6,99 €
Das Ende ist nahe – schon immer. Ingo Reuter untersucht, warum Erzählungen vom Untergang seit jeher Konjunktur haben und was sie bewirken können. Denn wer von Weltuntergängen spricht, der redet immer auch von Gerechtigkeit und denkt in die Zukunft. Wer kann sich am Ende retten? Was hat es mit dem Menschen auf sich, dass er verantwortlich für seinen eigenen Untergang sein kann? Und besteht Hoffnung auf Rettung? Reuter zeigt an Weltuntergangserzählungen von biblischer Zeit bis heute, aber auch an Filmen und Videospielen, warum die Menschheit nicht ohne imaginierte Untergänge auskommt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 102
Ingo Reuter
Weltuntergänge
Vom Sinn der Endzeit-Erzählungen
Reclam
E-Book-Leseproben von einigen der beliebtesten Bände unserer Reihe [Was bedeutet das alles?] finden Sie hier zum kostenlosen Download.
2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2020
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961696-4
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019678-6
www.reclam.de
Am 25. Januar 2018 wurde die symbolische »Uhr des Weltuntergangs«, auch »Uhr des Jüngsten Gerichts« genannt, von einem Gremium aus Wissenschaftlern (unter ihnen 15 Nobelpreisträger) auf zwei Minuten vor zwölf vorgestellt. Anscheinend ist das Ende nahe, leben wir in einer Endzeit. Das ist nicht unbedingt ein neuer Befund: Grimmelshausen begann seinen berühmten Roman Simplicissimus von 1669 mit der Bemerkung, das Ganze spiele »zu dieser unserer Zeit (von welcher man glaubt / daß es die letzte sei)«.1 In Sicherheit wiegen sollte uns das allerdings nicht.
Im Januar 2019 beginnen deutsche Schüler auf die Straße zu gehen, um gegen den Klimawandel zu protestieren. Dass die Welt in Stürmen und Fluten unterzugehen oder auch einfach nur zu veröden droht, erscheint ihnen wichtiger als die Schulpflicht. Und sie sind bereit, dafür Konsequenzen auf sich zu nehmen, die ihnen sofort durch die staatlichen Ordnungsorgane angedroht werden. Aber Konsequenzen unseres Lebensstils drohen ihrer Generation ohnehin. Und zwar weit schlimmere.
Greta Thunberg ist das Aushängeschild dieser Bewegung. Ihre Popularität führte dazu, dass sie auf der Weltklimakonferenz in Kattowitz im Dezember 2018 eine Rede halten durfte, in der sie herausstellte, wie das politische Versagen angesichts des Klimawandels die Welt in den Untergang treibe.
Was ich auf dieser Konferenz zu erreichen hoffe, ist die Erkenntnis, dass wir einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt sind. Dies ist die größte Krise, in der sich die Menschheit je befunden hat. Zuerst müssen wir dies erkennen und dann so schnell wie möglich etwas tun, um die Emissionen aufzuhalten, und versuchen, das zu retten, was wir noch können.
Der schleichende Wandel des Klimas konnte anscheinend bisher mehr oder weniger erfolgreich ignoriert werden. Doch plötzlich hört man für Klima und Gerechtigkeit engagierten Jugendlichen zu. Was ist passiert? Und worum geht es bei diesen Protesten eigentlich?
Es geht nicht nur um das Klima. Es geht auch darum, dass eine junge Generation gegen das Gerede der Alten von der Alternativlosigkeit ankämpft, ihren Erzählungen von einer verplanten, unabänderbaren Zukunft einfach nicht mehr glaubt. Die Jungen stellen mit Nachdruck die Frage, welches Weltverhältnis wir eigentlich haben, und versuchen, Machtstrukturen durch kreative Formen des Widerstands aufzubrechen. Dabei spielt Kommunikation über die sozialen Medien eine erhebliche Rolle. Andere Erzählstrategien greifen: Greta Thunberg ist eine Symbolfigur, die extrem schnell extrem viele Mitstreiter mobilisieren konnte und kann. Die entsprechenden Bilder zur Geschichte vom Mädchen, das aufgebrochen ist, die Welt zu retten, werden gleich mitgeliefert: auf dem Segelschiff, in wütender Frustration auf der UN-Klimakonferenz, vor dem Mikrophon vor Zehntausenden von Schülern, im Zug auf der Rückreise. Über die Ernsthaftigkeit des realen Problems hinaus wirkt das inzwischen wie eine klug inszenierte Erzählung: dass für uns eine kleine, aber sehr bedeutsame Kämpferin eintritt, wir noch eine Chance haben und gerettet werden können. Bei aller realen Dringlichkeit ihres Anliegens verwandelt sich die Aktion, in der Realität nahezu zeitgleich über die sozialen Medien vermittelt, in eine Story – mit allen Chancen und Gefahren, die das mit sich bringt. Wo Greta auftaucht, wollen sich nun Prominente und Politiker mit ihr fotografieren lassen, wollen Teil der Geschichte des Mädchens werden, das die Welt vielleicht noch retten wird. Und die Gefahr von Stillstellung und Vereinnahmung steigt.
