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Auch wenn wir in der Schule etwas anderes gelernt haben: Alle regionalen Dialekte quer durch Europa sind auf die eine oder andere Weise miteinander verwandt, teils der sprachlichen Form nach, fast immer aber nach den hinter den einzelnen Wörtern stehenden Vorstellungen und Begriffen. In diesen Vorstellungen und Begriffen ist die gemeinsame Kulturgeschichte Europas geronnen, die nie im Rahmen der modernen Staatsgrenzen abgelaufen ist, sondern immer ein kultureller Austausch zwischen den verschiedenen Teilen des Kontinents war und am Ende auch ein Austausch zwischen Kontinenten, auf denen Europäisch gesprochen wurde. Europäisch, mit seinen Weltsprachen-Dialekten wie Englisch, Spanisch, Französisch, Russisch und Portugiesisch und seinen auch historisch bedeutsamen Regionalsprachen wie Deutsch, Italienisch, Polnisch oder Niederländisch, ist zusammengenommen die mit Abstand wichtigste Weltsprache, und keine andere Sprache und Kulturtradition hat die Welt mehr geprägt, im Guten wie im Schlechten, als die europäische. Die Schriftgestalt der europäischen Wörter hat deren gemeinsame Geschichte zu einem großen Teil festgehalten und ist eine kulturgeschichtliche Quelle erster Güte. Den Wanderungen und Wandlungen der Wörter anhand solcher Indizien nachzugehen, führt immer wieder zu erstaunlichen und zuweilen auch erheiternden Erkenntnissen. Es wäre schön, wenn die Europäer ihre Aufspaltung in Sprachnationen hinter sich lassen könnten und zusammen mit den Europäischsprachigen in aller Welt und letztlich allen Menschen die Werte verteidigten, die das Beste der europäischen Kulturtradition sind: Menschlichkeit, alias Humanität, "gumannost'", "umanita", "humanite"; Freiheit, "freedom"; Liberalität, "liberty", "libertade" oder "wolnosc", die Freiheit des Wollens; und eine Gerechtigkeit, eine Justiz, "justice", oder "pravo", ein Recht also, das auf Treue, "truth", zur "pravda", der Wahrheit, "verdad", "verité" beruht.
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EDMUND
JACOBY
Eine Kulturgeschichteunserer Wörter
1. eBook-Ausgabe 2022
© 2022 Europa Verlag, ein Imprint der Europa Verlage GmbH, München
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Lektorat: Rainer Wieland, Berlin
Layout und Satz: Robert Gigler, München
Gesetzt aus der Minion Pro
Konvertierung: Bookwire
ePub-ISBN: 978-3-95890-482-8
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Alle Rechte vorbehalten.
www.europa-verlag.com
EINLEITUNG
1. WIR MENSCHEN, UNSER KÖRPER UND UNSERE SINNE
Menschen, Menschheit und Menschlichkeit
Frau und man, Herrin und Herr
Körper, Leib und Leichnam – unsere physische Existenz
Die Organe unseres Körpers
Unsere Glieder
Der Kopf, Chef des Körpers
Unsere Sinne: sehen, hören, fühlen, riechen, schmecken
Unser Herz: viel mehr als ein Muskel
Das Blut: ein ganz besonderer Saft
Die Jugend: wenn alles neu ist
Krankheit und Gesundheit
Das Alter: der Anfang der Geschichte, das Ende des Lebens
Der Tod: unser Ende als Individuum
Hölle und Himmel und das Leben nach dem Tod
Erinnerung: was länger bleibt als das Individuum
2. UNSERE FAMILIE UND IHR HAUS
Liebe und Sex: der soziale Kitt
Die Ehe – oder Scham, Tabu und Recht
Die Familie: Vater, Mutter, Kinder und Gesinde
Das Haus: die Keimzelle der Zivilisation
Tisch und Bett – oder Reproduktion des Individuums und der Gattung
3. DIE GESELLSCHAFT, IN DER WIR LEBEN: DORF, STADT, STAAT UND RELIGION
Das Dorf: die Lebenswelt der Bauern
Die Stadt: bürgerliche Welt
Freiheit und ihre Geschichte
Der Staat: die politische Organisation der Gesellschaft
Recht, rechts, direkt und richtig rechnen
Mord und das zweischneidige staatliche Gewaltmonopol
Ordnung und Orden: die Welt der Klöster und des Militärs
Religion: Tempel, Synagoge, Kirche und Moschee
Gott, der Glaube und die Schrift
Todsünden und Kardinaltugenden
Öffentlichkeit und Privatheit – kommunizierende Röhren?
Volk: ein missbrauchtes Wort
Krieg: wohl kaum der Vater aller Dinge
Terror, Angst und Schrecken
Sport: Kampflust und Disziplin
Courage und Feigheit
Toleranz und Frieden
4. WOVON WIR LEBEN: ACKERBAU UND VIEHZUCHT
Die Erde: das Land, worauf wir bauen
Die Jagd: Erinnerung an die Frühzeit der Menschheit
Der Hund und die Idee der Züchtung
Der Bauer: Gründer der Kultur
Der Pflug und seine Gegenspielerin, die Sense
Brot: das Grundnahrungsmittel
Hunger: brennende Eingeweide
Der Garten: die Nahrungsreserve
Alles, was im Garten wächst
5. WIE WIR TAUSCHEN: MARKT, WIRTSCHAFT, GELD UND ARBEIT
Kleider: der Fellersatz
Das Vieh: die erste Währung
Markt: wo gehandelt wird
Geld: die universale Tauschware
Handwerk, Handel, Industrie
Arbeit: vom Fluch zum Segen
6. WIE WIR SPRECHEN UND DENKEN
Ich und du, wir und ihr
Die Sprache, ihre Wörter und Worte
Mythos: Sagen, Märchen und Legenden
Abbild, Zeichen und Ikone
Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit
Dummheit – oder die Trägheit des Herzens
Geschichte und Geschichten: was war oder gewesen sein könnte
Zahlen: magische Wörter
Schrift: Bilder von Worten
Das Buch: ein sicherer Wissensspeicher
Ja und nein und die Logik des ausgeschlossenen Dritten
Die Artikel – Vereinfachung der Grammatik mit schwerwiegenden Folgen
Groß und klein, viel und wenig oder das Denken in Quantitäten
Ursache und Wirkung und ähnliche Kategorien
Sein: vom Hilfsverb zum All-Einen
Gut und böse
Glück und Zufall, Freiheit und Hoffnung
Aufklärung, Vernunft und Wissenschaft
7. KUNST: WAS WIR BRAUCHEN, OBWOHL ES EIN LUXUS IST
Lust – oder was uns von Robotern unterscheidet
Die Kunst und die Künstler
Schönheit – nur schöner Schein?
Farbe: was die Welt bunt macht
Musik oder der Zauber der Töne
Dichtung: Sprache wie Gesang
Theater: vom Thespiskarren zum Kino
Museum: der Musentempel der Bürger
Kochkunst – keineswegs die geringste der Künste
Mode: die Mutationen der Kultur
8. WIE WIR UNS DIE WELT UNTERTAN MACHEN: TECHNIK, VERKEHR UND INDUSTRIE
Handwerk und Ingenieurskunst
Wandern, reisen, reiten, fahren und transportieren
Vom Einbaum zum Kreuzfahrtschiff
Das Pferd: Kriegsmaschine, Arbeitstier und Transportmittel
Wagen: alles, was Räder hat
Die Eisenbahn: das Emblem des Industriezeitalters
Die Dampfmaschine und das Gesetz der Entropie
Von der Mühle zur Fabrik
Mechanik: praktische Wissenschaft
Computer: vom Abakus zum Internet
9. NATUR: WIR SELBST UND DIE WELT UM UNS HERUM
Wald: ein bisschen Wildnis
Gebirge und Ebenen, und wie Bäche und Ströme zu Tal fließen
Meer: der größte Teil der Erdoberfläche
Wetter: die vielen Erscheinungsformen des Klimas
Die Dinge der Natur und die Natur der Dinge
Die Elemente und die Entstehung der Chemie
Licht: Erleuchtung oder Wellen und Teilchen
Der Sternenhimmel und Science-Fiction
Die Welt: Raum und Zeit
Die Zeit, Ordnung und Zufall
Das Leben, die Evolution und wir Menschen
Über den Autor
Der größte Teil der Menschheit spricht Europäisch, zumindest als Verkehrssprache. Die internationale Sprache der Wissenschaft ist weitgehend Europäisch, gewissermaßen sogar Alteuropäisch, denn ihre Wörter sind altgriechische und lateinische oder solche, die nach den in diesen Sprachen üblichen Wortbildungsverfahren neu erfunden worden sind. Und europäisch sind die Weltsprachen Englisch, Spanisch, Französisch, Russisch und Portugiesisch. Aber auch die großen Regionalsprachen wie Deutsch oder Italienisch haben in der Geschichte der Weltkultur eine große Rolle gespielt und tun es immer noch. Und dann sind da noch die vielen kleineren Sprachen Europas, die alle ihren Beitrag zur Kultur Europas und damit der Welt geleistet haben.
Aber was heißt Europäisch? Gibt es so eine Sprache? Ja, es gibt die Sprache Europäisch. Jedenfalls erscheinen die Unterschiede zwischen den einzelnen Sprachen, aus einiger Distanz betrachtet, lediglich als Dialekte einer einzigen Sprache, oft nicht unterschiedlicher als etwa Mandarin und Kantonesisch in China, der anderen großen Sprachregion des Globus. Es sind nicht die sich oft in kurzer Zeit wandelnden Laute der Wörter, die das Gemeinsame einer Sprache ausmachen, sondern die Gemeinsamkeiten der Begriffe oder Konzepte, die dahinterstehen und die auf eine gemeinsame Kulturgeschichte zurückgehen.
