Weltgewissen - Karl-Josef Kuschel - E-Book

Weltgewissen E-Book

Karl-Josef Kuschel

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Beschreibung

In den großen politischen und gesellschaftlichen Krisen- und Wendezeiten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts thematisiert Thomas Mann in seinem Werk immer wieder Grundfragen der menschlichen Existenz. Aus dem Exil kämpft er mit seinen Mitteln für das jüdisch-christliche Ethos als Widerstands- und Orientierungskraft gegen die Verrohung des Lebens durch Faschismus, Rassismus und Militarismus. Jenseits des bürgerlichen Christentums sucht er für seinen religiös fundierten Humanismus einen eigenen Zugang zur Rede von Gott. Was viele überraschen wird: Gnade ist ein Schlüsselwort seines Spätwerks – für ihn die »souveränste Macht« im persönlichen Leben und in dem eines Volkes. Thomas Mann beschreibt den Verfall der Religion ebenso wie die unzerstörbare »Idee des Christentums« und deren bleibendes Potential zur Sicherung freiheitlicher Demokratie. Karl-Josef Kuschel, Literaturwissenschaftler und Theologe, fügt die Suchbewegungen des Jahrhundertschriftstellers zu einem Gesamtbild und zeigt seine bleibend hohe Aktualität. »Thomas Mann setzt sich ausdrücklich ab von der ›dünn-rationalen und optimistisch allgemeinen Menschenliebe des 18. Jahrhunderts‹. Sein neuer Humanismus ist darin neu, dass er die Tiefenschichten der menschlichen Natur aufgenommen und verwandelt hat und so eine Versöhnung von Humanität und Religiosität erreicht.« Karl-Josef Kuschel

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Seitenzahl: 551

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Karl-Josef Kuschel

Weltgewissen

Religiöser Humanismus in Leben und Werk von Thomas Mann

Patmos Verlag

Der Tübingerin aus Hamburg, Inge Jens (1927–2021), Thomas-Mann-Forscherin, Herausgeberin der Tagebücher 1944 bis 1955 und Verfasserin einer Pringsheim-Trilogie,

in Dankbarkeit zugeeignet.

Inhalt

Prolog »Glaube? Unglaube?« Suchbewegungen eines Schriftstellers

»Weltgewissen«

Zeitenwenden

Wandlungen

Christentum als ein »die Gewissen schärfendes Korrektiv«

Für einen »religiös fundierten Humanismus«

»Gnade« als Schlüsselwort des Spätwerks

Wie Religion ihre Erosion überlebt …

… und neue Kraft gewinnen kann

Forschungen

Erstes Kapitel Nachdenken über das Religiöse Erste Zugänge durch autobiographische Texte

1. »Nein, ich habe keine Religion«

2. Meer, Gebirge und das »physisch-metaphysische Grauen«

3. Über den Primat der Idee: Erlebnisse mit dem Okkultismus

4. Schopenhauer und der »metaphysische Rausch«

5. Vom »Metaphysisch-Individuellen« zum Sozialen und Politischen

6. »Was aber ist denn das Religiöse?« Eine erste Bilanz

Zweites Kapitel »Verfall« und Unruhepotential der Religion: »Buddenbrooks« – »Gefallen« – »Gladius Dei« – »Fiorenza«

1. »Verfall« einer Familie – »Verfall« kirchlichen Glaubens

2. Ritual und Verblendung: Weihnachten bei den Buddenbrooks

3. Religionsstunde in Lübeck: »Das Buch Hiob zerfällt in drei Teile«

4. Die erstorbene Theodizee und der Tod als Glück

5. Hinter dem Glück die Angst: Die Novelle »Gefallen«

6. Wider den gewissenlosen Schönheitskult: »Gladius Dei«

7. Vom Kampf zwischen Wahrheit und Schönheit: »Fiorenza«

8. Die Fragwürdigkeit einer Ästhetik ohne Gewissen

Drittes Kapitel »Das religiöse Problem ist das humane Problem« »Der Zauberberg«

1. Die Wende zu »Humanität« und die Folgen

2. Ein Bergsanatorium als Zwischenreich

3. Settembrini und die Aufklärung

4. Madame Chauchat und die »Fleischesmystik«

5. Naphta und der Terror

6. Peeperkorn: Dionysos als der Gekreuzigte

7. Abendmahl und Gethsemane in der Welt der Moribunden

8. Christusfigurationen im Werk

9. Gerhart Hauptmann: Schmerzensmann und Heidenpriester

10. »Um der Güte und Liebe willen« dem Tod widersagen

11. Der »Zauberberg« – ein »religiöses Buch«?

Viertes Kapitel Vom »Segen von oben und der unteren Tiefe« Christentum im Lichte der Religionsgeschichte – Wandel im Jesusbild – Antifaschistische Ansprachen: »Deutsche Hörer« »Joseph und seine Brüder«

1. Hinwendung zu »Weltbürgerlichkeit, Weltmitte, Weltgewissen«

2. Auslotung der Tiefen: Psychologie und Mythologie

3. Vier Bände zu einem biblischen Stoff

4. Religionsgeschichtliche Schulaufgaben

5. Von Mesopotamien bis Ägypten: Mythische Muster

6. Joseph als irdische Rettergestalt

7. Joseph als Christusfigur

8. Joseph als Christusersatz?

9. »Reinige die Gottheit, und du reinigst die Menschen«

10. Ein Bibel-Roman als »Stütze und Stab« in dunklen Zeiten

11. Thomas Mann als Bibelleser

12. Religionsgeschichte und die »Einheit des Menschengeistes«

13. Wer ist Jesus für den »Josephs«-Autor?

14. Weihnachtsfrieden als Weltauftrag: »Deutsche Hörer«

Fünftes Kapitel »Ich habe in mir viel Indertum …«: Der Komplex »Asien« »Anekdote« – Das »Maja«-Projekt – Das »asiatische Prinzip« im »Zauberberg « – »Die vertauschten Köpfe«

1. Literatur – »Gemeingut der Menschheit«

2. Vom »Schleier der Maja«: »Anekdote«

3. Von der »Wurzel des Leidens«: Die Lehre Buddhas

4. Lernen von Schopenhauers »Indien«

5. Das »Maja«-Projekt: Letzte Spuren im »Krull«

6. »Viel Asien in der Luft«: Noch einmal »Zauberberg«

7. Die Verlockung des »asiatischen Prinzips«

8. Madame Chauchat und die Auflösung der bürgerlichen Formen

9. Asien als Metapher: Drei Sinndimensionen

10. Ein Gespräch über Lao Tse auf dem Zauberberg

11. »Vertauschte Köpfe«: Eine Geschichte aus der Welt Indiens

12. Die »Maja«: Zauber und Täuschung

Sechstes Kapitel Christentum »als richtendes und die Gewissen schärfendes Korrektiv«: Zur Wiederkehr kämpferischer Moralität und Verteidigung des christlichen Ethos in antifaschistischen Essays und Reden

1. Zwei Irrtümer Nietzsches – durchschaut

2. Absetzbewegungen von Schopenhauer

3. Bekenntnis zu Demokratie und Humanität

4. Verteidigung gegen Ideologien von rechts und links

5. Für eine »Wiedergeburt der Anständigkeit«

6. »Wir wissen wieder, was Gut und Böse ist«

7. Wiederentdeckung der Kraft des Christentums

8. Wider das »Geschwätz« vom »Ende des Christentums«

9. Die unzerstörbare »Idee des Christentums«

10. Demokratie als Ausprägung des Christentums

11. Für einen »religiös fundierten Humanismus«

12. Kirche? Wenn schon, dann die »Unitarische«

13. Thomas Manns »amerikanische Religion«

14. Plädoyer für ein »angewandtes Christentum«

15. »Das Evangelium als Ereignis«: Pastor Niemöller

Siebtes Kapitel Die Zehn Gebote als »Fels des Menschenanstandes «: Die »Mose«-Novelle »Das Gesetz«

1. Exodus: Das Drama einer biblischen Geschichte

2. Wider die »Aufkündigung des Sittengesetzes«

3. Ein sinnlich-sündiger Gesetzgeber: Mose

4. Das Sittliche in stetem Kampf mit dem Triebhaften

5. Ein Fluch auf die Schänder des Sittengesetzes

6. »Gott im Himmel, vernichte ihn!«

7. Erziehung zur Humanität mit Strenge

8. »Menschenrechte«! »Menschheitsreligion «?

Achtes Kapitel Was die Menschheit dem Judentum verdankt: Zwiespältige Reaktionen in einem Schriftsteller-Leben

1. Das Judentum zwischen Assimilation und Zionismus

2. Die Erzählung »Der Wille zum Glück«

3. »Wälsungenblut« und ein peinliches Nachspiel

4. Eine erste Stellungnahme zur »Judenfrage«

5. Antisemitismus bei Thomas Mann?

6. Für eine »Europäisierung« des Judentums

7. Die zweite Stellungnahme zur Judenfrage

8. Ein Zwischenfazit: Eine »gehörige Portion Rassismus«?

9. Exzentrische jüdische Gestalten im Romanwerk

10. Der »Joseph« als »Roman des jüdischen Geistes«

11. Wie Antisemitismus zu erklären ist

12. Der Holocaust und die Gründung des Staates Israel

13. Die Leistung des Judentums für die Menschheit

Neuntes Kapitel »Das Böse hat sich uns in einer Krassheit und Gemeinheit offenbart« »Doktor Faustus«

1. Das »Böse in seiner ganzen Scheußlichkeit«

2. Reaktion auf eine Zeit, in der »der Teufel los« ist

3. Warum gerade Deutschland seine Seele »dem Teufel verkauft«

4. Die Musik als »dämonisches Gebiet«

5. Der Pakt mit dem Teufel – und sein Preis

6. Was ist »Hölle«?

7. Der Selbstdenker als Selbsthenker

8. Die Unfassbarkeit des Bösen und die Grenzen des Romans

Zehntes Kapitel Angewiesensein auf Gnade Schluss des »Faustus« – »Der Erwählte« – »Die Betrogene« – Autobiographische Erfahrungen und Texte

