die blutig-brutale Seite der Industrialisierung zeigte, droht die aktuelle Gefahr eines Weltbrands wohl am ehesten vom unweigerlich heraufziehenden Ende der Industrialisierung. Die Verknappung von essenziellen Rohstoffen weltweit, die als Basis für unsere Industriegesellschaft unentbehrlich sind, und die zunehmende Verschlechterung der Lebensbedingungen aufgrund der begrenzten Tragfähigkeit der Ökosysteme – die Knappheit von fossilen Energieträgern, wichtigen Erzen, immer knapper werdendem fruchtbaren Boden, Trinkwasser – stellen wohl die größte Kriegsgefahr dar. Es handelt sich hier keineswegs um apokalyptische Fantasien. Längst schon haben die Strategen entsprechende Szenarien entwickelt und halten sie in ihren Schubladen vor. Erwähnt sei hier nur das European Defense Paper der Europäischen Union aus dem Jahr 2004.30

Karl Kraus ist somit aktueller denn je. Wer könnte besser jene geistigen Triebkräfte entlarven, die nach wie vor am Werk sind? Und: Wer wäre eher imstande, mit seiner scharfen Satire, die doch aus einer tiefen Menschlichkeit zehrt, mit dem befreienden Lachen, das die Akteure und Handlanger bloßstellt, uns aus der Ohnmacht zu lösen und jene seelischen Ressourcen in uns zu erschließen, die allein eine neuerliche Katastrophe verhindern können?

Bruno Kern

1Vgl. S. 32

2Vgl. neuerdings das Buch von Christopher Clark mit seinem bezeichnenden Titel: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013.

3MEW 37, 464.

4Dieses und die folgenden Zitate finden sich auch in: Karl Kraus, Auch Zwerge werfen lange Schatten, Wiesbaden 2013, 180.165.

5Vgl. in diesem Band S. 33

6Vgl. Anm. 4.

7Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, Wien-Leipzig 21922, 403.

8Vgl. dazu etwa Robert Kurz, Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, Frankfurt a.M. 1999, 342–345.

9Ernst Jünger, Sturm, in: Sämtliche Werke, Bd. 15, Stuttgart 1978, 16 f.

10Zitiert nach Kurz, aaO., 359.

11Zitiert nach Kurz, aaO., 339.

12Karl-Kraus-Lesebuch. Herausgegeben von Hans Wollschläger, Frankfurt a.M. 1987, 252.

13AaO., 251.

14Zitiert nach: Hans Weigel, Karl Kraus oder Die Macht der Ohnmacht, München 1972, 181.

15In diesem Band, S. 89.

16Über diese Initiative hat Kraus übrigens selbst nie gesprochen. Er war weit davon entfernt, sich selbst auf Kosten des Krieges zu profilieren.

17Zitiert nach Karl Kraus, Auch Zwerge werfen lange Schatten, aaO., 118.

18Die Fackel 508–513, 81.

19Die Fackel, 418–425, 45.

20„Was uns voneinander trennt, ist die gemeinsame Sprache“, hat Kraus einmal zum Verhältnis zwischen Österreichern und Deutschen angemerkt.

21Für Wien-Kundige: Damit ist die Straßenecke Kärntnerstraße / Kärntnerring vor der Staatsoper gemeint.

22Rainer Maria Rilke hat gegen diese Verbindung in antisemitischer Weise intrigiert, indem er Sidonie von Nadhérny eindringlich vor dem Juden Karl Kraus warnte! Karl Kraus hat von diesem der Nachwelt bekannten Hintergrund nie etwas erfahren. Beim Begräbnis von Karl Kraus hat Sidonie ihre Liebe zu ihm posthum besiegelt, indem sie einen Ring ins offene Grab warf.

23Dass Kraus allerdings Zugang zu ganz anderer Lyrik hatte, beweist seine Wertschätzung für Else Lasker-Schüler, die er mit erheblichen Zuwendungen aus dem Erlös seiner Vorlesungen auch finanziell unterstützte.

24Mit dem berühmten letzten Satz seines Nachrufs will Kraus vermutlich seine eigene Rolle nach dem Krieg definieren: „Phorkyas aber richtet sich riesenhaft auf, tritt von den Kothurnen herunter, lehnt Maske und Marschallstab zurück und zeigt sich als Mephistopheles, um, insofern es nötig wäre, im Epilog das Stück zu kommentieren.“ (s. S. 452).