Aber auf der anderen Seite: Von jeher haben sich die Menschen an Erzählungen des Kampfes der scheinbar machtlosen Guten gegen die überlegenen Bösen gestärkt: vom biblischen David, der gegen den riesenhaften Goliath siegt, bis zum Hobbit Frodo im Kampf gegen den dunklen Herrscher Sauron. Dass der Zynismus der Macht nicht das letzte Wort habe, dass es eine Rettung in der Katastrophe gibt, wollen wir auch heute gerne glauben. Und diese Hoffnung setzt erhebliche Kräfte frei.
Es sind aber nicht allein die Erzählperspektiven, die sich aus den neuen Medien ergeben, die die Bewertung und den Zulauf zu dieser Bewegung prägen. Entscheidende gesellschaftliche Fragen werden hier ins Blickfeld gerückt. Wer von Weltuntergängen spricht, der redet zugleich von Gerechtigkeit. Denn die Frage war schon immer: Wer kann sich am Ende retten? Für wen geht die Welt nicht unter, sondern geht das Leben (nur irgendwie oder gar luxuriös) weiter? Wer hat einen Platz auf der Arche reserviert und zu welchem Preis? Und diese Fragen stellen sich nicht nur im Zusammenhang mit Klimaveränderungen, sondern grundsätzlich im Zusammenhang mit Versorgungssicherheit: Wer kann sich noch Medikamente leisten gegen Epidemien, die in Teilen der Welt immer wieder um sich greifen und irgendwann (wer hätte damit gerechnet?) vielleicht auch die reichen Nationen treffen? Für wen ist Platz im Bunker, und wer muss leider draußen bleiben?
So drängend die Frage der Gerechtigkeit, fast noch wichtiger ist diejenige nach der Schuld. Allzu leicht wird inzwischen die Frage nach einer gerechten Weltwirtschaftsordnung im Alltag umgebogen zu einer Frage nach dem individuellen Lebensstil. So, als könnte der fleischlose Tag pro Woche oder der Umstieg auf Papiertüten die Welt ernsthaft verbessern. Die Geschichten darüber, wie die Welt ein schönerer Ort werden kann, wenn nur jeder seinen kleinen Beitrag leistet, überzeugen wenig, ja, vermutlich tragen sie eher auf subtile Weise dazu bei, den Weg in den Untergang zu zementieren. Es sind Geschichten, die auf Anhieb schön klingen, sich in der Praxis aber als destruktiv erweisen. Wenn der Einzelne am Ende verzweifelt feststellt, dass er nichts ändern kann, es sei denn, er (und mit ihm viele andere) veränderte sein ganzes Leben von Grund auf, sieht sich das System gefestigt. Dass massive Interessen der Industrie und Wirtschaft und deren brutales Kapitalinteresse der Hauptfaktor der Zerstörung sind, gerät elegant aus dem Blick.
Die Katastrophe ist schon lange da. Mit Walter Benjamin könnte man sagen, dass sie darin besteht, dass alles so weitergeht. Die Menschheit zerstört die Ressourcen der Erde und gefährdet damit ihr Fortbestehen. Die Geschichten, die vom Weltuntergang erzählt werden, verdichten und berichten im Zeitraffer über diesen Zerstörungsprozess und über mögliche Rettung in der Katastrophe. Die Fragen lauten: Wie kann es nach dem Untergang weitergehen? Wie hätte es vorher anders laufen können, bevor alles unabwendbar aus dem Ruder lief? Welchen Geschichten glauben wir? Und warum? Vor allem jedoch: Was ist das für ein Wesen, das über seinen selbstgemachten Untergang fabuliert?
Ein Atomkrieg hat die Erde zerstört. Der blaue Planet ist für Menschen durch die radioaktive Strahlung unbewohnbar geworden. Lediglich auf einer Raumstation, die die Erde 97 Jahre nach der Katastrophe immer noch umkreist, gibt es Überlebende. Eines Tages soll vielleicht eine Rückkehr möglich sein aus der Ark, der »Arche«, wie die Station heißt, zurück auf die Erde. Doch die Luft geht den Menschen in der Ark schneller aus als erwartet. Darum wird eine Gruppe von 100 jungen Leuten ausgewählt, die auf die Erde zurückkehren sollen. Vielleicht ist ja doch schon ein Neuanfang möglich. Denn das wäre die einzige Chance …
So beginnt die nach einer Buchreihe von Kass Morgan, deren erster Band 2013 erschien, gedrehte Fernsehserie The 100 (USA2014 ff.) um eine atomare Katastrophe, die Schuld an der Zerstörung und den Neuanfang.
