Wenn der Wecker nicht mehr klingelt - Bettina von Kleist - E-Book

Wenn der Wecker nicht mehr klingelt E-Book

Bettina von Kleist

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Beschreibung

Von den einen ersehnt, von anderen gefürchtet: der Wechsel vom Berufsleben in den Ruhestand. Gewohnte Abläufe im Alltag sind plötzlich hinfällig, an freier Zeit herrscht nun kein Mangel mehr, aber wie soll man sie nutzen? Nicht selten brechen jetzt verschleppte Konflikte auf, wird die Partnerschaft auf den Prüfstand gestellt. Wie viel Anpassung verlangt die engere Zweisamkeit – und wie viel Distanz?
Wie ändert sich das Selbstbild, wenn die alten Rollen nicht mehr tragen? Wie lassen sich gesundheitliche und finanzielle Einschränkungen bewältigen?
Bettina von Kleist hat Paare befragt, wie sie mit diesen Herausforderungen umgehen. Die Modelle für den neuen Lebensabschnitt sind, so zeigt sich, erstaunlich vielfältig. Neben den Erfahrungsberichten hat die Autorin zahlreiche Langzeitstudien ausgewertet und Ratschläge von Fachleuten eingeholt. Auf diese Weise werden nicht nur die Probleme sichtbar, sondern auch die vielfältigen Chancen, die der Ruhestand für Paare bietet.

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Seitenzahl: 323

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Bettina von Kleist

Wenn der Wecker nicht mehr klingelt

Partner im Ruhestand

Ch. Links Verlag, Berlin

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

1. Auflage, April 2012 (entspricht der 4. Druck-Auflage von Dezember 2006)

©Christoph Links Verlag – LinksDruck GmbH, 2006

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 440232-0

www.linksverlag.de; [email protected]

Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin,

unter Verwendung eines Fotos von Arno Kiermeir

eISBN: 978-3-86284-166-0

Inhalt

Vorwort

Terra incognita: Der Ruhestand zu zweit

Abschied vom Beruf

Morgens bleibt der Wecker stumm

Die grenzenlose Freiheit – Horror Vacui oder Urlaubsstimmung?

Status- und Machtverlust

Erwartungen an den Ruhestand

Wilhelm Kewig: »Man fällt in ein Loch undweiß nicht, wie tief es ist.« – Sonja Kewig:»Der Ruhestand ist wie eine Krankheit, dieich loswerden will.«

Michael Gregor: »Ich kam mir völlig nutzlosvor.« – Isabella Gregor: »Auf diesen Absturzwar ich nicht gefasst.«

Beruf als Stützpfeiler der Identität

Karriere oder Broterwerb?

Der erste Tag im Ruhestand

Wechselwirkung von Selbstbild und Fremdbild

Richard Meinart: »Ich habe nicht loslassenmüssen – ich habe mich abgewandt.« – MiriamMeinart: »Offen über Probleme zu sprechen,ist schwierig.«

Horst Bekstein: »Ich habe zu Hause die Deckeangestarrt.« – Elsa Bekstein: »Ich konnte ihnnicht ständig trösten.«

Alter Hase oder altes Eisen?

Lebenserwartung und Lebensarbeitszeit früher und heute

Abgesicherter Ruhestand: eine Erfindung der Neuzeit

Achim H.: »Kämpfen will ich nicht mehr.« –Godela H.: »Plötzlich muss man das Auto selbstin die Waschanlage fahren.«

Zyklen des Abschiednehmens müssendurchlebt werden

Barbara Langmaack, Unternehmens- und Lebensberaterin, Hamburg

Sich neu begegnen

Erst der Job – dann die Familie?

Die Erfindung der Hausfrau

Die Frau sei ihrem Manne untertan? Ehe im Wandel

Werktätige Muttis im Osten, Hausfrauen im Westen

Prägende Rollenmuster

Etta Decker: »Er machte Karriere.Ich machte beruflich das, was ging.«

»It’s good to have a husband. But never for lunch.«

Konfliktzone Haushalt

Beziehungen zu Nachbarn, Kollegen, Verwandten

Gustav Scheve: »Ein Rest Selbstbestimmungmuss sein.« – Charlotte Scheve: »Wenn ich einenPlan habe, will ich den auch durchziehen.«

Karen Quandt: »Wir treffen uns auf einemimmer niedrigeren Level.«

Das Empty-Nest-Syndrom

Das Verhältnis zu erwachsenen Kindern

Das Verhältnis zu Enkeln

Dorothea Lohmann: »Man muss die Tagelebenswert machen.« – Heiner Lohmann:»Ich bastele ständig etwas.«

Vom Müssen zur Muße zum Müßiggang

Veränderungen im Tagesrhythmus

Die Macht der Gewohnheit

Hobbys und Ehrenämter

Tabuzone Arbeitsplatz

Ulrich Mint: »Der Rollentausch ist gar nichtso verkehrt.« – Christel Mint: »Mein Mannkann schlecht allein sein.«

Jetzt lernt man sich erst richtig kennen

Mehr Miteinander oder mehr Gegeneinander?

