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Ein Roman, so bunt wie Südtirol und so liebenswert wie seine Menschen – von Bestsellerautorin Lisa Torberg. Liesi Thaler lebt mit ihrer neunzigjährigen Großmutter Filomena auf dem Apfelhof. Wie schon die Frauen vor ihr führt sie das Erbe ihrer Familie fort. Ihr Heimatort unweit von Meran ist ein beschauliches Fleckchen, seine Einwohner freundlich, das Leben von gegenseitigem Respekt geprägt. Doch dann kommt es zu eigenartigen Vorkommnissen auf ihren Apfelwiesen. Die Ernte, und somit ihre Existenz, steht auf dem Spiel. So geht sie auf den Vorschlag des Bürgermeisters ein und stellt ihren Hof als Drehort für einen Film zur Verfügung. Der Regisseur entpuppt sich jedoch als gewalttätiger Säufer, und Bertl, ihr bester Freund seit Kindertagen, meldet plötzlich Besitzansprüche auf sie an. Schließlich tritt auch noch der Filmproduzent Chris Bergmann in ihr Leben, der Interesse an ihrem Hof und im Besonderen an den drei uralten Apfelbäumen vor dem Haus zu haben scheint. Weshalb interessiert er sich für die Geschichte ihrer Familie? Je näher Liesi dem attraktiven Mann kommt, umso verwirrter ist sie. Welches Geheimnis verbirgt er?
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Ein Roman, so bunt wie Südtirol und so liebenswert wie seine Menschen.
Liesi Thaler lebt mit ihrer neunzigjährigen Großmutter Filomena auf dem Apfelhof. Wie schon die Frauen vor ihr führt sie das Erbe ihrer Familie fort. Ihr Heimatort unweit von Meran ist ein beschauliches Fleckchen, seine Einwohner freundlich, das Leben von gegenseitigem Respekt geprägt. Doch dann kommt es zu eigenartigen Vorkommnissen auf ihren Apfelwiesen. Die Ernte, und somit ihre Existenz, steht auf dem Spiel. So geht sie auf den Vorschlag des Bürgermeisters ein und stellt ihren Hof als Drehort für einen Film zur Verfügung.
Der Regisseur entpuppt sich jedoch als gewalttätiger Säufer, und Bertl, ihr bester Freund seit Kindertagen, meldet plötzlich Besitzansprüche auf sie an. Schließlich tritt auch noch der Filmproduzent Chris Bergmann in ihr Leben, der Interesse an ihrem Hof und im Besonderen an den drei uralten Apfelbäumen vor dem Haus zu haben scheint. Weshalb interessiert er sich für die Geschichte ihrer Familie? Je näher Liesi dem attraktiven Mann kommt, umso verwirrter ist sie. Welches Geheimnis verbirgt er?
INHALTSANGABE
Wenn Apfelbäume sprechen könnten
Einleitung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Wenn Apfelbäume tanzen könnten
Die Autorin
Impressum
EINLEITUNG
Mela ist ein bezaubernder Ort im Etschtal, geprägt von seinen Apfelwiesen und Weinbergen und dem historischen Ortszentrum. Der Hausberg, auf dessen Abhang das mittelalterliche Schloss (im Bild) über der Felsschlucht und dem Fluss thront, ist ebenso Teil der Idylle wie die Menschen, die dort leben. Ich liebe dieses Fleckchen Erde, seitdem ich zum ersten Mal meinen Fuß darauf gesetzt habe. Niemals hätte ich mir vorstellen können, damals, als ich aus beruflichen Gründen für einige Zeit nach Südtirol zog, hier eine weitere Heimat zu finden. Doch genau das ist geschehen. Mittlerweile sind mehrere Jahre vergangen, in denen ich Mela dieselben Gefühle entgegenbringe wie London, Rom und Sizilien, aber auch denjenigen, die ich kennenlernen durfte und die mir Freunde wurden. Ihnen widme ich diesen Roman und löse mein Versprechen ein, sie in den Personen der Geschichte auf die eine oder andere Art zu verewigen. Doch konnte ich in diesem Buch nur einen Teil von dem unterbringen, was mir am Herzen liegt – und so wird dies sicher nicht mein letzter Südtirol-Roman bleiben.
Sollten Sie nun Mela auf der Karte suchen, so muss ich Sie enttäuschen, denn Sie werden es nicht finden. Mela ist das italienische Wort für Apfel und war somit die naheliegende Wahl für den Namen des Handlungsorts, was sich Ihnen beim Lesen erschließen wird. Die Beschreibungen der ortstypischen Merkmale stimmen nicht hundertprozentig mit der Realität überein – aber wer das wahre Mela kennt, wird unschwer erraten, wo sich der meiner Fantasie entsprungene Apfelhof befindet.
Schlussendlich weise ich mit Nachdruck darauf hin, dass keine der in diesem Roman erwähnten Personen einer real existierenden nachempfunden ist und ihre Charakterzüge, physischen Merkmale und ihre Handlungen meiner Fantasie entsprungen sind.
Bleibt mir nur noch, zu hoffen, dass ich Ihnen mit dieser Südtiroler Geschichte kurzweilige, intensive und zugleich entspannende Lesestunden bereiten kann. Falls Sie sich zwischen den Zeilen in diesen wundervollen Ort und den Apfelhof verlieben sollten und mehr wissen wollen, so können Sie mir jederzeit schreiben. Gefällt Ihnen der Roman, empfehlen Sie ihn bitte weiter. Gern auch in Form einer Rezension, die das Salz in der Suppe eines jeden Autors und anderen Lesern ein Hinweis sind.
Viel Freude bei der Lektüre wünscht Ihre Lisa Torberg.
