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Im Rettungseinsatz für Hinterbliebene und Augenzeugen
Jedes Leben endet tödlich. Doch oftmals kommt der Tod jäh und auf schockierende Weise: Ob durch Herzinfarkt, Unfall, Suizid, Mord oder Terror – 15 bis 20 Prozent aller Todesfälle treffen Angehörige und Augenzeugen völlig unvorbereitet. Das Kriseninterventionsteam steht Menschen in solchen Situationen bei. Zum ersten Mal erzählen Andreas Müller-Cyran und Peter Zehentner von ihren dramatischen Einsätzen, ergreifenden Begegnungen – und von der beeindruckenden Stärke, die wir alle in uns haben.
Ein Kind wird von einer Straßenbahn erfasst. Ein Rettungsassistent birgt es und versucht gemeinsam mit anderen Einsatzkräften, es wiederzubeleben – ohne Erfolg. Dann fallen ihm zwei Personen in der Absperrung auf, völlig vom Geschehen isoliert, keiner kümmert sich um sie. Ob sie etwas mit dem Kind zu tun haben, fragt er sie. Es sind die Eltern. Andreas Müller-Cyran ist dieser Rettungsassistent, und er empfand es immer mehr als Missstand, dass die Hinterbliebenen meist komplett vernachlässigt wurden. Um das zu ändern, gründete er 1994 das weltweit erste Kriseninterventionsteam. Heute sind es über 40 ehrenamtliche, speziell geschulte Mitarbeiter, die bei Unfällen oder Verbrechen gerufen werden, um Augenzeugen und Angehörige zu betreuen sowie den Hinterbliebenen die Todesnachricht zu überbringen. Andreas Müller-Cyran und Peter Zehentner, der aktuelle Leiter, erzählen ihre bewegendsten Einsätze und zeigen auf eindrucksvolle Weise, was wir von Menschen lernen können, die solche Schicksalsschläge erlebt und überstanden haben.
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Seitenzahl: 292
Andreas Müller-Cyran
Peter Zehentner
mit Shirley MICHAELA Seul
Wenn
der Tod
plötzlich
kommt
Vom Umgang mit Schicksalsschlägen – Das Kriseninterventionsteam im Einsatz
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Redaktion: Birgit Bramlage, München
Copyright © 2013 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung/Artwork: Eisele Grafik-Design, München, unter Verwendung der Fotos von mauritius images/ib/dst und Kay Blaschke, München
Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering
ISBN 978-3-641-12781-7
www.heyne.de
Inhalt
Vorwort
Der Junge, das Fahrrad und die Straßenbahn
Die Lücke im Netz
Tod im Blumenmeer
Auf einmal ist alles anders
Der versteckte Tod
Blaulicht im Rotlicht: Tod im Bordell
Wie ferngesteuert
Anderen helfen, um sich selbst zu helfen
Mutti schläft
Die Leiche im Keller
Trauma und Trauer
Eine kleine Stadt stirbt aus
Der Sprung
Tod als Tabu
Herr Ylmaz und die Kiste
Dreizehn Minuten
Die Gründung des KIT-München
Die letzte Kurve
Der Kochlöffel im Bücherregal
Plötzlich stand er auf dem Gleis
Abschied von Maxi
Wenn die Worte fehlen
Mein Mann ist bestimmt nur scheintot
Der Setzkasten
Adolf Hitler, Mickey Mouse und die rechte Ordnung
Trauer verbindet
Der Umweg über Basel
Wenn Lust und Tod an einem Strang ziehen
Doppeltes Morgengrauen
Ehrenamt beim KIT-München
Blut im Schnee
Ich hänge im Bad
Der Messermord
Der Joker
Der fluchende Feuerwehrmann
Danksagung
Vorwort
Warum haben wir beide uns entschlossen (zusammen mit Shirley Michaela Seul) dieses Buch zu schreiben? Es gibt gute und wichtige Argumente dagegen. Im Übergang vom Trauma des ersten Schreckens hin zum Beginn der Trauer reagieren die Menschen nicht bedacht und kontrolliert, sondern völlig ungeschützt und authentisch. Sie haben keine seelischen Energien, um zu überlegen, wie sie auf andere wirken möchten. Wir erleben die Menschen in einer sehr intimen Lage. Diese Situation gehört nicht in die Öffentlichkeit, sie muss vor ihr geschützt werden.