1. Wie von Gnade reden »nach all der Finsternis«?

2. Sprachexerzitien mit Theodor W. Adorno

3. »Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit «

4. Nach einem »Teufels«- ein »Heiligen«-Roman

5. Der Ödipus-Mythos – christlich gedeutet

6. »Denn alle Erwählung ist schwer zu fassen«

7. Der Sünder als der Erwählte

8. Die »Idee von Sünde und Gnade« – ernst genommen

9. Ermutigung zur Reue – um Deutschlands willen

10. Ein Wunsch-Papst im Geist der Aufklärung

11. »Ich kenne die Gnade«: Thomas Manns Erfahrungen

12. Zürich 1950: Späte Liebe als Erfahrung von Gnade

13. »Gnade üben«! Ein Appell an Walter Ulbricht

14. Von »Güte und Gnade«: Die letzte Erzählung

15. Eine Papstaudienz in den Spuren des »Erwählten«

16. Der Papst – Symbol der Stabilität in allen Umbrüchen

17. Über die künftige »Einheit der religiösen Welt«

Elftes Kapitel Lob der Gnade – Lob der Vergänglichkeit Der »Krull«-Roman – »Allsympathie« – »Lob der Vergänglichkeit« – Der doppelte Ausgang des Werkes

1. Die Welt eine Bühne und der Künstler ein Hochstapler

2. Eine Reise von Paris nach Lissabon

3. »Genüsslich«: Naturwissenschaft im Speisewagen

4. »Staunen«: Naturwissenschaft im »Zauberberg«

5. »Unfassbar«: Naturwissenschaft im »Doktor Faustus«

6. »Allsympathie« mit dem Leben im »Krull«

7. Und die Opfer der Evolution? »Was denkt die Natur sich?«

8. »Lob der Vergänglichkeit«

9. Der doppelte Ausgang und was daraus folgt

10. Erbe und Überwinder moderner Religionskritik

Epilog Thomas Manns letzte Texte, August 1955

Noch einmal das Meer

Die »schönsten Erzählungen der Welt«

Ein Vermächtnis in den Spuren Schillers

Weltpolitisch denken und handeln

Im Gespräch mit Paulus, Luther, Shaw und Mozart

Literatur

Danksagung

Anmerkungen

Personenregister

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Prolog »Glaube? Unglaube?« Suchbewegungen eines Schriftstellers

Es ist exakt 75 Jahre her, dass Thomas Mann, alt geworden und vielerfahren, seinen autobiographischen Essay »Meine Zeit« veröffentlichte (XI, 302–324. E VI, 160–182). Das Ende des Zweiten Weltkriegs liegt nur fünf Jahre zurück. Die politische und moralische Katastrophe, verantwortet durch den europäischen Faschismus, hatte verheerende Folgen.

»Weltgewissen«

Schon waren die beiden damaligen Großmächte, die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten, gegen den Faschismus noch verbunden, zu Rivalen der Weltpolitik geworden. Kommunismus – Kapitalismus, Gleichheit – Freiheit wurden gegeneinander ausgespielt. Thomas Mann ist über diesen sich abzeichnenden und immer mehr verschärfenden Konflikt zwischen Ost und West zutiefst beunruhigt. Deshalb plädiert er am Ende seines Essays – in Kontinuität mit früheren Interventionen – für eine neue Verbindung von Freiheit und Gleichheit; ohne einander könnten sie nicht existieren, meint er. Denn Gleichheit trage stets in sich die Gefahr der Tyrannei und Freiheit die der anarchischen Auflösung. Aufgabe der heutigen Menschheit aber sei es, ein »neues Gleichgewicht« zwischen beiden zu schaffen, eine »neue Verbindung«, in der sich freilich die Tatsache nicht verleugnen lasse, dass Gerechtigkeit die herrschende »Idee der Epoche« geworden sei und ihre Verwirklichung eine »Angelegenheit des Weltgewissens«. Und wie zur Erläuterung fügt er hinzu: »Die bürgerliche Revolution muß sich ins Ökonomische fortentwickeln, die liberale Demokratie zur sozialen werden« (XI, 322. E VI, 180).

»Weltgewissen«! Schon damals ein großes Wort, das aber bereits in der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« der Vereinten Nationen 1948 benutzt wird – nicht zufällig vor dem Hintergrund der soeben erlebten Schändung der Menschenrechte.

»Da die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet, da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen, […] verkündet die Generalversammlung diese Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« (Resolution 217 A [III] vom 10.12.1948, Präambel).

Ein großes Wort, gewiss, aber bei Thomas Mann ist es begrifflich gefüllt und empirisch geerdet. Zahlreiche Dokumente belegen, dass er sich durch seine literarischen Arbeiten und seine publizistischen Äußerungen als ein »Anwalt« der universalen Menschenrechte begriff. Dafür aber hatte er einen langen Weg gehen müssen, bevor er nach der gnadenlosen Beschreibung des Verfalls der »bürgerlichen« Religion in seinem ersten Roman »Die Buddenbrooks« (1901), nach vielen Lebens- und Werkstationen und unfreiwilligen Erfahrungen mit dem abgründig Bösen in den dreißiger und vierziger Jahren, nicht nur allgemein »Humanismus« forderte, sondern bewusst einen »neuen«, einen »religiös fundierten Humanismus«. Es sollte gerade nicht der Humanismus des 18. Jahrhunderts sein, der sich religionskritisch von der Sphäre des Christentums gelöst, der vornehmlich auf Vernunft, Kritik und Autonomie des Menschen gesetzt hatte. Thomas Mann setzt sich ausdrücklich ab von der »dünn-rationalen und optimistisch allgemeinen Menschenliebe des 18. Jahrhunderts« (Tb, 1944–1946, 821). Sein neuer Humanismus will darin neu sein, dass er auch die Tiefenschichten der menschlichen Natur aufgenommen und verwandelt hat und so eine Versöhnung von Humanität und Religiosität bewirkt. 1945 formuliert er dies so:

»Religion ist Ehrfurcht, die Ehrfurcht vor dem Geheimnis, das der Mensch ist. Ein neuer Humanismus ist nötig, – nicht die dünn-rationale und optimistische allgemeine Menschenliebe des 18. Jahrhunderts, sondern ein religiös fundierter und gestimmter Humanismus, der durch vieles hindurchgegangen ist und alles Wissen ums Untere und Dämonische hineinnimmt in seine Ehrung des menschlichen Geheimnisses« (Tb 1944–946, 821f.).

Mehr dazu im Kapitel 6, 7–11.

Nach all dem, was er im Zusammenhang eines Weltbürgerkriegs soeben erlebt hatte, sieht Thomas Mann klar: »Keine wirkliche Befriedigung der Welt, keine Zusammenarbeit der Völker für das gemeinsame Wohl und den menschlichen Fortschritt« ohne ein für alle gültiges, universales, »von allen anerkanntes Grundgesetz«, eine »Magna Charta des Menschenrechtes« (XII, 938. E V, 237). Grundlage jeder Rede von einem Welt-Gewissen, von denen getragen, die sich dieser »Magna Charta« verpflichtet wissen. Grundlage aber auch für den Weltfrieden, der in Zukunft – so Thomas Mann – nur durch eine »Weltregierung« gewährleistet werden kann: durch eine »gemeinsame Verwaltung der Erde«, zu der auch eine gerechte »Güterverteilung« gehört (Tb 1949–1950, 706). »Weltregierung«, »Weltstaat«, »Weltföderation«: Das alles sind Themen, die Thomas Mann seit den vierziger Jahren und verstärkt nach 1945 in zahlreichen politischen Stellungnahmen öffentlich behandelt. Hinzu kommt seine Überzeugung, dass »in der kommenden Weltcivilisation« auch die »verschiedenen religiösen Bekenntnisse, die heute einander die Wahrheit streitig« machten, »verschmolzen« würden »zu einer Weltreligion, einem religiösen Humanismus, der die seelische Grundstimmung dieser universellen Gemeinschaft bilden« werde (Tb 1949–1950, 707). Mehr dazu in Kapitel 10, 17.

Ein langer Weg. Er soll in diesem Buch transparent gemacht werden. Dafür braucht es Vertrautheit mit dem Werk und den Willen, den langen Weg mit Geduld und Einfühlungsvermögen mitzugehen.

Wohlan denn.

Zeitenwenden

Machen wir uns klar: Als Thomas Mann 1875 in Lübeck geboren wird, herrschen in England noch Queen Victoria und in Deutschland Wilhelm I., der Kaiser der Gründung des Deutschen Reiches. An seiner Seite Otto von Bismarck und Helmuth von Moltke als Reichskanzler bzw. Generalfeldmarschall. Es ist die Hochzeit des europäischen Nationalismus, Imperialismus und Kolonialismus. Als Kaiser Wilhelm II. 1888 auf den Thron kommt, ist Thomas Mann 13 Jahre alt. Erwachsen geworden, wird er zum Zeugen dramatischer Zeitenwenden: des Ersten Weltkriegs und des Untergangs der Monarchie; der Ausrufung einer Republik und der Bekämpfung des demokratischen Staates durch totalitäre Massenbewegungen zur Linken und zur Rechten. Dann der »Machtergreifung« des völkisch-germanisch-rassistischen Faschismus in Deutschland, der ungezählte Wissenschaftler, Intellektuelle und Künstler ins Exil treiben sollte, darunter Thomas Mann und die Seinen.

Zeuge wird Thomas Mann auch des von Deutschland angezettelten zweiten Kriegs, der sich von Europa aus zu einem neuen Weltkrieg entwickeln wird, dann der generalstabsmäßig organisierten und fabrikmäßig durchgeführten Massenvernichtung des europäischen Judentums in NS-Vernichtungslagern, der verheerenden Zerstörungen deutscher Städte, Lübecks inklusive, durch alliierte Bombenangriffe sowie Japans durch den Abwurf von zwei Atombomben und nicht zuletzt der Entwicklung noch grauenhafterer Vernichtungspotentiale in Form einer Wasserstoffbombe. Zeuge schließlich auch der Gründung des Staates Israel und des Neuanfangs Deutschlands nach der Katastrophe, jetzt allerdings im Zeichen der Spaltung West – Ost. Von den geschichtlich beispiellosen Entwicklungen in Wissenschaft, Medizin, Technik, Ökonomie und Industrie vor allem in »westlich« orientierten Ländern nicht zu reden. Zeitenwenden zwischen 1875 und 1955 in nur 80 Jahren, die geschichtlich ihresgleichen suchen und ein literarisches Werk hervorbringen, das nicht weniger seinesgleichen sucht. Und der »Faktor« Religion?