KAPITEL 1
»Jetzt gib schon her!« Liesi streckte den Arm aus und ergriff ungeduldig den Schläger, den ihr der Caddie reichte. Sie wog ihn nachdenklich in der Hand, während ihr Blick in die Ferne schweifte. Dann stellte sie sich mit leicht gegrätschten Beinen in Position, schob den Schirm ihres Käppis ein wenig höher auf die Stirn, umfasste den Griff und schaute konzentriert nach unten. Vorsichtig, fast zärtlich, berührte sie den kleinen weißen Ball. Schließlich bewegte sie den Schläger wie ein Pendel vor und zurück, holte schwungvoll aus – und traf den Bertl zwischen den Beinen.
Er schrie auf und fiel nach hinten.
»Idiot!«, rief sie aus und sah auf das gestandene Mannsbild, das rücklings auf dem weichen Abschlag der fünften Bahn lag und nach Luft rang.
Jeder hätte jetzt in ihr eine unsensible Person vermutet, eine der Frauen, die sich um nichts und niemanden als sich selbst kümmerten. Davon gab es im Ort einige; aber wenn eine nicht dazugehörte, dann die Liesi Thaler. Nur zeigte sie ihre sensible Seite nicht. Nicht, weil sie nicht wollte, sondern da sie von klein auf gelernt hatte, dass sie mit einem Panzer besser dran war und problemloser durchs Leben kam. In diesem besonderen Moment jedoch, weil sie es nicht durfte.
Sie seufzte genervt, ließ den Schläger zu Boden fallen und streckte dem Bertl den Arm entgegen.
»Jetzt stell dich nicht so an. Steh auf!«
Wie ein Hirschkäfer lag er auf dem Rücken, eine Hand schützend über den Hosenstall haltend, kniff die Augen zusammen – er würde doch nicht weinen! – und presste die Lippen fest aufeinander. Dann schüttelte er den Kopf.
»Du bisch a Depp!«, zischte sie und wandte sich ab.
Der Caddie hielt ihr den Griff des Schlägers hin. Seine Anwesenheit war absolut überflüssig, aber zumindest war mittlerweile klar, dass er einfach nur den Mund halten und die Statistenrolle spielen sollte, für die er bezahlt wurde. Der Ball lag immer noch auf seinem Platz und wartete darauf, abgeschlagen zu werden. Trotzdem bückte sie sich, hob ihn an, legte ihn zurück und richtete sich wieder auf. Dabei fühlte sie sich schrecklich. Und lächerlich.
Je rascher sie vorankam, desto früher konnte sie diese Farce, die ihr der Bürgermeister aufs Auge gedrückt hatte, beenden.
Wie vorgesehen schaute sie kurz nach rechts, um sicherzugehen, dass sich nicht noch irgendein Mann an sie herangetraut hatte, holte aus – und schlug ab. Ihr Blick folgte dem Ball. Sie vermied es, sich irgendetwas anmerken zu lassen, und fingerte die Sonnenbrille aus dem freizügigen Ausschnitt, der ihr Dekolleté kaum verbarg, und setzte sie auf. Erst als ihre Augen hinter den verspiegelten Gläsern verschwunden waren und ihr Gesicht im Schatten des Käppi-Schirms lag, erlaubte sie sich ein ganz privates Schmunzeln, das die Fältchen in ihren Augenwinkeln vertiefte. Allerdings achtete sie peinlichst darauf, dass es ihre Mundwinkel nicht erreichte. Sie musste professionell bleiben, bis der Ball im Loch und somit ihre Aufgabe erledigt war.
Dieser blinde Abschlag der fünften Bahn verlangte jedem Spieler einiges an Präzision ab und war alles andere als einfach. Doch sie hatte es geschafft. Wie so oft, murmelte ihr Unterbewusstsein. Ja, ihr Abschlag war gut gewesen – trotz der absurden Umstände. Aber sie fühlte sich nur mies in dieser Aufmachung. Zudem spürte sie die Blicke auf ihren nackten Beinen und sorgte sich überdies um den Bertl, auch wenn man ihr vorher versichert hatte, dass sie ihn nicht ernsthaft verletzen konnte. Am liebsten würde sie kurz unterbrechen und sich vergewissern, dass es ihm gut ging – aber sie musste tun, was man von ihr erwartete, und nicht das, was sie wollte. Sie senkte den Kopf und betete sich vor, dass sie es machte, weil sie einen Batzen Geld dafür bekam. Und jeden einzelnen Euro davon brauchte sie dringend – für den Apfelhof.
Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging sie los. Sie wusste ohnehin, dass ihr alle folgten wie die Gläubigen dem Pfarrer bei der Palmsonntagsprozession. Innerlich stöhnte sie bei dem Gedanken, dass es genau das war, worauf ihre Freundinnen neidisch waren. Sie hingegen würde im Moment fast alles geben, wenn sie mit der Traudl und der Gitti tauschen könnte.
»Dort!« Der Caddie, ein langer Lulatsch mit riesigen Füßen, der vierzigtausend Follower auf Instagram und YouTube hatte – weshalb, hatte sie nicht begriffen –, streckte seinen Arm aus und deutete auf den Ball, den sie schon längst gesehen hatte. Er war so perfekt gefallen, als ob sie ihn persönlich dorthin getragen und abgelegt hätte. Sie beschleunigte ihre Schritte.
In den gut zwanzig Jahren seit dem Bestehen des Clubs hatte sie die neun Golfbahnen so oft gespielt, dass sie irgendwann mit dem Zählen aufgehört hatte. Früher war sie in jeder freien Minute hier gewesen, aber seitdem die Probleme immer mehr wurden, spielte sie viel seltener. Doch vergessen hatte sie nichts. Damals, mit dreizehn, hatte sie die Lektionen mit dem englischen Golftrainer verinnerlicht und hielt sich bis heute an alles, was er ihr beigebracht hatte. Der zweite Schlag auf dieser Bahn war nicht einfacher als der erste – und sie war unter Druck. Liesi spürte, wie das unangenehme Gefühl wieder von ihr Besitz nahm. Hinter sich hörte sie zwar keine Stimmen, aber das leise Summen der Elektromotoren der Golfcarts. Die Präsenz der Menschen, die ihr folgten und immer näher kamen, war erdrückend.
