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Auch der Koran kennt die Weihnachtsgeschichte. Überhaupt sind in ihm biblische Überlieferungen in erstaunlicher Breite aufgenommen. Sure 19 (mit dem Namen »Maryam«) erzählt: Durch den Geist Gottes empfängt Maria ihren Sohn Jesus, den sie an einem entlegenen Wüstenort allein unter einer Palme zur Welt bringt. Aus der Sicht des Korans ist er der größte Prophet vor Mohammed. Neben markanten Unterschieden zeigen sich überraschende Parallelen im Verständnis der Person Jesu. Die Überlieferungen von Bibel und Koran überschneiden sich nirgendwo stärker als bei der Geschichte seiner Geburt, die auch Muslimen ein »Zeichen Gottes« für die Menschheit ist. Karl-Josef Kuschel ermutigt über die Betrachtung der Geburtsgeschichten Jesu in Bibel und Koran zum Gespräch von Muslimen und Christen über Grundfragen ihres Glaubens. Beide können der Friedensbotschaft von Weihnachten neue Kraft geben.
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Seitenzahl: 258
Karl-Josef Kuschel
Neuausgabe
Patmos Verlag
Prolog 2024
Vier Überlieferungen zu Jesu Geburt
Zum Verhältnis Bibel – Koran heute
Zehn Voraussetzungen für das interreligiöse Gespräch
Friedensgrüße zum Fest
I.Jesu Geburt im Neuen Testament
1.Die Ur-Kunden
Eine Botschaft des Friedens: die Geschichte des Lukas
Ein Kind des Geistes: die Geschichte des Matthäus
2.Worin sich die Geburtsgeschichten unterscheiden
Harmonisierung in den Weihnachtsoratorien
Unterschiedliche Schauplätze
Unterschiedliche Zeitenfolge
Die je andere Rolle des Täufers
Die Geburt Jesu – verschieden erzählt
3.Die Grundbotschaft
Für Gott ist nichts unmöglich
Unterbrechung: die Kraft des Geistes Gottes
Ein Signal für Israel und die Weltvölker
4.Kein Weltfrieden ohne Weltgerechtigkeit
Ein Messias in der Krippe
Was Jesus von Buddha und Laotse unterscheidet
Roms Weltherrschaft aus der Perspektive von Betlehem
Jerusalems Machtkartell aus der Perspektive des Krippenkinds
II. Die Geburt Mohammeds
1.Wie Muslime das Neue Testament lesen
Muslime halten Christen Widersprüche vor
Wider die Missionspropagandisten
2.Der Ursprung des Propheten
Die erste Prophetenbiographie
Große Zeichen vor der Geburt
Große Zeichen bei und nach der Geburt
Mohammed – ein weltgeschichtliches Ereignis
Das „Weihnachten“ der Muslime
III. Die Geburt von Johannes, dem Propheten, im Koran
1.Die Johannes-Sure in Mekka: 19,2–15
Die koranische Grundbotschaft
Die wundersame Geburt des Johannes
Der lukanische und koranische Johannes im Vergleich
2.Der „Fall Johannes“ – in Medina neu gelesen: Sure 3
Im Konflikt mit den Juden in Medina
Die Johannes-Suren im Vergleich
3.Der neutestamentliche und der koranische Johannes im Vergleich
Kein „Vorläufer“, Parallelfigur zu Jesus
Demonstration der Macht des Schöpfergottes
IV. Maria – Gottes Erwählte
1.Maria als Mutter Jesu: Sure 19
Gottes Geist erscheint Maria
Die lukanische und koranische Geburtsgeschichte im Vergleich
Rückzugsbewegungen Marias – Freiwerden für Gott
Zeugung spirituell, nicht sexuell
Palme und Quellwasser: Maria in Ägypten?
Wiederholung des Hagar-Schicksals
2.Die Geburt und Kindheit Marias: Sure 3
Maria als kritischer Spiegel für Juden
Frühchristliche Parallelen
Marias Erwählung durch Gott
Geistschöpfung und „Jungfrauengeburt“
Die einzige mit Namen erwähnte Frau im Koran
Eine theozentrische Mariologie im Koran
3.Die Verehrung Marias im Islam
Nachdenken über Maria mit Muslimen
Das legendäre Haus Marias bei Ephesus
Eine Pilgerstätte für Christen und Muslime
Benedikt XVI. am Haus Marias: Frieden für die Völker
Maria als Versöhnungsfigur auch innerhalb des Islam
V. Die Geburt Jesu im Koran
1.Die Geburt Jesu als „Zeichen Gottes“: Mekka, Sure 19
Gezeugt aus der Schöpferkraft Gottes
Ein Trostwort des Neugeborenen an seine Mutter
Was meint: Jesus ist ein „Diener Gottes“
Kein „unseliger Gewalttäter“
Gott nimmt sich kein Kind
In der Reihe der großen Propheten
2.Streit um Jesus: Medina, Sure 3
Was die Engel zu Maria über Jesus sagen
Wie der Koran die Wundertaten Jesu deutet
Eine kleine Summe des koranischen Jesusbildes
3.Die Geburtsgeschichten im Vergleich
Was das Neue Testament und den Koran verbindet
Was das Neue Testament und den Koran unterscheidet
VI. Aufruf zum Dialog
1.Ein gemeinsames Wort
Der koranische Schlüsseltext: Sure 3,64
Ein Modell der Verständigung
2.Das Dokument der 138
Folgerungen für Muslime und Christen
Konsens im Verständnis Jesu?