Nähe und Abgrenzung

»Nie hörst du auf mich!« – Fürsorge und Macht

Kontrolle und Kompromisse

Anerkennung und Kritik

Nun sprich doch endlich!

Hugo Klimm: »Wichtig ist, dass jedereigenständig bleibt.« – Franz Brewe: »Am liebstenwürde ich die Zeit anhalten.«

Karin Hellmer: »Die Zärtlichkeit ist geblieben.« –Olaf Hellmer: »Man muss nicht allesausdiskutieren.«

Wer bin ich noch für dich? Wer bist du noch für mich?

Veränderung des Selbstbildes

Erwartungen, Hoffnungen, Enttäuschungen

Bewahren und Entwickeln

Chancen und Klippen des späten Rollentausches

Ungleichzeitiges Altern

Susanne Weil: »Das Wichtigste ist unserePartnerschaft.«

Jutta Neubert: »Ich fühlte mich oft alshäusliche Geräuschkulisse.«

Ab 60 stellt sich innerlich ein leiser Brummton ein

Das Alter: nur Verlust oder auch Gewinn?

Altern als »Naturschauspiel«

Das Alter ist weiblich

Streit entzweit – Auseinandersetzung verbindet

Dr. Peter Goebel, Psychoanalytiker, Psychotherapeut, Berlin

Zäsuren in der Partnerschaft

Wenn der Partner pflegebedürftig wird

Wer pflegt wen? Wie verändert sich der Alltag?

Wie sich die Beziehung verändert

Lydia und Walter Utz: »Tage ohne Schmerzensind glückliche Tage.«

Katinka Lind: »Die Angst verheimlichtenwir voreinander.«

Ratschläge für pflegende Partner

Gabriele Tammen-Parr, Leiterin der Berliner Beratungs- und Beschwerdestelle bei Konflikt und Gewalt in der Pflege älterer Menschen »Pflege in Not«

Aufbruch zu neuen Ufern

Living apart together

Trennung und Neuanfang

Der alte Mann und das Mädchen

Der nahende Abschied: Partnerverlust im Alter

Heike Weber-Niehoff: »Mein Mann ist einJunggeselle, der sich in die Ehe verirrt hat.« –Vito Niehoff: »Wir wussten: wir müssenetwas ändern.«

Lukas Schorn: »Einsamkeitsgefühlesind mir fremd.«

Martin Monk: »Unsere Eheprobleme habensich immer wieder eingependelt.« – Anne Monk:»Es bleibt eine Basisliebe.«

Schlusswort

»Ich nenne es Free Flow.«

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Nützliche Adressen

Zur Autorin

Vorwort

Die Stimme meiner Freundin klingt empört. Bei einem Fest wurden sie und ihr Mann in größerer Runde begrüßt – »und was denkst du, was die Gastgeberin sagte?« Kein Wort darüber, was die zwei beschäftigt, interessiert, beruflich getan und erreicht haben. Stattdessen wurden sie im Doppelpack vorgestellt: »Beide sind nun im Ruhestand.«

Keine Frage: Wir rücken auf. Mehr und mehr schränkt sich die Haarfarbe meiner Generation auf drei Grundtöne ein: grau, weiß und hennarot. Immer häufiger träufeln in unsere Gespräche Themen, die bisher nur die anderen betrafen: Rente, Krankheiten, die Wohnung im vierten Stock ohne Fahrstuhl. Ohne zu verschnaufen, erklommen wir noch vor kurzem die 68 Stufen und witzelten über den offensichtlich fehlerhaften Zwischenbescheid der BfA.

Die magischen 50: Eben noch Hürde, jetzt schon Erinnerung. Beschwichtigungen würzten Geburtstagsreden. Auf den Tanzflächen zu den ersten 60er-Jubiläen ein einheitliches Bild: drei Viertel Frauen, ein Viertel Männer. Nackte Arme zeigen, dass das Abo in Fitness-Studios sich lohnt. Im Skiurlaub wächst die Langläufer-Fraktion. Immer schwerer sind die Koffer gefüllt mit dem Medikamenten-Set für alle Fälle und Dingen, auf die man auch woanders nicht verzichten will.

Die Umständlichkeiten nehmen zu; gesundheitliche Einschränkungen kommen näher. Immer deutlicher schälen sich Wesenszüge heraus. Nun, kurz vor der Rente oder schon im (Vor-) Ruhestand, gabeln sich noch einmal die Wege, auch zwischen Eheleuten. Und erstaunlich häufig werden nach Trennung und Scheidung aus Jugendfreundschaften späte Lieben.