Sie warf einen Blick zum Himmel über dem Grün, wo ein paar harmlose Schönwetterwolken Richtung Bozen davonzogen. Rechts, etliche hundert Meter weiter oben, prangte die trutzige Burgruine – und vor ihr lag, etwas erhöht, das verheißungsvolle Stück Rasen mit der Fahne, die das Loch markierte.
Das Wetter war perfekt, und wenn alles glattging, konnte sie die Bahn vielleicht wirklich in den idealen vier Schlägen spielen. Sie straffte die Schultern. Um diesen Quatsch so rasch wie möglich zu beenden, musste sie riskieren.
Sie schaute zum Caddie, der mit der Hand bereits einen Schläger aus ihrem Golfbag zog. »Nein, geben Sie mir das 7er-Eisen.«
»Aber ...«
Sie nahm die Sonnenbrille ab und warf dem Kerl, der sie einen guten Kopf überragte, einen eiskalten Blick zu. Das hätte sie auch getan, wenn es nicht im Drehbuch vorgesehen wäre. Der Typ ging ihr schrecklich auf die Nerven. Sie fixierte ihn also, während sie die Brille zusammenklappte und mit einem Bügel in den tiefen Ausschnitt hängte.
Im Normalfall beriet sich ein Caddie mit dem Spieler und gab ihm Tipps – aber zum Glück war das in diesem Fall nicht vorgesehen. Dieser angebliche Caddie wirkte mit seiner schlaksigen Figur, den schmalen Schultern und dem Schlafzimmerblick wie einer, der nicht die geringste Ahnung vom Golfen hatte. Und das entsprach ja den Tatsachen. Liesi schob den Schirm ihres Käppis ein wenig nach oben und streckte wortlos den Arm aus.
Sobald sie das Eisen in der Hand hielt, ging alles blitzschnell.
Sie blickte auf den Ball, grätschte leicht die Beine, korrigierte ein wenig ihren linken Fuß und holte aus. Kraftvoll schwang der Schläger zurück – diesmal ohne von einem Hindernis gebremst zu werden. Der Schlägerkopf sauste auf den Ball zu und traf ihn. Liesi verhielt in der typischen Nach-dem-Abschlag-Position, in der Golfer und Schläger in Symbiose waren und alles rundum vergaßen. Das Einzige, was in diesem Moment zählte, war der Ball. Sie beobachtete, wie das kleine, weiße Geschoss auf das Grün zuflog und darauf landete. Wo genau, sah sie erst, als sie mit weit ausholenden Schritten über den Fairway laufend endlich auf der erhöhten Fläche ankam.
Hinter sich hörte sie das Summen der Carts, die die leichte Steigung nach oben kamen. Sie vernahm ein Keuchen, wahrscheinlich kam es von dem Dicken, der heute Morgen bereits im Ruhezustand geschwitzt hatte. Der Caddie war ihr zwar mit seinen langen Beinen überlegen, aber trotzdem war sie diejenige, die noch vor ihm ein paar Schritte vor dem Ball zu stehen kam und zweimal blinzeln musste, um zu begreifen. Er lag nur einen knappen Meter vom Loch entfernt.
Diesmal musste sie nicht einmal aufschauen, sondern nur den Arm ausstrecken. Endlich wusste der improvisierte Caddie, was er zu tun hatte. Sie hatte ihm die Schläger ja auch vor dem Clubhaus eine halbe Stunde lang erklärt. Er reichte ihr den Putter.
Sie packte ihn, legte beide Hände um den Griff und stieß den Ball an. Sanft und doch kräftig genug, um ihm den richtig dosierten Schub zu geben.
Er rollte ins Loch – ein Schlag unter Par.
Der Jubel brach los.
»Birdie!«, schrie irgendwer.
»Meisterleistung«, kam es von einer anderen Seite.
Das stand im Drehbuch, und die Statisten hätten es auch gerufen, wenn sie erst nach zehn Bällen eingelocht hätte. Aber sie war gut gewesen – und doch war es ihr komplett egal. Sie drückte dem Caddie den Schläger in die Hand und rannte auf den Bertl zu, ruckte das Kinn in die Höhe und fragte atemlos: »Hab ich dir vorhin wehgetan?«
»Halb so schlimm, die haben mich doch da unten ausgestopft.« Er grinste und zwinkerte ihr zu.
»Gott sei ...«
»Frau Thaler!« Die tiefe, verärgerte Stimme ging ihr durch Mark und Bein und sie erstarrte. »Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass Sie sich an die Regieanweisungen halten sollen. Danke, das wars! Sie erinnern sich? Haben Sie den Satz vielleicht in Ihrem Hirn vernommen, obwohl ich ihn nicht ausgesprochen habe?«
Liesi spürte, wie sie die Wut übermannte.
»Verflixt und zuagnaht!«, schrie sie und stemmte die Arme in ihre Hüften. Dabei ging sie auf den Regisseur zu, obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, ihm nicht noch einmal zu nahe zu kommen. »Sie sollten froh sein, dass ich bei diesem Blödsinn mitgespielt habe. Schaun’S mi doch an!«
Sie griff mit beiden Händen an die pinkfarbene Schürze, die zu dem gelb-rosa karierten Dirndl aus glänzendem Stoff gehörte, und hob sie hoch.
»Glauben’S, dass irgend a normale Frau mit an so an Kladl golfen gehn tat? Mir taten so was ned amoi anziehn, wann uns wer was dafür zohlt. Außer beim Benefizturnier, oba des wor ja scho.«
Der Mann, der schon am Morgen wie eine Schnapsdestillerie gestunken hatte, kam einen Schritt auf sie zu und sein säuerlicher Schweißgeruch waberte in einer Wolke auf sie zu. Sie rümpfte die Nase und hielt die Luft an.