3.Christen und die Heilige Nacht des Islam
Die gemeinsamen Aufgaben der Zukunft
Die Nacht der Bestimmung
Friedensgrüße austauschen
Epilog: Die Sure „Maria“ und ein Blick nach Äthiopien
Zitierweise der Quellen und Hilfsmittel
Herangezogene Literatur
Über den Autor
Über Das Buch
Hinweise Des Verlags
Impressum
„Christen und Muslime sollten über Toleranz hinausgehen in der Anerkennung der Unterschiede, doch im Bewusstsein der Gemeinsamkeiten, und Gott dafür dankbar sein. Sie sind berufen zu gegenseitigem Respekt und verurteilen deshalb die Verspottung des religiösen Glaubens.
Verallgemeinerungen sollten im Gespräch über Religionen vermieden werden. Unterschiede zwischen den Konfessionen innerhalb des Christentums und des Islam sowie die Verschiedenheit historischer Kontexte sind wichtige beachtenswerte Faktoren.
Religiöse Traditionen können nicht auf der Basis eines einzelnen Verses oder einer Passage in den jeweiligen heiligen Büchern beurteilt werden. Sowohl eine Gesamtschau als auch eine adäquate hermeneutische Methode sind notwendig für ein faires Verständnis.“
AusdergemeinsamenErklärungdes„PäpstlichenRatesfürdenInterreligiösenDialog“(Rom)unddes„ZentrumsfürInterreligiösenDialogderOrganisationIslamischerKulturundBeziehungen“(Teheran)vomMai20081
Machen wir uns nichts vor: „Weihnachten“ ist auch bei uns in Deutschland vielfach verkommen, verflacht, verschleudert. Ein Fest für viele weitgehend ohne religiöse Tiefe und spirituelle Substanz. Wir haben dieses große religiöse Fest herabsinken lassen auf eine Schwundstufe bis zur Auflösung seiner religiösen Botschaft. Schon vor gut 100 Jahren schrieb der Schriftsteller Hermann Hesse, was heute mehr denn je zutrifft: „Unsere Weihnacht ist, von ein paar wirklich Frommen abgesehen, ja schon wirklich lange eine Sentimentalität. Zum Teil ist sie noch Schlimmeres geworden. Reklameobjekt, Basis für Schwindelunternehmungen, beliebtester Boden für Kitschfabrikation.“2 Gründe genug, den religiösen Glutkern der Geschichte unter der Asche noch einmal freizulegen und mit Frischluft anzufachen.
Das Neue Testament kennt zwei Überlieferungen zur Geburt Jesu Christi, nachzulesen in den Evangelien des Matthäus (1,18–25) und Lukas (2,1–21). Andere urchristliche Schriften kennen solche Überlieferungen nicht. Weder die Evangelisten Markus und Johannes noch die paulinische und nachpaulinische Briefliteratur kennen die Betlehem-Erzählung. Und die beiden Evangelisten, die sie kennen, überliefern zwar nicht in der Grundbotschaft, aber in vielen Details unterschiedliche Narrative. Warum ist das so? Woher die Unterschiede? Das werden wir uns genau anschauen und nach Erklärung suchen. Aber nicht nur die christliche Ur-Kunde berichtet in zwei Fassungen von Jesu Geburt, sondern auch der Koran, nachzulesen in Sure 19,16–35 und in Sure 3,45–59. Ja, von allen Überlieferungen im Koran über Jesus ragt die Bedeutung gerade seiner Geburt heraus. Und beide Fassungen unterscheiden sich ebenfalls zwar nicht in der Grundbotschaft, wohl aber in Details. Warum ist das auch hier so? Woher die Unterschiede? Und warum hat ausgerechnet die Geburt Jesu diese Bedeutung? Ein Zufall – oder steckt Tieferes dahinter?
Ob aber im Gespräch mit Muslimen die religiöse Botschaft nicht neue Kraft gewinnen könnte? Denn sowohl im Neuen Testament als auch im Koran ist der Geburt Jesu ausdrücklich eine theologische Deutung gegeben. In beiden Suren wird von der Geburt des Sohnes der Maria so erzählt, dass Jesus zu einem „Zeichen Gottes für die Menschen“ wird, zu einem Zeichen von Gottes „Barmherzigkeit“ (Sure 19,21). Ja, Sure 19,32 zufolge ist Jesus ausdrücklich „kein unseliger Gewalttäter“, sondern ein Mann des „Friedens“. „Friede über mich“, lässt der Koran schon den neugeborenen Jesus sagen, „am Tag da ich geboren wurde, am Tag da ich sterbe, und am Tag, da ich zum Leben erweckt werde“ (Sure 19,33). Hier gilt es anzusetzen und Konsequenzen daraus zu ziehen: für ein neues Miteinander von Christen und Muslimen.
Wir wagen uns hier also an ein Stück wechselseitiger Auslegung von Bibel und Koran im Interesse des interreligiösen Gesprächs. Das bedarf heute einer neuen Rechtfertigung. Die müssen wir vorschalten, bevor wir auf unser spezielles Thema zu sprechen kommen: die Geburt Jesu in Bibel und Koran.
