Weltordnung ohne den Westen? - Gernot Erler - E-Book

Weltordnung ohne den Westen? E-Book

Gernot Erler

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Beschreibung

Die Jahrzehnte gültige Weltordnung ist erschüttert, alte Sicherheiten sind zerbrochen, neue globale Machtverhältnisse entstehen. Drei große Player treffen dabei auf eine Europäische Union in der Krise: Russland mit einem zwischen Kooperation und Konfliktbereitschaft pendelnden Putin, das durch seinen wirtschatlichen Aufstieg mit neuem Selbstbewusstsein ausgestattete China, die USA mit der "America first"-Politik eines unberechenbaren Donald Trump. Wohin geht Europa? Wie sind europäische Werte durchsetzbar? Welche Rolle kann es in der entstehenden neuen Weltordnung spielen? Gernot Erler ist ein profunder Kenner und nüchterner Analytiker der globalen Gemengelage, ein Politiker, der, jahrzehntelang nah am Geschehen gestalten konnte, die Protagonisten kennt und sich jetzt erlaubt, die diplomatische Sprache zu verlassen und Klartext zu reden. Ein spannendes politisches Sachbuch für bewegte Zeiten.

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Seitenzahl: 220

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Gernot Erler

Weltordnung ohne den Westen?

Europa zwischen Russland, China und Amerika

Ein politischer Essay

© Verlag Herder Freiburg im Breisgau 2018

www.herder.de

Alle Rechte vorbehalten

 

Umschlaggestaltung: Designbüro GestaltungssaalUmschlagmotiv: © Volina - shutterstock

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, BelgernISBN (E-Book) 978-3-451-81270-5

ISBN (Buch) 978-3-451-38075-4

In dankbarer Erinnerung an

Arsenij Roginskij (1946–2017),

den großen russischen Menschenrechtsaktivisten der Gesellschaft Memorial

Inhalt

Zwischen Weltordnung und Ordnung der Welt

Eine Einführung

Danksagung

I. Putins Russland

Der russische Freund

Stationen einer Entfremdung

Auseinanderdriftende Narrative

Ukraine: Entstehung eines Konflikts

Politische Lösungsversuche

Die Sanktionen

Die Hinwendung zum Osten

Irritierende Innen- und Gesellschaftspolitik

Russland als Ordnungsmacht

II. China unter Xi Jinping

Die große Vergangenheit

Xi und der »Chinesische Traum«

Störfaktor Zivilgesellschaft

Die Neue Seidenstraße

Erkaufter Einfluss

Moskaus Antwort

Der Rivale Indien

III. USA: Die Welt des Donald Trump

Weltordnung im Wandel

Obamas Erbe

Die Abkehr vom Bisherigen

America First und gute Deals

Wechselhaftigkeit als Markenzeichen

Partei sein statt Vermittler

IV. Die Europäische Union im Krisenmodus

Auf dem Weg zur EU

Das historische Angebot

Wendepunkt Balkankriege

Der Stabilitäts-Export

Strategien für den Frieden

Das Performance-Problem

VI. Die gestörte Weltordnung: Probleme und Antworten

Auf dem Weg in die Post-West-Ära

Die neue Systemkonkurrenz

Alarmstufe Rot

Ukraine: ein neuer Anlauf?

Das Potenzial der OSZE

Eine »Ständige Konferenz« als Ausweg

Die UNO als Schutzmacht der Schwachen

Die verschleppte Reform

Eine Antwort auf den Missbrauch des Vetos

VI. Die Eskalationsspirale

Militärische Rückversicherungen

Mehr Geld

Mehr Manöver

Weniger Rüstungskontrolle

Der neue Rüstungswettlauf

Auf der Suche nach dem Umschalten

VII. Weltordnung ohne den Westen? Ein Ausblick

Interventions-Erfahrungen

Regime Change

Terrorbekämpfung und Moral

Lebenszeichen der europäischen Idee

Abkürzungsverzeichnis

Informationen zum Autor

Zwischen Weltordnung und Ordnung der Welt

Eine Einführung

Es liegt im Trend, sich mit dem Thema »Weltordnung« zu beschäftigen. Alarmistische Szenarien kommen gut an. Es muss ja nicht gleich (und schon wieder) der Untergang des Abendlandes sein. Aber mindestens sollte das Ende des europäischen Zeitalters heraufbeschworen werden. Am besten, man malt dann die Konturen einer dräuenden asiatischen Großmacht China, die alles übernimmt. Wer Ähnliches von diesem Band erwartet, sollte hier seine Lektüre abbrechen.