»Ich habe zwar nur jedes dritte Wort von dem verstanden, was Sie von sich gegeben haben, doch denke ich, Sie sprachen von Geld. Berichtigen Sie mich, falls ich mich irren sollte, aber wenn ich mich recht erinnere, Frau Thaler, werden Sie großzügig dafür bezahlt!«
Sie starrte ihn an und versuchte zu begreifen, ob seine buschigen Augenbrauen zwei waren, die mittig ineinander übergingen, oder aber ein einziger Balken oberhalb seiner Augen wuchs. Und was machte er, während sie abgelenkt war? Er streckte die Hand aus und griff an den aufgebauschten Puffärmel ihrer Bluse.
»Und das hier ist allerfeinste Brüsseler Spitze.« Bei den Worten beugte er auch noch seinen Kopf vor. »Sie sollten froh sein, dieses teure Designerstück tragen zu dürfen!«
Liesi war sich plötzlich sicher, dass in der Eineinhalbliterplastikflasche, die ihm einer der Assistenten ständig hinterhertrug, kein Wasser, sondern Wodka war. Sein Atem vernebelte auch ihr die Sinne. Wahrscheinlich würde sie nicht mehr mit dem Auto heimfahren können, denn falls sie in eine Verkehrskontrolle kam und blasen musste, würde ihr Alkoholwert weit über der erlaubten Promillegrenze liegen.
Sie schlug ihm auf die Hand, mit der er immer noch den Puffärmel festhielt, und machte einen Satz zurück. Dabei erinnerte sie sich daran, dass nicht nur er, der auf den absurden Namen Ummo Tütken hörte, sie nicht verstand, sondern ein Teil der Filmcrew ebenfalls aus Norddeutschland kam. Und so wechselte sie zu Hochdeutsch.
»Wissen Sie was? Meinetwegen können Sie Ihre Landsleute mit Falschinformationen vollstopfen, aber ich mache da nicht mehr mit. Sie scheuchen mich in einem Barbie-Dirndl über den Golfplatz, damit man im Ausland denkt, dass wir Südtiroler sogar in Lederhosen und Dirndlkleidern ins Bett gehen. Dabei sind wir viel normaler, als Sie es sind, Herr Tütken. Oder glauben Sie, dass wir uns hier schon ab dem frühen Morgen mit Wodka besaufen, wie Sie es tun?«
Der Regisseur, der angeblich in seiner Heimat eine ziemlich große Nummer war, wie ihr der Bürgermeister gesagt hatte, schnappte nach Luft. Seine Augen wurden tellerrund und sein Brustkorb blähte sich auf. Liesi stand wie erstarrt da, vernahm das Raunen rundum, merkte aber erst, dass der Tütken sich auf sie stürzte, als seine Hände sich um ihren Hals legten.
Sie keuchte auf, hob reflexartig die Arme und umklammerte seine Handgelenke. Im selben Moment hörte sie einen Schrei, der dem Gebrüll eines wütenden Braunbären ähnelte. Der stinkende Mann vor ihr würgte sie immer noch, aber er wankte. Sein Kopf bewegte sich vor ihrem verschwommenen Gesichtsfeld, driftete nach links, wackelte – und verschwand.
»Du verdammt’s Arschloch, du!«
Liesi erkannte Bertls tiefe, dröhnende Stimme und der Griff um ihren Hals lockerte sich. Sie hustete, fasste sich an die Kehle, atmete hektisch Luft ein. Irgendjemand packte sie sanft an den Schultern und zog sie weg. Zu ihren Füßen rollte sich der Bertl mit dem Regisseur auf dem perfekt gestutzten Rasen des Grüns. Ihr bester Freund bekam den anderen unter sich und hockte sich breitbeinig auf seine Oberschenkel. Dabei hämmerte er wie verrückt mit beiden Fäusten auf den Brustkorb und das Gesicht des deutschen Regisseurs ein. Dessen Kopf wurde nach links und rechts geschleudert wie ein Punchingball.
»Aufhören!«, schrie sie, aber das, was aus ihrer malträtierten Kehle kam, war nur ein Krächzen.
Sie stürzte sich auf den Bertl, umklammerte seine breiten Schultern und brachte ihren Mund an sein Ohr.
»Hör auf, Bertl«, keuchte sie, »du bringst ihn noch um!«
Plötzlich erstarrte er. Seine Arme sanken kraftlos nach unten auf seine Oberschenkel. Langsam wandte er den Kopf und schaute sie an.
»Dieses Schwein hat dich verletzt!«
Sie legte ihre Hände an sein Gesicht und sagte: »Nicht mehr als ich dich vorhin.« Sie versuchte sich in einem Lächeln.
»Dass du oba a immer über oalls an Witz reißen muasst!«
Liesi brachte kein Wort heraus. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Sie hustete, spürte die Tränen, die ihr dabei in die Augen traten, und schüttelte hektisch den Kopf.
»Sie müssen zum Arzt, Frau Thaler. Kommen Sie bitte mit, und Sie auch, Herr Kofler«, hörte sie einen Mann der Filmcrew sagen. Es war der, der immer mit dem Clipboard, an dem ein Kugelschreiber befestigt war, herumlief und auf dem Notizblock Anmerkungen niederschrieb. An seinen Namen konnte sie sich nicht erinnern.
Sie reagierte nicht auf das, was er sagte, stand nur mit hängenden Schultern da. Ihr Kopf war leer, ihre Augen tränenblind. Die Geräusche um sie herum klangen dumpf. Das Nächste, was sie spürte, waren Bertls starke Arme um ihren Körper, als er sie hochhob. Sie wusste sofort, dass er es war, auch, dass sie jede physische Nähe mit ihm vermeiden sollte, weil er dann wieder etwas Falsches hineininterpretierte. Nur war sie zu schwach, um zu protestieren, und im Moment fühlte es sich richtig gut an und so ließ sie es geschehen. Er stieg mit ihr neben den Mann in ein Golfcart und hielt sie einfach nur fest. Als der Golf-Buggy einen Halbkreis zog, um Richtung Clubhaus zu fahren, sah sie eine Gruppe von Menschen, die um den Regisseur herumstand, der immer noch auf dem kurz geschorenen Rasen lag. Was sie aber nicht sehen konnte, war der Kameramann, der nach wie vor filmte. Ummo Tütken hatte vergessen, »Danke, das wars!« zu rufen.