Europäisch ist natürlich etwas anderes als die Nationalsprachen, die an den Schulen der einzelnen »Länder« – künstlich begrenzten Herrschaftsgebieten – gelehrt werden, damit die Kinder auf dem jeweiligen Territorium dieselbe Sprache lernen. Europäisch ist vielmehr die variantenreiche Sprache einer großen Kulturgemeinschaft, deren Sprecher sich nicht alle auf Anhieb mündlich verständlich machen können, aber mit etwas Anstrengung schnell merken werden, dass ihre Gesprächspartner meist dieselben Vorstellungen von der Welt haben wie sie selbst. Europäisch ist die Sprache einer Kulturgemeinschaft. Deren Sprachen, auch die mit unterschiedlichen Wurzeln, ließen sich bei entsprechendem politischen Willen ohne Weiteres zu einer Einheitssprache zusammenfassen, so wie es mit dem Englischen, dieser Mischsprache aus germanischem Angelsächsisch und romanischem Französisch, und zuvor schon mit dem Französischen als Mischsprache von Vulgärlatein und Fränkisch und in geringerem Maß auch mit den anderen Sprachen geschehen ist. Aber vielleicht ist das im Zeitalter automatisierter Übersetzungsprogramme auf den Smartphones, die die europäischen Dialekte aka Nationalsprachen schnell in jede andere verwandeln, gar nicht mehr nötig.
Die Gemeinsamkeit der europäischen Sprachen – oder Dialekte – ist natürlich ihrer gemeinsamen Geschichte zu verdanken, denn Sprachen sind Ausdruck der geschichtlichen Erfahrung von Menschengruppen. Die gemeinsame Geschichte der europäischen Sprachen besteht zunächst darin, dass die meisten von ihnen vor Jahrtausenden von nomadischen Migranten aus den Steppen Mittelasiens mitgebracht worden sind, die mehr oder weniger benachbart gelebt hatten und mehr oder weniger ähnliche Dialekte sprachen. Von diesen Sprachen – oder Dialekten – stammen fast alle europäischen Sprachen ab, außer denen europäischer Ureinwohner wie der Basken oder späterer Einwanderer aus Asien wie der Finnen und Ungarn. Aber auch diese, die Finnen, Basken und Ungarn, sprechen Europäisch, weil ihre Kultur europäisch ist und sie entsprechend viele Wörter von den anderen europäischen Sprachen, vor allem aber die dahinterstehenden Begriffe und damit auch die Denkweise übernommen haben.
Da Schreibweisen sich langsamer ändern als die Aussprache der Wörter, erlaubt uns der Blick auf die Schriftgestalt der Wörter einen Blick tief in deren Geschichte, den die Sprachwissenschaftler in vielen Fällen bis in die europäische Vorgeschichte zurückverfolgen können – ähnlich wie die chinesischen Schriftzeichen stets die Gemeinsamkeiten der sich lautlich unterscheidenden oder auseinanderentwickelnden chinesischen Sprachen festgehalten haben.
Wichtiger als die aus fernster Vergangenheit stammenden Gemeinsamkeiten seiner Dialekte ist für das Europäische jedoch die Tatsache, dass die griechischrömische Hochkultur der Antike ganz Europa geprägt hat, in der Wissenschaft, in Recht und Politik wie in der Literatur – gleich ob die einzelnen Sprachen die entsprechenden Begriffe aus dem spätantiken Gemisch von Griechisch und Latein übernommen und lautlich mehr oder weniger modifiziert oder sie bloß lehnübersetzt haben.
Zum Erbe der griechisch-römischen Universalkultur gehörte für ganz Europa das Christentum mit seinen jüdischen, also auch vorderasiatischen Wurzeln, dank dessen Vordringen in der Spätantike und im frühen Mittelalter Europa vom Atlantik bis zum Ural und vom Nordkap bis Sizilien eine kulturell weitgehend einheitliche Region wurde, auch wenn sich Westeuropa mit seiner lateinischen und Osteuropa mit seiner griechischen und dann auch kirchenslawischen Bildungssprache in mancher Hinsicht getrennt entwickelten.
Ein anderer Erbe der antiken Mittelmeerkultur war die arabisch-muslimische Welt, die im frühen Mittelalter enge Beziehungen zu Südeuropa hatte und deren damalige zivilisatorische Überlegenheit zur Übernahme einer ganzen Reihe arabischer Wörter ins Europäische geführt hat. Denn es ist fast immer so, dass neue technische oder kulturelle Errungenschaften in der Sprache – oder dem Dialekt – der Regionen, aus denen sie stammen, von den anderen Sprachen übernommen werden.
Unter der wachsamen Aufsicht der Kirche des Ostens wurde im frühen Mittelalter im Geiste der griechischen Grammatik eine slawische Schriftsprache entwickelt, die die slawischen Dialekte Osteuropas vereinigte und ihnen eine bis heute währende erstaunliche Ähnlichkeit erhalten oder erst verschafft hat. In Westeuropa bemühten sich unterdessen missionarische Mönche, auch die Sprache der von den Römern Germanen genannten Barbarenstämme zu standardisieren, um ihnen eine einigermaßen einheitliche Fassung der heiligen Schriften zu vermitteln. Dabei taten sie ihnen auch den Gefallen, ihre Heldenmythen zu verschriftlichen. Zuerst in England, dann auch im Süden und im Norden des späteren deutschen Sprachbereichs gab es nun die ersten Zeugnisse einer Literatur von standardisierten germanischen Sprachen, die, jedenfalls für eine Oberschicht, überregional verständlich war.
Dass Dialekte zur Hochsprache werden, ist immer auch auf eine institutionelle Macht zurückzuführen, sei sie kirchlich oder weltlich, die daran interessiert ist, in ihrem Herrschaftsgebiet eine einheitliche Hoch- oder Schriftsprache – in dem Sinne, wie die Deutschschweizer heute noch vom Hochdeutschen als »Schriftdeutsch« reden – durchzusetzen. Das führt immer wieder auch zum Aussterben von Dialekten und Minderheitensprachen. Keine Nationalsprache ist also die natürliche Eigenschaft eines »Volks«; Sprachen sind vielmehr immer Ausdruck historischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse.
Die eigentliche Bildungssprache blieb in Westeuropa das Lateinische, das sich selbst weiterentwickelte, um dann auch mehrfach wieder auf seine (vermeintlich) klassische Form zurückreformiert zu werden. Und es blieb diese übernationale Bildungssprache in vielen Bereichen, vor allem in der Jurisprudenz, in der Naturwissenschaft und Medizin sowie in der Theologie bis ins 19. Jahrhundert hinein, in der katholischen Kirche sogar bis ins späte 20. Jahrhundert. In den Ländern, in denen eine aus dem Lateinischen stammende Volkssprache gesprochen wurde, vor allem in Frankreich, Italien, Spanien und Portugal, dauerte es bis ins Hochmittelalter, dass neben dem Latein auch aus den Volkssprachen hervorgegangene Hoch- und Schriftsprachen die einzelnen Dialekte und Regionalsprachen überwölbten. (Die rumänischen Dialekte wurden allerdings erst im 19. Jahrhundert standardisiert.)
Die von Nordfrankreich ausgehende ritterliche – also weltliche – Feudalkultur mit ihrer aus keltischen Quellen schöpfenden Literatur, die meist um den sagenhaften König Artus kreiste, sorgte überall im feudalen Europa des 12. und 13. Jahrhunderts bis hin nach Russland zur Übernahme von französischen Wörtern und Ideen. Neben der Sprache der feudalen Unterhaltung und Selbstverständigung, der der Ritterromane, ging seit dem Hochmittelalter in allen europäischen Regionen auch die Sprache der aufstrebenden Städte, die Sprache des Handels und des Handwerks, in die Hochsprachen ein. Die italienischen Städte verständigten sich zunehmend in einer modernen Sprache, die sich am toskanischen Dialekt orientierte, da Florenz damals die Kulturhauptstadt Italiens war, während die Kaufleute der Hansestädte in Norddeutschland und im Ostseeraum sich meist auf Niederdeutsch verständigten, anders als die ebenfalls aufstrebenden süddeutschen Städte mit ihren oberdeutschen Mundarten. In Frankreich waren es dagegen nicht die Städte, die eine überregionale Verkehrssprache schufen; hier war es vor allem die Monarchie, die den Dialekt der Île de France im ganzen Königreich als Einheitssprache des Königreichs durchsetzte. In Spanien wurde unterdessen das Kastilische als Einheitssprache propagiert, während im etwas überschaubareren Portugal schon im 15. Jahrhundert eine sprachliche Einheit erreicht war.
In Deutschland wiederum war es die Reformation mit ihrer Abwendung von der europäischen Bildungssprache Latein und ihrem mit der Schaffung eines Germanenmythos einhergehenden frühen Nationalismus, der die eine »hochdeutsche« Einheitssprache schuf, die die nord- und süddeutschen Dialekte überlagerte, jedenfalls in den gebildeteren Schichten – ähnlich, wie das königliche Französisch die südfranzösischen Dialekte überlagerte und in Spanien, mit etwas weniger Erfolg, das Kastilische das Katalanische. Die Schaffung der hochdeutschen Einheitssprache bewirkte die Abspaltung des Niederländischen vom Kontinuum der niederdeutschen Dialekte, während die Sprache der politisch und kulturell führenden holländischen Städte sich gegenüber weiten Teilen der Niederlande, wo Niedersächsisch oder Friesisch gesprochen wurde, als Hochsprache durchsetzte. Die Übernahme der lutherischen Reformation in Skandinavien wiederum führte zu einem verstärkten Einfluss des Deutschen auf die skandinavischen Sprachen.