Mein Ausgangspunkt ist eine nüchterne Betrachtung. Historiker haben festgestellt, dass es seit dem Jahr 1230 bis heute eine Abfolge von acht Weltsystemen gab. In den letzten 70 Jahren haben wir einige Veränderungen erlebt. 40 Jahre lang bestimmte die Konfrontation von Imperium (Sowjetunion) und Hegemon (USA) unser Leben in der Zeit des Ost-West-Konflikts. Dann, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, folgte das Jahrzehnt der Pax Americana, wobei die USA sich als »unverzichtbare Nation« (indispensible nation) fühlten – und dafür gab es Gründe. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 geriet dieses Bild ins Wanken. Die darauf folgenden großen Militärinterventionen der Bush-Zeit stellten die hegemoniale Position der Vereinigten Staaten nicht wieder her. Präsident Obama beendete sie weitgehend, was kommentiert wurde als Kontraktion bzw. Zurücknahme der Weltrolle der USA. Die Rede war von der Entstehung eines machtpolitischen Vakuums.

Bereits seit längerer Zeit wird gefragt, was wohl aus dieser Situation heraus entstehen wird. Schon 1998 habe ich mich an dieser Diskussion beteiligt und in einer Buchpublikation (»Global Monopoly. Weltpolitik nach dem Ende der Sowjetunion«) geschrieben: »Die Herausbildung eines multipolaren Weltsystems wäre nur dann eine Herausforderung, wenn die regionalen Führungsmächte, ob sie nun Japan, China, Indien, Russland oder EU heißen, selber die egoistische Kontrolle über Geographien höher stellten als die Übernahme von Verantwortung für das Gesamtwohl einer Region. Im besseren Fall entlastete eine solche multipolare Struktur die Vereinigten Staaten von dem Druck, auf allen Kontinenten Verantwortung zu übernehmen, was zu den bekannten Überdehnungssymptomen führen kann. Der bessere Fall wird aber nur eintreten, wenn die einzige Weltmacht eine entsprechende Vorbildrolle zu übernehmen bereit ist. Es lohnt sich, mit den Kräften aus dem reichen Reservoir der politischen Demokratie der Vereinigten Staaten zu kooperieren und sie zu unterstützen, die ihr eigenes Land auf diesen Weg führen wollen.«

Heute ist der vorsichtige Optimismus, der in diesen Zeilen mitschwingt, widerlegt. Eine multipolare Weltordnung ist im Entstehen. Russland und China erheben eigene Ansprüche, als neue Ordnungsmächte, lassen aber nicht erkennen, dass es ihnen dabei um Mitverantwortung für das Gesamtwohl geht. Die Agenda beider Mächte zielt auf wirtschaftliche Vorteile und politischen Einfluss. Die Vereinigten Staaten unter Präsident Trump verfolgen mit ihrer America-First-Politik nicht das Ziel, sich als Vorbild für andere zu präsentieren, sondern »gute Abschlüsse« zu tätigen. Keine Spur von Verantwortungsübernahme auf verschiedenen Kontinenten. Inzwischen ist immer klarer geworden: Der Weg in die neue multizentrale Weltstruktur wird doch zur Herausforderung.

Und das vor allem, weil wir eine Welt erleben, die aus den Fugen geraten scheint: Ein verheerender Stellvertreterkrieg in Syrien, der schon fast einer halben Million Menschen das Leben genommen und über die Hälfte der Landesbevölkerung in die Flucht geschlagen hat. Scheiternde Staaten und Bürgerkriege in der ganzen Mittelost-Region. Der Ukraine-Krieg mit weit mehr als 10 000 Opfern mitten in Europa. Verzweifelte Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Irak, aber auch aus zahlreichen afrikanischen Ländern – mit einer Rekordzahl von 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Die Tragödie der muslimischen Rohingya zwischen Myanmar und Bangladesch. Die Liste lässt sich beliebig erweitern.