KAPITEL 2
Christian Bergmann – von der Presse, Kollegen und Freunden ausnahmslos nur Chris genannt – saß seit gut zwei Stunden auf der sonnenbeschienenen Terrasse des Clubrestaurants. Er hatte die Jacke ausgezogen, sich auf dem Stuhl zurückgelehnt, die langen Beine weit von sich gestreckt und genoss die überraschend warmen Sonnenstrahlen. Die Stimmen der Menschen um ihn herum hatte er ausgeblendet, hörte hingegen das Summen der Bienen und das Zwitschern der Vögel. Vor sich konnte er den Fairway der ersten Bahn sehen, weiter vorn die Fahne, die das Loch in der Mitte des Grüns markierte. Der Golfplatz von Mela fügte sich so perfekt in das Etschtal ein wie die Apfelwiesen und Weinreben, die den Talboden bedeckten, soweit man sehen konnte. Er musste jedoch nur den Kopf ein wenig nach rechts drehen und mit dem Blick dem über einige Kilometer leicht ansteigenden Gelände folgen, wo dieser plötzlich vom hoch aufragenden Eisberg gebremst wurde. Die hohen Pfeiler in der Waldschneise waren selbst von hier erkennbar, und sobald die beiden Gondeln sich auf halber Strecke kreuzten, blitzten Glas und Metall im Sonnenlicht auf – so wie jetzt. Es war, als ob der reflektierte Strahl sich trotz der Distanz direkt in seine Brust bohren wollte. Chris streckte den Arm nach der Apfelschorle aus, nahm einen Schluck und tippte seine Sonnenbrille mittig an, sodass sie wieder perfekt auf der Nasenwurzel saß.
Konnte man Heimweh nach einem Ort verspüren, an dem man nie gewesen war? Er war noch nicht geboren, als seine Eltern von hier fortgingen und in den hohen, flachen Norden gezogen waren, wie seine Mutter Hamburg und die Küste immer genannt hatte.
Wie konnte es also sein, dass er das Gefühl hatte, genau zu wissen, wo der Apfelhof lag, nämlich links vom Hausberg und der Seilbahn, oberhalb der Stelle, wo der Eisbach aus der Schlucht ins Ortsgebiet drängt?
Und was um Himmels willen hatte ihn dazu gebracht, sich ausgerechnet für Mela zu entscheiden? Der Locationscout hatte drei weitere Orte vorgeschlagen. Und er war derjenige, der die finale Entscheidung traf. Warum also ...
Sein Handy begann zu klingeln und ein Ruck ging durch seinen Körper.
Seitdem er angekommen war, hatte man ihn nicht gestört, und fast hatte es sich angefühlt wie Urlaub. In der Firma wusste niemand, wo er war, und er hatte klare Anweisungen gegeben, dass sie ihn nur im Notfall ...
Er musste den Satz nicht weiterdenken.
Chris Bergmann löste den Rücken von der Lehne, über der die Jacke hing, und fischte das Telefon aus der Innentasche. Sobald er den Namen auf dem Display las, ahnte er, dass seine schlimmsten Befürchtungen wahr geworden waren.
KAPITEL 3
Während der Mann der Filmcrew das Golfcart zum Clubhaus und daran vorbei Richtung Parkplatz lenkte, besprach er sich leise mit dem Bertl. Liesi verstand kein Wort und schloss wieder die Augen. Plötzlich hörte sie das typische Geräusch, wenn eine Fahrzeugtür entriegelt wurde, und blinzelte. Bertl bugsierte sie gerade auf den Beifahrersitz seines Autos und griff nach dem Gurt, um ihn ihr anzulegen. Sie stieß seine Hand weg und erledigte das selbst, bevor er sich über sie beugen konnte.
Er starrte sie entgeistert an, und sie widerstand dem Wunsch, ihren Blick zu senken. Stattdessen sagte sie mit Nachdruck: »Ich brauche mein Golfbag. Und meine Tasche ist auch noch ...«
»Die Tasche ist hier und bis auf einen Arzt brauchst du sonst gar nix«, schnitt er ihr das Wort ab und knallte die Beifahrertür von außen zu.
Eine Viertelstunde später, in der zwischen Bertl und ihr eisiges Schweigen herrschte, lag sie auf der Untersuchungsliege in der Hausarztpraxis ihrer Freundin Traudl. Es war immer noch die von ihrem Vater, die sie ebenso übernommen hatte, wie das Messingschild vor der Tür, auf dem Dr. E. Gruber zu lesen war. Der alte Hausarzt hieß Erwin und ihr einziges Kind hatten seine Frau und er »der Einfachheit halber« Edeltraud getauft, wie er gern erzählte. Als ob der damals schon gewusst hätte, dass seine Tochter in seine Fußstapfen treten würde. Aber sie hatte es wirklich getan, und er hatte ihr zum dreißigsten Geburtstag den Schlüssel zur Praxis überreicht und war seither mit Traudls Mutter fast ständig auf Reisen.
»Du musst ihn anzeigen«, sagte ihre Freundin jetzt mit ernster Miene und wickelte eine Haarsträhne um den Finger.
»Und was soll das bringen?« Liesi setzte sich auf und schob eine ihrer störrisch-vorwitzigen blonden Locken hinters Ohr. Ihre Stimme klang heiser und kratzig, als ob sie eine ganze Nacht lang gesoffen und Zigarren geraucht hätte.
»So was Blödes kannst auch nur du fragen!« Bertl, der sich bisher ruhig verhalten hatte, stand plötzlich vor der Liege und deutete auf ihren Hals. »Man kanns nicht nur hören, sondern auch sehen, dass dir dieser Piefke wehgetan hat.«
»Das schaut schlimmer aus, als es ist«, beruhigte Traudl jetzt den Freund.
»Und du meinst, dass du das beurteilen kannst«, meinte er geringschätzig.