Jahrhundertelang haben Vertreter von Christentum und Islam Bibel und Koran gegeneinander ausgespielt. Christen lasen den Koran mit einer Defizithermeneutik, Muslime die Bibel mit einer Überbietungshermeneutik. Angestrebt wird heute in der Forschung eine Hermeneutik der Andersheit. Will sagen: Der Koran wird nicht länger von der Bibel als exklusivem Maßstab als „verzerrend“, „missverstehend“ oder „defizitär“ abgewertet. Und umgekehrt wird die Bibel nicht länger vom Koran als exklusivem Maßstab her für zum Teil verdorben und missverstanden erklärt, vielmehr werden beide zunächst in ihrer je eigenen Integrität respektiert und in ihrer jeweiligen „Andersheit“ zu verstehen gesucht. Wie viel ist in der Vergangenheit an Polemik auf beiden Seiten investiert worden mit dem wechselseitigen Vorwurf eines verzerrten, missverstehenden, willkürlich auswählenden Bibel- und Koranverständnisses. Der Prophet Mohammed habe Biblisches irgendwo auf seinen Reisen mitbekommen, verzerrt oder falsch wiedergegeben. So haben sich Christen die Abweichungen von ihren eigenen normativen Überlieferungen im Koran erklärt. Und umgekehrt: Die „Leute der Schrift“, Juden und Christen, hätten die Botschaft des letzten Gesandten Gottes deshalb abgelehnt, weil sie ihre eigenen Heiligen Schriften missverstanden, verzerrt wiedergegeben oder falsch ausgelegt hätten. Sie seien jetzt durch den Koran als definitive Offenbarung überholt und ersetzt. Mit dieser Tradition der wechselseitigen religiösen „Maulkämpfe“ (H. Heine), welche den je Anderen entweder geringschätzt oder triumphal zu überbieten trachtet, gilt es Schluss zu machen.
Für die neuere koranwissenschaftliche Forschung, der ich mich verpflichtet weiß,3 ist der Koran der Bibel nicht unterlegen oder umgekehrt der Bibel überlegen, sondern je anders.Bibel und Koran sind Ur-Kunden mit je eigenem Profil und unverwechselbarer Autorität. Und man muss sich schon die Mühe machen, diese jeweilige Andersheit in ihrer Komplexität zu verstehen, will sagen: in aller Sachlichkeit herausarbeiten, bevor dann in der Begegnung mit anderen Glaubenszeugnissen und Glaubensüberzeugungen eine argumentative Auseinandersetzung beginnen kann und beginnen darf, die zu einer begründeten Glaubensentscheidung herausfordert oder die eigene Glaubensentscheidung auf den Prüfstand stellt. Verstehenwollen der Andersheit des je Anderen ist somit die Grundvoraussetzung für einen Dialog, bei dem jede Seite von der Erwartung getragen wird, dass im jeweiligen Gegenüber Fähigkeit und Bereitschaft vorhanden sind, diese Andersheit so umfassend wie möglich zu verstehen, bevor das eigene Glaubenszeugnis ins Spiel kommt. Ein Drauflosbekennen ohne gründliche Kenntnisse von je Anderen ist kein Beitrag zum Dialog, sondern monologische Selbstbeschwörung mit dem Rücken zum je Anderen.
Dabei setzen solche Forschungen ein Dreifaches voraus, von dem auch ich in dieser Studie ausgehe:
Erstens: In der Welt der ersten Hörer (arabische Halbinsel Anfang des 7. Jahrhunderts) muss vor der koranischen Verkündigung ein „umfassender Wissenstransfer“ stattgefunden haben, so dass zahlreiche biblische und postbiblische Traditionen der Hörerschaft Mohammeds bereits vertraut gewesen sein müssen. Verdeutlicht doch der Verkünder seine eigene Botschaft unter Verwendung jüdisch-christlicher Überlieferungen, ohne sie vorher seinen Adressaten vermittelt zu haben.
Zweitens:Das Aufgreifen entsprechender Überlieferungen ist mehr als ein „Übernehmen“ und „Verarbeiten“, es ist Ausdruck einer lebendigen Wechselbeziehung zwischen dem Verkünder und seinen Adressaten. Der Koran ist nicht in einem luftleeren Raum entstanden. Seine ersten Hörer sind ja noch keine Muslime, was sie erst durch die Verkündigung des Propheten werden sollen. Auf ihre gesellschaftlichen, kulturellen und geschichtlichen Vorprägungen reagiert der Koran und profiliert an ihnen seine spezifische Botschaft.
Drittens: Der Sprachgebrauch „die Bibel“ im Koran ist ungenau und bedarf der Differenzierung. Denn die koranische Verkündigung setzt im 7. Jahrhundert ganz offensichtlich zwei Arten von Bibel voraus: eine durch die Rabbinen weitergedeutete jüdische Bibel und eine durch die Kirchenväter und die gesamtkirchlichen Konzilsbeschlüsse weitergedeutete christliche Bibel. Deren narratives Potential wird nicht einfach „übernommen“, sondern ausführlich verhandelt. Entsprechend reflektiert der Koran den Prozess von Prüfung, Revision und auch Überbietung von jüdischen und christlichen, aber auch paganen Traditionen. Denn der Koran ist kein einsam-erratischer Block in einer ansonsten buchstäblich wüstenleeren Landschaft, kein Text ohne Kontext, sondern muss, unbeschadet seiner Entstehung in einem Randgebiet der damaligen Welt, als Antwort unter anderem auch auf christlicheundjüdischeHerausforderungenseinerZeitverstanden werden, als lebendiges, „polyphones Religionsgespräch“, ja als „Argumentationsdrama“ (A. Neuwirth), das sich zwischen der muslimischen Gemeinde und den Vertretern der übrigen Traditionen abgespielt hat.