So gesehen gibt es keine Weltordnung im Sinne von Ordnung auf der Welt. Stattdessen überall Handlungsbedarf, ausgestreckte Hände und eine Überforderung der Hilfsorganisationen. Was können wir erwarten von einer neuen Rollenverteilung im Rahmen der globalen Strukturen? Und wie steht es mit dem europäischen Westen? Was hat die EU der Dynamik der neuen Ordnungskräfte entgegenzusetzen?

An dieser Stelle sollte erklärt werden, was »Weltordnung ohne den Westen« bedeuten soll. In Moskau und Peking ist das eine ausgemachte Sache: Der Westen hat ausgespielt, der amerikanische Hegemonieanspruch ist Geschichte, und die EU erscheint so schwach und mit sich selbst beschäftigt, dass sie als eine ernsthafte Mitbewerberin unter den Ordnungsmächten ausfällt. Fatalerweise kann sich eine solche Betrachtungsweise auf westliche Kronzeugen berufen, die aus den internen Problemen der Union jene Ohnmacht ableiten, die in Moskau und Peking eine Art antiwestlichen Triumphalismus befeuert. Aber diese Post-West-Perspektive bedeutet noch etwas anderes. Der Westen hat immer den Anspruch erhoben, als Anwalt universeller und vertraglich verabredeter Werte und Regeln respektiert zu werden – von der Charta der Vereinten Nationen über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bis zu den Statuten der Europäischen Friedensordnung, wie sie die Schlussakte von Helsinki (1975) und die Charta von Paris für ein neues Europa (1990) darstellen. Auch wenn der europäische und amerikanische Westen gewiss nicht immer nach diesen Regeln gehandelt hat, nahm er doch beständig eine unbequeme Mahnerrolle ein. »Weltordnung ohne den Westen« würde also auch eine Aushebelung und Marginalisierung dieser Normensysteme bedeuten und Platz machen für den Anspruch jener neuen Ordnungsmächte, sich ihr eigenes Regelsystem zu schaffen und ihre Lebensweise nach dem eigenen Wertekanon auszurichten. Das verleiht der Option »Weltordnung ohne den Westen« ein besonderes Spannungsmomentum, das uns in der gesamten weiteren Untersuchung begleiten wird.

Diese widmet sich zunächst den vier konkurrierenden Mächten, die sich als Akteure in der heraufziehenden multipolaren Weltordnung sehen. Das Russland von Wladimir Putin ist durch den Ukraine-Konflikt in eine tiefe Krise geraten, was das Verhältnis zum Westen angeht. Aber das Land, das auf den Ausbau der Eurasischen Wirtschaftsunion und intensivierte Beziehungen mit der asiatischen Nachbarschaft setzt, tritt mit seinem Anspruch als Ordnungsmacht sehr selbstbewusst auf. Allerdings ist Moskau konfrontiert mit Chinas Dynamik unter Xi Jinping, die vor allem in den strategischen Zukunftsprogrammen des Chinesischen Traums und der Neuen Seidenstraße zum Ausdruck kommt. Peking setzt auf die Transformation von wirtschaftlicher Abhängigkeit in politische Kontrolle und nutzt dabei seine schier unerschöpflichen finanziellen Reserven für entsprechende Investitionen. Die Trump-Administration konzentriert sich dagegen national wie international auf die Dekonstruktion des Obama-Erbes und verunsichert die eigenen Verbündeten mit ihrer unberechenbaren Wechselhaftigkeit. Nichts spricht dafür, dass Washington in nächster Zeit mehr internationale oder gar globale Verantwortung übernehmen wird. Die Europäische Union hat sich in den letzten Jahren ausreichend Fähigkeiten geschaffen, um auch im Sicherheitsbereich Aufgaben zu übernehmen. Aber tatsächlich bleiben viele der eigenen Ressourcen bei internen Problemen gebunden, und bisher konnten die Zweifel an der Brüsseler Problemlösungskompetenz nicht wirklich ausgeräumt werden.