Die beiden Frauen lachten auf und er sah betreten zu Boden.
»Meine Approbation sagt genau das aus, Bertl.« Wie so oft sprach sie mit ihm wie mit einem Kleinkind. Nicht, dass er dumm war, ganz und gar nicht, aber seine Anschauungen waren von seinem Vater geprägt worden – und den hatte er eben nicht mehr, seitdem er elf war. Seine kleine, überschaubare Welt war in gewisser Hinsicht damals stehen geblieben und die Rollen der Menschen waren klar definiert. Die Männer brachten das Geld heim und die Frauen studierten nicht. Schon gar nicht wurden sie Ärzte.
»Ich kann dir versichern, dass die Liesi in ein paar Tagen wieder ganz die Alte sein wird«, fuhr sie ruhig fort. »Die Hämatome brauchen ein bisserl, bis sie verschwinden, mit der Stimme geht das rascher. Aber«, sie hob mahnend einen Zeigefinger und wandte sich ihrer Freundin zu, »wärst du jetzt in der Notaufnahme in Meran im Krankenhaus, dann würden die Kollegen die Polizei verständigen.«
»Eben!«, rief der Bertl laut.
»Schrei doch nicht herum, sonst glauben die Leute im Wartezimmer weiß Gott was!«, wies ihn die Ärztin zurecht.
»Das tun sie sowieso«, murmelte er.
»Ja, weil du mich auf den Armen hereingetragen hast, als ob ich bewusstlos gewesen wär!«, meckerte Liesi.
»Kinder, es nutzt niemandem was, wenn ihr beide euch auch deswegen streitet, ihr kriegts euch ohnehin ständig in die Haare.« Traudl ging hinüber zu ihrem Schreibtisch und beugte sich über die Tastatur. »Ich verschreibe dir jetzt die Salbe, die du dreimal täglich auf die blauen Flecken schmierst. Und trink viel heißen Tee, am besten aus Eibischwurzeln oder Malve.«
Der Drucker spuckte das Rezept aus, sie nahm es und kam auf Liesi zu, die sich mittlerweile aufgesetzt hatte und ihre nackten Beine schaukeln ließ. Traudl blieb vor ihr stehen und ließ ihren Blick von ihrem Gesicht bis zu den Zehenspitzen gleiten.
»Und als Freundin verordne ich dir, dringend aus diesem lächerlichen Dirndl rauszukommen und wieder Hosen anzuziehen. Diese nackerten Waden passen einfach nicht zu dir.«
»Sag jetzt nicht, dass ich keine schönen Beine habe«, meinte Liesi grinsend.
»Die schönsten«, brummte Bertl, woraufhin die beiden Frauen sich einen einvernehmlichen Blick zuwarfen und sich Liesis Kehle ein tiefer Seufzer entrang.
»Du musst es ihm sagen«, formulierte Traudl wortlos – und wie immer zuckte Liesi zur Antwort mit den Achseln und verdrehte die Augen.
»Ich muss jetzt den Nächsten rufen«, fuhr die Ärztin daraufhin laut fort. »Ich weiß nicht, ob es sich zeitlich ausgeht, aber vielleicht komme ich morgen bei dir vorbei. Wann wirst du daheim sein?«
»Ich habe ehrlich gesagt nicht vor, das Haus zu verlassen, bis diese Flecken nicht verschwunden sind, und wenn, dann fahre ich nur die Apfelwiesen kontrollieren.« Liesi sprang von der Liege und griff nach dem Golfkäppi, das sie vorhin abgenommen hatte. Jetzt setzte sie es wieder auf und die Sonnenbrille ebenfalls.
»Das sind Würgemale, Liesi, keine Knutschflecken. Dafür brauchst du dich nicht zu genieren.« Traudl stupste sie unter dem Kinn an, sodass sie aufsah.
»Das tu ich nicht. Aber ich brauch damit auch nicht herumzulaufen. Die Leute reden ohnehin viel zu viel.«
»Und was machst du mit dem Film? Die haben dir doch schon einen Vorschuss gezahlt.«
Liesi schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht. Der wird nach der Golfplatzszene überwiesen, also wahrscheinlich morgen. Und sobald ich das Geld habe, schreibe ich denen eine Mail, dass sie sich einen anderen Drehort suchen sollen.«
»Aber du hast einen Vertrag unterschrieben. Vielleicht solltest du mit dem Bürgermeister ...«
»Lass den Bürgermeister aus dem Spiel«, unterbrach Bertl die Ärztin und legte schützend einen Arm um Liesis Schultern. »Die Sache ist erledigt, wie du gehört hast. Schluss. Aus. Ende. Und wenn die Liesi den Regisseur nicht anzeigen will, dann können wir sie nicht dazu zwingen. Aber ich hab vorhin eh schon mit dem Handy Fotos von den Abdrücken gemacht, die seine verdammten Griffel auf Liesis Hals hinterlassen haben. Sobald die Produzenten die sehen, werden sie sicher nicht auf die Einhaltung des Vertrags bestehen.«
»Damit hast du auch wieder recht«, pflichtete ihm Traudl bei.
In Liesis Kopf hingegen hatten die Worte ihres besten Freundes einen stechenden Schmerz ausgelöst – wie schon so oft. Sie duckte sich unter seinem Arm weg, sodass dieser nicht mehr auf ihrer Schulter lag, und griff in die versteckte Einschubtasche im Dirndlrock. Zum Glück hatte sie ihren Autoschlüssel dort und nicht in der Tasche. Liesi umschloss ihn und beugte sich vor, bis ihr Mund nur noch wenig von Traudls Ohr entfernt war.
»Kannst du später mit der Gitti mein Auto vom Golfplatz holen und mir bringen?«
Sie schob den Schlüssel in Traudls Hand, sodass der Bertl ihn nicht sehen konnte. Ihre Freundin verstand sofort.