25Zitiert nach Weigel, aaO., 333. Kraus hat übrigens wegen eines Wiederabdrucks, der – sinnentstellend – ein Komma vermissen ließ („Kein Wort das traf“), einen unerbittlichen Prozess geführt.

26Nach Weigel, aaO., 334.

27Es stimmt zwar tatsächlich, dass der österreichische „Ständestaat“ mit allen Mitteln versuchte, den Anschluss zu verhindern, allerdings außenpolitisch wohl mit den falschen, nämlich durch den versuchten Schulterschluss mit Italien, anstatt etwa mit der damals demokratischen Tschechoslowakei, und innenpolitisch um den Preis der Aushebelung der Demokratie. Karl Kraus betrachtete dies als das hinzunehmende „kleinere Übel“ angesichts der drohenden Gefahr des Anschlusses. Hier darf man ihm wohl widersprechen.

28Die Anmerkungen, die von Karl Kraus selbst stammen, sind in dieser Ausgabe mit * (Asteriskus) gekennzeichnet. Alle nicht in dieser Weise kenntlich gemachten Anmerkungen stammen vom Herausgeber.

29Carl Amery, Hitler als Vorläufer. Auschwitz – der Beginn des 21. Jahrhunderts?, München 1998.

30Vgl. hierzu vor allem Andreas Zumach, Die kommenden Kriege. Ressourcen, Menschenrechte, Machtgewinn – Präventivkrieg als Dauerzustand?, Köln 22005. Die Relevanz der unvermeidlichen Deindustrialisierung für künftige Kriegsszenarien wird unter anderem belegt durch eine Studie des Zentrums für Information der Bundeswehr unter dem Titel: Peak Oil – Sicherheitspolitische Implikationen knapper Ressourcen, Hamburg 2010. Auf den Seiten 47–50 heißt es hier: „Der Peak Oil [d.h. das Ölfördermaximum, nach dem eine zunehmende Verknappung eintritt] kann dramatische Konsequenzen für die Weltwirtschaft haben. Das Ausmaß dieser Konsequenzen wird sich – nicht nur, aber eben auch – durch einen Rückgang des Wachstums der Weltwirtschaft messen lassen […] Ein ökonomischer Tipping Point besteht dort, wo – zum Beispiel in Folge des Peaks – die Weltwirtschaft auf unbestimmte Zeit schrumpft. In diesem Fall wäre eine Kettenreaktion die Folge, die das Wirtschaftssystem destabilisiert […] Mittelfristig bricht das globale Wirtschaftssystem und jede marktwirtschaftlich organisierte Volkswirtschaft zusammen […] Eine auf unbestimmte Zeit schrumpfende Wirtschafsleistung stellt einen höchst instabilen Zustand dar, der unumgänglich in einem Systemkollaps endet. Die Sicherheitsrisiken einer solchen Entwicklung sind nicht abzuschätzen […] Eine Umstellung der Ölversorgung wird bis zum Eintritt des Peak Oil nicht in allen Weltregionen gleichermaßen möglich sein. Es ist wahrscheinlich, dass eine hohe Anzahl von Staaten nicht in der Lage ist, die notwendigen Investitionen rechtzeitig und in ausreichender Höhe zu leisten. Ein hohes systemisches Risiko ist in Anbetracht des Globalisierungsgrades Deutschlands also auf jeden Fall und unabhängig von der eigenen Energiepolitik gegeben.“