Die kulturelle Führerschaft hatten in Westeuropa seit dem 14. Jahrhundert die Städte Italiens, vor allem auf dem Gebiet des Handels. Das internationale Vokabular der Buchhaltung und des Bankwesens ist seitdem in seinem Grundbestand italienisch. Von den frühneuzeitlichen italienischen Städten ging die Kunst der Renaissance – der Rückbesinnung auf die Antike – aus, ebenso wie der von der Antike inspirierte Humanismus in Literatur und Wissenschaft, auch der Sprachwissenschaft; er hat bleibende Spuren in den europäischen Sprachen hinterlassen. Vom Italien der Renaissance verbreitete sich auch die musikalische Kultur Europas, die seitdem eine Sprache »spricht«, die nur wenige klar unterscheidbare regionale Dialekte hat und fast nur durch ihre Epochen – Barock, Klassik, Romantik und Moderne – gegliedert wird. Dasselbe gilt für die Sprachen der bildenden Kunst und der Architektur in Europa. Doch die Bedeutung Italiens für die europäischen Sprachen hat nicht nur mit Kultur zu tun, sondern auch mit den Kriegen, die im 15. und 16. Jahrhundert dort zwischen den Städten des Landes untereinander und zwischen den europäischen Großmächten geführt wurden. Denn die europäische Militärsprache, und damit die der Welt, ist italienisch geprägt. Schließlich aber war Italien auch, seit Galilei, das Ursprungsland der modernen empirischen Naturwissenschaften und hat die Begriffe für wichtige Instrumente und Verfahren geprägt.
Der Handel der Hansestädte im Ostseeraum führte unterdessen dazu, dass Polen und Russen manche kulturellen und technischen Errungenschaften der Zeit in Form deutscher Wörter kennenlernten. Spanier und Portugiesen wiederum eroberten damals mit brutaler Gewalt riesige Kolonialreiche in Amerika und Südostasien und setzten in Lateinamerika ihre Sprachen durch; und sie brachten von dort ganz neue Nutzpflanzen und Lebensweisen samt den dazugehörigen Bezeichnungen mit.
Nach den Spaniern und den Portugiesen waren es vor allem die Holländer, die im 17. Jahrhundert die Weltmeere eroberten. Den Holländern sind daher viele gemeineuropäische Begriffe aus der Seefahrtssprache zu verdanken. Die Holländer und bald auch die Briten eroberten Meere und wurden nicht zuletzt durch den grausamen Sklavenhandel und den Handel mit von Sklaven angebauten Produkten wie Zuckerrohr und Baumwolle reich. Die französischen Kaufleute gerieten dabei etwas ins Hintertreffen, doch der französische Hof eroberte die kulturelle Vorherrschaft auf dem Kontinent. Jedes Fürstentum versuchte hier, den französischen Hof nachzuahmen, und propagierte so die Modesprache Französisch, die sich bald auch als die Sprache der europäischen Aufklärung erwies. Französische Wörter für vieles, was elegant oder gescheit ist, wurden nun von Lissabon bis Sankt Petersburg gebräuchlich.
Irgendwann aber fanden führende Intellektuelle wie Herder in Deutschland, dass ein Allzuviel an modischer Fremdsprache die Gebildeten zu sehr vom gemeinen Volk entfernte, und sangen das Loblied der Volkssprache. Vor allem, nachdem Napoleon mit dem Versuch gescheitert war, eine französische Hegemonie über ganz Europa zu etablieren, wandten sich Dichter und Gelehrte ihren jeweiligen Volkssprachen zu. Tolstoi beschreibt in Krieg und Frieden, wie in den adligen Salons von Moskau und Petersburg in nur wenigen Monaten das Russische das Französische als Konversationssprache ersetzte.
Gelehrte wie Jacob Grimm untersuchten nun die Geschichte der Sprachen und weckten damit auch das Selbstbewusstsein von Sprachgemeinschaften, vor allem auf dem Balkan, die noch keine gemeinsame Schriftsprache hatten. Leider fanden Griechen, Serben, Kroaten, Bulgaren, Slowenen, Rumänen, Albaner, die seit je ohne klare Sprachgrenzen im Heiligen Römischen, im österreichischungarischen oder im türkischen Reich zusammengewohnt hatten, nun, dass sie nach dem Vorbild der Italiener und Deutschen ein nationales Territorium für ihre jeweilige nicht immer klar definierte Sprachgemeinschaft beanspruchen mussten, was bis heute immer wieder zu schrecklichen Kriegen geführt hat.
Unterdessen begründeten die Briten dank Erfindergeist und mit dem Kapital, das sie in ihren internationalen Handelsgeschäften vermehrt hatten, die moderne Industrie. Britische Ingenieure waren seit dem späten 18. Jahrhundert führend bei der Verbreitung industrieller Produktionsmethoden – in der Textilindustrie, im Kohlebergbau und in der Konstruktion von Apparaturen, die mithilfe von Dampfmaschinen das Spinnen und Weben weitgehend unabhängig von menschlicher Arbeitskraft machten. Das europäische und internationale Vokabular des modernen Fabrikwesens, der Eisenbahn und der Dampfmaschine ist deshalb weitgehend englisch.
Die Industrialisierung verstärkte die Unterschiede in der Verteilung der wirtschaftlichen und militärischen Macht auf dem Globus, was die kolonialen Imperien des 19. Jahrhunderts möglich machte. Dort, wo es zuvor keine überregionalen Hochsprachen gegeben hatte, vor allem in Schwarzafrika, bekamen nun die europäischen Kolonialsprachen, namentlich Englisch und Französisch, diese Funktion. Sosehr die Kolonisierten sich im 20. Jahrhundert und bis heute von der Vormundschaft der Europäer befreiten, so waren sie doch auf die von diesen gebrachten einheitlichen Bildungssprachen angewiesen, um die Völker in den willkürlich von den Kolonialmächten gezogenen Staatsgrenzen zusammenzuhalten und mit der übrigen Welt zu verbinden.
Der Aufstieg der modernen Naturwissenschaften fand unterdessen vor allem an britischen, deutschen und amerikanischen Universitäten statt, doch die internationalen Fachwörter blieben, darüber waren sich die Gelehrten allenthalben einig, griechisch-lateinische. Der Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts führte allerdings zum Kampf der »Sprachreiniger« in manchen Ländern Europas gegen die zahllosen im Laufe der europäischen Geschichte entstandenen und verbreiteten internationalen Wörter als sogenannte Fremdwörter (diese unsägliche Bezeichnung ist im Deutschen immer noch gang und gäbe!) und zur rigorosen Vereinheitlichung der Nationalsprachen innerhalb der staatlichen Grenzen, auf Kosten der Minderheiten und der Mundarten der Grenzgebiete.
Der wahnwitzige Versuch der Nazis schließlich, Europa nicht nur politisch einer deutschen Weltmacht, sondern auch der Hegemonie der deutschen Sprache und Kultur zu unterwerfen, während sie die Juden – und die »Zigeuner« – auszurotten versuchten, die keine territorial begrenzte Gemeinschaft darstellten: Dieser Wahnsinn endete damit, dass Deutsch seinen Status als internationale Verkehrssprache und als Weltsprache der Wissenschaft und Kultur verlor. (Nach den jüngsten politischen Katastrophen lässt sich ein ähnliches Schicksal für das Russische voraussehen.)
Dafür stiegen die Vereinigten Staaten – die freilich auch nicht der »Schmelztiegel« der Völker und Rassen waren, als den sie sich gern darstellten – nach dem Zweiten Weltkrieg zur auch kulturell und wissenschaftlich größten Weltmacht auf und verhalfen dem Englischen, das schon zuvor die wichtigste Weltverkehrssprache war, zu einer unbestrittenen Vormachtstellung. So ist das Vokabular der modernen populären Unterhaltung wie das der digitalen Revolution heute in allen europäischen Sprachen weitgehend englisch. Dies sind die jüngsten Jahresringe am Stamm der europäischen Sprache und Kultur und ihrer nationalsprachlichen Äste. Wobei »Europäisch« eine Sprachgemeinschaft bezeichnet, die schon seit Jahrhunderten nicht auf das geographische Europa begrenzt ist.
Heute wird die Vorherrschaft europäischer Sprache und europäischen Denkens in der Welt oft auch als das Erbe eines gewalttätigen Kolonialismus kritisiert, der mit Ausbeutung und Sklaverei einherging. Richtig ist, dass die Ausweitung des europäischen Denkens nicht zuletzt von der schon früh kapitalistisch organisierten Gier nach materiellem Reichtum vorangetrieben wurde. Richtig ist aber auch, dass die Idee der einen Menschheit und der Menschenrechte eines jeden menschlichen Individuums ebenso wie die universalen Grundsätze der Wissenschaft von der europäischen Aufklärung in die Welt getragen worden sind – Prinzipien, hinter die die Menschheit nicht zurückkann, wenn sie überleben will. In der Welt gilt damals wie heute das Gesetz der Verbreitung von Ideen, das Europa geprägt hat: Es verbreiten sich die neuesten erfolgreichen Ideen und die mit ihnen verbundenen Wörter stets in der Sprache der Region, in der sie entstanden sind. Die meisten neuen Wörter in Europa kommen heute aus den ehemaligen Kolonien in Amerika; bald werden sie wahrscheinlich zunehmend aus China, Indien, Japan oder Brasilien kommen. Europa ist nicht der Nabel der Welt, aber dass diese Welt eins ist – wie auch immer un-eins sie in politischen und gesellschaftlichen Fragen sein mag –, haben die Europäer erreicht. Das ist Fakt, aber wegen der eben benannten Verbrechen kein Grund für die Europäer, stolz darauf zu sein.
Dieses Buch will das Bewusstsein der in den Wörtern ihrer Sprachen – oder vielleicht doch besser: in ihrer Sprache – geronnenen gemeinsamen kulturellen Erfahrung der Europäer stärken und damit das Bewusstsein, dass die Menschen über alle Grenzen hinweg – und das gilt natürlich auch für die, die kein Europäisch sprechen – viel mehr gemeinsam haben, als sie ahnen.
Im Folgenden werden in einer assoziativen Reihenfolge Schlüsselbegriffe und zentrale Wortfelder des Europäischen – und seiner Dialekte, der europäischen Sprachen – betrachtet. Natürlich ist dies nicht ansatzweise vollständig und keineswegs systematisch, denn anders als in der Grammatik gibt es für das Vokabular von Sprachen kein System.