»Ja, natürlich, liebe Frau Thaler«, sagte sie mit lauter Stimme, die den Patienten im Wartezimmer galt. Von dem Autoschlüssel war nichts mehr zu sehen, als sie die Tür öffnete. »Wir sehen uns dann wieder in ein paar Tagen zur Kontrolle.« Sie streckte die Hand aus, um sowohl ihre Freundin als auch Bertl zu verabschieden. Der stapfte wortlos davon.
»Bis später«, formulierte Traudl stumm und wandte sich der alten Dame zu, die bereits aufgestanden war.
Der Blick, den sie auf Liesis Hals oberhalb des weit ausgeschnittenen Dirndls warf, ließ sie den Kopf senken und mit einem gemurmelten Gruß verschwinden.
KAPITEL 4
Von wegen Urlaubsgefühle! Chris Bergmann starrte auf Ummo Tütken und fragte sich, wie seine Vorgänger es in all den Jahren geschafft hatten, mit ihm zusammenzuarbeiten.
Tütken hatte bei einem einzigen Film Regie geführt, der von der Kritik gelobt und vom Publikum geliebt wurde. Was objektiv betrachtet nicht auf seine herausragende Leistung zurückzuführen war. Filme mit Tieren, die vermenschlicht werden und denen man eine Stimme gibt, zogen selbst in der heutigen Zeit der überragenden Spezialeffekte, vor allem wenn die Story auf die Tränendrüsen drückt. Der Mischlingshund, der sein Herrchen zuerst aus dem brennenden Haus rettete und nach dessen Tod aufgrund der schweren Rauchgasvergiftung wochenlang an seinem Grab saß, bis er dort von einem kleinen Jungen im Rollstuhl entdeckt wurde, war der deutsche Kassenschlager gewesen. Anfang der Neunzigerjahre. Seither war viel Zeit vergangen und aus dem Alt-Hippie, den sein Agent als Alternativen und Umweltschützer verkauft hatte, war ein Säufer geworden, der nur deshalb nicht komplett gestrandet war, weil er mit Alkohol im Blut in seinem Job wirklich gut war.
Chris wusste, dass es Besessene gab, die einfach nichts anderes tun wollten, als irgendwelche Filme zu drehen, egal ob vor oder hinter der Kamera. Sein Vater war so einer gewesen. Er, der begeisterte Alpinkletterer und Fotograf aus Hamburg, war rastlos über zwei Jahrzehnte durch die Welt gereist, bevor er in den Südtiroler Bergen seine Wahlheimat und die Liebe zu einer viel jüngeren Frau gefunden hatte. Bis er beim Abstieg aus der Adang-Führe, in der Südostwand des Sas Ciampac in den Dolomiten, einem anderen Kletterer zu Hilfe kam und mit ihm so unglücklich aus der Wand flog, dass sein Bein mehrmals brach. Es dauerte Monate, bis er wieder ohne Krücken gehen konnte, und so erlebte er die Geburt seines einzigen Sohnes in einem Zustand, der zwischen tiefster Verzweiflung und großer Freude schwankte. »Du hast damals seinem weiteren Leben Sinn gegeben«, sagte seine Mutter immer, wenn sie von ihm sprach. Der Traum vom Bergsteigen war nach dem Unfall ausgeträumt und mit ihm der Grund verschwunden, weshalb der Flachländler nach Südtirol gezogen war. Er nahm seine schwangere Frau mit in seine Heimatstadt und verlegte seine sportlichen Aktivitäten ins Wasser. Genauer gesagt in die Elbe, über die er anfangs in einem Kanu paddelte und dann auf den Kajak umstieg. »Dabei brauche ich das Bein nur bedingt«, meinte er, als ihn Journalisten fragten, warum er sich dafür entschieden hatte. Zu der Zeit, vor etwa vier Jahrzehnten, tauschte er nämlich seinen Fotoapparat gegen einen dieser neuen Camcorder und nahm Kontakt zur Filmakademie in Berlin auf. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, das Filmen professionell zu erlernen – und er tat es. Bald drehte er einen ersten Naturfilm über das Vogelparadies in der Vorpommerschen Boddenlandschaft, erhielt dafür sogar einen Filmpreis, aber das Paddeln auf der Ostsee und der Elbe war ihm nicht aufregend genug. Immer öfter zog es ihn in den Süden des Landes, wo unzählige Gebirgsbäche auf ihn, seine Kamera und den Wildwasserkajak warteten, den er sich zulegte.
Kein Wunder, dass Chris anstatt in Hamburg in München eingeschult wurde, wo er offiziell bis heute lebte, obwohl er die vergangenen zwanzig Jahre berufsbedingt mehr Zeit in L. A. verbracht hatte als in Deutschland. Sein Vater hatte ihm die Liebe für das Filmen in die Wiege gelegt, nur hatte er sich auf ein anderes Genre spezialisiert und führte seltener Regie, als er produzierte. Er liebte die Natur, doch stellte er die Menschen in den Mittelpunkt und gab somit den zwischenmenschlichen Beziehungen den Vorzug. Das Dumme war nur, dass man, wenn man Geschichten verfilmte, nicht um Schauspieler und Schauspielerinnen herumkam. Eine von diesen war ihm zum Verhängnis geworden, und er bezahlte immer noch dafür, dass er sich auf sie eingelassen hatte.
Deshalb hatte er es auch eine gute und nicht nur vom Wunsch, seiner Mutter nahe sein zu wollen, diktierte Idee gefunden, zurückzukommen und die Produktionsfirma, die sein Vater vor Jahrzehnten mit einem jüngeren Freund gegründet hatte, selbst zu führen. Sein alter Herr war schon lange tot und sein Geschäftspartner hatte sich mit siebzig aus dem Berufsleben zurückgezogen und das Schicksal des Unternehmens in die Hände eines Geschäftsführers gelegt. Der hatte es innerhalb eines Jahres geschafft, den Umsatz zu halbieren und mit den noch verbliebenen durchaus ansehnlichen Gewinnen die Löcher zu stopfen, die sich rundum auftaten. Eines dieser Black Holes, die Unsummen verschlangen, war Ummo Tütken. Und ebendieser hing jetzt wie ein nasser Sack auf einem geblümten Sofa im sogenannten Kaminzimmer der Ferienpension, die seine Produktionsfirma für den Zeitraum des gesamten Filmdrehs komplett angemietet hatte. Tütkens Augen waren blutunterlaufen, das Gesicht aufgedunsen, und es hätte nicht der halb leeren Wodkaflasche in seiner Hand bedurft, um seinen Zustand zu erklären. Er stank aus jeder Pore nach dem billigen Fusel, der sicher nicht aus Getreide, sondern Melasse hergestellt wurde und den er kartonweise bei irgendeinem Discounter kaufte.