WELTGERICHT

IN DIESER GROSSEN ZEIT

Dezember 1914; gesprochen am 19. November 1914

die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt; und die wir, weil im Bereich organischen Wachstums derlei Verwandlung nicht möglich ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch schwere Zeit ansprechen wollen; in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nichtv o r s t e l l e nkonnte, und in derg e s c h e h e nmuss, was man sich nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht –; in dieser ernsten Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, dass sie ernst werden könnte; von ihrer Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und sich selbst auf frischer Tat ertappend, nach Worten sucht; in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Missdeutung bewahrt. Zu tief sitzt mir die Ehrfurcht vor der Unabänderlichkeit, Subordination der Sprache vor dem Unglück. In den Reichen der Fantasiearmut, wo der Mensch an seelischer Hungersnot stirbt, ohne den seelischen Hunger zu spüren, wo Federn in Blut tauchen und Schwerter in Tinte, muss das, was nicht gedacht wird, getan werden, aber ist das, was nur gedacht wird, unaussprechlich. Erwarten Sie von mir kein eigenes Wort. Weder vermöchte ich ein neues zu sagen; denn im Zimmer, wo einer schreibt, ist der Lärm so groß, und ob er von Tieren kommt, von Kindern oder nur von Mörsern, man soll es jetzt nicht entscheiden. Wer Taten zuspricht, schändet Wort und Tat und ist zweimal verächtlich. Der Beruf dazu ist nicht ausgestorben. Die jetzt nichts zu sagen haben, weil die Tat das Wort hat, sprechen weiter. Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige! Auch alte Worte darf ich nicht hervorholen, solange Taten geschehen, die uns neu sind und deren Zuschauer sagen, dass sie ihnen nicht zuzutrauen waren. Mein Wort konnte Rotationsmaschinen übertönen, und wenn es sie nicht zum Stillstand gebracht hat, so beweist das nichts gegen mein Wort. Selbst die größere Maschine hat es nicht vermocht und das Ohr, das die Posaune des Weltgerichts vernimmt, verschließt sich noch lange nicht den Trompeten des Tages. Nicht erstarrte vor Schreck der Dreck des Lebens, nicht erbleichte Druckerschwärze vor so viel Blut. Sondern das Maul schluckte die vielen Schwerter und wir sahen nur auf das Maul und maßen das Große nur an dem Maul. Und Gold für Eisen fiel vom Altar in die Operette, der Bombenwurf war ein Couplet, und 15 000 Gefangene gerieten in eine Extraausgabe, die eine Soubrette vorlas, damit ein Librettist gerufen werde. Mir Unersättlichem, der des Opfers nicht genug hat, ist die vom Schicksal befohlene Linie nicht erreicht. Krieg ist mir erst, wenn nur die, die nicht taugen, in ihn geschickt werden. Sonst hat mein Frieden keine Ruhe, ich richte mich heimlich auf die große Zeit ein und denke mir etwas, was ich nur dem lieben Gott sagen kann und nicht dem lieben Staat, der es mir jetzt nicht erlaubt, ihm zu sagen, dass er zu tolerant ist. Denn wenn erj e t z tnicht auf die Idee kommt, die sogenannte Pressfreiheit, die ein paar weiße Flecke nicht spürt, zu erwürgen, so wird er nie mehr auf die Idee kommen, und wollte ich ihn jetzt auf die Idee bringen, er vergriffe sich an der Idee und mein Text wäre das einzige Opfer. Also muss ich warten, wiewohl ich doch der einzige Österreicher bin, der nicht warten kann, sondern den Weltuntergang durch ein schlichtes Autodafé ersetzt sehen möchte. Die Idee, auf welche ich die tatsächlichen Inhaber der nominellen Gewalt bringen will, ist nur eine fixe Idee von mir. Aber durch fixe Ideen wird ein schwankender Besitzstand gerettet, wie eines Staates so einer Kulturwelt. Man glaubt einem Feldherrn die Wichtigkeit von Sümpfen so lange nicht, bis man eines Tages Europa nur noch als Umgebung der Sümpfe betrachtet. Ich sehe von einem Terrain nur die Sümpfe, von ihrer Tiefe nur die Oberfläche, von einem Zustand nur die Erscheinung, von der nur einen Schein und selbst davon bloß den Kontur. Und zuweilen genügt mir ein Tonfall oder gar nur die Wahnvorstellung. Tue man mir, spaßeshalber, einmal den Gefallen, mir auf die Oberfläche zu folgen dieser problemtiefen Welt, die erst erschaffen wurde, als sie gebildet wurde, die sich um ihre eigene Achse dreht und wünscht, die Sonne drehte sich um sie. Über jenem erhabenen Anschlag, jenem Gedicht, das die tatenvolle Zeit eingeleitet, dem einzigen Gedicht, das sie bis nun hervorgebracht hat, über dem menschlichsten Anschlag, den die