Die Welt ist aus den Fugen, und das fordert uns heraus. Der Ukraine-Konflikt entfaltet weiter seine extrem destruktive Wirkung. Die EU hat Verantwortung für eine politische Lösung übernommen. Gibt es Chancen, den Stillstand bei der Umsetzung des Minsker Abkommens zu überwinden? Kann die OSZE helfen, die im Laufe der Jahre verfestigten Entfremdungsprozesse zwischen Russland und dem Westen aufzuarbeiten und zu überwinden? Wie können wir helfen, dass die Vereinten Nationen ihren Beitrag zu einer besseren Weltordnung tatsächlich leisten können und nicht immer wieder durch einen Missbrauch des Veto-Rechts aufgehalten werden? Das sind die Themen des vorliegenden Bandes, bevor die aktuelle Sicherheitssituation unter die Lupe kommt. Wir werden mit einer Eskalationsspirale von immer mehr militärischen Aktivitäten und immer weniger Abrüstung und Rüstungskontrolle konfrontiert. Defizite bei der Ordnung der Welt münden in direkten Gefährdungen unseres Alltagslebens. Das macht die Suche nach den Möglichkeiten, die Hebel umzustellen, umso dringlicher.

Den Abschluss bildet ein nochmaliger Blick auf den Westen: Selbstkritisch geht es darum, zu fragen, wo es zu Fehlentscheidungen gekommen ist, die sich auf den faktischen Zustand der heutigen Weltordnung ausgewirkt haben. Alle Hoffnung konzentriert sich am Ende auf einen »Neustart« der Europäischen Union, für den es handfeste Ansätze gibt. Die Akteure einer Neuen Weltordnung müssen sich zusammenfinden in einer globalen Verantwortungspartnerschaft, die eine Verengung auf partikulare Einzelinteressen überwindet und gemeinsame Antworten findet auf die drängenden Fragen: Was tun wir, um den Klimawandel aufzuhalten und die Gesellschaften vor seinen Folgen zu schützen? Und wie garantieren wir im Rahmen einer besseren und gerechteren Weltordnung den Zugang von jedem Einzelnen zur ausreichenden Versorgung mit Wasser, Nahrungsmitteln und Energie? Die entscheidende Frage: Wie können wir es schaffen, dass eine Welt aus den Fugen abgelöst wird durch Aussichten auf mehr Sicherheit und Frieden, auf mehr Stabilität und Good Governance, auf mehr Demokratie und Partizipation und auch auf mehr Bildung und Beschäftigung? Denn nur so wird die Neue Weltordnung nicht nur multipolar, sondern auch zukunftsfähig zu gestalten sein.

Im Zentrum dreier Kapitel stehen mit Putin, Trump und Xi drei weltpolitische Akteure, die das strategische Handeln ihrer Länder derzeit politisch bestimmen. Das Hauptaugenmerk dieses Buches richtet sich aber weniger auf Einzelne, als auf die grundsätzlichen und konkreten Möglichkeiten von Politik und Diplomatie sowie auf die Kraft von Institutionen und Organisationen im politischen Prozess. Denn gerade in einer Welt im Umbruch sind sie es, die auf Dauer Vertrauen und Verlässlichkeit sichern.

Danksagung

Meine besondere und herzliche Dankbarkeit gilt Dr. Peter Fäßler, der die komplette Texterstellung übernommen und dabei viele gute Ratschläge erteilt hat. Ich danke Frau Elena Siegmann für ihre tatkräftige Unterstützung und Herrn Dr. Rudolf Walter vom Herder-Verlag für seine umsichtige und konstruktive Begleitung des Projekts von der ersten Stunde an.

I. Putins Russland

Es kann kein Zweifel bestehen: Die russischen Reaktionen auf die Vorgänge in der Ukraine Ende 2013/Anfang 2014 haben die tiefste Krise im Verhältnis von Moskau zum Westen seit dem Ende des Kalten Krieges ausgelöst. Die Annexion der Krim im März 2014 und die verdeckt interventionistische Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine haben die westlichen Partner Russlands geschockt und trafen sie völlig unvorbereitet. Mitten in Europa entwickelte sich eine kriegerische Auseinandersetzung, der inzwischen weit mehr als 10 000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Aus westlicher Sicht stellte das russische Vorgehen eine massive Verletzung der Europäischen Friedensordnung dar, die auf keinen Fall hingenommen werden konnte.