Wandlungen

Zu Beginn seines Werkes bis zum Ersten Weltkrieg steht »Religion« im Zeichen der Schwäche und des Verfalls eines einstmals starken, alles dominierenden Christentums in seiner verkirchlichten, von einem bürgerlichen Milieu absorbierten Gestalt (s. Kap. 2). Dabei lässt der Roman »Buddenbrooks«, von einem 26-Jährigen veröffentlicht, erstaunlich präzise Kenntnisse von der Welt des protestantischen Kirchentums erkennen, das ihn ein Leben lang prägen sollte. Bis ins hohe Alter hinein hat sein Verfasser nicht vergessen, dass das Haus seiner Großeltern im Schatten der gewaltigen Marienkirche zu Lübeck gestanden, dass ihr Glockenspiel in seine Kindheit hineingeklungen hat und er in dieser Kirche konfirmiert worden ist, so 1951 in einem »Gruß an St. Marien zu Lübeck«, als damals auch diese Kirche durch »das Erdbeben der Zeit« in einen »traurigen Zustand« geraten ist (XIII, 804f.). Ja, so genau kennt dieser junge Lübecker sich in der Kirchengeschichte seiner Heimatstadt aus, dass er in seinem Familienroman Generation für Generation dem jeweiligen Oberhaupt der Kaufmannsfamilie einen Pastor zuordnen kann, der ebenso wie der jeweilige Patriarch von Wandlungen der Zeit betroffen ist.

Wer könnte je die »gnadenlos« präzise und zugleich doppelbödige Beschreibung der Weihnachtsfeier vergessen, die sich im Buddenbrook-Haus zu Lübeck abgespielt hat. Wer je die Religionsstunde Hanno Buddenbrooks bei Oberlehrer Ballerstedt mit dem unfreiwillig komischen Kernsatz: »Das Buch Hiob zerfällt in drei Teile« (s. Kap. 2, 1–3). Das hier praktizierte »Christentum«? Einstmals kraftvoll und die Gesellschaft beherrschend, jetzt auf einer zukunftslosen Schwundstufe. So stellt der Verfasser es dar. Die kirchlichen Rituale? Sinnentleert. Die Botschaft? Verbraucht. Die Moral? Bigott. Der religiöse Gehalt der urchristlichen Botschaft? Verdampft. Das kirchliche Schlüsselpersonal? Je länger, desto stärker nur noch satiretauglich.

»Dominus providebit«! »Gott wird seine Vorsehung walten lassen« – so steht es über der Türschwelle des Buddenbrookschen Hauses zu Lübeck. Doch bei aller äußeren Zurschaustellung kirchlicher Frömmigkeit – der »Gott«, an den man in dieser Familie wirklich glaubt, ist »die Firma« und ihr geschäftlicher Erfolg. Ihm wird alles an persönlichen Interessen untergeordnet, alles an privatem Glück geopfert, bis auch dieser »Gott« sich als »Götze« erweist und vom Moloch des Kapitalismus geschluckt wird. Doch schon mit seinem ersten Roman hat Thomas Mann »Schluss« gemacht mit dieser Gestalt von »Religion«. Dieser Gestalt.

Er geht seinen eigenen Weg, wie ungezählte Künstler und Intellektuelle in Deutschland um 1900 auch, vor allem, wenn sie durch ein urbanes Bildungsmilieu geprägt sind. Das gilt auch für Fragen der Religion. Ein Suchprozess von Anfang an nach dem Eigenen, Unverwechselbaren, persönlich Glaubwürdigen jenseits einer vorgegebenen Katechismus-Gläubigkeit. Individualisierung und Pluralisierung des Religiösen nennt man das in der heutigen Religionssoziologie und Religionspsychologie. Thomas Mann ist ein frühes Beispiel solch offener, authentischer Suchbewegungen. Und ich zeichne diese in Grundrissen nach, in thematischen Durchblicken, ohne bei einzelnen Werken – wie es in der Thomas-Mann-Forschung geschieht – ins Detail gehen zu können.

Das frühe »Erweckungserlebnis« vollzieht sich bei diesem Dichter denn auch nicht im Raum des Christlich-Kirchlichen, sondern in einer völlig anderen Welt als der der Lübecker Pastoren: unter dem Eindruck eines Philosophen. Er heißt Arthur Schopenhauer (1788–1860). Dessen Hauptwerk »Die Welt als Wille und Vorstellung« (1819/1844) macht auf den jungen Thomas Mann den stärksten Eindruck, insbesondere das Kapitel: »Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich« (s. Kap. 1, 4). Entsprechend identifiziert er schon früh »das Religiöse« nicht mit einem transzendenten, personalen Gegenüber im Sinne des biblischen Gottesverständnisses, sondern mit dem elementaren Grauen vor den Naturgewalten (Meer, Gebirge) und mit dem Gedanken an den Tod. Wahre Religiosität wird nicht durch die veräußerlichen Riten der Kirche erlebbar oder durch Lektüre heiliger Schriften, sondern durch Heimsuchungen und Erschütterungen. Sie können aus der Bahn des gewohnten Lebens werfen wie Erfahrungen von Liebe oder Tod.

»Was ist denn das Religiöse?« fragt Thomas Mann öffentlich und antwortet: »Der Gedanke an den Tod«, so noch im »Fragment über das Religiöse« von 1931. Da ist er schon 56 Jahre alt. Will sagen: Angesichts der prekären, geheimnisvollen »Stellung des Menschen im Kosmos« betrachtet Thomas Mann zu diesem Zeitpunkt »das religiöse Problem« nicht als »Frage nach Gott«, sondern als »die Frage des Menschen nach sich selbst«. Immer noch weiß er sich in einem offenen Suchprozess: »Glaube? Unglaube? Ich weiß kaum, was das eine ist und was das andere. Ich wüßte tatsächlich nicht zu sagen, ob ich mich für einen gläubigen Menschen halte, oder für einen ungläubigen« (XI, 424. E III, 297). Mehr dazu in Kapitel 1.

Das alles freilich hatte inhaltliche Fragen einer konkreten, einer geschichtlich gewachsenen Religion beiseitegelassen. Es ist eine hochabstrakte Form von »Religion«, genauer: »Religiosität«, ohne inhaltliche Füllung. Wo ihm eine solche begegnet oder wo ihm ein entsprechendes »Credo« abverlangt wird, geht er auf ironische Distanz. Stattdessen: Todesmetaphysik als Sehnsucht nach Vergehen im Anschluss an Schopenhauer und Ich-Auflösung als ekstatische Musikerfahrung im Anschluss an Richard Wagner und dessen Versuch, Religion durch Kunst zu ersetzen, die Theater zu neuen Kirchen zu machen. »Kunstreligion« ist das Stichwort. Kein Zufall auch, dass Thomas Mann sich eine Zeit lang zur Lehre des Buddha hingezogen fühlt. »Viel Indertum« habe er in sich, bekennt er, wie seine beiden Geistesführer in Philosophie und Musik auch. Ich gehe darauf in einem eigenen Kapitel ein: Kapitel 5.

Ende der zwanziger Jahre aber kommt es zu einer überraschenden Neuentdeckung des unlösbaren Zusammenhangs von Menschheits-, Kultur- und Religionsgeschichte. Nach den philosophischen Reflexionen über »Religion« im Allgemeinen tritt Thomas Mann jetzt erstmals in die ungemein vielfältige »Welt der Religionen« ein. Von den antiken Religionen angefangen bis hin zu Judentum und Christentum. Jetzt werden jüdisch-christliche Überlieferungen, insbesondere aus der Hebräischen Bibel und dem Neuen Testament, bis ins Detail religionsgeschichtlich, psychologisch und existentiell neu gedeutet. Und zwar im Lichte der Geschichte der Religionen. Ich verfolge diese Deutungsarbeit im Kapitel 4 und berichte davon, dass und wie Thomas Mann aus der Erzählung von Joseph und dessen Brüdern (Gen 37–50) ein universales Menschheitsdokument gemacht hat.

Wie? Indem die biblische Geschichte eingebettet wird in die Religions- und Mythologiegeschichte der Menschheit seit den Anfängen an Euphrat und Nil. Dadurch verliert sie zwar ihre heilsgeschichtlich exklusive, gewinnt zugleich aber eine religionsgeschichtlich universelle Bedeutung. Zu seinem eigenen Erstaunen muss Thomas Mann auf einmal zugeben, dass er das Religiöse bisher »nur mit der naiven Ehrfurcht […] vor dem Unbekannten angesehen« habe. Jetzt aber ziehe es ihn »unendlich an«. Ja, das Religiöse werde »unsere ganze nächste Zukunft bestimmen« (Selbstkommentare »Joseph«, 1999, 20).

»Unsere«? In jedem Fall die seine. Und die Einarbeitung der Religionsgeschichte in sein Denken und Schreiben ist ein neuer, jetzt auch die biblischen Überlieferungen integrierender Zugang zur Welt der Religionen. Das hat mit Glauben an kirchliche Glaubenslehren nichts, wohl aber mit der Überzeugung zu tun: Zur Kultur gehört auch der Faktor Religion. Zur Kulturgeschichte der Menschheit gehört auch die Geschichte der Religionen und Mythologien. Warum? Weil kein Gebiet so geeignet sei, schreibt Thomas Mann, »die humane Einheit des Geistes deutlich zu machen, wie das religiöse« (X, 731. E III, 301).

Konsequenz: Die »Einsicht in die Geschlossenheit der religiösen Vorstellungswelt« kann auch »denjenigen der religiösen Welt aufs menschlichste verbinden, der ihr sonst ferngeblieben wäre: ich meine den humanistisch und nicht theologisch Gestimmten.« Wen genau? Er meint vor allem sich selbst. So kann Thomas Mann das intensive Studium der Religionen mit einem bleibend modernen, d. h. religionskritisch geschulten Bewusstsein verbinden. So kann er »religiös« offen sein und zugleich auf seinem intellektuellen Niveau bleiben. »Joseph und seine Brüder«: Ein über 16 Jahre und dunkle Zeiten sich erstreckendes Unternehmen, begonnen in Deutschland, fortgesetzt im Exil in der Schweiz und vollendet im Exil in Kalifornien. Am Ende stehen vier Bände und ein literarisches Gespräch mit der Bibel, das in der Weltliteratur seinesgleichen sucht.