Woher kommt die Radikalität, die Absolutheit solcher und anderer Geschichten vom Weltuntergang, die seit den 1950ern boomen und unterschiedliche Szenarien entfalten? Mit der Zündung der ersten Atombombe hatte sich etwas Grundlegendes geändert: Seitdem ist der Mensch in der Lage, diesen Planeten einschließlich der Menschheit völlig zu vernichten. Der Weltuntergang – betrachtet man als »Welt« die Erde – ist auf unterschiedliche Weise nicht nur denkbar, sondern buchstäblich »machbar« geworden. Moderne Geschichten über den Weltuntergang erzählen deshalb zumeist von dem, was der Mensch an Zerstörung auslöst durch Kriege, Viren, Umwelt- und Klimazerstörung. Der Weltuntergang ist hierbei immer das vorzeitige Ende des Planeten Erde, genau genommen seiner Bewohnbarkeit für bzw. durch Menschen. Erzählt wird, wie der Mensch diesen Untergang erlebt, welche Schuld er an ihm trägt, was noch zu retten ist. Denn der Mensch denkt vom Menschen her und in aller Regel auch nicht daran, dass die Sonne sich in etwa 5 bis 7 Milliarden Jahren zum roten Riesen aufblähen und die Erde so oder so unausweichlich verschlingen wird. Jenseits der kosmologischen Kränkung, dass die Erde nicht im Zentrum des Universums steht, sondern ein unbedeutendes Staubkörnchen irgendwo am Rande ist, möchte der Mensch, dass es mit der Menschheit noch einige Generationen weitergehe. Ihn treibt dabei aber die Sorge um, dass es viel schneller zu Ende gehen könnte als gedacht. Vom Weltuntergang lässt sich deshalb umso plastischer erzählen, je spektakulärer, umwälzender und eruptiver das Ereignis ist: Das eine Virus, der eine Krieg, die eine Invasion aus dem All, und alles wird von jetzt auf sofort völlig anders. Solche Erzählungen verdichten den Prozess des Untergangs in für Leser und Zuschauer einfacher wahrnehmbare Formen. Zunehmend wird es schwieriger, die Bedrohung im Blick zu behalten, wird sie doch, wie soll man sagen, schleichender? Mit einiger Berechtigung spricht Eva Horn deshalb von einer »Katastrophe ohne Ereignis«.2
Die Weltuntergangserzählungen provozieren die Frage, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Was haben wir getan? Wer ist schuld daran? Oder anders gefragt: Was hat es mit dem Menschen auf sich, dass er offenbar verantwortlich für seinen eigenen Untergang geworden ist? Und gibt es noch eine Rettung im Untergang? Fragen, die sich alle Erzählungen vom Weltuntergang stellen müssen.
Dabei ist an diesen Erzählungen einiges merkwürdig: Nicht nur die Schnelligkeit der Veränderung ist für sie typisch, sondern besonders die Tatsache, dass es immer auch zumindest einige Überlebende gibt (was auf den ersten Blick gar nicht so selbstverständlich ist). Dramaturgisch ist das logisch, denn ohne Darsteller keine Handlung. Und wer erzählt, der muss an eine Handlung glauben. Zumindest muss noch jemand übrig sein, der erzählen kann, wie es so kam. Jeder, der erzählt, richtet sich außerdem an ein Publikum, denn sonst würde er nicht erzählen, würde er gar nicht erzählen können. Indem der letzte Mensch erzählt, richtet er sich (auch) an das Publikum vor dem Untergang, von Günter Grass’ Rättin über Cormack McCarthys expressionistisch-reduzierte Vater-Sohn-Gespräche in seinem Weltuntergangsroman The Road bis hin zu Metro 2033/2034/2035 von Dmitry Glukhovsky über Überlebende eines Nuklearkriegs, die sich in der Moskauer U-Bahn irgendwie am Leben erhalten.
Genauer betrachtet erzählen die Weltuntergangserzählungen also weniger vom Weltuntergang als vom Überleben (einiger) im Geschehen des Untergangs. Gänzlich unverzichtbar ist diese Perspektive für postapokalyptische Computerspiele, in denen der Avatar des Spielers in einer zerstörten Welt bestehen und – mit zunehmender Qualität der Spiele – auch (moralische) Entscheidungen treffen muss, wie er das schaffen will. Doch geht es in den Geschichten, die in Film, Buch oder Spiel erzählt werden, vor allem darum, wie man sich, seine Familie oder am Ende gar die Welt retten kann – zumindest den Menschen und sein Überleben als Gattung, wie z. B. im Film I am Legend (USA2007), der mindestens dritten Verfilmung des Science-Fiction-Klassikers von Richard Matheson aus dem Jahre 1954 (auch das ist interessant: Endzeiterzählungen werden gerne recycelt und den neuen Realitäten der jeweiligen Gegenwart angepasst). Das Geschehen des Weltuntergangs wird also zumeist aus der Perspektive einer Rettungsgeschichte erzählt und eröffnet den Ausblick auf einen Neubeginn. Oder es setzt, wie die amerikanische Fernsehserie The 100, direkt mit dem Neubeginn ein, von dem aus der Blick auf die Geschichte des Untergangs gerichtet wird. Damit rücken viele solcher Erzählungen in die Nähe von Utopien und Dystopien, je nachdem, wie der Verlauf des Lebens nach dem Neubeginn gezeichnet wird.