Sind doch in der Tat im Koran zahlreiche biblische und nachbiblische Überlieferungen nicht nur „gespeichert“ oder „übernommen“, sondern neu zum Leuchten gebracht. Neues Leben ist ihnen eingehaucht worden. Ein Doppelnarrativ lässt sich von daher rekonstruieren: Die koranische Verkündigung setzt zunächst dem lokal ererbten Selbstverständnis der Hörer ein neues, ein biblisches auf und stößt damit eine „Biblisierung“ des arabischen Denkens an. Zugleich aber kehrt sie den Prozess wieder um und leitet eine „Arabisierung“ oder „Islamisierung“ biblischer Vorstellungen ein.
In der Tat werden wir an einem konkreten Beispiel zeigen: Biblische Überlieferungen werden im Koran so vermittelt, dass sie zu aktualisierten Spiegel- und Gegengeschichten werden für den durch den Verkünder angestoßenen und jahrelang hin und her wogenden Kampf zwischen altem und neuem Glauben. Durch narrative oder dramatische Reinszenierung jüdisch-christlicher Überlieferungen steht am Ende etwas unverwechselbar Eigenes: eine arabisch-muslimische Glaubensidentität unter Neu- und Weiterdeutung uralter Überlieferungen aus der Welt von Judentum und Christentum. Wie ist das alles zu erklären? Was fangen Menschen, die zwischen 610 und 632 auf der arabischen Halbinsel leben, in Mekka und Medina zu Hause sind, mit Überlieferungen an, die weder aus ihrer Geschichte noch ihrer Gesellschaft noch ihrer Religion stammen? Die sie ohne Textstütze nur aus mündlichen Überlieferungen gekannt haben können, gab es doch im 7. Jahrhundert noch keine arabische Bibelübersetzung. Mekka, Jerusalem und zurück: Einen gewaltigen geistigen Transfer verlangt der Koran von ihnen. Im Interesse des Erwerbs interreligiöser Gesprächsbereitschaft und -fähigkeit ist es eine Herausforderung, diesen Transfer nachzuvollziehen und für das heutige interreligiöse Gespräch fruchtbar zu machen.
Folgende Grundvoraussetzungen müssen aus meiner Sicht für ein interreligiöses Gespräch auf der Basis von Bibel und Koran erfüllt sein, wenn es Sinn machen und gelingen soll.
(1)Geschichtlich betrachtet hat man die Heiligen Schriften jahrhundertelang nicht miteinander, sondern gegeneinander gelesen. Mit Selbstprofilierungsinteressen auf Kosten der je Anderen, mit Übertrumpfungsgelüsten und -strategien: Du glaubst an deine Religion, ich an die wahre. Das darf man weder verharmlosen noch gar ignorieren. Die Dämonen der Vergangenheit leben noch. Immer noch werden die Heiligen Schriften und die normativen Traditionen so ausgelegt, dass man die Welt spaltet in die eine wahre Religion und die vielen irrigen, falschen Religionen. Exklusivitätsanspruch ist eine Konstante auf allen Seiten. Dagegen gilt es ein anderes Narrativ aufzumachen.
(2)Der Prophet Mohammed hat keine geschichtlich einzigartige Offenbarung verkündet, sondern eine, die einbettet ist in eine geschichtliche Abfolge von Offenbarungen und Offenbarungsschriften, die Gott bereits Juden und Christen anvertraut hat. Daraus folgt, dass die drei Heiligen Schriften, der Tanach (der jüdische Bibelkanon), das Neue Testament und der Koran, engstens miteinander verflochten sind. Gerade der Koran als die zeitlich dritte Offenbarungsschrift stößt Überlieferungen von Juden und Christen nicht ab oder ignoriert sie, sondern tritt mit ihnen in einen neuen, kreativen, d. h. von der eigenen Axiomatik gesteuerten Auslegungsprozess. Wer also die drei Heiligen Schriften nebeneinander legt, dem wird bei allen Unterschieden deren innereVerwandtschaftbleibend bewusst. Entsprechend kann die Bibel auch als Teil der Vorgeschichte des Koran verstanden werden, so wie der Koran zu ihrer Nachgeschichte gehört und als Teil ihrer Auslegungs- und Wirkungsgeschichte zu betrachten ist. Daraus folgt:
(3)Muslime, Christen und Juden teilen Überlieferungen miteinander, die sie mit Angehörigen anderer Religionen nicht teilen – nicht mit Hindus und Buddhisten, nicht mit Konfuzianern und Taoisten. Das ist keine Wertung, sondern eine Tatsache, aus der folgt: Juden, Christen und Muslime bilden eine besondere Glaubensgemeinschaft von Monotheisten nahöstlichen Ursprungs und prophetischen Charakters. Ein kleines Gedankenexperiment mag das verdeutlichen: Einem Muslim muss ich als Christ nicht lange erklären, wer Noach, Abraham oder Mose war. Denn der Koran erzählt von Nuh, Ibrahim und Musa genauso – in seiner eigenen Deutung selbstverständlich. Einem Muslim muss ich auch nicht erklären, wer Joseph war, denn eine der schönsten Suren des Koran, Sure 12, erzählt seine Geschichte rund um Vater Jakob und seine Brüder: die Geschichte des Yusuf – in koranischer Auslegung natürlich. Einem Muslim muss ich nicht erklären, wer Hiob, David, Salomo und Jonas waren, denn Ayub, Daud, Sulaiman und Yunus kommen im Koran häufig vor – in koranischer Lesart, wie sonst? Buddhisten und Hindus, Konfuzianern und Taoisten müsste ich das alles erklären. Sie teilen mit Juden, Christen und Muslimen diese Überlieferungen nicht. Umso stärker könnten Brücken über die Religionsgrenzen hinweg geschlagen werden! In der Vergangenheit aber hat das oft genug zu polemischer Abgrenzung und gegenseitiger Rechthaberei geführt. Besserwisserei und Rechthaberei aber sind das Gegenteil von Dialog. Sie ersticken die Kommunikation, bevor sie richtig begonnen hat.