Doch gleichzeitig ist es unser Bestreben, den plötzlichen Tod aus seiner Sprachlosigkeit und Verschwiegenheit heraus- zunehmen und in eine gesellschaftliche Wahrnehmung zu bringen. Diese Absicht ist der Grund für das vorliegende Buch.
Der langsame Tod, Thema der Hospizbewegung und der Palliativmedizin, bekommt bereits vielfältige Unterstützung. Das ist gut, wichtig und richtig. Der plötzliche Tod, der auch Realität unserer Gesellschaft ist und immer bleiben wird, ist weniger präsent im Bewusstsein vieler Menschen. Dabei ist der plötzliche Tod wie kaum ein anderes Ereignis ein zugleich dramatischer Lernort von Hilflosigkeit und Ohnmacht: Wo wir mit dem Hubschrauber im Vorgarten landen, können wir dennoch das leichenstarre Kind mit keinem Wissen dieser Welt wiederbeleben. Und trotzdem: Wir wollen mit diesem Buch zeigen, dass es einen Ausweg aus Hilflosigkeit und Ohnmacht gibt, wenn wir uns der Situation stellen und wissen, wie wir uns dazu verhalten können.
Wenn es stimmt, dass jeder sechste bis siebte Mensch in unserer Gesellschaft plötzlich und somit unerwartet stirbt, dann handelt es sich beim plötzlichen Tod um ein Thema, das viele Menschen betrifft. Daher wenden wir uns in diesem Buch bewusst nicht an ein Fachpublikum, sondern an jeden, der über die Realität des plötzlichen Todes mehr erfahren möchte.
Der Junge, das Fahrrad und die Straßenbahn
Der Sommertag des Jahres 1989 hätte nicht schöner sein können. Blau stand der Himmel über der Stadt, und weil es eine bayerische ist, zogen hin und wieder ein paar weiße Wölkchen träge ihre Bahnen. Alle Requisiten waren auf ihrem Platz an der Landsberger Straße, nicht weit weg vom Münchner Oktoberfest: Miniröcke, Muskelshirts, Weißbierreklame. Die Gesichter der Kinder mit den Eistüten in den Händen leuchteten klebrig vor Glück. Es war Freitag, alle freuten sich auf das Wochenende.
Fast alle.
Der Junge lag unter der Straßenbahn. Mit seiner Mutter und seinem neuen Fahrrad war der siebenjährige Florian beim Einkaufen gewesen. Florian wollte gar nicht mehr zu Fuß gehen, seitdem er das Rad zum Geburtstag bekommen hatte, sondern immer nur fahren, am liebsten sogar in der Wohnung. Kurz nach der Donnersberger Brücke hatten sie die Landsberger Straße überquert. Sie waren hier schon Dutzende Male entlanggegangen. Das Schild hatte die Mutter noch nie wahrgenommen. Und Florian sowieso nicht, obwohl er sehr stolz darauf war, schon so gut lesen zu können: Signal gilt nicht für Tram. Florian wartete auf Grün und radelte los. Radelte bis zum Mittelstreifen und weiter. Heim. Am Freitag kam der Papa immer früher nach Hause, und er hatte versprochen, dass sie heute noch ins Dantebad gehen würden.