Der russische Freund

Sofort begann eine intensive Suche nach den Motiven, Intentionen und Hintergründen des russischen Vorgehens. Ich nutzte jede Gelegenheit, um mit russischen Kollegen zu reden. Wenige Wochen nach der Krim-Annexion ergab sich die Chance zu einem Austausch mit einem Gesprächspartner, mit dem sich aus zahlreichen Begegnungen über Jahre hinweg ein echtes Vertrauens- und Freundschaftsverhältnis entwickelt hatte. Ich konfrontierte meinen Gast mit der Empörung über das alle gültigen Regeln verletzende russische Vorgehen in der Ukraine. Die Antwort, das muss ich zugeben, machte mich sprachlos. Mein russischer Freund forderte mich auf, doch zu verstehen, dass im Falle der Krim gerade eine »Wiedervereinigung« stattgefunden habe, vergleichbar der deutschen Wiedervereinigung von 1990. Und gerade wir Deutschen müssten einen solchen Akt doch besonders gut nachvollziehen und verstehen können, zumal wir ja bei unserem Vereinigungsprozess von der russischen Unterstützung entscheidend profitiert hätten. In Russland sei deswegen die Enttäuschung besonders groß, dass dieses Deutschland, das als wichtigster westlicher Partner in Moskau hoch geschätzt werde und ja eigene Erfahrungen mit »Wiedervereinigung« gesammelt habe, so wenig Verständnis für Russlands Reaktionen in der Ukraine-Krise aufbringe und stattdessen eilfertig einstimme in den westlichen Empörungschor.

Ich war konsterniert. Vor allem auch darüber, dass sich – anders als gewohnt – im Laufe des weiteren Gesprächs keinerlei Annäherung ergab. Der aktuelle politische Konflikt wirkte sich auf das Private aus. Es stellte sich eine Art Entfremdungseffekt ein, der sogar die Sinnhaftigkeit solcher Begegnungen infrage stellte. Wir trennten uns verstört, ohne die sonst übliche Herzlichkeit und voller Unsicherheit darüber, wie es weitergehen könnte.

Sehr schnell stellte sich heraus, dass diese privaten Erfahrungen von Verständigungsproblemen und Entfremdungsprozessen exakt vergleichbare Erfahrungen in der »großen Politik« spiegelten. Die russische Ukraine-Politik war nicht eine plötzliche Wende. Sie war eine letzte Konsequenz in einem langfristigen Entfremdungsprozess zwischen Russland und dem Westen. Die Gefährlichkeit dieses Prozesses wurde ganz offensichtlich lange unterschätzt.

Wie konnte es in Russland in Sachen Krim zu diesem Bild der »Wiedervereinigung« kommen? Ein kurzer Blick in die Vergangenheit gibt dazu einigen Aufschluss. Gerne betonen russische Gesprächspartner, die Krim sei »immer russisch« gewesen. Das »Immer« kann sich nur auf die Zeit nach 1783 beziehen, da erst seitdem die Halbinsel offiziell zum Russischen Reich gehörte. Die fortan gültige russische Kontrolle wurde nur unterbrochen durch die kurzlebige »Volksrepublik Krim« der Krimtataren in den Jahren 1917 und 1918 sowie durch die Besatzung der Wehrmacht zwischen 1942 und 1944. Aber dann kam 1954 ein großes Jubiläum: der 300. Jahrestag des Treueids der Kosaken auf den russischen Zaren im »Vertrag von Perejaslaw«, in der russischen Geschichtsauffassung der Feiertag zur »Wiedervereinigung der Ukraine mit Russland«. Der damalige Generalsekretär der KPdSU Nikita Chruschtschow suchte ein passendes Geschenk für diesen Anlass. Er entschied sich dazu, der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (USSR), und das war damals eine der 15 Republiken, aus der die Sowjetunion bestand, allen Ernstes die Krim zu »schenken«. Als Geburtstagsgabe sozusagen!