(4)Lange Zeit hat unter Juden, Christen und Muslimen die Vorstellung vorgeherrscht, die jeweiligen Heiligen Schriften und normativen Überlieferungen genügten sich selbst. Für orthodoxe Juden findet die Tora in Mischna und Talmud ihre weitere Deutung und Anwendung. Neues Testament und Koran sind theologisch ohne Belang, entsprechend ohne Interesse. Für Christen erklärt das Neue Testament, was im Alten von Bedeutung ist, der Koran als nachchristliche Offenbarungsschrift dagegen ist für sie theologisch ohne Bedeutung, es sei denn zur Abwehr und Widerlegung. Für Muslime sind Tora und Evangelium im Koran aufgehoben. Ein gläubiger Muslim braucht sich um sie nicht zu kümmern. Wer an den Koran glaubt, glaubt auch an „Tora“ und „Evangelium“, weil im Koran zu finden ist, was die zentrale Botschaft aller Schriften ist, jetzt auch noch in einer angeblich reineren und endgültigen Form.
Diese Haltung wahrheitsüberlegener Selbstzufriedenheit stiftet keinen Dialog, sondern friert Beziehungen ein, ja tötet sie ab und macht sie unmöglich. Wie auch anders? Wer von seiner Heiligen Schrift glaubt, es sei „alles gesagt“, ist nicht an Dialog interessiert. Wer sogar von Andersglaubenden Unterwerfung unter den eigenen Wahrheitsanspruch erwartet oder verlangt, lädt nicht zum Austausch ein, sondern stößt zurück. Der will bestenfalls Selbstbestätigung durch Andere. Wer seine eigenen Heiligen Schriften zur exklusiven Norm macht, will nichts lernen von Anderen, kein Gespräch auf Augenhöhe und keine Selbstbefragung, der will Bekehrung von Un- oder Andersgläubigen. Wer in seiner Heiligen Schrift die anderen „aufgehoben“ glaubt, braucht sich um die je anderen Lesarten, Perspektiven und Glaubenszeugnisse nicht zu kümmern, der erstarrt in religiöser Selbstgenügsamkeit und monologischer Selbstzufriedenheit. Kurz: Wer in traditioneller Manier die anderen Heiligen Schriften heute noch als „verfälscht“, „verzerrt“ oder „defizitär“ abqualifiziert oder dem Gegenüber bis heute Unterschlagungen von Wahrheiten unterstellt, ist kein Partner im Dialog.
(5)Grundvoraussetzung für den Dialog ist die Respektierungdes Selbstverständnisses des jeweiligen Partners sowie die Bereitschaft und Fähigkeit, sich durch das andere Glaubenszeugnis in der Gotteserkenntnis bereichern, im Glauben vertiefen oder durch Gegenerkenntnisse in Frage stellen zu lassen. Nur so hört Glauben auf, Besitz zu sein. Nur so bleibt „Glauben“ Glauben: ein auf Vertrauen gegründetes „Auf-dem-Weg-Sein“ vor Gott. Diese Grundhaltung der Demut vor Gott erst schafft das nötige Vertrauen im dialogischen Gegenüber, nicht einer missionierenden Propagandaveranstaltung ausgesetzt oder aufgesessen zu sein.
(6)Zu einem gelingenden Dialog gehört die Dankbarkeit den anderen Glaubensgeschwistern gegenüber. Dankbarkeit von jüdischer Seite, dass die Hebräische Bibel der Mutterboden zweier anderer großer Geschwisterreligionen werden konnte. Dankbarkeit von christlicher Seite Juden gegenüber für die Überlieferungen der Hebräischen Bibel, ohne welche weder die Person Jesu noch die Selbstbehauptung der urchristlichen Gemeinde noch die Verkündigung an die Völkerwelt denkbar gewesen wäre. Dankbar aber auch Muslimen gegenüber, welche die Botschaft vom Gott Abrahams, Mose und Jesu an andere Völker weitergegeben und so buchstäblich bis an die Enden der Erde getragen haben. Dankbarkeit schließlich von muslimischer Seite für die Tatsache, dass im Koran an die Schriften angeknüpft wird, die Juden und Christen von Gott zuvor anvertraut worden waren. Haben doch Muslime mit dem Koran ein Buch vor sich, das sie den „Leuten der Schrift“ mitverdanken. Aus diesem Geist respektvoller Dankbarkeit kann ein fruchtbarer interreligiöser Austausch über Bibel und Koran entstehen, über ihre Asymmetrien genauso wie über ihre inneren Verbindungen.