Auch die Möglichkeit und Unmöglichkeit einer Rede von Gott wird in diesem Roman durchprobiert – ausgehend von einer Ur-Gestalt der Hebräischen Bibel, Abraham, dem Ur-Mann. Die »Gottesfindung« dieses Mannes aus Ur ist keine Er-Findung, sondern die Findung dessen, der immer da ist, aber dennoch gefunden werden will. Abraham hat Gott »entdeckt« und »hervorgedacht«. Entsprechend seinen anthropozentrischen Prämissen macht der Erzähler in einem kühnen Zugriff aus dem biblisch-theozentrischen Konzept eines »Bundes Gottes« mit den Menschen ein wechselseitiges Verhältnis, einen »Vertrag«, in dem Gott den Menschen und der Mensch Gott braucht, und zwar zur wechselseitigen Reinigung, Vergeistigung und Versittlichung. Denn auch Gott unterliegt der Entwicklung; auch er verändert sich und schreitet fort: aus dem Wüstenhaft-Dämonischen ins Geistige und Heilige; und er kann es so wenig ohne die Hilfe des Menschengeistes, wie dieser es vermag ohne Gott. Denn so wie Menschen Rückfälle ins Triebhafte, Chaotische, Barbarische, Sittenlose erleben (Thomas Manns Deutung des Faschismus), so auch Gott, der aufs Neue zu einem Rachedämon mutieren kann. »Frömmigkeit ist eine Art der Klugheit, sie ist Gottesklugheit« (XI, 667). Die Rede von Gott aber bleibt im »Josephs«-Roman eine Rede vom Menschen. Anthropozentrik und Theozentrik bedingen sich gegenseitig. Genaueres nachzulesen in Kapitel 4.

Unter dem Eindruck der faschistischen NS-Diktatur nimmt die inhaltliche Beschäftigung mit religiösen Überlieferungen weiter konkrete Gestalt an, und zwar durch die Wiederentdeckung der den europäischen Raum geschichtlich nun einmal prägenden Religion: des Christentums. Zunächst kommt es nach Ende des Ersten Weltkriegs zu einer entschiedenen Absage Thomas Manns an einen von ihm lange, allzu lange vertretenen unpolitischen Ästhetizismus und zu einem »Bekenntnis zur Demokratie« angesichts des zunehmenden politischen Terrorismus auf deutschen Straßen (1922: Ermordung von Reichsaußenminister Walther Rathenau) und des Erstarkens totalitärer oder kollektivistischer Kräfte, die in Deutschland an die Macht drängen und dann auch an die Schalthebel der Macht gelangen.

Christentum als ein »die Gewissen schärfendes Korrektiv«

Zugleich findet Thomas Mann den Mut zu öffentlichen Äußerungen: gegen faschistische Propagandalügen, die Rassismus, Militarismus und kriegerische Raumeroberungen rechtfertigen, um dann Europa in ein Schlachtfeld zu verwandeln. Sein Bekenntnis zur »Wiedergeburt der Anständigkeit« ist das zu einer verbindenden und verbindlichen Werteordnung, geleitet von der Überzeugung: Der Faschismus mit all dem, was er anrichtet, zwingt gerade auch komplexe Intellektuelle und feinsinnige Ästheten wie ihn zu Bekenntnissen, zu einer klaren Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Bis dahin unerhörte Sätze aus einer Rede von Thomas Mann stammen aus dem Jahr 1939, und sie stehen für viele in dieser Zeit: »Ich habe Ihnen von Wahrheit, Recht, christlicher Gesittung, Demokratie gesprochen – meine rein ästhetisch gerichtete Jugend hätte sich solcher Worte geschämt, sie als abgeschmackt und geistig undistinguiert empfunden. Heute spreche ich sie mit ungeahnter Freudigkeit. […] Ja, wir wissen wieder, was Gut und Böse ist. Das Böse hat sich uns in einer Krassheit und Gemeinheit offenbart, daß uns die Augen aufgegangen sind für die Würde und schlichte Schönheit des Guten, – daß wir uns ein Herz dazu gefaßt haben und es für keinen Raub an unserer Finesse erachten, es zu bekennen« (XI, 971f.).

In diesem Zusammenhang kommt es bei Thomas Mann auch zu einer selbstkritischen Neubewertung des Christlichen und dessen Wertekanon. Jetzt, ab Mitte der dreißiger Jahre, spricht er in seinen antifaschistischen Essays und Reden aufs Neue vom Christentum, aber nicht mehr von dessen schwach gewordener, verbürgerlichter Gestalt. Jetzt kämpft er mit seinen Mitteln für das jüdisch-christliche Ethos als Widerstands- und Orientierungskraft gegen die Verrohung des Sittlichen durch Faschismus, Rassismus und Militarismus. Und führt damit eine Linie fort, die er auch schon vor dem Ersten Weltkrieg im Zusammenhang seines Theaterstücks »Fiorenza« (1906) ausgezogen hatte: die Linie einer Kritik an einem grenzenlosen Schönheitskult, einer Kunst ohne soziales Gewissen, und zwar im Bewusstsein, dass es ein »ewiges« Ringen gibt zwischen »dem ästhetischen und dem religiösen Willensimpuls«. Schon hier hatte der »Buddenbrooks«-Autor unterschieden zwischen »der Kirche als einer unantastbaren Idee« und »ihren nicht immer würdigen Darstellern« (XI, 562). Mehr dazu in Kapitel 2, 5–10.

Mehr noch: Als NS-Ideologen sich die Sinnentleerung des bürgerlichen Christentums zunutze machen und das Christliche durch ihre eigene Moral zu »überwinden« trachten (durch Propagierung einer rassistischen Herrenmoral bei gleichzeitiger Vernichtung »artfremden« oder kranken Lebens), kommt Thomas Mann »aus der Deckung« und hat den Mut, in Sachen Werte des Christlichen selbstkritisch und bekenntnishaft zu werden, um so sein persönliches »etwas lässig gewordenes Verhältnis zum Christentum zu erneuern und zu aktivieren«. Als Zeuge moralisch verrotteter Zeiten findet er das christliche Ethos jetzt unverzichtbar, und zwar »als richtendes und die Gewissen schärfendes Korrektiv« wider die »Schänder« des Sittengesetzes (X, 918. E IV, 166). Mehr dazu in Kapitel 6 mit zahlreichen Schlüsseltexten. Sie zeigen, dass Thomas Mann als politischer Redner weit »religiöser« denkt denn als Künstler. Die Rolle des leidenschaftlichen antifaschistischen Advokaten des Christlichen als eine der Grundlagen europäischer Kultur behält er sich selber vor. Keine seiner literarischen Figuren lässt er je so reden.

Für einen »religiös fundierten Humanismus«

Vor allem ist er jetzt der Überzeugung: Was wiederherzustellen ist, das sind die von einer falschen Revolution mit Füßen getretenen »Gebote des Christentums« (XII, 939. E V, 237). Denn gerade aus ihnen müsse »das Grundgesetz für das künftige Zusammenleben der Völker abgeleitet werden«, vor dem sich alle würden beugen müssen. So in einer Rede aus dem Jahr 1943 unter dem Titel »Schicksal und Aufgabe« (XII, 918–939. E V, 218–238). Schlüsselwort für diese geforderte neue Grundhaltung ist das Stichwort »neuer Humanismus«. Ich sagte es eingangs. Und dieser Humanismus ist neu darin, dass er auch die Tiefenschichten der menschlichen Natur aufgenommen und verwandelt hat und so eine Versöhnung von Humanität und Religiosität bewirkt. Humanität wird nicht länger ausgespielt gegen Religiosität, sondern durch ein religiöses Fundament vertieft und so krisenresistenter gemacht.

Thomas Mann reagiert damit auf Erfahrungen mit einem der abgründigsten Komplexe, die oft genug theologisch verharmlost oder bürgerlich verdrängt worden sind: dem Komplex des Bösen, Teuflischen und Höllischen. Den hatte er auch immer wieder in seinen antifaschistischen Reden und Vorträgen angesprochen, dann aber nimmt er ihn in seine literarische Arbeit hinein und schreibt mit dem »Doktor Faustus« einen Deutschland-Roman als Teufels-Roman im Wissen, dass sein Land unter der NS-Ideologie »seine Seele dem Teufel verkauft« und das Böse sich in einer unerhörten »Krassheit und Gemeinheit offenbart« (XI, 972. V, 74) hat. Darauf geht das 9. Kapitel ein.

Auch dem Judentum – so zwiespältig seine Haltung zu bestimmten Juden ein Leben lang bleiben wird – erweist Thomas Mann unter dem Eindruck der Massendiskriminierung und dann des Massenmords die Ehre. Die ubiquitäre Schändung der Sittlichkeit durch ein rassistisches Regime und der Denunziation des biblisch überlieferten Sittengesetzes als »verjudet« und damit erledigt, nimmt Thomas Mann zum Anlass einer eigenen Novelle über den Gesetzgeber des jüdischen Volkes, Mose: »Das Gesetz« (1943). Zwar weiß er die geschichtlichen Entstehungsbedingungen der Gebote und Verbote für Israel und die zwiespältige Persönlichkeit des Gesetzgebers mit Lust an der ironischen Verfremdung virtuos zu schildern. Zugleich aber lässt er keinen Zweifel daran, dass die Zehn Gebote ein unumstößlicher »Fels des Anstandes« (6.1, 456) sind, das unaufgebbare »A und O des Menschenbenehmens« (ebd.). Entsprechend soll sein »Fluch« all diejenigen treffen, die diese Grundgebote der Menschlichkeit verachten und schänden.

Mehr noch. Seinen »Joseph« nennt Thomas Mann jetzt demonstrativ einen »Roman des jüdischen Geistes« und beschreibt 1945 die Bedeutung des Judentums für die Menschheit mit den Worten: »Die Juden haben der Welt den universalen Gott und, in den Zehn Geboten, das Grundgesetz des Menschenanstandes gegeben. Dies ist das Umfassendste, was man von ihrem kulturellen Beitrag sagen kann« (XIII, 513). Die Geschichte »Thomas Mann und die Juden« hat viele, auch widersprüchliche, manchmal abstoßende Aspekte. Ich erzähle davon in aller nötigen Differenziertheit in den Kapiteln 7 und 8.

»Gnade« als Schlüsselwort des Spätwerks

In dem Jahrzehnt zwischen 1945 und 1955 sind dann Spuren einer existentiellen Auseinandersetzung des altgewordenen Dichters mit religiösen Urthemen unübersehbar. Das ist auch neuen persönlichen Erfahrungen geschuldet, Widerfahrnissen, die sich der rein rationalen Erklärung entziehen. Nach Abschluss des »Joseph«-Romans 1943 stehen im Spätwerk, angefangen von »Doktor Faustus« (1947) über »Der Erwählte« (1951) bis zum ersten Teil des am Ende unvollendeten »Krull«-Romans (1954) und einigen späten Erzählungen wie »Die Betrogene« (1953), zwei religiös relevante, ja existentielle Motive im Fokus: das Motiv »Gnade« und das Motiv »Lebenssympathie«. Und zwar in autobiographischen Zeugnissen und literarischen Texten gleichermaßen.