Für die Fälle, in denen der Autor wenig repräsentative Wörter statt wichtigerer betrachtet und sich in Nebenbedeutungen verzettelt, bittet er um Nachsicht.
Wir alle gehören zur Spezies oder Art Homo sapiens, das heißt etwa: schlauer Mensch, von lateinisch homo, Mensch, und sapere, wissen. Offenbar war es unsere intellektuelle Überlegenheit, die uns andere Vertreter der Gattung Homo, etwa die Neandertaler (mit denen wir dennoch wohl ein wenig verschwägert sind), hat überleben lassen. Homo ist mit humus, der lateinischen Muttererde, verwandt und ließe sich vielleicht am besten mit »Erdling« übersetzen. Gaia, die griechische Erdmutter, ist die Mutter der Menschen, und auch nach der durch die im Buch Genesis der Bibel vermittelten aus dem alten Orient stammenden Überlieferung wurden die Menschen aus der Erde geschaffen, in die sie nach ihrem Ende zurückkehren.
Das griechische Wort Genesis – es hat mit allem zu tun, was genetisch, generisch, Generationen umfassend und auch sonst genusmäßig ist – müsste man mit »Gezeugtwerden« oder überhaupt »entstehen« übersetzen; dieses Wort bezeichnet in der griechischen Bibel die Schöpfung durch den biblischen Gott. Der macht also die Menschen aus Erde – nach seinem Ebenbilde (so, wie sich die Menschen ihrerseits die Götter meist anthropo-morph, menschengestaltig, vorstellten), und zwar sogleich als Mann und Frau, wie es in Gen 1,27 heißt. Gleich danach, in Gen 2,21 aber erschafft Gott erst adam, den Mann, und dann, damit der nicht allein sei, aus seiner Rippe die Frau. Damit beginnt eine Geschichte, die noch lange nicht ausgestanden ist: Einmal sind Mann und Frau, Frau und Mann gleichermaßen geschaffen und gleich, das andere Mal sind Frauen etwas Sekundäres, ein Derivat des Mannes. Dieser Widerspruch zieht sich durch die ganze europäische Geschichte.
Das lateinische homo ist geschlechtsneutral, aber in barbarischeren Zeiten setzten sich die Männer mit der Menschheit gleich: homme, hombre oder uomo wurde ein Wort für den Mann. Man wiederum war etwa im Englischen und Deutschen mit dem Menschen schlechthin gleichgesetzt, so wie nie-mand einfach »kein Mensch« bedeutet.
Andere waren etwas vorsichtiger mit der Identifikation von Man(n) und Mensch. Das griechische Wort ánthropos für Mensch, das nicht nur Anthropologen kennen, heißt eigentlich nicht Mann, sondern kommt von andr-ops, das heißt »sieht aus wie ein Mann«. Und das konnte auch Frauen und nicht zum eigenen Stamm gehörige Menschen umfassen. Bei den Germanen war es ähnlich; hier war, wie wir gesehen haben, man und Mensch dasselbe. Doch der Mann (Plural: Mannen) war vor allem in kriegerischen Zeiten der Stammeskrieger, auf den es ankam. Aber dann gab es auch andere, die so ähnlich waren, mennisc, wie es auf Althochdeutsch heißt, also mannartig oder – weil man ja auch der Mensch schlechthin war – mensch-lich, kurz: Mensch. Entsprechend heißt auch auf Schwedisch människa Mensch. Stammeskrieger wie die germanischen Mannen waren auch die russischen čelov’eki, polnischen człowieki und lettischen cilveki, und auch sie nahmen für sich in Anspruch, für die gesamte Menschheit zu stehen.
In der europäischen Antike galten nicht alle Menschen als gleichwertig. Wenn Frauen Menschen zweiter Klasse waren, waren Sklaven und Sklavinnen noch eine oder zwei Stufen darunter. Das wurde erst anders, stellt die Kulturanthropologie fest, als die antike Zivilisation universal (lateinisch für »allseitig«) wurde, als sie nämlich den Anspruch erhob, für alle Menschen Geltung zu haben. Aristoteles definierte den Menschen als zóon logistikón, als sprach- und vernunftbegabtes Lebewesen, das die universalen Gesetze der Logik und Mathematik begreifen kann. Und der römische Dichter Terenz ließ eine seiner Theaterfiguren sagen: »Ich bin ein Mensch, und nichts Menschliches ist mir fremd«, um auszudrücken, dass keinem Menschen etwas fremd und unbegreiflich ist, was ein anderer Mensch tut. Im römischen Kaiserreich erlangten nach und nach fast alle Einwohner dieselben Bürgerrechte. »Barbaren« wurden in die römischen Armeen integriert, und die Sklaverei wurde mehr und mehr vom Eigentums- zum Knechtschaftsverhältnis. Das alte Griechisch und Latein kannte allerdings keinen Unterschied zwischen Knecht – doúlos oder servus – und Sklave. Das Wort Sklave – von Slawe – kam erst im Mittelalter auf, als die Byzantiner mit gefangenen Südslawen Handel trieben.
Trotzdem wurden nun sogar Sklaven oder Knechte und Mägde als Menschen anerkannt – als Christenmenschen, wie es in der Spätzeit des römischen Imperiums hieß. Christsein und Menschsein war von nun an und im europäischen Mittelalter dasselbe. Im Russischen heißt der Bauer – und das war so gut wie jeder – krestjánin, Christenmensch.
Im Hochmittelalter, in der Zeit der Kreuzzüge, entdeckten die Angehörigen des europäischen Kriegeradels, dass ihre muslimischen Gegner denselben Idealen von Ruhm und Ehre nacheiferten wie sie selbst; in den großen Romanen der altfranzösischen und mittelhochdeutschen Literatur wird die ebenbürtige Würde christlicher und »heidnischer« Ritter vielfach beschworen. In derselben Zeit eigneten sich die scholastischen Gelehrten in Paris, Oxford, Köln und Bologna mithilfe der arabischen Überlieferung wieder die antiken Ideen von dem an, was Menschsein ausmacht. Mehr und mehr kamen sie zu dem Ergebnis, dass die Willensfreiheit die Würde des Menschen, aller Menschen, ausmacht: Jeder Mensch ist Herr seiner Entscheidungen, ist grundsätzlich frei und dadurch Mensch. Würde ist von wert abgeleitet: Wer etwas wert ist, hat Würde oder värtighet, wie das schwedische Wort lautet. Und ein freier Mensch besitzt nicht nur Würde, sondern auch einen guten Ruf: zvánije, das russische Wort für Würde, kommt von zvat’, rufen. Das lateinische Wort dignitas wiederum leitet sich von dem Verb deceo her, das »sich ziemen« bedeutet: Würdig ist, wer sich dezent benimmt. Von dignitas stammen französisch dignité, englisch dignity, italienisch dignitá und spanisch dignidad für Würde.
Von der Würde, die in möglichst hohem Maße zu erringen das Ziel der Menschen sein sollte, hatte bereits Cicero geschrieben, im Sinne der stoischen Philosophie, der es immer auch um das Bewahren einer würdigen Haltung ging. In der italienischen Frührenaissance verband Pico della Mirandola die scholastischen Gedanken von der Freiheit des Willens mit der antiken Philosophie der Menschenwürde und wurde dadurch zum Mitbegründer des Humanismus (von homo), einer ganz Europa umfassenden intellektuellen Bewegung, in deren Mittelpunkt der Mensch stand und damit die Menschheit und Menschlichkeit – lateinisch humanitas, italienisch umanità, spanisch humanidad, französisch humanité, englisch humanity, und im Russischen, das kein h kennt, gumánnost’. Überall ist die Idee der gemeinsamen Menschheit mit der der Menschlichkeit untrennbar verbunden, denn wenn der Mitmensch kein fremdes Wesen mehr ist, kann man ihn nicht mehr unmenschlich behandeln.
Die Idee von Menschheit und Menschenwürde beherrschte auch das Denken der europäischen Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts. Für Immanuel Kant war das Urteilsvermögen des Menschen sowohl die Ursache als auch die Grenze dessen, was wir über die Welt wissen können. Kant füllte so in seiner Kritik der reinen Vernunft den alten Homo-mensura-Satz des sophistischen Gelehrten Protagoras aus der klassischen Zeit Griechenlands, nämlich dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, mit Inhalt. Und in seiner Schrift Zum ewigen Frieden von 1795 unternahm es Kant, die Idee einer einzigen politische Menschheit zu entwerfen – was ihn allerdings nicht daran hinderte, als Kind seiner Zeit auch über unterschiedlich vernünftige Menschenrassen zu spekulieren. Trotzdem: Diese Schrift nimmt die gut hundertfünfzig Jahre später formulierte Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen weitgehend vorweg.
Der beste Propagandist der spätaufklärerischen Menschheitsphilosophie war Friedrich Schiller, der in der von Beethoven in Musik gesetzten Ode an die Freude hymnisch von »seid umschlungen, Millionen« und »alle Menschen werden Brüder« spricht. Es war eine gute Idee, dass die beethovensche Vertonung dieses Textes zur Hymne der Europäischen Union wurde.
»Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben; sie sinkt mit euch, mit euch wird sie sich heben«, heißt es mit Schiller im Giebelfeld über dem Portal des 1909 eröffneten Hildesheimer Stadttheaters. Die Bürger dieser Zeit ahnten, dass Menschenwürde wenn nicht erkämpft, so doch verteidigt werden muss. Und tatsächlich war es mit der Menschenwürde schon vierundzwanzig Jahre später vorbei, als in Deutschland die Nationalsozialisten die Macht »ergriffen« und ihre Ideologen wie Carl Schmitt die Existenz einer natürlichen Menschenwürde, die aus dem Menschsein selbst hervorgeht, leugneten. Für sie hatte die Würde jedes Einzelnen hinter die Interessen der mit ideologischen Konzepten wie Nation oder Rasse angetretenen Macht zurückzutreten.