(7)Zur Respektierung des Selbstverständnisses des je Anderen gehört die Bereitschaft zur Selbstkritik und zum Hörenauf die Grundbotschaft des je Anderen. Gehört auch Selbstkritik an einer Polemik von einst, die Nichtmuslimen ein beschränktes oder gar verkehrtes Schriftverständnis zur Last gelegt hat. Selbstkritik an einer Praxis massiver Vorwürfeinsbesondere gegen die jüdische Schriftauslegung: wissentliche Entstellung von Gottes Wort (Sure 2,75–79: Md), Sinnverrückung einzelner biblischer Worte (Sure 5,13; 4,46: Md), Wortvertauschung (Sure 2,59: Md), Schriftverdrehung (Sure 3,78: Md). Das stellt die Authentizität und Vertrauenswürdigkeit der Heiligen Schriften der Anderen massiv in Frage und verhindert kommunikativen Austausch. Hier hilft nur jeweils eine geschichtlich-kontextuelle Bibel- und Koranhermeneutik. Wer an solcher Polemik heute noch festhält, als sei sie nicht der Situation der muslimischen Gemeinde im ersten Drittel des 7. Jahrhunderts geschuldet, wer also nicht bereit ist, die geschichtlichen Veränderungsprozesse in den Religionen zur Kenntnis zu nehmen, ist kein Partner im Dialog.
(8)So wie der Koran nicht von der Bibel, so ist auch die Bibel nicht vom Koran her zu bewerten. Jede Heilige Schrift hat den Anspruch, aus sich selbst heraus verstanden zu werden. Die Bibel ist nicht für den Koran, und der Koran ist nicht für die Bibel Maßstab der Auslegung. Entsprechend hat „ein Vergleich von Koran und Bibel zu beachten“, so der evangelische Theologe Karl-Wolfgang Tröger zu Recht, „dass nur das verglichen wird, was tatsächlich in den Texten (und Kontexten) steht, nicht das, was erst hineingelesen wird. […] Es kommt darauf an, vermutete Gemeinsamkeiten von Koran und Bibel von ihrer jeweiligen Schriftmitte her genau zu betrachten, um festzustellen, ob wirklich dasselbe gemeint ist und welche Funktion ein Begriff oder eine Aussage im Ganzen einer Heiligen Schrift hat, damit nicht Nähe konstatiert wird, wo vielleicht gar keine ist. Unterschiede und Differenzen sind ohnehin klar zu benennen“ (Bibel und Koran, 2008, 97). Denn in letzter Konsequenz kann man nicht gleichzeitig an die Botschaft von Bibel oder Koran glauben, dazu hat jede Schrift ihre eigene unverwechselbare Mitte. Sowohl der Tanach wie das Neue Testament wie der Koran fordern eine verantwortliche Glaubensentscheidung, sich auf die jeweilige Kern-Botschaft einzulassen.
(9)Wer das alles beachtet, dem kann gelingen, in Begegnung und Austausch das zu verwirklichen, was der Koran selber gefordert hat: einen Streit unter Juden, Christen undMuslimenumdasVerstehenderWahrheitGottes,aberaufdie„besteArt“, will sagen: nicht in Überheblichkeit und Rechthaberei, sondern im Wettstreit um das je bessere, tiefere Verständnis der Botschaft des einen Gottes, dem alle drei sich „ergeben“, will sagen: ihr Leben und Sterben anvertraut haben: „Streitet mit dem Volk der Schrift nur auf die beste Art – außer mit denen, die Unrecht tun – und sagt: ‚Wir glauben an das, was zu uns und zu euch herabgesandt worden ist. Unser Gott und euer ist einer.‘ Wir sind ihm ergeben“ (Sure 29,46: Mk III).
(10)Bei Studium und Auslegung von Bibel und Koran sind Juden, Christen und Muslime auf wechselseitige Verstehenshilfe angewiesen. Ohne Bibelkenntnisse kein Koranverständnis und kein Koranverständnis ohne die relecture, die der Koran von der biblischen und außerbiblischen Überlieferung vornimmt. „Der Koran ist und bleibt auf die Bibel bezogen und baut auf sie auf“, schreibt der Tübinger Religionswissenschaftler Stefan Schreiner zu Recht, „Ihn zu verstehen setzt biblisches Vorwissen voraus. Viele biblische Erzählungen sind im Koran so weit verkürzt, dass sie ohne Kenntnis ihres biblisch-nachbiblischen Ursprungs nicht erfassbar sind. Die Kenntnis der biblischen Überlieferung leistet hier die notwendige Verstehenshilfe“ (Bibel und Kirche 69, 2014, 144). In der Tat: Schon der Prophet selber hatte sich sagen lassen müssen: „Wenn du über das, was wir zu dir hinabgesandt haben, in Zweifel bist, dann frage die, die schon vor dir die Schrift vorgetragen haben!“ (Sure 10,94: Mk III). Und an anderer Stelle ähnlich: „Wir sandten schon vor dir nur Männer, denen wir offenbarten – / So fragt die Leute der erinnernden Mahnung, wenn ihr es nicht wisst“ (Sure 16,43: Mk III). Was wir folglich künftig brauchen, ist eine Bibelwissenschaft, die im Koran eine relecture der Bibel erkennt und diese entsprechend in ihre Auslegungsgeschichte einbezieht, aber wir brauchen auch eine Koranwissenschaft, welche die Bibel und ihre Auslegungsgeschichte als integralen Bestandteil der koranischen Überlieferungsgeschichte begreift.
Für Christen ist dabei besonders wichtig: Sie teilen mit Muslimen auch Überlieferungen von Johannes, den der Koran einen Propheten (Sure 3,39) und das Neue Testament „den Täufer“ (Mt 3,1–8) nennt, von Jesus, den Muslime als „Gesandten Gottes“ (Sure 5,75) und Christen als den „Sohn Gottes“ (Lk 1,32) verehren, und von Maria, die für Christen und Muslime eine besonders begnadete Frau ist (Lk 1,30), eine „Erwählte“ Gottes (Sure 3,42). Überhaupt ist die Mutter Jesu die einzige namentlich erwähnte Frau im Koran. Das erklärt die hohe Wertschätzung, die sie bis hinein in die islamische Prophetologie und Frömmigkeit genießt (Einzelheiten bei: M. Tatari u. K. von Stosch, Prophetin – Jungfrau – Mutter: Maria im Koran, 2021, Kap. III).