Um die Geräusche der Straßenbahn abzudämpfen, hatte man rechts und links des Gleisbettes dichtes Buschwerk gepflanzt. Das Kind schoss aus den Büschen, vier, fünf Meter vor der Tram. Der Straßenbahnfahrer hatte keine Chance. Während er eine Vollbremsung durchführte, wusste er, dass sie zu spät kam. Er musste zusehen, wie die Straßenbahn auf ihren Schienen zwar gebremst, dennoch unaufhaltsam auf das Kind mit dem Fahrrad zufuhr, es rammte, zu Boden schleuderte, überrollte.
Ein Abgrund war in den Sommernachmittag gesprengt worden und riss mehrere Menschen mit sich. Unten auf den Schienen lag der kleine Florian. Oben der Straßenbahnfahrer und die Mutter, beide körperlich unversehrt, doch innerlich wie zerschmettert.
Kind unter Straßenbahn ist für die Kollegen von der Rettungsleitstelle eines der schlimmsten Einsatzbilder. Da drücken sie mit zehn Fingern zwanzig Knöpfe gleichzeitig, um schnellstmöglich viele Einsatzkräfte zu alarmieren: Rettungsdienst, Feuerwehr, Polizei, Notarzt, Kindernotarzt.
Der damals siebenundzwanzigjährige Andreas MüllerCyran traf mit einem Kollegen als Erster am Unfallort ein. Er finanzierte sein Studium wie so manch anderer mit einem Job beim Rettungsdienst im ASB. Das Unglück war noch so frisch, dass sich keine Menschentraube gebildet hatte. Andreas Müller-Cyran sah das blaue Kinderfahrrad unter der Trambahn. Er sah auch den Straßenbahnfahrer, der nicht ausgestiegen war, sondern in der Tram saß, starr geradeaus blickend. Und dann sah er das Kind. Es lag unter dem vorderen Teil des ersten Waggons. Es trug ein hellblaues T-Shirt, seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht wirkte friedlich. Andreas hob das Kind aus dem Gleisbett und spürte, dass sich sein Verdacht bestätigte. Der Junge war ohne vitale Lebenszeichen, seine Haut gräulich, der Kopf abnorm beweglich. Sein Genick war gebrochen. Obwohl er also Verletzungen aufwies, die mit einem Überleben nicht vereinbar waren, begannen Andreas und sein Kollege sofort mit der Wiederbelebung. Das war ihr Job, und vielleicht geschah ja ein Wunder? Diese Hoffnung beatmet jede Reanimation. Am Rande seiner Aufmerksamkeit nahm Andreas die Mutter wahr, die alle Maßnahmen an ihrem Kind mit weit aufgerissenen Augen beobachtete. Nun trafen auch die Kollegen von der Feuerwehr und ein Notarzt aus einem nahe gelegenen Krankenhaus ein, kurz darauf der Kindernotarzt. Vier, fünf Helfer waren jetzt mit der Reanimation beschäftigt. Jemand drückte auf den schmalen Brustkorb des Jungen, Herzdruckmassage, ein anderer beatmete, ein Dritter legte eine Infusion. Medikamente wurden in Spritzen aufgezogen. Ein lauer Windstoß riss einen kleinen Fetzen weißes Verpackungsmaterial in die Luft, trieb ihn vor sich her durchs Gleisbett, wirbelte ihn höher und bis auf die andere Seite der Landsberger Straße, wohin Florian gewollt hatte.
Für Andreas Müller-Cyran war der Ablauf am Unfallort nichts Ungewohntes. Was von einem Außenstehenden als chaotisch wahrgenommen werden mag, ist für einen Rettungsassistenten das tägliche Brot. Das Chaos besteht in Wirklichkeit aus klaren Abläufen, Strukturen, Ordnung. Jeder kennt seinen Platz, jeder weiß, was er zu tun hat. Andreas war am Beatmungsbeutel abgelöst worden. Plötzlich fiel sein Blick auf die Mutter des Jungen. Völlig verloren stand sie am Rand der Büsche halb auf der Straße. Zu ihren Füßen zwei Plastiktüten mit Einkäufen, eine davon ausgeleert. Äpfel, Bananen, Kaba und Fruchtzwerge auf dem Asphalt. Sie stand da, als gehöre sie nicht dazu. Als hätte sie irgendjemand in ein Bild gestellt. Unbeweglich starrte sie in die orange- und weißfarbenen Rücken der Menschen, die auf dem Boden knieten. Um ihr Kind herum. Das alles war zu groß, um es zu verstehen. Es war so entsetzlich, dass es nur ein Traum sein konnte. Doch sie wachte nicht auf.