Ich rufe das sprachliche Ringen um eine adäquate Ausdrucksgestalt der Rede von Gnade im Anschluss an das Ende des »Faustus« in Erinnerung, die Sprachexerzitien, die Thomas Mann dem Dialog mit dem Philosophen und Musikologen Theodor W. Adorno (s. Kap. 10) verdankt. Und ich rufe eine Grundaussage des autobiographischen Essays »Meine Zeit« von 1950 zum Zeugen auf und damit ein religiös besetztes Ur-Wort, das so gar nicht in Thomas Manns bisherige Humanitätswelt, seinen Anthropozentrismus, passen will, vor allem nicht zu den Diskursen im »Joseph« von der Gott-Findung des Menschen und der wechselseitigen Abhängigkeit von Gott und Mensch. Es ist die Kategorie »Gnade als Macht«. Sie ist Ausdruck eines Widerfahrnisses und kein Denkprodukt. Will sagen: Ausdruck eines in der Rückschau als gelungen gedeuteten, aber unverfügbar bleibenden Lebens. »Gnade«, wird Thomas Mann öffentlich erklären, dieser Begriff spiele nicht umsonst in seine späteren dichterischen Versuche hinein. Und auch persönlich kann er erklären: »Ich kenne die Gnade« (Selbstkommentare »Der Erwählte«, 1989, 77). Wie weit ist das entfernt von Kategorien wie »Gottessorge«, »Gottesdummheit« und »Gottesklugheit«, die ein souveränes Ich-Bewusstsein voraussetzen.

Jetzt aber eine ganz andere Erfahrung, über die kein Mensch verfügt und die auch über die Vernunft geht – entsprechend dem Satz: »Denn alle Erwählung ist schwer zu fassen und der Vernunft nicht zugänglich« (11.1, 229). Thomas Mann hat Lebenserfahrungen gemacht, die sich gerade nicht hatten souverän beherrschen lassen. Sein und seiner Familie Leben war krisenhaft genug verlaufen, kann von ihm aber in hohem Alter trotz aller Schuld und allen Versagens als gelungen gedeutet und dankbar bejaht werden. Als Widerfahrnis der »Gnade« eben. Als glückliche »Fügung«, unverdient, ungeschuldet. Was gerade das Wesen von Gnade ausmacht. Alles hätte auch ganz anders enden können. Katastrophal. Anzeichen dafür hatte es genug gegeben.

Ich beobachte und beschreibe, wie die Rede von »Gnade« beim altgewordenen Dichter changiert zwischen mehr personaler und apersonaler Bestimmung. Die Nähe zu Topoi des protestantischen Christentums seiner Herkunft ist jetzt greifbarer denn je und von ihm selber angedeutet. Zumal der Dichter im Zusammenhang seines »Gnaden«-Romans »Der Erwählte« »die Idee von Sünde und Gnade« (XI, 691. E VI, 206) als den »religiösen Kern« und das »unaufgebbar« Christliche bezeichnet. Bei aller Kritik an überlebten Formen des Christentums will er doch kein »unchristlicher Schriftsteller« sein. Wenn es »christlich« sei, so wörtlich und öffentlich, »das Leben, sein eigenes Leben, als eine Schuld, Verschuldung, Schuldigkeit zu empfinden, als den Gegenstand religiösen Unbehagens, als etwas, was dringend der Gutmachung, Rettung und Rechtfertigung« bedürfe (XI, 302. E VI, 160), dann sei er »kein unchristlicher Schriftsteller«, denn sein ganzes Lebenswerk sei »diesem bangen Bedürfnis nach Gutmachung, Reinigung und Rechtfertigung entsprungen« (ebd.). »Gnade« ist in der Tat das Schlüsselwort seines Alterswerks. Durchaus auch zeitkritisch gemeint. Schreibt Thomas Mann doch mit dem »Erwählten« die Parabelgeschichte von einem Sünder, der, tief gefallen, zu Reue und Buße fähig ist und so Gottes Vergebung erlangen kann. Etwas also, was Thomas Mann im deutschen Volk nach 1945 vermisst: nach der ungeheuren Schuld die Bereitschaft zu Reue und Buße, aus der heraus nur ein Neuanfang glaubwürdig ist.

Die Rede von »Lebenssympathie« dagegen, Schlüsselkategorie der naturwissenschaftlichen Gespräche im »Krull« und pointiert noch einmal zusammengefasst in seinem kleinen, gleichzeitig entstandenen Essay »Lob der Vergänglichkeit«, drückt das Verhältnis des Dichters zum Ganzen von Natur und Kosmos aus, einschließlich der »dunklen Seiten« der Evolution. Beide Begriffe, »Gnade« und »Lebenssympathie«, werden aber nicht mehr denkerisch vermittelt und stehen am Schluss im Werk nebeneinander, so dass man von einem »doppelten Ausgang« sprechen kann. Einzelheiten und Schlüsseltexte nachzulesen in den Kapiteln 10 und 11.

Wie Religion ihre Erosion überlebt …

Den großen Wandlungen in Leben und Werk von Thomas Mann noch einmal Phase für Phase mit Schlüsseltexten nachzugehen, hat mich zu dieser Studie herausgefordert. Dabei betrachte ich diese Wandlungen als exemplarisch für das »Schicksal« des Komplexes »Religion« im 20. Jahrhundert. Und zwar im Kontext Europas und seiner Kultur- und Religionsgeschichte. Wer heute die reichlich vorhandenen empirischen Untersuchungen zur Kenntnis genommen hat – von den regelmäßigen offiziellen »Kirchenstatistiken« angefangen bis hin zu einschlägigen religionssoziologischen und religionspsychologischen Milieustudien –, dem wird die Erkenntnis nicht entgangen sein, dass sich die Situation des kirchlich geprägten »Christentums« als soziologischer Größe heute – im Vergleich zur Zeit von Thomas Mann – kaum entscheidend verändert hat. Im Gegenteil. Was der Dichter als »Schwund-« und »Verfallsstufe« des Christlich-Kirchlichen beispielhaft an einer großbürgerlichen Familie zu demonstrieren wusste, ist heute, 120 Jahre und zwei Weltkriege später, ein Massenphänomen, in West- und Nordeuropa, insbesondere auch in Deutschland. Die Folge: der Abbruch von kirchlicher Sozialisation und Praxis, von biblischen Überlieferungen, kirchlichen Glaubensbekenntnissen und liturgischen oder sakramentalen Vollzügen. Das ist das eine und empirisch nicht zu bestreiten.

… und neue Kraft gewinnen kann

Zugleich aber sehe ich mich durch das erneute Studium der Texte dieses Dichters herausgefordert, so genau wie möglich eine Gegenbewegung nachzuzeichnen. Und zu zeigen: Erstens: Dass Thomas Mann »Religion« nach der Diagnose ihres Verfalls als bedeutenden Faktor der Kulturgeschichte der Menschheit neu entdeckte und Konsequenzen daraus für seine geistige Auseinandersetzung mit der Zeit und dem Menschenbild zieht. Zweitens: Dass ihn politische und gesellschaftliche Entwicklungen zu einer Wiederentdeckung und kämpferischen Bejahung des christlichen Ethos herausgefordert haben. Und dass er drittens in seinem persönlichen Leben sich veranlasst sieht, Kernthemen des Christlichen wie Schuld, Gnade, Vergebung und Hoffnung öffentlich neu zur Sprache zu bringen und dabei auch den Verweis auf Gott nicht auszusparen. Das Schlüsselwort für diese seine neu gewonnene Grundhaltung lautet: ein »religiös fundierter und gestimmter Humanismus«, den Thomas Mann zugespitzt auch einen »christlichen Humanismus« nennen kann.

Lernend an seinem Fall also will ich verstehen, dass und wie »Religion« ihre Kritik und Erosion nicht nur überleben, sondern mit neuer politischer Kraft und existentieller Dringlichkeit sich behaupten kann. »Ungläubiger Thomas«? »Frömmigkeit ohne Glauben«? »Agnostischer Kulturchrist«? Was immer er gewesen ist, ein gläubiger Zweifler oder ein zweifelnder Gläubiger, auch in Sachen »Religion« hat Thomas Mann in den jeweiligen Zeitenwenden ein eigenes, unverwechselbares Profil ausgebildet – jenseits aller schon bekannten Kategorien, und ich will dieses unverwechselbar Eigene so textnah wie möglich herausarbeiten.

Forschungen

Ich kann dabei voraussetzen, dass in die Thomas-Mann-Forschung, was den Komplex Religion angeht, in den letzten gut 20 Jahren Bewegung gekommen ist. Lange Zeit unterschätzt oder ignoriert, ist in Monographien, Sammelbänden und Handbüchern vieles erschlossen worden (s. Lit.-Verz. II, 3–5). Ich erinnere nur, um wenige Beispiele in Buchform zu nennen, an die Monographie von Friedhelm Marx »›Ich aber sage Ihnen …‹: Christusfigurationen im Werk Thomas Manns« (2002) oder an die Studien des evangelischen Theologen Christoph Schwöbel, »Die Religion des Zauberers. Theologisches in den großen Romanen Thomas Manns« von 2008. Ich denke an Tilo Müllers Arbeit »Frömmigkeit ohne Glauben. Das Religiöse in den Essays Thomas Manns (1893–1918)« von 2010. Oder an die 2012 erschienenen Dokumentationsbände zu einer Züricher Vorlesungsreihe unter dem Titel »Der ungläubige Thomas. Zur Religion in Thomas Manns Romanen« von 2012 und einem Davoser Thomas-Mann-Symposion unter dem Titel »Zwischen Himmel und Hölle. Thomas Mann und die Religion«.

Und nicht zuletzt verweise ich auf die neue Aspekte zum Thema »Kirchlichkeit« des Dichters erschließende Studie des Göttinger Literaturwissenschaftlers Heinrich Detering über »Thomas Manns amerikanische Religion«, wiederum von 2012, und an das Buch von Ulrich Karthaus mit dem Titel »Poetische Theologie« von 2017. Auch die letzte, monumentale Biographie von Dieter Borchmeyer aus dem Jahr 2022 arbeitet Lebensphase für Lebensphase mit großer Genauigkeit stets auch religiöse oder religiös relevante Aspekte von Leben und Werk heraus. Sie wurde von mir ebenso konsultiert wie die frühere, damals Maßstäbe setzende Biographie des Mainzer Literaturwissenschaftlers und Thomas-Mann-Forschers Hermann Kurzke von 1999.