Humanismus und Aufklärung hatten den Menschheitsgedanken der europäischen Antike erneuert und ganz praktisch zur Grundlage des Handelns und des Handels gemacht. Im sogenannten Zeitalter der Entdeckungen wurde der Handelsverkehr erstmals global. Jesuitische Missionare suchten in Indien, Vietnam oder China Gemeinsamkeiten zwischen den asiatischen und den christlich-europäischen Kulturen und fanden sie auch. Allerdings meinten andere Christenmenschen, dass nicht alle Menschen im gleichen Sinne ihre Nächsten seien, wie die christliche Religion es ihnen eigentlich nahelegte. Sie fanden es in Ordnung, dass fremde Menschen versklavt wurden, wenn sie deutlich anders aussahen als sie, etwa weil sie eine schwarze Hautfarbe hatten. Schwarze waren für sie einfach nicht im selben Sinne Menschen wie sie selbst. Rassen wurden von Wissenschaftlern als mehr oder weniger wertvolle Unterarten der Menschheit definiert, ohne dass dies je rational begründet werden konnte. Heute, im Zeitalter der genetischen Wissenschaft, ist der Begriff »Rasse« endgültig als unsinnig erkannt, was aber nicht davor schützt, dass er, etwa als (biologische) »Ethnie« oder als »abendländische Kultur« (also die der Weißen) getarnt, wieder auftaucht.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie etwa die mit Rassismus und Nationalismus gerechtfertigte Ermordung der Juden, wurden erstmals in den Nürnberger Prozessen nach dem Zweiten Weltkrieg zum Gegenstand des Völkerstrafrechts, das heute von einem Großteil der Staaten, allerdings längst nicht von allen, anerkannt wird.
Was für das Verhältnis der eigenen Leute zu dem Fremden oder vreemd, das heißt ursprünglich Entfernten, oder dem extraneus, stranger, estranjero oder étranger gilt, gilt ähnlich auch für das Verhältnis von Mann und Frau: Die Fremden gehören eigentlich zur eigenen Gruppe oder dann doch wieder nicht; die Frauen gehören zur Menschheit – mankind – oder dann wieder nicht, da diese doch erst einmal aus Männern besteht, jedenfalls in »barbarischeren« Epochen.
Männer setzten sich als homo oder man immer wieder mit der Menschheit gleich, obwohl es im klassischen Latein schon eine Bezeichnung für den Mann im Unterschied zu homo als Mensch gab, nämlich vir, den virilen Mann, der sich vielleicht mit zwei Mitmännern im Trium-vir-at die Herrschaft teilte. Und einen Mann im Unterschied zum man, zum Menschen, gab es auch einmal in den germanischen Sprachen: Vir ist mit dem altdeutschen wer verwandt, den wir allerdings nur noch aus dem Wer-wolf kennen, dem gruseligen Mann-wolf. Das slawische Wort für Mann, russisch mu(n)ž, tschechisch muž, polnisch mąż, hat dieselbe Wurzel wie das germanische man und Mann, erhebt aber nicht den Anspruch, auch für nicht-maskuline Menschen zu gelten (masculus, männlich, ist das allgemeine lateinische Wort für männlich, auch für männliche Tiere oder Pflanzenteile, im Unterschied zu allem Femininen, Weiblichen).
Sobald die Zeiten in Europa nach dem Untergang der antiken Zivilisation wieder besser wurden – jedenfalls für die höheren Gesellschaftsschichten –, wurden die Frauen wieder wichtiger und selbstbewusster und reklamierten ihren Anteil an der Menschheit, die inzwischen weitgehend zur Mann-heit geworden war, für sich. Schon im Mittelalter wollten sich vornehme Frauen nicht mehr als wîp, Weib, sondern als Frau, vrouw, oder fru anreden lassen. Frau (von fro) bedeutet Herrin, so wie Fron-Dienst Herrendienst ist und Fron-leichnam den Leib des Herrn bezeichnet. Weiber waren dagegen die Frauen aus dem einfachen Volk, und das Wort Weib hatte im Deutschen (außer im Adjektiv weiblich) eine abschätzige Bedeutung angenommen, wie in »weibisch«. Das englische Wort wife, das ursprünglich dasselbe bedeutete wie Weib, wird dagegen keineswegs geringschätzend verwandt, bedeutet aber nur noch »Ehefrau« – außer im Falle von midwife, der Hebamme. Anders als Weib ist englisch woman – von wife-man, »Weib-Mensch« – eine Geschlechtskennzeichnung ohne Wertung, ebenso wie das französische femme, das von femina – vergleiche feminin und Feminismus – abstammt, der lateinischen Bezeichnung für die Frau als Mutter.
Während Weib und seine Entsprechungen nur in den germanischen Sprachen existieren und die Abkömmlinge von femina ursprünglich nur in den romanischen, gibt es auch die alte indoeuropäische Wurzel *gw, aus der Wörter wie altgriechisch gýne (wie in Gynä-kologie), slawisch žená und schwedisch kvinna für Frau hervorgegangen sind. Auch die queen, die englische Königin, gehört in diese Wortgruppe. Hier ist ein Weib also gar nichts Minderwertiges.
In der Neuzeit hat es unter Frauen wie Männern einen Wettlauf darin gegeben, ihre Anrede als Mann oder Frau möglichst vornehm klingen zu lassen. Schon im 17. Jahrhundert war das Wort Frau wieder so gewöhnlich geworden (weil sich inzwischen auch bürgerliche Frauen als Frau und damit Herrin anreden ließen), dass adlige Frauen sich lieber wie die seinerzeit in der Mode tonangebenden vornehmen Französinnen Dame nannten. Französisch dame stammt wie seine Pendants in den romanischen Sprachen – italienisch donna, spanisch doña, portugiesisch donha – von lateinisch domina, der Herrin. Die Herren der Schöpfung ließen sich indes als Hausherr, lateinisch dominus, von domus, Haus, anreden, woraus spanisch und portugiesisch don wurde. Im Italienischen ist don dagegen zur Anrede für einen Priester geworden, wie bei Don Camillo und Peppone.
Aber es ging noch vornehmer: Aus der spätlateinischen seniora (der »Älteren«, im Sinne von Vorgesetzter oder Herrin) wurde die italienische signora und die spanisch-portugiesische señora oder senhora. Sie war in der Regel die Gattin eines signore, eines señor oder senhor. Als »Herr« ließen sich seit Beginn des bürgerlichen Zeitalters auch Männer anreden, die keine Angehörigen der adligen Herrenschicht waren. Das deutsche Herr ist übrigens dem »Senior« nachgebildet; das Wort stammt von dem Adjektiv hehr (dessen Lautung das niederländische heer für Herr besser festgehalten hat), das wir in der Bedeutung »großartig« oder »altehrwürdig« kennen. Im Französischen wurde der Ältere, der senior (der keineswegs sen-il, also richtig alt sein musste) zum seigneur, das heißt Herr, in der kurzen Anredeform zum sire oder bürgerlich mon-sieur – »mein Herr«, entsprechend ma-dame. Die Normannen brachten dann im 11. Jahrhundert den sire wie die madame nach England, wo sie jeweils um einen Buchstaben verkürzt, also zu sir und madam wurden.
Die russische Herrin, gospožá, wiederum erinnert wie ihr Mann, der gospodín, nicht zufällig an den lateinischen hos-pes, das heißt Gastfreund, wörtlich »mächtiger Fremder«. Von diesem Gastfreund stammt das den Kranken freundlich aufnehmende Hospi-tal ebenso ab wie die Kurzform hostel oder hôtel/Hotel. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der zweite Wortteil von hos-pes im Lateinischen von potis, das heißt mächtig, kommt. Das Substantiv dazu ist potestas, die Macht. Kurz, der gos-podín ist mächtig, und die gospožá ist es nicht minder.
In den westslawischen Sprachen wie dem Tschechischen oder Polnischen lässt sich die Frau, die auf sich hält, als pana ansprechen. Ihr Mann ist ein pan, ein Herr. Das gemeinslawische Wort bedeutet ursprünglich so etwas wie »Wächter«, was auf den kriegerischen Ursprung allen Herrentums verweist.
Die vornehme englische Lady dagegen bezieht ihre Würde nicht durch den Verweis auf einen kriegerischen Mann, sondern aus ihrer eigenen Tätigkeit: Das Wort stammt vom altenglischen hlaef-dige ab, das heißt Laib- (englisch loaf) oder Teig-Kneterin. Die Lady war also als angelsächsische freie Frau oder Landadlige die Hausherrin, die das Brot bereitet. Ihr Gemahl war der loaf-warden, der »Brotwärter«, dessen Amtsbezeichnung zu Lord zusammengezogen wurde. Eine ebenso vornehme Frau war die mistress, die Gemahlin des mister, lateinisch minister, der in römischen Zeiten einmal ein einfacher Diener gewesen war, aber im Mittelalter zu einem Ministerialen, dem edlen Gefolgsmann eines großen Herrn, aufgerückt war, so wie es die Ministerialräte oder gar -direktoren in den Ministerien bis heute sind.
Für »Fräulein« im Sinne von »unverheiratete Frau« wurde die mistress zu miss zusammengezogen. Doch seitdem die Unterscheidung zwischen mistress und miss nicht mehr viel gilt und der Öffentlichkeit bewusst wurde, dass miss zumindest bei älteren unverheirateten Frauen (»alten Jungfern«) ein diskriminierender Sprachgebrauch ist, hat sich im Englischen – zuerst als Abkürzung – Ms durchgesetzt. Die neue Kurzform wird im Unterschied zu miss mit weichem (stimmhaften) s ausgesprochen. Die Sprachentwicklung etwa im Französischen und Deutschen war weniger subtil – Fräulein wie ma-demoiselle (demoiselle kommt von domisella, also der »kleinen domina«) sind schlicht aus dem Sprachgebrauch verschwunden, und mit ihr, was verschmerzbar ist, die Kalt-mamsell, das Fräulein, das über das kalte Büfett wachte. Und das Mädchen, das im Deutschen wegen seiner Diminutiv-Endung im Unterschied zu dem Jungen grammatisch als Sache behandelt wird, ist zwar bislang sein (Nicht-) Geschlecht im Artikel nicht losgeworden, doch etwa in Relativsätzen (»das Mädchen, die …«) wird es/sie immer häufiger als weiblich angesehen. Innerhalb des Menschseins, zwischen den Geschlechtern, auch im Zwischenraum und Übergang zwischen den Geschlechtern, ist also allerlei im Fluss.