Was könnte ich zu ihr sagen, überlegte Andreas und fand keine Antwort. Es irritierte ihn, dass trotz der vielen Helfer am Einsatzort niemand für diese Frau zuständig war. Ein Stück weiter weg, neben seiner Straßenbahn, rauchte der Fahrer mit ruckartigen, fast mechanischen Bewegungen eine Zigarette. Und noch eine. Zitternd, bleich, zutiefst erschüttert. Auch er war aus seinem Leben gefallen.
Mediziner, Polizei, Feuerwehr. Jeder von ihnen hatte eine Aufgabe. Aber die Mutter? Aber der Straßenbahnfahrer?
Andreas Müller-Cyran nahm diese beiden Menschen in einer aufwühlenden Schärfe wahr. Wer kümmerte sich um sie? Sicher, die Polizei würde beide vernehmen. Aber damit war es doch nicht getan! Sie brauchten genauso Hilfe wie der Junge, wenn auch andere. In diesem Moment nahm das KIT-München in Andreas’ Kopf vage Gestalt an. Doch es sollte dauern bis zum 9. März 1994, ehe das KIT seine Arbeit aufnahm.
Die Polizei und Feuerwehr hatten den Verkehr der mehrspurigen Straße auf eine Spur umgeleitet. Manche Autofahrer schimpften aus offenen Fenstern. Fahrzeuge mit Klimaanlage waren damals noch selten. Wie so oft in solchen Fällen erkannten viele Menschen aus der Ferne den Ernst der Lage nicht. Wie soll man auch so schnell umschalten können? Hier die Leichtigkeit des Sommers, dort der Tod. Diese beiden Gegensätze sind nicht zu vereinen, obwohl sie sich bedingen. Manche Menschen schämen sich später für ihr unpassendes Verhalten. Sie haben vielleicht Witze gerissen und erst im Nachhinein bemerkt, dass das nicht lustig war; zehn Meter neben ihnen kämpften die Rettungskräfte um das Leben eines Kindes. Nein, es sind viel mehr als zehn Meter, es sind Welten.
Der kleine Florian war dabei, die hiesige Welt zu verlassen. Es gelang den Einsatzkräften nicht, ihn zu reanimieren. Seine Chancen waren von Beginn an denkbar schlecht gewesen, bei 0,2 Prozent, um genau zu sein. Trotzdem gab man lange nicht auf, obwohl allen klar war, dass hier nichts mehr zu retten war. Oder doch: die Würde des Kindes. Wenn man Florian vor Ort für tot erklären würde, müsste er womöglich stundenlang neben dem Gleisbett auf der Straße liegen bleiben, bis Polizei und Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen abgeschlossen hätten. Das wäre entsetzlich und unwürdig. Und genauso entsetzlich war es, der Mutter, den Eltern die Todesnachricht zu überbringen. Auch dies hätte der Notarzt dann tun müssen. Mit Florians Überführung ins Krankenhaus delegierte er die unangenehme Mitteilung an einen anderen Zuständigkeitsbereich. Während der Fahrt würden die Reanimationsmaßnahmen wie Herzdruckmassage und Beatmung, an deren Erfolg niemand mehr glaubte, fortgesetzt.
Während man es heute Angehörigen gestattet, wenn möglich im Notarztwagen mitzufahren, war das damals nicht üblich. Es war auch gar kein Platz im Auto. Andreas Müller-Cyran sah die Mutter und wusste, dass es hier nur eine richtige Entscheidung gab. Die Mutter musste bei ihrem Kind bleiben dürfen. Wie ein Blitz fiel ihm eine Lösung ein. Er musste den Beifahrersitz in seinem Wagen frei bekommen, damit er die Mutter hinter ihrem Sohn her ins Krankenhaus bringen konnte.