Dabei kann nicht nachdrücklicher noch einmal betont werden, dass nicht nur im Neuen Testament, sondern auch im Koran der Geburt Jesu ausdrücklich eine theologische Deutung gegeben ist. Jesu Geburt wird ein „Zeichen Gottes für die Menschen“, ein Zeichen von Gottes „Barmherzigkeit“ (Sure 19,21) genannt. Sure 19,32 zufolge ist Jesus ausdrücklich „kein unseliger Gewalttäter“, sondern ein Mann des „Friedens“. Von daher ist es voll gerechtfertigt, dass Christen und Muslime wechselseitig Friedensgrüße zum Fest der Geburt Jesu austauschen: „Frieden sei mit dir und den Deinen, deinem Haus und deiner Familie“. So kann im Kleinen und Konkreten Vertrauen entstehen: in Nachbarschaften vor Ort, in Städten und Gemeinden, wo immer Christen und Muslime zusammenleben. So kann eine Kultur der Achtsamkeit auf die Präsenz des je Anderen wachsen als Gegenentwurf zu einer Unkultur des Misstrauens und der Ausgrenzung. Frieden könnte herrschen im Namen dessen, den der Engel Maria so ankündigte: „Gott verkündet dir von sich ein Wort, dessen Name ist: Christus Jesus, der Sohn Marias. Geehrt ist er im Diesseits und im Jenseitig-Letzten und gehört zu denen, die Gott nahegebracht sind“ (Sure 3,45).
Meine eigenen Beiträge zum Gespräch auf der Basis von Bibel und Koran habe ich bisher in zwei Büchern niedergelegt, die diesem hier neu vorgelegten Buch vorausgehen. Das eine Buch trägt den Titel „Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint“ (1994). Es hat viele Auflagen erlebt und liegt auch in mehreren fremdsprachigen Ausgaben vor. Das andere trägt den Titel: „Die Bibel im Koran. Grundlagen für das interreligiöse Gespräch“ (2017). Es hat 2022 ebenfalls auf Grund der hohen Nachfrage eine Neuausgabe gefunden, versehen mit dem Geleitwort eines meiner langjährigen muslimischen Dialogpartner: Prof. Ahmad Milad Karimi vom Zentrum für islamische Theologie der Universität Münster.
Es erfüllt mich mit großer Dankbarkeit meinem Verlag gegenüber, insbesondere meinem Lektor Dr. Ulrich Sander, dass jetzt auch „Weihnachten und der Koran“ aufs Neue deutschsprachige Leserinnen und Leser finden kann, nachdem es bisher auch in einer italienischen (2011), einer persischen (2013) und einer englischsprachigen Ausgabe (2017) vorliegt. Sie wurde noch einmal gründlich überarbeitet, ergänzt oder gestrafft und durch die Einarbeitung neuerer Literatur zur Sache auf den neuesten Stand der Forschung gebracht. Frau Gisela Bittner-Brink (Fulda), Frau Annette Becker (Rottweil) und Frau Irene Kosel (Tübingen) danke ich für sorgfältige Korrekturarbeiten.
Tübingen, im Mai 2024Karl-Josef Kuschel
„Unsere Erzählung vibriert untergründig von der Spannung zwischen dem universalen Anspruch des römischen Herrschers, der die PaxRomanaals Pax Augustana auf die Macht der römischen Legionen gegründet hatte, und dem universalen Anspruch des jüdischen […] Messias, der von einem römischen Präfekten, Pontius Pilatus, ans Kreuz geschlagen worden war, nachdem er Gottes Herrschaft ausgerufen und die Gewaltlosigkeit gepredigt hatte.“ RudolfPesch,DasWeihnachtsevangelium(2007)
„Wären statt der Heiligen Drei Könige Konfuzius, Laotse, Buddha aus dem Morgenland zur Krippe gezogen, so hätte nur einer, Laotse, diese Unscheinbarkeit des Allergrößten wahrgenommen, obzwar nicht angebetet. Selbst er aber hätte den Stein des Anstoßes nicht wahrgenommen, den die christliche Liebe in der Welt darstellt, in ihren alten Zusammenhängen und ihren nach Herrenmacht gestaffelten Hierarchien. Jesus ist genau gegen die Herrenmacht das Zeichen, das widerspricht, und genau diesem Zeichen wurde von der Welt mit dem Galgen widersprochen.“ErnstBloch,DasPrinzipHoffnung(1969)
Man hat sie den „bekanntesten Text der Weltliteratur“ genannt, die Weihnachtsgeschichte, insbesondere die in ihrer lukanischen Fassung.4 Das dürfte nicht übertrieben sein. Ihre Wirkung in der Welt der Frömmigkeit, aber auch in der Welt der Kultur, in der Welt von Literatur, Musik und Malerei, ist unermesslich. Noch 2012 erklärt der Schriftsteller Martin Walser in einem Gespräch mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, er halte die biblische Weihnachtsgeschichte „für die schönste, beste Geschichte, die je von Menschen ersonnen“ worden sei. Jahr für Jahr habe er das Weihnachtsevangelium gehört, und jedes Mal sei diese Geschichte „unendlich schön“. Und wörtlich fügt Walser hinzu: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Für mich ist das Weihnachtsevangelium der wichtigste Text, der verfasst wurde“ (22.12.2012).