Entsprechend geht man in der Thomas-Mann-Forschung heute von der Erkenntnis aus, dass »dem Komplex ›Theologie und Religion‹ eine tragende Funktion im Gesamtwerk« des Dichters zukommt. Diesem könne man nicht einen bloß »spielerischen, einen lediglich kulturell-zitierenden Umgang mit Theologie, Religion und Glaube« attestieren. »Gläubigkeit, Ungläubigkeit und Religion im Allgemeinen fordern ihn von allem Anfang an heraus, es ist ihm ernst damit«, so der Eichstätter Literaturwissenschaftler Ruprecht Wimmer, auch er ein ausgewiesener Thomas-Mann-Forscher.1 Und wie ernst es Thomas Mann in Sachen Religion in der Tat ist, literarisch und persönlich, gilt es auf den folgenden Seiten zu zeigen.

Erstes Kapitel Nachdenken über das Religiöse Erste Zugänge durch autobiographische Texte

Was erfahren wir von ihm selber, wenn es um das Thema Religion geht? Das wollen wir zunächst stichprobenartig untersuchen, bevor wir in die literarischen Texte einsteigen. Was erfahren wir von ihm, wenn er in autobiographischen Dokumenten sich selbst zu verstehen sucht? Spielt Religion eine Rolle? Solche für uns thematisch relevanten Lebenszeugnisse gibt es zunächst aus der Zeit von 1913 bis 1930. Und diese Schlüsseltexte lassen auch das weite Spektrum der Auseinandersetzung mit Religion erkennen: Entwicklungen, Wandlungen, Entfaltungen. Stellt man sie hintereinander, erkennt man verschiedene Zugänge zum Komplex »Religion«, die Thomas Manns Denken bestimmt und Anstoß zu einer weiteren Bearbeitung im literarischen und essayistischen Werk gegeben haben. Gehen wir der Reihe nach vor, lassen wir Thomas Mann möglichst selber zu Wort kommen.

1. »Nein, ich habe keine Religion«

Der erste etwas ausführlichere autobiographische Text stammt aus dem Jahre 1913. Thomas Mann ist 38 Jahre alt (14.1, 375–377. 14.2, 533–536). Er ist geschrieben als Antwort für den Sammelband »Geistiges und künstlerisches München in Selbstbiographien«. 1913 ist ein Jahr, in dem Thomas Mann seinen Durchbruch als Schriftsteller längst erlebt hatte. Seit 1894 lebt er, wie seine ganze Familie auch, nicht mehr in Lübeck, sondern in München. 1901 war der erste große Roman »Buddenbrooks. Verfall einer Familie« erschienen. 1903 ein erster Novellenband mit der Schlüsselerzählung »Tonio Kröger«. 1905 hatte er die Münchnerin Katia Pringsheim geheiratet und vier Jahre später einen zweiten Roman vorgelegt: »Königliche Hoheit«, gefolgt 1912 von der großen Erzählung »Der Tod in Venedig«. Thomas Mann hatte sich in der Tat im »geistigen und künstlerischen München« fest etabliert.

Umso enttäuschter ist man, dass der Dichter in seinem ersten größeren autobiographischen Text von 1913 kaum etwas Persönliches mitteilt, schon gar nichts von seinen tieferen Erlebnissen, verborgenen Leidenschaften und seelischen Prozessen. Hier, vor der Münchner Öffentlichkeit, will er offensichtlich nichts dergleichen preisgeben. Wir erfahren, dass er eine »glückliche Jugend« zu Lübeck verlebt habe, als zweiter Sohn des Senators und Kaufmanns Johann Heinrich Mann und dessen Frau Julia, geborene da Silva-Bruhns, gebürtig in Rio de Janeiro, halb deutscher, halb kreolischer Abstammung. Wir erfahren weiter, dass Thomas Mann seine Novelle »Der kleine Herr Friedemann« als seinen »eigentlichen Eintritt in die Literatur« betrachtet. Ansonsten sei er seit 1905 mit Katia, geborene Pringsheim, verheiratet, Tochter des ordentlichen Professors für Mathematik an der Universität München, Geheimrat Alfred Pringsheim, und »Enkelin der bekannten Schriftstellerin Hedwig Dohm«. Auch sei er mittlerweile Vater von vier Kindern. Dann einiges über Erfahrungen mit der zeitgenössischen Literatur und über den Einfluss »skandinavischer und russischer Meister« auf ihn. Über Religion kein Wort. Das ist wenige Jahre später anders. Aber zunächst abwehrend.

Während des Ersten Weltkriegs arbeitet Thomas Mann an einer schon vom Umfang her gewaltigen Abhandlung »Betrachtungen eines Unpolitischen«, die 1918 nach dem Krieg erscheint (13.1 u. 13.2). Hier geht er geistesgeschichtlich in die Tiefe und berührt zugleich Themen der deutschen Tagespolitik. Der 43-Jährige erweist sich als beredter Unterstützer der deutschen Kriegspolitik, als überzeugter antirepublikanischer Monarchist und leidenschaftlicher Advokat eines deutschen Sonderwegs mit Äquidistanz zu West und Ost. Mit dem durchgängigen Feindbild »Zivilisationsliterat« ist vor allem sein Bruder Heinrich Mann gemeint, der in seinen Schriften die Ideale der europäischen Aufklärung und der Französischen Revolution vertritt, während Thomas Mann ein »Deutschtum«, eine »deutsche Mitte« zu begründen sucht, die mit den demokratischen Grundsätzen des »Westens«: Frankreichs, Englands und der USA ebenso unvereinbar ist wie mit dem Sozialismus, der in Russland nach dem Ersten Weltkrieg und dem Fall des Zarismus durchgesetzt werden soll. Geistig steht in den »Betrachtungen« alles im Zeichen des »Dreigestirns«, das Thomas Manns Weltbild schon früh geformt hat: Es ist der Weltpessimismus Schopenhauers, der Ästhetizismus Nietzsches und der Musikrausch Richard Wagners. Das Kapitel »Einkehr« in den »Betrachtungen« ist ihnen gewidmet.

Und Religion? Ein Schlüsselkapitel behandelt Fragen des »Glaubens«, und jetzt kommt Thomas Mann in seinem mittlerweile angesammelten Selbstbewusstsein als ungemein erfolgreicher, anerkannter, eigenständiger Schriftsteller vollends aus der Deckung. Rücksicht braucht er nicht zu nehmen: Kirche und Christentum hat er im Geiste Nietzsches in ihrer Schwäche durchschaut und abgetan. Sein erster Roman »Buddenbrooks« von 1901 steht dafür (s. Kap. 2). Jetzt erklärt er selbstbewusst:

»Nein, der wahre Glaube ist keine Doktrin und keine verstockte und rednerische Rechthaberei. Es ist nicht der Glaube an irgendwelche Grundsätze, Worte und Ideen wie Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Zivilisation und Fortschritt. Es ist der Glaube an Gott. Was aber ist Gott? Ist er nicht die Allseitigkeit, das plastische Prinzip, die allwissende Gerechtigkeit, die umfassende Liebe? Der Glaube an Gott ist der Glaube an die Liebe, an das Leben und an die Kunst« (13.2, 548f.).

Und als sei das schon zu viel an Affirmation, setzt Thomas Mann am Ende des Kapitels »Glauben« noch einmal eine negative Pointe:

»Wenn ich sage: Nicht Politik, sondern Religion, so brüste ich mich nicht, Religion zu besitzen. Das sei ferne von mir. Nein, ich besitze keine. Darf man unter Religiosität jene Freiheit verstehen, welche ein Weg ist, kein Ziel; welche Offenheit, Weichheit, Lebensbereitwilligkeit, Demut bedeutet; ein Suchen, Versuchen, Zweifeln und Irren; einen Weg, wie gesagt, zu Gott oder meinetwegen auch zum Teufel – aber doch um Gottes willen nicht die verhärtete Sicherheit und Philisterei des Glaubensbesitzes, – nun, vielleicht daß ich von solcher Freiheit und Religiosität etwas mein eigen nenne« (13.1, 582f.).

»Ich brüste mich nicht mit Religion«. Wie ist das gemeint? Was will der »Buddenbrooks«-Autor, als er das während des Ersten Weltkriegs schreibt? Hermann Kurzke, der sich durch eine wegweisende Biographie (1999) und durch eine zweibändige textkritische und kommentierende Ausgabe der »Betrachtungen« (11.1 u.11. 2, 2009) einen Namen in der Thomas-Mann-Forschung gemacht hat, kommentiert die zitierte Passage aus den »Betrachtungen« so: »Nicht Kirche, nicht Religion, nicht Glauben an Gott – was er sich [in dieser Zeit] zuschreibt, ist eine scheue Frömmigkeit, verstanden als suchende Freiheit, als Offenheit, Weichheit, Lebensbereitwilligkeit und Demut, als Versuchen, Zweifeln, Irren. Es ist der Zweifel als Glaube. Religiöse Gewissheit macht fett, der Zweifel nicht, und ›tapferer, sittlicher, wahrhaftiger möchte es sein, in einer götterlosen Welt gefasst und würdig zu leben, als dem tiefen und leeren Blicke der Sphinx zu entkommen durch einen Köhlerglauben wie den an die Demokratie‹. Den ›Verrat am Kreuz‹ nennt Mann einen solchen Versuch. Verschämt bekennt er sich damit zu einer Religion nicht der Erlösung, sondern des Leidens, das nicht durch Floskeln beschwichtigt werden will. […] Der Krieg hatte ihn zu einer Generalrevision seiner Grundlagen genötigt und so auch zum ersten Mal zu einem gründlichen Nachdenken über die christliche Religion. Er erkennt, daß seine ganze Richtung eigentlich ein zustimmendes Verhältnis zum Christentum verlangt. Er erkennt, daß er religiös sein will. Er weiß nur noch nicht, wie das gehen soll ohne Verrat an einer durch Nietzsches Schule gegangenen Intelligenz. Er wird weiter suchen« (1999, 266f.).

2. Meer, Gebirge und das »physisch-metaphysische Grauen«

Acht Jahre später, 1926 – Thomas Mann ist jetzt 51 Jahre alt – hält der mittlerweile durch den Roman »Zauberberg« (1924) jetzt auch international bekannte Autor den Festvortrag zur »700-Jahr-Feier« seiner Heimatstadt Lübeck unter dem Titel: »Lübeck als geistige Lebensform« (XI, 376–398. E III, 16–38. Komm.!). Ein delikater Auftritt, bedenkt man die Empörung, die der Lübeck-Roman »Buddenbrooks« (1901) in bestimmten Kreisen der Stadt ausgelöst hatte. Thomas Mann berichtet jetzt von den Einflüssen in seiner Jugend, die schon in den »Betrachtungen« geistig im Zentrum standen: von Schopenhauer, Nietzsche und Wagner. Noch bleiben sie bloße Namen. Etwas ausführlicher erzählt Thomas Mann von der Entstehung seines ersten Romans und definiert, was mit »geistiger Lebensform«, »Lebensbürgerlichkeit« oder »bürgerlicher Grundlage« gemeint ist.