Wer sich auch immer über diese umstrittene Entscheidung freuen sollte – für die betroffenen Menschen bedeutete das nicht viel. Innerhalb der Sowjetunion war man in erster Linie Sowjetbürger, egal in welcher Teilrepublik man lebte. Das änderte sich aber schlagartig 1991 mit der Auflösung der Sowjetunion in 15 verschiedene autonome Staaten. Plötzlich realisierten die überwiegend russischstämmigen Krimbewohner ihre Zugehörigkeit zur neuen Republik Ukraine. Trotz umfassender Autonomierechte als »Autonome Republik Krim« gab es von Anfang an Unzufriedenheit mit diesem Status. Auch die Separationsbestrebungen gehören zu den Folgen dieser Entwicklung.

In der Ukraine-Krise ging es dann ganz schnell: Am 16. März 2014 gab es ein Referendum auf der Krim, bei dem, wie Präsident Putin später einräumte, russische Militärkräfte zur »Absicherung« eingesetzt wurden. Eine Mehrheit sprach sich für ein Beitrittsgesuch zur Russischen Föderation aus, das bereits zwei Tage später von beiden Seiten unterzeichnet, dann in größter Eile von der russischen Staatsduma und dem Föderationsrat ratifiziert und vom Verfassungsgericht für rechtens erklärt wurde, so dass Präsident Putin bereits am 21. März ein entsprechendes verfassungsänderndes Gesetz unterzeichnen konnte. Ganze fünf Tage hatte es gedauert, um die Krim aus dem Staatsverband der Republik Ukraine herauszulösen und in die Russische Föderation zu integrieren.

Eine »Wiedervereinigung«, vergleichbar mit der deutschen? Wohl kaum. Allenfalls kann man feststellen, dass es faktisch eine Revision jener seltsamen Geburtstags-Morgengabe von 1954 darstellt, gestützt auf ein umstrittenes und von Moskau militärisch kontrolliertes Referendum. Das Referendum selbst kollidierte mit der ukrainischen Verfassung. Entscheidend ist aber, dass Moskau mit seinem Vorgehen auf der Krim und in der Ostukraine gegen völkerrechtlich verbindliche Regeln und Verträge verstoßen hat, die bis dahin von keiner Seite infrage gestellt wurden.

Vor allem sind hier die beiden großen Dokumente aus dem KSZE/OSZE-Prozess zu nennen, nämlich die Schlussakte von Helsinki von 1975 und die Charta von Paris für ein neues Europa von 1990. Beide verpflichten die Teilnehmerstaaten (heute sind es einschließlich der Russischen Föderation 57) unter anderem zur Achtung der Souveränitätsrechte der Staaten, zur Respektierung der Unverletzlichkeit der Grenzen und zum Gewaltverzicht. Wenn man heute von »Europäischer Friedens­ordnung« spricht, dann kann damit nichts anderes gemeint sein, als die Gültigkeit der Regeln und Prinzipien von ­Helsinki und Paris.

Was speziell die Ukraine betrifft, kommt noch das Budapester Memorandum vom Dezember 1994 dazu, das direkt auf die Schlussakte von Helsinki Bezug nimmt. Ausdrücklich erklären in diesem Memorandum die drei Atommächte USA, Großbritannien und Russland, die Souveränitätsrechte und die Grenzen der Ukraine zu achten. Hintergrund war das internationale Interesse daran, mit der Auflösung der Sowjetunion nicht drei neue Atomstaaten akzeptieren zu müssen. Denn die sowjetischen Atomwaffen waren nicht nur auf dem Gebiet der neuen Russischen Föderation, sondern auch in der Ukraine, in Bela­rus und Kasachstan gelagert. Als Gegenleistung für die Bereitschaft in allen drei Ländern, einem Abzug der atomaren Waffensysteme zuzustimmen, sollten die Garantieerklärungen des Memorandums dienen. Für die westliche Seite ist evident, dass Moskau im Ukraine-Konflikt die Zusagen von Budapest nachhaltig gebrochen hat.