Historisch aber bleibt Jesu Geburt für uns im Dunkel der Geschichte. Zu sehr sind die Berichte des Neuen Testaments nach einem durchschaubaren Erfüllungsschema komponiert, um sie unkritisch als historische Quellen zu akzeptieren: Verheißungen der Hebräischen Bibel erfüllen sich, beglaubigt durch häufige Zitate aus den Büchern der Propheten. Zu sehr ist alles ins Licht außergewöhnlicher Ereignisse getaucht, als dass wir Fakten von Fiktion scheiden könnten: Erscheinungen von Engeln, jungfräuliche Empfängnis durch Gottes Geist, kosmische Zeichen als Orientierung für „Sterndeuter“, Rettung des Neugeborenen vor einem Mordanschlag. Wundersame Zeichen, die wir je verschieden auch bei der Geburt anderer Religionsstifter finden: bei Mose und Buddha beispielsweise, aber auch bei Mohammed, wie wir sehen werden. Die Berichte von Mohammeds Geburt werden uns in einem eigenen Kapitel beschäftigen.
Auffällig jedoch: Im Unterschied zum Detailreichtum späterer sogenannter Kindheitsevangelien5 sind die christlichen Ur-Kunden selber relativ zurückhaltend. Ja, auffällig ist auch, dass das Neue Testament größtenteils an Geschichten von Jesu Geburt überhaupt nicht interessiert ist, ich sagte es eingangs. Nur die Evangelien des Matthäus und Lukas erzählen von Jesu Geburt, aber so, dass gerade nicht das MythischEwige, sondern noch das Zeitlich-Lebendige der Vorgänge erkennbar wird. Die Unterschiedlichkeit der Geburtsnarrative des Neuen Testaments signalisieren damit selber, dass die Überlieferungen noch im Fluss sind, wenn es um die Geburt Jesu geht. Viele Einzelzüge sind noch gar nicht fixiert, viele Details noch variabel. Nichts ist zu mythisch-legendarischen Großmustern ausgestaltet – wie bei „Stifterfiguren“ üblich. Schon die Tatsache, dass es zwei sehr unterschiedliche Überlieferungen gibt, unterstreicht das. Schauen wir uns die beiden Texte zunächst einmal in Ruhe an. Ich halte mich hier an die mit eigenen, manchmal ungewohnten Sinnergänzungen versehenen Übersetzungen von Walter Jens, nachzulesen in seiner Ausgabe der „Vier Evangelien“, Stuttgart 2003, später im Fließtext an die „Einheitsübersetzung“.
I
Verehrter Herr!
Bruder Theophilus,
viele, du weißt es, haben versucht,
in vernünftiger Ordnung,
Satz an Satz gereiht,
zu wiederholen, was bei uns geschehen ist:
vollendet jetzt und überliefert von den Zeugen,
die dabeigewesen sind,
den Hütern des Worts und Bewahrern der Botschaft.
Und nun ich! Ich, Lukas, der dir erzählt:
alles, von Anbeginn an, niedergeschrieben,
nichts ausgelassen, jede Spur verfolgt,
zeitgetreu und genau,
für dich, lieber Bruder, damit du erkennst:
Die Worte sind verbürgt, in denen man dich unterwies,
und die Lehre hat ihren Grund.
Hör, wie alles begann,
vor langlanger Zeit,
als König Herodes über Judäa gebot.
Da lebte ein Mann unter uns,
Zacharias hieß er,
ein Priester aus der Klasse Abia,
der im Tempel Wochendienst hatte.
Der Name seiner Frau: Elisabeth,
aus dem Haus Aaron.
Das waren zwei Menschen, die beiden,
die ein gerechtes Leben führten vor Gott
und das Gesetz des Herrn beschützten,
niemals läßlich, sondern untadelig und in Ehren.
Aber sie waren allein und hatten kein Kind,
denn Elisabeth war unfruchtbar,
und die beiden: schon im Alter vorgerückt.
Ich erzähle von der Zeit, Theophilus,
in der er seinen Tempeldienst vor Gottes Antlitz tat,
Zacharias,
denn die Woche seiner Klasse war gekommen,
und er wurde ausgelost,
so wie es Sitte war unter den Seinen,
das Rauchopfer vorzubereiten.
Darum ging er in den Tempel des Herrn
– das Volk wartete draußen im Hof,
während drinnen Rauch aufstieg –
und betete.
Die Opferstunde war gekommen –
und da, auf einmal, zur Rechten des Priesters am
Räucheraltar:
der Engel des Herrn!
Zacharias erschrak, als er ihn sah,
und Furcht überfiel ihn.
Doch der Engel sagte zu ihm:
„Fürchte dich nicht, Zacharias,
Gott hat dich erhört.
Deine Frau wird einen Sohn gebären:
Johannessollst du ihn nennen,
und Freude wird sein, in deinem Herzen,
Jauchzen und Frohlocken,
und die Menschen werden sich freuen, sehr viele,
wenn das Kind geboren ist.
Denn Johannes wird groß sein vor Gottes Antlitz
und wird keinen Rauschtrank trinken und keinen Wein,
denn er ist erfüllt, schon im Leib seiner Mutter,
mit dem Heiligen Geist und wird es bleiben
und wird die Kinder Israels zu Gott hinführen,
heim zu IHM,
und wird dem Herrn vorangehn,