Das Verhältnis der Geschlechter ist vor allem eine Frage des sozialen Menschseins. Bevor wir diesem nachgehen, wollen wir uns aber erst einmal unserer physischen Existenz als Menschen versichern. Dabei werden wir allerdings schon bald feststellen, dass es uns niemals bloß physisch gibt – nicht einmal als Leichen.
Der Körper des Menschen wird in der platonisch-christlichen Tradition, für die alles Materielle nur Schein ist, als lediglich vorübergehende fleischliche Hülle der ewig lebendigen Seele betrachtet. Deshalb gehen in den europäischen Sprachen auch die Wörter für den lebendigen Leib und den Leichnam der Toten durcheinander.
Körper kommt von lateinisch corpus, was sowohl den lebendigen Leib als auch den Leichnam eines Toten bezeichnet. Italienisch corpo, spanisch cuerpo bezieht sich dagegen nur auf den lebendigen Körper, während der Tote hier cadavere, Kadaver, von lateinisch cadere, fallen, heißt – also ein gefallenes oder gefälltes Tier- oder Menschenwesen ist. Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, verlangte von den Angehörigen seines Ordens, sie sollten sich alles gefallen lassen, was ihre Vorgesetzten von ihnen verlangten, als seien sie Kadaver. Die Idee dieses Kadavergehorsams hat seither die Militärs noch mehr fasziniert als die Geistlichkeit.
Französisch corps bezeichnet zwar auch eine Armeeeinheit, zuvor aber sowohl den lebendigen wie den toten Körper, während englisch corpse ausschließlich den Leib eines Toten meint. Das niederländische Wort für den lebendigen Körper und Leib ist lichaam, und das ist dasselbe Wort wie das deutsche Leichnam für eine Leiche. Der scheinbare Widerspruch erklärt sich daraus, dass Leichnam früher eben den Leib bezeichnete: Fron-leichnam ist das Fest des (mystischen) Leibs des Herrn.
Das Wort Leib ist im Deutschen eindeutig an das Leben gebunden, es bezeichnet das Leben als physiologisch-gegenständliche Wirklichkeit, entsprechend englisch life oder schwedisch liv. Ausschließlich den Körper eines Menschen bezeichnet dagegen das englische body. Body ist genauer gesagt die »leibliche Hülle«, das Gefäß der Seele. (Body ist nämlich verwandt mit dem deutschen Wort Bottich, im Rheinland Bütt, wie man vom Kölner Karneval weiß, und dies kommt von lateinisch buttis, Gefäß. Dessen Verkleinerungsform buticula wurde übrigens zur französischen bouteille und zur niederdeutschen Buddel für Flasche, also einem kleinen Gefäß. Buttis, die Bütt, die große Schwester der buticula, wiederum kommt wie die spanische Schankwirtschaft mit Weinkeller, die bodega, vom griechischen Warenlager oder Vorratsgefäß, der Apotheke. Die von body verkörperte Idee des Körpers als bloßes Gefäß wiederholt sich in der körperverächtlichen barocken Bezeichnung des – toten – Körpers als »Madensack«.)
Das slawische Wort für Körper ist russisch télo, polnisch ciało. Das Wort ist verwandt mit russisch délo, Sache oder Ding. Das heißt aber nicht, dass so eine Körper-Sache ein toter Gegenstand ist. Das Wort ist nämlich verwandt mit (russisch) delajet’, tun, und mit déti, den Kindern, auch urverwandt mit lateinisch tellus, der Erde oder zeugenden Materie: Alle Dinge sind im alten magischen Weltbild belebt. Der genaueren Unterscheidung wegen heißt ein Leichnam auf Russisch mórtvoje télo, toter Körper.
Das altgriechische Wort für Körper ist sóma, bekannt aus internationalen Wörtern wie psycho-somatisch, Seele und Leib betreffend. Sóma hatte viele Bedeutungen, die es an das lateinische corpus weitergereicht hat: lebendiger Körper und toter Leichnam, Körper als dreidimensionaler Gegenstand in Geometrie und Physik, Körper im Sinne von Individuum oder Person, oder als Körperschaft, einer juristischen Person, die wie ein lebendiger Leib das Zusammenwirken vieler Glieder bezeichnet. Schließlich war sóma oder corpus auch eine militärische Einheit, sowohl ein großes Armee-corps als auch eine kleine Einheit, die ein corporal, ein Unteroffizier, anführt. Im Französischen ist aus dem Korporal ein kleiner Chef – vergleiche italienisch capo, Chef – geworden, ein cap-oral. Napoleon war zu Beginn seiner Laufbahn bekanntlich le petit caporal. Auch eine Sammlung von Texten kann ein corpus oder Korpussein, wie das Corpus Iuris Civilis, die von Kaiser Justinian im 6. Jahrhundert angeregte Sammlung des römischen Rechts, die die europäischen Gesetzbücher bis heute entscheidend beeinflusst.
Ein Körper ist das Gemeinsame aller seiner Glieder. Die Glieder oder Gliedmaßen des menschlichen oder tierischen Körpers gehen vom Rumpf aus. Die besten Stücke aus dem Rumpf eines Rindes heißen rump-steak. Das lateinische Wort für Rumpf ist truncus, das heißt verstümmelt; es ist dasselbe Wort wie für den seiner Äste beraubten Baumstamm – einen Rumpf ohne Glieder, französisch tronc. Ein anderes Wort für Rumpf, das vor allem in der Kunstgeschichte eine Rolle spielt, ist der Torso. Ein Torso ist wie ein Pflanzenstängel ohne Blätter: Das italienische Wort rührt vom Wahrzeichen des Gottes der Sinnlichkeit, Dionysos, her, dem von allen Blättern entblößten Thyrsosstab. (Angeblich handelt es sich beim Thyrsos um Riesenfenchel.)
Ein weiteres Wort für Rumpf oder Torso, vor allem, wenn es um die Brustregion geht, ist die Büste – von französisch buste und italienisch busto, letztlich von lateinisch bustum, Grabstele. Eine Büste ist das Bildnis einer oder eines Verstorbenen für das Grab, das normalerweise nur Kopf, Schultern und Brust wiedergibt. Ein Büsten-halter (heute fast nur noch in der Abkürzung BH bekannt, auch im Schwedischen spricht man vom behå) ist allerdings nicht die Befestigung für ein solches Grabbild, sondern die Bezeichnung für ein Anfang des 20. Jahrhunderts erfundenes Bekleidungsstück, das den verschämt als »Büste« bezeichneten Brüsten der Frauen Halt gibt. Auch das englische bra für BH ist eine verschämte Abkürzung, in diesem Fall des französischen brassière, was eigentlich ein »Ärmeljäckchen« ist und sich von bras, Arm, herleitet. Ein französischer Büstenhalter heißt, sofern es sich nicht um einen bustier handelt, wieder einmal verklemmt soutien-gorge, wörtlich »Halsstütze« (gorge ist nahe verwandt mit Gurgel). Die Italienerinnen sprechen beim BH eher sachlich von reggi-petto oder reggi-seno, Brusthalter, während die verschämteren Spanierinnen nur von sostén, »Unterstützung«, reden. Für die Russen ist der Büstenhalter übrigens ein Import aus Deutschland und heißt bjústgalter.
Die weibliche Brust gehört zu den Organen des menschlichen Körpers, die entweder der Erhaltung des Individuums oder der Art dienen.
Jeder Teil eines menschlichen Körpers ist ein órganon, wie es auf Griechisch heißt, ein Organ, von (w)érgein, werken, also ein Werk-zeug. Das Organon, die Sammlung der Schriften des Aristoteles zur Logik, dient bis heute als Werkzeugkasten des Denkens.
Mehr noch als bei den Gliedmaßen ist bei den inneren Organen deutlich, dass sie die Werkzeuge des Lebens sind.
Thymós, die Lebenskraft und Leidenschaft, wurde bei den Griechen zunächst zwischen Bauch und Brust, etwa am Zwerchfell angesiedelt, und dem Kraut Thym-ian wurde zugeschrieben, diese Kraft anzuregen. Platon unterscheidet zwischen dem epi-thymetikón, dem unteren Teil des thymós, das heißt, den Begierden des Unterleibs, und dem thymo-eidés, dem nur noch thymós-artigen, was Mut und Lebensfreude sind. Für diese in der Brust beheimatete Kraft wurde später immer mehr das Herz als Zentrum angenommen.
Für Platon sollten Leidenschaften und Gefühle, epithymetikón und thymoeidés, sich der Herrschaft des logistikón, der natürlich im Kopf angesiedelten Vernunft, unterwerfen. Die griechische Medizin ging weniger normativ vor als Platon und sagte nicht, welche Organe des Körpers wichtiger sind als andere, sondern versuchte stattdessen zu ergründen, welche von welchen Organen ausgehende Körperflüssigkeiten wie auf das Leben und insbesondere das Seelenleben wirken.
So meinten die Ärzte, allen voran Hippokrates und Galen, die berühmtesten Ärzte der Antike, herausgefunden zu haben, dass von der »gelben« Galle, griechisch cholé (cholé, Galle, und gelb sind verwandte Wörter), die Wutanfälle der Chole-riker ausgelöst werden, während die schwarze (mélaina) Galle eine nicht zu vertreibende Traurigkeit, wir würden heute sagen, eine Neigung zu Depressionen, kurz Melancholie, hervorruft. Von phlégma, Schleim, rührt die Bezeichnung Phlegmatiker für den trägen Menschen her, dem Gontscharow in seinem Roman Oblomow ein unvergängliches literarischen Denkmal gesetzt hat. Mit griechisch splén, englisch spleen, wurde meistens die Milz bezeichnet, die als Ursache für alle möglichen Verrücktheiten, also spleens, galt. Von der vom Herzen ausgehenden Flüssigkeit, dem Blut, lateinisch sanguis, wiederum ist der Sanguiniker, der muntere und kühne Mensch, geprägt. Diese medizinische Säftelehre oder Humoralpathologie (von lateinisch humor, Feuchtigkeit) hat bis ins 19. Jahrhundert die Medizin beherrscht, und entsprechend lebendig sind bis heute ihre Begriffe. Vor allem ist von dieser Säftelehre der internationale Begriff Humor geblieben, der ursprünglich jede durch die Körpersäfte verursachte Seelenstimmung bezeichnete, aber heute meist nur noch etwas Lustiges meint.