»Ich weiß nisch, wasch du willsch, Chris«, nuschelte er jetzt, hob die Flasche, die er an ihrem Hals hielt, an und nahm einen weiteren Schluck. Dann rülpste er – und plötzlich sprach er ganz normal. »Diese golfspielende Bäuerin ist eine von denen, die glauben, dass sie wichtig sind, nur weil sie in einem Film mitspielen, in dem ich Regie führe. Was auch immer sie dir erzählt hat, es stimmt nicht. Sie soll froh sein, dass wir die Szene im Kasten haben. Noch einmal würde ich mit der Verrückten nicht drehen und dann würde sie keinen Cent bekommen.«
Chris, der des größtmöglichen Abstands wegen an der Wand neben dem Kamin lehnte, verschränkte die Arme vor der Brust, um sich nicht auf diesen Idioten zu stürzen. Sollte er ihm sagen, dass der Kameramann alles mitgefilmt hatte, weil er das berühmte »Danke, das wars!«, auf das er so viel Wert legte, nicht ausgesprochen hatte? Oder dass Heidelinde Wagner, die Produktionsassistentin, genau im richtigen Moment ihr Handy gezückt und aufgenommen hatte, wie er der Liesi Thaler die Hände um den Hals gelegt hatte, bevor man die Frau vom Grün der fünften Bahn weggebracht hatte?
Ummo Tütken hatte vor ewigen Zeiten den Bezug zur Realität verloren. Er war ein Pegelsäufer, der erst ab eins Komma irgendwas Promille als Regisseur funktionierte, als Mensch jedoch schon längst nicht mehr. Weder auf dem Set noch in den Resten seines Privatlebens, in dem keine seiner Frauen oder Kinder eine Rolle spielten. Deren einziges Interesse lag darin, sich von seinem nicht unbeträchtlichen Gehalt jeden Monat den höchstmöglichen Anteil zu holen, nachdem sie sich bereits um sein Vermögen gestritten und es untereinander aufgeteilt hatten.
Rein menschlich gesehen konnte ihm dieses Wrack, das schon wieder an der Wodkaflasche nuckelte wie ein Neugeborenes an Mutters Brust, leidtun. Subjektiv sah die Sache jedoch ganz anders aus. Der Mann, der mit seinem Vater und dessen Partner vor Jahrzehnten einen ersten gemeinsamen Film gedreht und daher von ihnen einen, für einen Regisseur ungewöhnlichen, Vertrag mit Festanstellung erhalten hatte, kostete die Firma ein Vermögen – und erbrachte als Gegenleistung nur Probleme. Zwar war ausgerechnet dieser Film in seiner Konzeption eine absolute Neuheit und passte perfekt zu Tütkens Erfahrung, aber darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Er musste ihn loswerden, bevor noch größerer Schaden entstand. Sepp Gamper, der Bürgermeister, hatte ihm zwar am Telefon versichert, dass er mit Frau Thaler reden würde und die Produktionsfirma nichts zu befürchten hatte, doch es gab absolut keine Sicherheit, dass der rund um die Uhr besoffene Ummo Tütken nicht jemand anderen beleidigte oder verletzte und angezeigt wurde. Chris hatte viel Geld in das Projekt investiert und konnte nicht riskieren, dass es irgendjemand in den Sand setzte. Sollte das passieren, riskierte jeder einzelne Mitarbeiter seiner Firma den Job.
Jetzt ließ er die Arme neben den Körper sinken, stieß sich von der Wand ab und ging auf das geblümte Sofa zu. Obwohl im Kaminzimmer kein Licht brannte und es draußen bereits dämmerte, schien er einen Schatten zu werfen, denn Ummo schaute zu ihm auf. Wenn er seine Entscheidung nicht schon getroffen gehabt hätte, dann würde er es jetzt tun. Der Gestank nach Alkohol und Schweiß, der von dem Mann ausging, erzeugte in seinem Magen eine Welle der Übelkeit.
»Du bist entlassen, Ummo, und ab sofort freigestellt. Selbstverständlich werde ich die gesetzlich geregelten Zeiten einhalten und dir bis dahin dein Gehalt auszahlen, aber ich will dich nicht mehr sehen.«
Tütken riss die Augen und den Mund auf, schien nach Worten zu suchen. Chris hob warnend die Hand und sprach weiter.
»Da du offensichtlich im Moment nicht in der Lage bist, dein Zeug zusammenzupacken, kannst du heute Nacht noch hierbleiben, aber morgen Früh um acht bist du verschwunden.«
»Das kannsch ... kannsch du nicht tun!«, lallte und stotterte das menschliche Wrack.
»Falsch. Ich hätte es bereits tun müssen, als ich aus Amerika zurückkam und die Firma übernahm. Meine Buchprüfer waren vor dem Kauf der zweiten Hälfte der Anteile ganz klar gewesen und haben mich auf die Ursachen und Gründe der katastrophalen Bilanz hingewiesen. Eine davon warst und bist du. Leider habe ich denselben Fehler gemacht wie schon mein Vater und sein Partner in der Vergangenheit. Um der alten Zeiten willen habe ich dich behalten und mitgeschleppt, auch wenn die zwei von dir seither gedrehten Kurzfilme jeder Abgänger der Akademie zumindest gleichwertig zustande gebracht hätte.«
»Aber den hier kann keiner außer mir drehen!