Die Zuhörer erfahren, dass Lübeck als Stadt, als Stadtbild, als Stadtcharakter, als Landschaft, Sprache und Architektur durchaus nicht nur in den »Buddenbrooks« eine Rolle spiele, sondern von Anfang bis Ende in seiner ganzen Schriftstellerei, ja sie entscheidend bestimmt und beherrscht habe. Und dann erzählt Thomas Mann von seiner Novelle »Der Tod in Venedig«, von seinem ersten und einzigen Theaterstück »Fiorenza« und von dem zwei Jahre zuvor, 1924, erschienenen zweiten großen Roman »Der Zauberberg«. Nur von einem erzählt er hier nicht: dass religiöse Fragen für seine »geistige Lebensform« eine Rolle gespielt hätten. Noch blendet er auch hier alles Persönliche aus. Was er zum Thema Religion zu sagen hatte, hatte er in seinen literarischen Texten verarbeitet. Wir werden uns das genauer anschauen (Kap. 2).

Und doch überraschen jetzt, 1926, Auskünfte zum »Zauberberg«. Denn hier fallen nun Aufmerksamkeit heischende Stichworte wie das »Kosmische« und das »Metaphysische«. Was ist damit gemeint? Gemeint ist, dass Thomas Mann seinen »Helden« im »Zauberberg«, einen aus Hamburg stammenden angehenden Schiffsbauingenieur namens Hans Castorp, einen, wie er ihn nennt, »simplen jungen Mann«, in die Sphäre des »Kosmischen und Metaphysischen« hatte geraten lassen und zwar dadurch, dass er ihn in die Schweizer Alpen fahren lässt und ihn hier mit den Elementargewalten der Natur konfrontiert. Einen Stadtmenschen – getrieben in die Bereiche des Unheimlichen der »außermenschlichen Natur«. Einen Mann von der See, versetzt in die »Ungeheuerlichkeit des verschneiten Hochgebirges« rund um den Schweizer Kurort Davos.

Jetzt fallen in der »Lübeck«-Rede Sätze über das Erlebnis »unendlicher Meeresweite« und der Erfahrung der »Ungeheuerlichkeit des verschneiten Hochgebirges«, die einem »Flachländer« wie Castorp »Erschütterung«, »Ehrfurcht« »religiöse Scheu«, ja »physisch-metaphysisches Grauen« abzunötigen vermag, Worte allesamt, die aus der Sphäre des Religiösen stammen:

»Das Meer ist keine Landschaft, es ist das Erlebnis der Ewigkeit, des Nichts und des Todes, ein metaphysischer Traum; und mit den luftverdünnten Regionen des ewigen Schnees steht es sehr ähnlich. Meer und Hochgebirge sind nicht ländlich, sie sind elementar im Sinne letzter und wüster, außermenschlicher Großartigkeit« (XI, 394. E III, 34).

Diese Sätze sind mehr als eine distanzierte Interpretation des eigenen Romans. Hier klingen autobiographische Hintergrunderfahrungen an. Halten wir deshalb als erste Grundeinsicht fest: Wenn Thomas Mann bisher – wir sind noch Mitte der 20er-Jahre – von »Religion« spricht, und nicht nur von Religionskritik, von Verfallserscheinungen der bürgerlich-verkirchlichten Gestalt des Christentums oder von bloßer Ästhetik wie in den »Betrachtungen« (»Der Glaube an Gott ist der Glaube […] an die Kunst«), dann im Zusammenhang mit Erfahrungen des »Elementaren«, des »Nichtgeheuren«, des Überwältigenden der Natur. »Meer« und »Gebirge« stehen dafür: für das »Erlebnis der Ewigkeit, des Nichts und des Todes«.

»Religion«, besser: religiöse Urerfahrung, kommt bei Thomas Mann jetzt als »religiöse Scheu« in den Blick, und zwar im Wissen um die elementaren, nicht beherrschbaren Naturgewalten. Als Ehr-Furcht im tiefsten Sinn des Wortes, als »Grauen« im Ausgesetztsein der Urkräfte der ansonsten gleichgültigen Natur. »Metaphysisch« ist hier das Gegenteil von »natürlich«, »teilnehmend«, zivilisatorisch domestiziert. Nicht des Menschen Teilnahme am Naturgeschehen ist gemeint, sondern dessen Konfrontation mit den Gewalten, die Erfahrung der Fremdheit der Natur und eines wilden Abenteuers mit der Natur. Stets auf der Grenze zum Tod. Woraus folgt: Wahre Religiosität wird für Thomas Mann in dieser Zeit nicht über kirchliche Rituale oder die Lektüre Heiliger Schriften erlebbar, sondern durch Erschütterungen, durch Widerfahrnisse, die einen aus der Bahn des gewohnten Lebens werfen können. Nur: Mit »Religion« im Sinn eines Gottesglaubens, wie ihn die monotheistisch-prophetischen Buch-Religionen kennen, hat das alles nichts zu tun. Bewusst nicht. Es sind Transzendenzerfahrungen ohne Transzendenz.

3. Über den Primat der Idee: Erlebnisse mit dem Okkultismus

In den gleichen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang gehört eine eigentümliche biographische Erfahrung Thomas Manns, ebenfalls in den frühen zwanziger Jahren: die Begegnung mit der Praxis des Okkultismus. Alles im Umkreis des »Zauberbergs«, in den die »Okkulten Erlebnisse« seines Autors teilweise wörtlich in den Abschnitt »Fragwürdiges« übernommen werden. In der Tat hatte Thomas Mann im Dezember 1922 sowie im Januar 1923 okkultische Séancen bei dem Hypnoseforscher, Neurologen und Parapsychologen Albert Freiherr von Schrenck-Notzing besucht und darüber drei Berichte verfasst. Daraus entsteht ein Vortrag, den er in verschiedenen Städten Deutschlands im Zeitraum von März 1923 bis Februar 1924 halten wird. Es ist eines der bemerkenswertesten autobiographischen Stücke, die Thomas Mann zu bieten hat, ein intellektuelles Kabinettstück, vorgetragen in der für ihn typischen Mischung aus Ernst und Ironie (15.1, 611–652. 15,2, 390–400). Es zeigt ihn in dieser Zeit auf der Suche nach einer geistig-intellektuellen Position jenseits eines dogmatischen Christentums, aber auch jenseits einer rein materialistischen Weltanschauung, jenseits zugleich auch von reiner Kunstreligion und »physisch-metaphysischem Grauen«.

Zunächst aber erklärt Thomas Mann den sichtlich irritierten Zuhörern seines Vortrags, dass man streng zwischen Spiritismus und Okkultismus unterscheiden müsse. Spiritismus sei »eine Art von Gesindestuben-Metaphysik, ein Köhlerglaube, der weder dem Gedanken idealistischer Spekulation gewachsen noch des metaphysischen Gefühlsrauschens im entferntesten fähig« sei (15.1, 613). Ein Meisterwerk des metaphysischen Gedankens sei doch Schopenhauers »Die Welt als Wille und Vorstellung«. Das klassische opus metaphysicum der Kunst sei Wagners »Tristan und Isolde«. Und man brauche nur an solche Werke zu erinnern, um die ganze klägliche Unwürde dessen zu begreifen, was sich Spiritismus nenne: eine »Sonntagsnachmittagszerstreuung für Köchinnen« (ebd.)!

Zugleich aber gesteht Thomas Mann seinen Zuhörern unumwunden: »Ich bin den Okkultisten in die Hände gefallen« (15.1, 612). Und meint damit Phänomene wie »Mediumismus« und »Somnambulismus«. Dabei weiß er als aufgeklärter Zeitgenosse, dass er sich hier auf trübes Gelände begeben hat. Aber die Mischungen von Wirklichkeiten? Sei dies nicht ein Phänomen der Zeit? Albert Einstein und seine Relativitätstheorie? Gewiss, von dieser Theorie habe er noch sehr wenig Ahnung, gesteht Thomas Mann, außer etwa der Feststellung, dass die Dinge doch eine »vierte Dimension« besäßen, nämlich die der Zeit. So viel aber habe er verstanden, dass auch nach dieser Lehre »die Grenze zwischen mathematischer Physik und Metaphysik fließend geworden« sei. Sei es noch »Physik«, oder was sei es eigentlich, wenn man sage, »die Materie sei zuletzt und zuinnerst nicht materiell, sie sei nur eine Erscheinungsform der Energie, und ihre ›kleinsten‹ Teile, die aber bereits weder klein noch groß sind, seien zwar von zeiträumlichen Kraftfeldern umgeben, aber sie selbst seien zeit- und raumlos?« (15.1, 615).

Deutlich wird: Thomas Mann weiß sich philosophisch und naturwissenschaftlich zu wappnen, wenn er nun in diese andere, diese Misch-Welt eindringt und seinen Lesern erklärt, was er in den okkultistischen Sitzungen bei Freiherr von Schrenck-Notzing erlebt hat, ohne Rückfall in »Köhlerglauben« und »Gesindestuben-Metaphysik«. Im Mittelpunkt ein Medium namens Willi S., »ein 18- oder 19-Jähriger, brünett, nicht unsympathisch und ohne jedwedes phänomenale Merkmal, von offenbar schlichter Herkunft, süddeutsch-österreichischen Dialekts und von anständig-freundlichem Wesen« (15.1., 622). Thomas Manns »Wohlwollen« ist anfangs denn auch »grenzenlos«, und die Spannung gegenüber dem »Unnatürlichen«, das sich nun ereignen sollte, steigt.

Zunächst freilich scheint es mit dem Medium nicht so recht voranzugehen. Nichts Übernormales will sich ereignen. Dann aber passiert etwas Verblüffendes. Ein Taschentuch erhebt sich vom Boden, ohne dass einer der im Raume Anwesenden damit manipuliert hätte. Was nicht möglich sein kann, geschieht. Auch eine Glocke wird zum Klingen gebracht, eine Schreibmaschine, und zur größten Überraschung vollzieht sich dann auch eine »Materialisation« dieses offenbar im Raum anwesenden, bisher aber unsichtbaren Wesens:

»Da ereignet sich etwas weiter hinten, vor dem dunklen Hintergrunde des Vorhanges, rasch, eilig und flüchtig, folgende kleine Offenbarung. Eine Erscheinung tritt dort hervor, ein längliches Etwas, schemenhaft, weißlich schimmernd, von der Größe und ungefähren Form eines Unterarmstumpfes mit geschlossener Hand – nicht exakt zu erkennen. Es steigt ein paar Mal hastig, demonstrativ vor unseren Augen auf und ab, beleuchtet sich, während es das tut, aus sich selber durch einen kurzen, weißen, die Form des Dinges völlig verwischenden Blitz, der von seiner rechten Flanke ausgeht – und ist weg« (15.1, 644).