Die genauen Bezeichnungen der inneren Organe verdanken wir der antiken Medizin: Herz, Hirn, Lunge, Leber und Niere, um die wichtigsten zu nennen. Vom Herz war bereits die Rede. Das deutsche Wort Hirn, schwedisch hjarna, für den Inhalt des Kopfes ist unter anderem mit dem griechischen kára für Kopf verwandt. Auf dieses Wort geht wiederum das spanische cara für Gesicht ebenso wie die internationale Karotte zurück. Englisch brain für Hirn wiederum findet sich in der norddeutschen Bregen-wurst wieder, die ursprünglich aus Hirnmasse hergestellt wurde. Das lateinische Wort für Hirn, cerebrum, das allem zugrunde liegt, was in der Medizin zerebral heißt, ist wiederum mit kára verwandt. Auf Französisch heißt Gehirn nach dem lateinischen Wort cerveau, auf Italienisch cervello und auf Spanisch cerebro.
Lunge – englisch lung, russisch l’égkoje, bedeutete in den germanischen und slawischen Sprachen etwas Leichtes, entsprechend dem schaumartigen Aufbau des Lungengewebes. Das griechische Wort pneúmon (atmend) wiederum, von pneúma, Hauch, hat der Pneumologie oder Lungenheilkunde ihren Namen gegeben. Die Pneumologie ist nicht zu verwechseln mit der Pneumatologie – der spiritistischen Lehre von den Geistern oder der christlichen Lehre vom Heiligen Geist – und der Pneumatik, der Drucklufttechnik. Dem griechischen pneúma (von dem Wort kommen auch die Pneus, die Luftreifen) entspricht im Lateinischen pulmo für Lunge (siehe das Beatmungsgerät Pulmotor), und von pulmo sind die entsprechenden Wörter in den romanischen Sprachen abgeleitet: spanisch pulmón oder französisch poumon.
Das bekannteste Verdauungsorgan ist der Magen, schwedisch mage, was wohl ursprünglich so viel wie »Beutel« hieß. Auf Griechisch ist der Magen dagegen etwas, das hinter dem Mund, stóma – siehe Stomatitis, die Mundentzündung –, kommt: stómachos. Das Wort ist als stomachus ins Lateinische übergegangen und wurde darüber zum Ursprung der romanischen Wörter stomach, stomaco, estomac.
Die Leber heißt auf Griechisch hépar, und entsprechend ist eine Hepatitis eine Leberentzündung. Das griechische hépar hat sich auch im Lateinischen durchgesetzt. Hepar ficatum, Leber mit Feigen, war ein sehr beliebtes Gericht, und zwar so beliebt, dass die Leber bald nur noch nach der Beilage, der Feige, hieß, nämlich ficatum, italienisch fegato, französisch foie. Die germanischen und slawischen Wörter Leber, englisch liver oder russisch péčen’ haben keine solche kulinarische Geschichte; immerhin unterscheidet das Russische zwischen der anatomischen Leber, péčen’, und dem Lebergericht, pečónka.
Das griechische Wort nephrós für Niere ist mit dem germanischen Wort, schwedisch njure, verwandt. Nephrologie ist die internationale Bezeichnung für Nierenheilkunde. Das lateinische Wort renes für das paarige Organ ist zu französisch reins geworden. Italienisch rognoni und spanisch roñones für die kulinarische Verwendung von »Nierchen« haben denselben Ursprung. Woher das englische Wort kidney für Niere kommt, ist unbekannt; kindney pie, also ein mit Nierenfleisch gefüllter Kuchen, bleibt also ein ganz und gar englisches Phänomen.
Der Körper und seine Organe, und damit die Vorstellung, was den physischen Menschen ausmacht, ist, wie wir gesehen haben, den europäischen Sprachen weitgehend gemeinsam. Am deutlichsten wird das bei den äußeren Organen, mit denen wir Menschen uns sichtbar von den (anderen) Tieren unterscheiden: den Gliedmaßen und dem Kopf.
Auf ihren ältesten Vasenbildern stellten die Griechen die Menschen nicht eins zu eins dar wie ihre äußere Erscheinung, sondern so, wie es in ihren Augen der jeweiligen Bedeutung ihrer Körperteile entsprach: Die Männer hatten mächtige Schenkel und kräftige Schultern, aber eine ganz schmale Taille und zarte Füße und Hände; die Frauen hatten vor allem breite Hüften. Der Kopf war eher klein und nicht so wichtig. Die Kraft der Gliedmaßen und die Gebärfähigkeit des Beckens waren in diesen harten Zeiten entscheidend fürs Überleben von Individuum und Art.
Ge-lied ist ein kollektiver Singular und bedeutet alle möglichen Glieder im Unterschied zu einem einzelnen, das im schwedischen led oder englischen lim(b) überlebt hat. Im Deutschen ist der Wortstamm von lied noch in der Elle lebendig. Die Elle stand maßgeblich für einen Körperteil, der sich in einem Winkel zu einem anderen bewegen konnte, was wohl die älteste Bedeutung von Glied war. Die beweglichen äußeren Teile des Körpers also sind seine Glieder, vor allem die Arme und Beine samt Händen und Fingern, Füßen und Zehen – aber auch das Glied, das nur Männer haben und das meist mit einem tierischen Glied verglichen wird, dem Schwanz, der auf lateinisch penis heißt.
Glieder, lateinisch membra, englisch members, französisch membres, italienisch membra, spanisch miembros, sind im übertragenen Sinn auch die Mitglieder einer Körperschaft, einer Kirche, eines Vereins, einer Partei oder Gewerkschaft. Ein Glied ist auch eine Abteilung in einer Glied-erung, und jeder in einem Verein ist nur ein Glied in einer Kette. Diese übertragenen Bedeutungen gibt es auch in den slawischen Sprachen, wo ein Kettenglied wie das Mit-glied etwa in einer Partei russisch člen oder polnisch człon heißt. Alle Glieder aber folgen dem Kommando innerer Organe – des Kopfes, wie Plato dachte, oder eher des Magens, von dessen Verdauungsleistung die Kraft der Glieder abhängt, wie Menenius Agrippa, ein Konsul aus der Frühzeit Roms, argumentierte: Damals wollte die Plebs, wollten die einfachen Leute aus Rom ausziehen, weil sie die Arroganz der Patrizier satthatten. Doch die Glieder der Gesellschaft mussten einsehen, dass sie ohne den Magen nicht existieren konnten, und blieben in der Stadt. Und so ist es bis heute geblieben: Die Gliederungen der Gesellschaft machen das, was die Reichen, die Verdauungsorgane der Gesellschaft, von ihnen verlangen. Vielleicht aber werden die arbeitenden Gesellschaftsglieder irgendwann einmal einen Streik – von englisch strike, Schlag – wagen, ohne sich von den Reichen sogleich ins Bockshorn jagen zu lassen.
Die Wörter für die einzelnen Glieder sind in den europäischen Sprachen oft verschieden, aber die Ordnung der Glieder ist im Wesentlichen gleich. Als wichtigste der Gliedmaßen gilt meist die Hand, das geschickte Glied, das die Menschen mindestens ebenso wie der aufrechte Gang von den Tieren unterscheidet. Das germanische Wort hand entspricht dem lateinischen manus – italienisch mano, französisch main. Das slawische Wort, russisch ruká, polnisch ręka, ist mit griechisch ageírein, sammeln, verwandt, wovon auch die agorá, der griechische Markt, kommt. Von derselben indoeuropäischen Wurzel *gher für halten stammt auch das gewöhnliche griechische Wort cheír, neugriechisch chéri, für Hand, das wir vom Chiropraktiker, dem Chirurgen (eigentlich: Handwerker) oder von der Chiromantie (dem Wahrsagen aus der Hand) her kennen. Von derselben Wurzel wie Hand wiederum stammt auch das germanische Wort halten – englisch hold, dänisch holde. Denn das Wesentliche an den Händen ist, dass sie etwas sammeln und festhalten, dass sie ein Werkzeug oder eine Waffe halten und auf geschickte Weise führen können.
Durch den aufrechten Gang, so heißt es, seien die Hände frei geworden für alle möglichen Verrichtungen: Dinge mit Werkzeugen bearbeiten, Waffen schwingen, bald auch zeichnen, später sogar schreiben zu können. Die Freiheit der Hände, die es den Menschen erlaubt, die Geliebte oder den Geliebten auf für Tiere unbekannte Art zu liebkosen, habe auch der Liebe eine neue Dimension gegeben. Die Anthropologen vermuten weiterhin, dass die Gegenüberstellung von Fingern und Daumen, die das Greifen und Halten ermöglicht hat, die menschliche Hand von der anderer Primaten unterschieden habe; und parallel zu den Fähigkeiten der Hand habe sich auch das menschliche Gehirn entwickelt. Gewiss richtig ist an dieser Theorie, dass Glieder und Gehirn aufeinander angewiesen sind. Ruká ist wie englisch hand als pars pro toto zur Bezeichnung für Arbeitskraft geworden, so wie im Deutschen euphemistisch von »vielen fleißigen Händen« die Rede ist, die ein Produkt erschaffen. Auf Französisch heißt Arbeitskraft main d’œuvre (Arbeitshand). Von main d’œuvre kommt auch das Wort Manöver für eine von vielen Händen vollführte Operation.