Umtriebiger denn je stürzt sich Ulrich mit 61 in immer neue Projekte, will die »restliche« Schaffenskraft maximal ausschöpfen. Laut Statistik habe er noch etwa 14000 Mahlzeiten vor sich – da wolle er nie mehr schlecht essen, ist eines der Ziele von Roland. Ehedem las er einen Krimi nach dem anderen. Doch wofür soll er sich jetzt belohnen, seit keine Korrekturen von Klassenarbeiten mehr auf ihn warten?

Edith hat mit 62 noch ihr Abitur gemacht. Fürs Grab studieren? Diese Frage stellt sich für sie nicht. Lernen erfüllt sie. Und: Je mehr sie außer Haus ist, desto geringer die Gefahr, dass ihr Mann und sie aneinander prallen.

Ein spannender Lebensabschnitt. Im Zeichen des wehmütigen »Noch«, dann wieder voller Auftrieb, ist er oft weit entfernt vom beschaulichen Lebensabend, der für manche eine erstrebenswerte Idylle, für andere eine Drohung bedeutet. Über ein Thema entlang der eigenen Lebenslinie zu schreiben, schärft das Gehör für Zwischentöne, aber auch das Bewusstsein, wie unterschiedlich wir Gleiches wahrnehmen. Je älter wir werden, desto unbeirrbarer rechnen wir eigene Erfahrungen hoch und stülpen sie anderen über. Angeblich Bewährtes lässt manche Partnerschaft im Ruhestand ersticken. Andere Ehen zerbrechen an der atemlosen Jagd, Versäumtes nachholen zu wollen.

Chronische Unachtsamkeit kann nun nicht mehr nur mit Zeitnot entschuldigt werden und beschleunigt die Entfremdung. Aufmerksame Gesten, die sorgfältigere Unterscheidung, was wichtig ist und was nicht, fachen dagegen die Liebe wieder an.

Goldene Lebensregeln will dieses Buch nicht geben. Der Einblick, wie andere die unausweichliche Zäsur erleben, gestalten und meistern, hilft Paaren und ihren Angehörigen vielleicht, Klippen zu umschiffen, und stiftet sie zu Gesprächen an. »Oft sind es genutzte Mußestunden, in welchen der Mensch das Tor zu einer neuen Welt findet«, philosophierte der amerikanische Autor George M. Adams. Das Ende der Berufstätigkeit könnte dafür eine gute Gelegenheit sein.

Berlin im Januar 2006

Bettina von Kleist

Terra incognita: Der Ruhestand zu zweit

Der Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand ist ein Ereignis, mit dem in unserer Gesellschaft fast jeder direkt oder indirekt konfrontiert wird. Wie jeder Lebenswechsel bringt auch die Pensionierung einschneidende Veränderungen mit sich. Sie schafft eine neue Freiheit, die vor allem viel freie Zeit, aber auch den Beginn des letzten Lebensabschnittes bedeutet. »Früher hat der Jahrgang keine große Rolle gespielt. Der eine war etwas jünger, der andere etwas älter. Plötzlich ordnet man sich anders ein«, schildert ein Mann das neue Selbstbild, wenn der Stichtag erreicht ist. Vergleichende Studien beleuchten den Wandel, der sich in der Lebenssicht und im Verhalten verschiedener Rentnergenerationen vollzieht. Sie beschränken sich aber vorwiegend auf die unmittelbar betroffene Person, ohne deren familiäres Umfeld einzubeziehen.

43 Prozent der über 65-Jährigen leben mit Ehepartnern.1 Gleichwohl erhellen bisher keine Publikationen, wie Paare und Familien mit dem Übergang in den Ruhestand umgehen und welche Strategien sie hierbei entwickeln. Dabei greift der Abschied vom Arbeitsleben auch erheblich in das Leben des Partners ein. Besonders in Ehen mit klassischer Rollenverteilung – Mann berufstätig, Frau Hausfrau – muss die künftige Aufgabenteilung neu ausgehandelt werden. Ein oft konfliktreiches Unterfangen, wie Loriots Filmkomödie »Pappa ante portas«, in der der verrentete Ehemann den Haushalt als reiches Betätigungsfeld für Verbesserungen entdeckt, anschaulich schildert. Strategien des einen, die ungewohnte Situation zu bewältigen, haben immer auch Einfluss auf den anderen. Gegenseitige Erwartungen färben und bestimmen den Alltag, sei es, indem man sich auf die Wünsche des anderen einstellt oder indem man sich Forderungen widersetzt. Auch der Blick von außen ändert sich, wenn der pensionierte Schuldirektor oder die einflussreiche Kommunalpolitikerin »nur noch« Privatmensch ist.