Dann ist alles vorbei. Was hat der verblüffte Autor gesehen? Die Dinge sind für ihn plötzlich umso rätselhafter, als – er beeilt sich, das pathetisch zu versichern – »jede Möglichkeit mechanischen Betruges, taschenspielerischer Illusionierung nach menschlichem Ermessen« auszuschließen ist (15.1, 646). Was also? Die Antwort, die Thomas Mann sich und seinen Lesern gibt, läuft darauf hinaus, dass er »telekinetische Phänomene« gesehen habe, »Erscheinungen der ›Fernbewegung‹«, in deren Hervorbringung das Medium, der junge Willi S., besonders stark sei und die in engem ursächlichem Zusammenhang mit dem okkulten Naturphänomen der Materialisation stünde, d. h. der »transitorischen Organisation von Energie außerhalb des medialen Organismus, der Exteriorisation also« (15.1, 647).

Das alles wäre für unseren Zusammenhang bestenfalls um der biographischen Kuriosität willen interessant, hätte nicht Thomas Mann selber aus diesen Erfahrungen grundsätzliche philosophische Konsequenzen gezogen, die für sein Denken auch in Sachen Religion wichtig sind:

»Es war Hegel, der gesagt hat, daß die Idee, der Geist als letzte Quelle anzusehen sei, aus der alle Erscheinungen fließen; und diesen Satz zu beweisen, ist die supranormale Physiologie vielleicht geschickter als die normale, – ja, sie unternimmt es, den philosophischen Beweis des Primates der Idee, des ideellen Ursprungs alles Wirklichen, neben den biologischen von der Einheit der organischen Substanz zu stellen« (15.1, 649f.).

Halten wir also als zweite Zugangsweise zum Komplex »Religion« fest: Charakteristisch für das Denken Thomas Manns in den zwanziger Jahren ist der Glaube an den Primat der Idee. Wie wichtig dieser Glaube ihm ist, belegt das ungewöhnlich offene und zugleich gut begründete Dokument über die Erlebnisse mit dem Okkultismus. Denn bei allem Wissen um die chemisch-biologischen Abläufe in lebendigen Organismen hält Thomas Mann in diesem Zeugnis fest am Geist, als der die Einheit der organischen Substanz konstituierenden Wirklichkeit. Der Geist ist Urgrund und Ursprung alles Wirklichen. Mit dieser Überzeugung grenzt sich Thomas Mann von einem reinen Materialismus ab. Sie hat Konsequenzen bis ans Ende seiner Werkgeschichte für sein Evolutionsverständnis, wie es in seinem letzten bedeutenden Essay »Lob der Vergänglichkeit« und in dem letzten großen und unvollendeten Werk, dem »Felix Krull«, zum Ausdruck kommen wird (mehr dazu Kap. 11).

4. Schopenhauer und der »metaphysische Rausch«

Im Jahre 1930 – Thomas Mann ist mittlerweile 55 Jahre alt – legt der Autor erstmals einen umfassenden »Lebensabriß« vor (XI, 98–144. E III, 177–222. Komm.!). Gewiss, auch dieses Zeugnis ist keineswegs intim konfessorischer Art. Es wurde ebenfalls für pragmatische Zwecke geschrieben, ist voll von Selbststilisierungen und autobiographischer Denkmalpflege. Mittlerweile ist Thomas Mann ja auch Literatur-Nobelpreisträger. Seit 1929. Und so kommt er dem Wunsch der Schwedischen Akademie nach, ein Curriculum Vitae zu verfassen.

Erstmals berichtet Thomas Mann etwas ausführlicher von seinen schriftstellerischen Anfängen, vor allem von seinem Aufenthalt in Italien um die Jahrhundertwende. Mit seinem Bruder Heinrich hatte er in dem Städtchen Palestrina gelebt, ruft er noch einmal in Erinnerung, dem Geburtsort des großen italienischen Musikers gleichen Namens aus dem 16. Jahrhundert, dann zur Winterzeit auch in Rom. Wichtiger freilich ist etwas anderes, und wir nähern uns nun langsam – streng aus der Perspektive des Autors – Thomas Manns Jugenderlebnissen. Bisher hatte er wenig von irgendwelchen religiösen Erschütterungen aus der Frühzeit öffentlich preisgegeben. Die Namen von Schopenhauer, Nietzsche und Wagner waren gefallen, wie wir hörten, aber kaum mehr. Erst der Text von 1930 lässt erkennen, dass es schon für den Lübecker Gymnasiasten ein Erweckungserlebnis gegeben hatte: das Erlebnis »Schopenhauer« nämlich.

Gewiss, auch die Philosophie Nietzsches hatte den jungen Thomas Mann in seinen Bann geschlagen. Dessen früheste Wirkung habe »eine psychologische Reizbarkeit, Hellsichtigkeit und Melancholie« hervorgerufen, unter der er damals »unbeschreiblich zu leiden« gehabt hätte. Das Wort »Erkenntnisekel« aus der Erzählung »Tonio Kröger« habe damals die »Krankheit seiner Jugend« bezeichnet, Voraussetzung auch für seine Empfänglichkeit für die Philosophie Schopenhauers. Und diese Philosophie beschreibt der 55-Jährige jetzt noch einmal in bewegenden, weil autobiographisch beglaubigten Worten. Schopenhauers Buch »Die Welt als Wille und Vorstellung« – das sei ein »seelisches Erlebnis ersten Ranges und unvergeßlicher Art« gewesen:

»Ihr Wesentliches aber war ein metaphysischer Rausch, der mit spät und heftig durchbrechender Sexualität (ich spreche von der Zeit um mein 20. Jahr) viel zu tun hatte, und der eher leidenschaftlich-mystischer als eigentlich philosophischer Art war. Nicht um ›Weisheit‹, um die Heilslehre der Willensumkehr, dies buddhistisch-asketische Anhängsel, das ich rein lebenskritisch-polemisch wertete, war es mir zu tun: was es mir antat auf eine sinnlich-übersinnliche Weise, war das erotisch-einheitsmystische Element dieser Philosophie, das ja auch die nicht im geringsten asketische Tristanmusik bestimmt hatte, und wenn mir damals der Selbstmord gefühlsmäßig sehr nahe stand, so eben darum, weil ich begriffen hatte, daß es keineswegs eine Tat der ›Weisheit‹ sein würde. Heilig-leidvolle Wirren drängender Jugendzeit!« (XI, 111. E III, 190).

Verweilen wir noch ein wenig bei dem Wort »metaphysischer Rausch«. Wir können nun das bereits Angedeutete vertiefen und notieren ein drittes Stichwort, das uns einen Zugang zu Thomas Manns Auseinandersetzung mit dem Komplex »Religion« verschafft: der »metaphysische Rausch«. Was ist damit gemeint?

»Metaphysik« wird bei diesem Autor in dieser Phase nicht im klassischen Sinn verstanden, nicht im Sinn von Aristoteles oder Thomas von Aquin. Metaphysisches Denken heißt hier nicht: denkerischer Aufweis der Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit des Seienden im Lichte eines höchsten, vollkommenen Seins. Ein solch optimistisches Wirklichkeitsverständnis ist Thomas Mann fremd. Metaphysik ist bei ihm im schopenhauerischen Sinn zu verstehen: Ausgesetztsein des Menschen den Urfragen des Lebens, die deshalb Ur-Fragen sind, weil sie mit Hilfe der Vernunft nicht beantwortbar sind. »Metaphysisch« ist das Staunen über das So des Daseins, das nur im Akt pessimistischer Selbstbescheidung hingenommen werden kann. So endet das zweite Buch von Schopenhauers »Die Welt als Wille und Vorstellung« nicht zufällig mit dem Kapitel »Über das metaphysische Bedürfnis«. Der Philosoph beschreibt darin eine optimistische und eine pessimistische Grundhaltung: Die Welt ist notwendig so und gut so. Und: Die Welt, wie sie ist, ist keineswegs notwendig; sie könnte auch nicht sein, ja, das Nichtsein wäre dem Sein vorzuziehen. Deshalb heißt das Stichwort im oben zitierten Text von Thomas Mann nicht metaphysisches Denken, sondern metaphysischer »Rausch«. Ein Rausch, der bis hin zur Lebensverneinung, zur Selbstauslöschung gehen kann: »Ich stand dem Selbstmord gefühlsmäßig sehr nahe« …

Wie ernst das gemeint ist, wird durch eine berührende Passage im »Lebensabriß« unterstrichen. Denn Thomas Mann schildert hier ausführlich den tragischen Tod seiner jüngeren Schwester Clara, der so gar nicht passen will zu der ansonsten vollzogenen Stilisierung seines Lebens zu einem harmonischen Kunstwerk. Denn mitten in seine berufliche und private Erfolgsgeschichte war dieses Ereignis aus dem Jahre 1910 eingebrochen, als die Schwester, Provinzschauspielerin von Beruf, zwischen zwei Männer geraten war. Der junge elsässische Industriellensohn, der sie liebt und der sie hatte heiraten wollen, entdeckt, dass sie vorher von einem anderen Mann, einem Arzt, erotisch erpresst worden war. Nach der Trennung hatte Clara zu einer Zyankalikapsel gegriffen. Das Ganze wird dadurch noch verschlimmert, dass die alt gewordene Mutter, Julia, im selben Ort, in Polling bei Weilheim in Oberbayern, wohnt und unmittelbar mitbekommt, dass und wie sich die eigene Tochter das Leben nimmt.

Dieses ergreifende Erlebnis hatte in Thomas Mann wieder neu alte Wunden aufgerissen. Er, der sich seit 1905 durch seine Ehe bewusst eine »Verfassung« gegeben hatte, hatte jetzt die Mutter zu trösten: »Und in nächster Frühe fuhr ich nach Polling, in die Arme unserer Mutter, um ihren wimmernden Schmerz an meiner Brust zu bergen« (XI, 121. E III, 199). Mehr noch: Thomas Mann steht wieder neu vor ungelösten »metaphysischen« Fragen, Fragen im Zeichen des Todes. In Anspielung auf seine eigenen pubertären Selbstmordphantasien fällt denn auch der bezeichnende Satz: »Alle Wirklichkeit hat tod