Die Hand ist abhängig von dem Arm, an dem sie sitzt, und der ist vor allem der starke Oberarm mit dem Bi-zeps, dem, wie die Bedeutung des lateinischen Worts ist, »an zwei Enden zufassenden« größten Armmuskel. Das germanische arm ist gleichbedeutend mit dem lateinischen armus, der vor allem der Oberarm war. Von dieser ursprünglichsten aller Waffen stammt das romanische Wort für Waffe ab: lateinisch arma, französisch arme, englisch arm.
So, wie der Arm der Hand die Kraft zum Schlagen, zum Werfen verleiht, verleiht er dem Menschen aber auch die Kraft zum Umarmen und Liebkosen, französisch embrasser, von bras, Arm. Em-bras-ser bedeutet eigentlich umarmen, heute aber vor allem küssen, denn das ältere Wort für küssen, baiser – wie das Zuckergebäck –, hat heute die Bedeutung »Sex haben« angenommen.
Französisch bras für Arm stammt von einem anderen lateinischen Wort für Arm, brachium, ab, das die Römer aus dem Griechischen übernommen haben, wo das Wort brachíon wie lateinisch armus vor allem den Oberarm bedeutet, von dem die Brachialgewalt ausgeht. Auch die anderen romanischen Wörter für Arm stammen von brachium ab: spanisch brazo und portugiesisch braço. Vom italienischen braccio hat die Bratsche, die Armgeige, ihren Namen. Das russische und polnische Wort für Arm ist dasselbe wie das für Hand: ruká beziehungsweise ręka. Hier ist es der Arm mitsamt der Hand, der handelt.
Das Bein haben die Europäer erst in der Neuzeit als einheitlichen Körperteil begriffen. Entsprechend verschieden sind die Wörter dafür. Griechisch skélos bedeutet Schenkel, und das Wort ist wahrscheinlich auch mit dem deutschen Schinken verwandt, dem getrockneten Schenkelfleisch vorzugsweise des Schweins. Griechisch Skelís, die getrocknete Keule eines Tiers, also wiederum der Schinken, ist mit skéleton verwandt, dem griechischen Wort für eine andere Art getrockneten Fleisches, nämlich der Mumie, der wir unser Skelett zu verdanken haben.
Schenkel, englisch shank, schwedisch skänkel, ist das Wort, das den alten Vorstellungen von Bein am nächsten kommt. Mit Schenkel ist vor allem der Oberschenkel mitsamt dem größten Körpermuskel, dem gluteus maximus, der den Hintern formt, gemeint. Auf Russisch ist das Wort für Bein, nogá, fast identisch mit dem Wort nóžka für Schenkel. Aber nogá heißt auch Fuß, und das Wort ist verwandt mit dem deutschen Nagel. Nägel und Klauen galten also auch einmal als charakteristisch für die unteren Extremitäten – die »Äußersten«, wie Beine und Arme des Menschen auf Lateinisch heißen.
Das deutsche Wort Bein bezeichnet wie englisch bone eigentlich einen Knochen, einen Teil des Ge-beins, das einem unaufgeräumten Skelett entspricht. Der größte Knochen des Gebeins ist der Oberschenkelknochen, der im Latein der Ärzte femur heißt. Aber femur war im Lateinischen nicht der Knochen, sondern der Schenkel selbst. Auch das spätlateinische gamba bezeichnet einen Schenkel, und zwar zunächst den eines Pferdes. Daraus wurde das italienische Wort gamba für Bein, von dem sich die Gambe, die Kniegeige, herleitet – und das französische jambe. Von jambe wiederum ist das französische Wort für Schinken abgeleitet, der jambon heißt, ähnlich wie auch auf Spanisch: jamón. Das gewöhnliche spanische Wort für Bein wiederum, pierna, kommt von dem lateinischen perna für Schinken … Manchmal drehen sich die Wörter im Kreis, und nicht nur in unserem Kopf.
Im Schwedischen bedeuten ben und skank sowohl Bein als auch Schenkel, also das, was im Deutschen Bein und im Englischen leg heißt. Das englische leg ist mit limb verwandt und bedeutete ursprünglich einfach Glied. Der oberste Teil der Schenkel, da, wo sie sich vereinigen und zugleich durch eine Falte, lateinisch fissum, getrennt sind, heißt auf Französisch fesses, was das deutsche Hintern nur schlecht wiedergibt. Fesses ist im heutigen Französisch das feinere Wort für cul – Hintern oder Arsch –, was von lateinisch culus kommt und seine Entsprechung im italienischen und spanischen culo hat. Von cul hatten die Kniehosen der Rokokozeit, die cul-ottes ihren Namen. Die Sans-culotten, die keine Knie-, sondern lange Hosen trugen, waren das Volk, das auf den Straßen von Paris die Französische Revolution machte. Heute ist culottes die französische Bezeichnung für Unterhosen oder Slips. Das altgriechische Wort für den menschlichen Hintern war pygé, und die antike Venus, die uns ihren schönen Hintern zeigt, heißt kallí-pyge, »die mit dem schönen Hintern«.
Das Bein, auch wenn es in den europäischen Sprachen vor allem mit dem kraftvollen Oberschenkel identifiziert wird, besteht nicht nur aus Ober- und Unterschenkel, sondern wesentlich auch aus dem Fuß. Für den Fuß haben die meisten europäischen Sprachen ein gemeinsames altes Wort: griechisch poús, germanisch foot, fot oder Fuß und lateinisch pe(d)s – daher italienisch piede, spanisch pie, portugiesisch pé, und französisch pied. Nur für die slawischen Sprachen, die auch schon zwischen Hand und Arm nicht differenziert hatten, ist das Wort für Bein, nogá oder ähnlich, dasselbe wie für Fuß.
Was das Bein, genauer: beide Beine zusammen machen, ist gehen – baínein, ire, idtí, aller, andar oder go. Die Hand aber erlaubt uns zu handeln, zu handhaben, zu schlagen, umarmen. Alle diese Körpertätigkeiten machen unsere Intelligenz mit aus, und für ihre Koordination ist traditionell der Kopf – wir sagen heute: das Gehirn – zuständig.
Kephalé ist das alte griechische Wort für Kopf. Man nimmt an, dass die älteste Form des Worts *chefalé gelautet haben muss, was eine Verwandtschaft zu Schädel nahelegt. Schädel hat wieder mit Schale zu tun, denn in der Tat wurde einst der Knochen der Hirnschale als Trinkschale benutzt. Das russische Wort für Kopf oder Haupt, golová oder glavá, gehört zur selben Wortgruppe, ebenso wie das lateinische calva für Schädel, wonach die »Schädelstätte« des antiken Jerusalem benannt ist, die in der christlichen Literatur Kalvarienberg heißt – eine Übersetzung aus dem aramäischen Golgota. Calvus, also »schädelig«, bedeutet wiederum kahl im Sinne von Glatzkopf. Kahl ist ein altes Lehnwort aus dem Lateinischen, natürlich von calvus, und so heißt der Karolingerkönig Karolus Calvus auf Französisch Charles le chauve und auf Deutsch Karl der Kahle.
Vom Schädel und seinen europäischen Verwandten unterscheidet sich auf den ersten Blick das Wort Kopf oder kop. Es kommt aber ebenfalls von einem romanischen Wort für eine Schale oder einen Becher – lateinisch cuppa, französisch coupe, englisch cup, russisch kub oder kúbok – und bezeichnete unter anderem die Hirnschale. (Die cuppa oder Schale war wiederum der Abkömmling eines größeren Gefäßes, der cupa, der Kufe oder des Fasses – schwedisch fat, englisch vat. Auf Französisch heißt das Fass cuve, von wo sich die cuvée, ein aus einer Reihe von Fässern abgefüllter Weinverschnitt, ableitet. Küfer heißen die, die das weitgehend ausgestorbene Handwerk des Fassmachens noch beherrschen. Fässer waren im Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert die universalen Vorratsbehälter. Die Römer der klassischen Zeit kannten noch keine Fässer; deshalb griffen sie später für ihre Bezeichnung auf ein altes Wort für ein hohles Gefäß zurück, eben cuppa.)
Das lateinische Pendant zu Kopf ist außer cuppa auch caput. Das Wort ist, wie wir schon ahnen, mit der Schale – eben cuppa – ebenso verwandt wie mit der Kappe und der Haube, die den Kopf bedeckt. Caput bedeutet aber mehr als nur den anatomischen Kopf. Denn nach Meinung Platos und anderer Philosophen sollte der Kopf der Chef – wie das von caput abgeleitete französische Wort für Kopf heißt – des ganzen Körpers sein, der alle anderen Körperteile, vor allem den Unterleib, zu disziplinieren hat. Caput als Chef ist auch der capo oder capitano, der Hauptmann, der über seine Kompanie herrscht. Und das Kapital beherrscht die ganze Welt. Von französisch chef leitet sich auch der spanische jefe her. Auch im Russischen ist der Chef ein šef, wenn er nicht glavá, also Kopf, heißt. Alles Wichtige ist für Russen glávnyj, Chef- oder Haupt-sache.
Verwandt mit caput sind die germanischen Wörter wie deutsch Haupt, dänisch hoved, englisch head, die sämtlich nicht nur den Kopf als Körperteil, sondern haupt-sächlich den Chef, den Haupt-mann, die Haupt-verwaltung und so weiter bezeichnen. Von einer spätlateinischen Verkleinerungsform für caput, capitia, stammen spanisch und portugiesisch cabeza oder cabeça für Kopf und englisch cabbage für einen Kohlkopf ab – der im niederrheinischen Dialekt Kappes heißt.
Das gängige französische Wort für Kopf, tête, stammt wie sein italienisches Äquivalent, testa, von der lateinischen testa ab, die wie cuppa eine der Hirnschale ähnelnde keramische Scherbe oder eben ein Gefäß bezeichnet. Testa ist das Partizip Perfekt zu lateinisch torrere, brennen oder rösten. Eine testa wird im Ofen gebrannt, und der italienische caffè wird in einer torrefazione