Straße unserm Auge widerfahren lassen konnte, hängt der Kopf eines Varietékomikers, überlebensgroß. Daneben aber schändet ein Gummiabsatzerzeuger das Mysterium der Schöpfung, indem er von einem strampelnden Säugling aussagt, so, mit dem Erzeugnis seiner, ausgerechnet seiner Marke, sollte der Mensch auf die Welt kommen. Wenn ich nun der Meinung bin, dass der Mensch, da die Dinge so liegen, lieber gar nicht auf die Welt kommen sollte, so bin ich ein Sonderling. Wenn ich jedoch behaupte, dass der Mensch unter solchen Umständen künftig überhaupt nicht mehr auf die Welt kommen wird und dass späterhin vielleicht noch die Stiefelabsätze auf die Welt kommen werden, aber ohne den dazugehörigen Menschen, weil er mit der eigenen Entwicklung nicht Schritt halten konnte und als das letzte Hindernis seines Fortschritts zurückgeblieben ist – wenn ich so etwas behaupte, bin ich ein Narr, der von einem Symptom gleich auf den ganzen Zustand schließt, von der Beule auf die Pest. Wäre ich kein Narr, sondern ein Gebildeter, so würde ich vom Bazillus und nicht von der Beule so kühne Schlüsse ziehen und man würde mir glauben. Wie närrisch gar, zu sagen, dass man, um sich von der Pest zu befreien, die Beule konfiszieren soll. Ich bin aber wirklich der Meinung, dass in dieser Zeit, wie immer wir sie nennen und werten mögen, ob sie nun aus den Fugen ist oder schon in der Einrichtung, ob sie erst vor dem Auge eines Hamlet Blutschuld und Fäulnis häuft oder schon für den Arm eines Fortinbras reift – dass in ihrem Zustand die Wurzel an der Oberfläche liegt. Solches kann durch ein großes Wirrsal klar werden, und was ehedem paradox war, wird nun durch die große Zeit bestätigt. Da ich weder Politiker bin noch sein Halbbruder Ästhet, so fällt es mir nicht ein, die Notwendigkeit von irgendetwas, das geschieht, zu leugnen oder mich zu beklagen, dass die Menschheit nicht in Schönheit zu sterben verstehe. Ich weiß wohl, Kathedralen werden mit Recht von Menschen beschossen, wenn sie von Menschen mit Recht als militärische Posten verwendet werden. Kein Ärgernis in der Welt, sagt Hamlet. Nur dass ein Höllenschlund sich zu der Frage öffnet: Wann hebt die größere Zeit des Krieges an – der Kathedralen gegen Menschen! Ich weiß genau, dass es zuzeiten notwendig ist, Absatzgebiete in Schlachtfelder zu verwandeln, damit aus diesen wieder Absatzgebiete werden. Aber eines trüben Tages sieht man heller und fragt, ob es denn richtig ist, den Weg, der von Gott wegführt, so zielbewusst mit keinem Schritte zu verfehlen. Und ob denn das ewige Geheimnis, aus dem der Mensch wird, und jenes, in das er eingeht, wirklich nur ein Geschäftsgeheimnis umschließen, das dem Menschen Überlegenheit verschafft vor dem Menschen und gar vor des Menschen Erzeuger. Wer den Besitzstand erweitern will und wer ihn nur verteidigt – beide leben im Besitzstand, stets unter und nie über dem Besitzstand. Der eine fatiert ihn, der andere erklärt ihn. Wird uns nicht bange vor irgendetwas über dem Besitzstand, wenn Menschenopfer unerhört geschaut, gelitten wurden und hinter der Sprache des seelischen Aufschwungs, im Abklang der berauschenden Musik, zwischen irdischen und himmlischen Heerscharen, eines fahlen Morgens das Bekenntnis durchbricht: „Was jetzt zu geschehen hat, ist, dass der Reisende fortwährend die Fühlhörner ausstreckt und die Kundschaft unaufhörlich abgetastet wird!“ Menschheit ist Kundschaft. Hinter Fahnen und Flammen, hinter Helden und Helfern, hinter allen Vaterländern ist ein Altar aufgerichtet, an dem die fromme Wissenschaft die Hände ringt: Gott schuf den Konsumenten! Aber Gott schuf den Konsumenten nicht, damit es ihm wohl ergehe auf Erden, sondern zu einem Höheren: damit es dem Händler wohl ergehe auf Erden, denn der Konsument ist nackt erschaffen und wird erst, wenn er Kleider verkauft, ein Händler. Die Notwendigkeit, zu essen, um zu leben, kann philosophisch nicht bestritten werden, wiewohl die Öffentlichkeit dieser Verrichtung von einem unablegbaren Mangel an Schamgefühl zeugt. Kultur ist die stillschweigende Verabredung, das Lebensmittel hinter den Lebenszweck abtreten zu lassen. Zivilisation ist die Unterwerfung des Lebenszwecks unter das Lebensmittel. Diesem Ideal dient der Fortschritt und diesem Ideal liefert er seine Waffen. Der Fortschritt lebt, um zu essen, und beweist zuzeiten, dass er sogar sterben kann, um zu essen. Er erträgt Mühsal, damit es ihm wohl ergehe.

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