»Du brauchst jetzt meinen Kollegen bei dir im Auto«, erklärte der Philosophiestudent dem Notarzt unumwunden.
»Nein, brauch ich nicht«, erwiderte der Notarzt.
»Doch. Weil ich mit der Mutter nachkomme.«
Der Notarzt forschte im Gesicht des jungen Mannes. Er sah, dass dieser wusste, für Florian bestand keine Chance, und dass es ihm nun darum ging, das Kind von der Straße zu bergen. Es nicht hier für tot zu erklären, sondern in einer geschützten Umgebung. Ein Rettungs- oder Notarztwagen ist kein Leichentransport. Wäre Florian an Ort und Stelle für tot erklärt worden, hätte ihn später ein Bestatter abgeholt.
»Okay«, nickte der Notarzt.
Andreas stellte sich der Mutter vor und erschrak, als er bemerkte, dass sie keine Ahnung hatte, wie es um Florian stand. Sie machte sich zwar schreckliche Sorgen, doch sie glaubte, er habe sich vielleicht den Arm gebrochen oder eine Rippe. An den schlimmsten aller Fälle dachte sie nicht. Weil sie die Situation wirklich falsch einschätzte oder es sich wünschte? Als sie im Rettungswagen neben Andreas Platz nahm, glomm Hoffnung in ihrem Gesicht auf.
»Mit Schwimmen wird das heute wohl nichts«, sagte sie.
Ein Satz, der Andreas ins Herz schnitt. Der kleine Florian würde nie wieder schwimmen.
»Ihr Sohn ist sehr schwer verletzt«, versuchte Andreas sie vorzubereiten.
»Ich habe noch geschrien«, sagte die Mutter. »Florian, Halt!«, habe ich gerufen, aber er hat mich nicht gehört. Es ist so laut gewesen, und es hat ihm so pressiert, weil doch mein Mann …« Sie stockte und sagte dann: »Er muss besser auf mich hören. Er muss besser folgen. Wenn ich Halt rufe, muss er stehen bleiben.«
Andreas Müller-Cyran traute sich nicht, ihr zu sagen, dass Florian eigentlich schon tot war. Er wusste nicht, wie er sich der Mutter gegenüber verhalten sollte, aber er hatte das starke Bedürfnis, sie nicht allein zu lassen. Er wollte ihr beistehen, so gut er es eben konnte. Dicht hielt er seinen Rettungswagen hinter dem Notarzt. An der Notaufnahme – Florian wurde auf einer Trage aus dem Wagen gezogen – sprang die Mutter aus dem noch rollenden Rettungswagen und stürmte zu ihrem Kind, das in diesem Moment bereits für tot erklärt worden war. Was sie nicht ahnte.
Andreas bat eine Krankenschwester: »Das ist die Mutter von dem Jungen. Bitte kümmern Sie sich um sie.«
Hiermit war sein Einsatz beendet. In Wirklichkeit begann er erst … auf einer anderen Ebene. Denn was an diesem Tag geschehen war, ließ ihn nicht mehr los. Nicht zu wissen, was er tun, was er sagen konnte, wie er sich verhalten sollte; seine eigene Hilflosigkeit und die des Rettungsdienstes beschäftigten ihn.
Die Lücke im Netz
Jeder an der Einsatzstelle hatte um das Leben des kleinen Florian gekämpft und gewusst, dass der Kampf verloren war. Dennoch hatte sich alle Aufmerksamkeit weiterhin auf das tote Kind konzentriert. Die Mutter lebte. Sie hätte, wie der Straßenbahnfahrer, Hilfe benötigt. Mit dem Tod des Kindes begann ihre Leidensgeschichte. Ihr Leben würde nie wieder so sein wie zuvor. Im übertragenen Sinn war sie nun die Verletzte. Doch um sie kümmerte sich niemand. Weil es niemanden gab, weil niemand dafür ausgebildet war – eine Lücke im System, in dem alles dafür getan wurde, dem körperlich verletzten Patienten zu helfen.