Die russische Seite hat immer wieder jede Kritik zurückgewiesen. Moskau verweist auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, auf das sich das Krim-Referendum von 2014 berufen könne, auch wenn die proaktive Rolle Russlands dabei gar nicht in Abrede gestellt wird. Neben diesen rechtlichen Legitimationsversuchen tritt aber in aller Offenheit eine politische Rechtfertigung, die erst das ganze Ausmaß des aktuellen Konflikts zwischen Russland und dem Westen deutlich macht. Der Westen, so die russische Sichtweise, habe sich seit der Auflösung der Sowjetunion 1991 ununterbrochen feindselig gegenüber Russland verhalten, was 2013/2014 zu einem Kulminationspunkt gelangt sei: Das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine sei nichts weiter als der Versuch, das Nachbarland Russlands unter westliche Kontrolle zu bringen und die Integration Kiews in die EU und in die NATO vorzubereiten – mit auch militärisch schwerwiegenden Folgen, wenn man an Sewastopol denkt, den Heimathafen der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim. Und der Majdan, also die ukrainischen Bürgerproteste von 2013/2014, sei nichts weiter als ein von Washington unterstützter und orchestrierter Regime Change von unten gewesen, um die prorussische Regierung in Kiew zu stürzen und der russischen Opposition ein Modell zu präsentieren, wie so etwas auch in Moskau funktionieren könnte. Der Westen habe damit gleich doppelt »Rote Linien« überschritten – und dazu hätte sich dann Russland auch gezwungen gesehen mit dem Vorgehen auf der Krim und in der Ostukraine.

Plötzlich wird deutlich: Es geht nicht darum, dass russische Gesprächspartner in verstörender Weise die Annexion der Krim als »Wiedervereinigung« deklarieren und damit versuchen, von der gefährlichen Infragestellung der Europäischen Friedensordnung abzulenken. Nein, hier öffnet sich der Blick auf einen nachhaltigen Vertrauensverlust und einen langfristigen Entfremdungsprozess, der längst dazu geführt hat, dass ein und derselbe politische Prozess in Russland völlig anders verstanden und interpretiert wird als im Westen. Es ist sinnvoll, sich die verschiedenen Stationen dieses Entfremdungsprozesses genauer anzusehen, wenn man ernsthaft nach politischen Lösungen suchen will, die aus dieser Krise herausführen.

Stationen einer Entfremdung

Wie entsteht Entfremdung und woran kann man ihre Entstehung erkennen? In der Politik ist es da nicht viel anders als im menschlichen Leben. Es geht los mit unterschiedlichen Sichtweisen und Wahrnehmungen.

Im Verhältnis von Russland zum Westen begann das bereits bei der Beurteilung von Führungspersonen. Michail Gorbatschow wurde im Westen als mutiger Reformer gesehen, mit seiner Politik von Perestroika und Glasnost als Versuch, die verkrusteten Strukturen des Sowjetregimes aufzubrechen. In Deutschland kommt eine nichtversiegende Dankbarkeit dazu: Ohne Gorbatschows Zustimmung hätten die 2+4-Verhandlungen über die Vereinigung Deutschlands nicht erfolgreich abgeschlossen werden können. Und erst seine Bereitschaft, die Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte zurückzuziehen, gewährte dem vereinten Deutschland dann tatsächliche Souveränität. Der letzte Staatspräsident der Sowjetunion ist in Deutschland der populärste russische Politiker aller Zeiten und wird das auf Dauer bleiben.

In seinem eigenen Land sieht das ganz anders aus. Dort wird er für die als Schock empfundene Auflösung des Imperiums im Jahr 1991 in Verantwortung genommen und gilt als »Totengräber der Sowjetunion«. Dementsprechend konnte Michail Gorbatschow in Russland auch nie wieder politisch Fuß fassen – an Versuchen dazu hat es nicht gefehlt. Eine Person und zwei völlig konträre Sichtweisen.

Dasselbe setzt sich fort bei der Wahrnehmung des ersten Präsidenten der Russischen Föderation Boris Jelzin. Er musste wegen seiner persönlichen Schwächen im Westen hier und da ein bisschen Spott ertragen. Aber er galt bei uns als erfolgreicher Transformator der russischen Gesellschaft. Zwischen 1991 und 1999 hat er aus westlicher Sicht in Russland Demokratie und Marktwirtschaft durchgesetzt, und das gegen den erbitterten Widerstand der damals noch starken Kommunisten, die 1996 nicht ohne Siegchancen in die Präsidentschaftswahlen gingen.