Im Fall von Florian wäre es folgerichtig gewesen festzustellen: Wir können nichts mehr für das Kind tun, aber wir können etwas für seine Angehörigen tun. Doch weil niemand wusste, was und wie, wurde der Fokus nicht verschoben vom Patienten auf die Angehörigen. Da stimmt etwas nicht, em-pfand Andreas Müller-Cyran. Und er wusste, dass es nicht an seinen Kollegen lag. Es fehlte die Zuständigkeit, die über ein persönliches Engagement hinausging. Natürlich gibt es immer Einsatzkräfte, die auch auf die Angehörigen schauen, obwohl es nicht zu ihrem Arbeitsauftrag gehört. Notärzte, Rettungsdienstler, seinerzeit auch Rettungsdienstzivis, die sich um diejenigen kümmern, die, körperlich unversehrt, dennoch schwer betroffen sind. In diesem Beruf braucht man eine andere Einstellung als bei einem Bürojob, der um neun Uhr beginnt und um siebzehn Uhr endet. Da geht man gelegentlich an seine körperlichen und seelischen Grenzen und darüber hinaus, um das Leben eines anderen Menschen, den man nicht kennt, von dem man nichts weiß, zu retten. Das macht gleichzeitig die große Faszination aus. Nahezu jeder, der einen solchen Beruf ergreift – ob bei der Polizei, Feuerwehr oder beim Rettungsdienst –, verspürt einen Impuls, anderen zu helfen. Insofern ist die Betreuung der Angehörigen nichts Wesensfremdes. Doch es besteht ein gravierender Unterschied, ob jemand in dieser Betreuung ausgebildet ist und weiß, worauf es ankommt, womit er zu rechnen hat, oder ob er helfen möchte, aber nicht weiß, wie. Das Wissen, was zu tun ist, vermittelt uns Sicherheit. Egal, ob bei der Behandlung einer Wunde oder eines seelischen Traumas. Auch wenn wir vieles allein aus unserer Intuition heraus richtig machen, indem wir uns einem Menschen in Not zuwenden – so bleibt es doch immer ein Stück weit dem Zufall überlassen, ob wir den anderen erreichen. Andreas Müller-Cyran wollte wissen, ob er, was die Mutter des kleinen Florian betraf, angemessen gehandelt hatte. Hatte er auf die richtige Art und Weise mit ihr gesprochen? Oder wäre es besser gewesen, sie nicht mitzunehmen ins Krankenhaus? Hätte er sie lieber nach Hause begleiten sollen? Was hätte er gesagt, wenn er es gewesen wäre, der ihr die Todesnachricht überbracht hätte? Kannte man für solche Situationen überhaupt ein optimales Verhalten, und wie sah das aus? Gab es Fachleute auf diesem Gebiet und wo? Bei der Polizei? Unter den Seelsorgern? Bei den Psychologen an der Uni? Wie sollte der Rettungsdienst, der ja oft als Erster zur Stelle war, mit Angehörigen umgehen, wenn die Versorgung der körperlich versehrten Patienten abgeschlossen war? Die grundlegende Frage, die sich Andreas letztlich stellte, lautete: Wie gehen wir mit dem plötzlichen Tod um? Denn kaum war ein Einsatz beendet, musste es weitergehen. Jede humanitäre Hilfe, die über die medizinische hinausging, war eine Art Luxus, der nicht vorgesehen war. Nicht aus Hartherzigkeit. Es gab keine hierfür ausgebildeten Menschen und keine Kostenstelle. Andreas Müller-Cyran hatte eine Lücke im Netz entdeckt.
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