Während einige Paare sich darauf freuen, mehr Zeit füreinander zu haben und nach dem Auszug der Kinder eine neue Intimität zu entwickeln, wird für andere die Zusammengehörigkeit durch den Verlust bisheriger Rollenteilung in Frage gestellt. Mitunter brechen nun alte Konflikte auf. Auch wenn Partner gleichaltrig sind, altern sie nicht gleichzeitig. Bei anderen macht sich in dieser Lebensphase der große Altersunterschied bemerkbar. Viele Paare blicken so dem ganztägigen Privatleben mit einer Mischung aus Hoffen und Bangen entgegen: Was ersetzt das bisherige Pensum von Pflichten und Aufgaben? Wird sich der Wunsch nach mehr Gemeinsamkeit erfüllen?

In diesem Buch schildern 13 Paare und sechs Einzelpersonen, wie sich ihr Alltag, ihre Ehe, das Familienleben und ihre sozialen Kontakte im Ruhestand verändern und wie sich das fortschreitende Alter für sie bemerkbar macht. Einige sind selbst nicht mehr erwerbstätig, bei anderen schied der Partner bzw. die Partnerin aus dem Berufsleben aus, oft sind beide Rentner. Insgesamt habe ich zirka 40 Menschen befragt. Fokussiert auf das Thema Ruhestand, zielt jedes ausführliche Gespräch darauf, die zahlreichen Facetten der neuen Lebensetappe auszuloten, wobei meine Gesprächspartner die Aspekte selbst gewichteten. Von ihrer Schwerpunktsetzung habe ich mich bei der Zuordnung der Interviews zu den verschiedenen Kapiteln leiten lassen – gleichwohl steht jedes Interview für sich. Manchmal ähnelt sich der Blick. Aber es zeigt sich auch, wie verschieden Menschen Umbrüche wahrnehmen, erleben und verarbeiten.

Mit beiden Partnern gemeinsam ein Gespräch zu führen, hat den Vorteil, dass die Fragen unbelastet von jedem Vorwissen sind und die Eheleute auf die Meinung des jeweils anderen reagieren können. Nach meinem Eindruck wurde manchmal die Gelegenheit genutzt, den Partner mit Kummer und Vorwürfen zu konfrontieren, denen er sonst offenbar kein Gehör schenkt. Mitunter ergriffen Paare die Chance, um einander ihre Anerkennung und Liebe zu bekunden. In Gegenwart des anderen ist Offenheit jedoch auch ein Risiko. Dass in Einzelgesprächen mehr Probleme zur Sprache kommen, scheint mir kein Zufall zu sein.

Für die sechs Einzelinterviews gab es verschiedene Gründe. Entweder wünschten meine Gesprächspartner kein Gespräch zu zweit, oder einer der Partner winkte ab, mangels Zeit oder Interesse. Zwei Personen leben nach Trennung bzw. Tod des Partners allein.

Überwiegend zwischen Mitte 50 und Ende 60, gehören meine Gesprächspartner fast alle zu den »jungen Alten«. Nur wenige sind über 70 Jahre alt, der älteste ist 81. Dass die meisten vorzeitig in den Ruhestand gingen, ist statistisch kein überraschendes Ergebnis. Viele kapitulierten vor betrieblichen Umstrukturierungen und dem Druck, ihren Arbeitsplatz zu räumen. Andere nahmen Vorruhestandsregelungen in Anspruch, rückblickend mit kleinen Gewissensbissen. Erschreckend viele, sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland, bedauern die unerfreulichen Umstände, unter denen sie beruflich ausstiegen. Im schlimmsten Fall erfolgte eine Kündigung aus heiterem Himmel. In wenigen Fällen startete die jüngere Ehefrau beruflich noch einmal durch.

Manche Paare haben gemeinsame Kinder, andere sind nach Scheidung und Wiederverheiratung Eltern und Großeltern einer Patchworkfamilie. Vier Paare sind kinderlos.

Das Buch gliedert sich in die drei Hauptteile Beruf, Beziehungen und Alter, in denen vor allem den folgenden Fragen nachgegangen wird: Prägen traditionelle Rollenmuster die Ehe? Welchen Stellenwert hat der Beruf im Leben von Frauen und Männern? Wie unterschieden sich weibliche Erwerbsbiografien in der DDR von denen in der BRD?

Repräsentative Untersuchungen, Kommentare von Fachleuten und meine Gespräche mit Experten untermauern oder relativieren die Schilderungen von Menschen, deren Auswahl selbstverständlich nicht alle Lebenssituationen abdecken kann. Paare, die erst nach dem Beruf ihre Berufung erfahren und nochmals Sensationelles auf die Beine stellen, Rentner, die sozial völlig abstürzen, habe ich nicht einbezogen. Radikale Lebenswenden interessieren mich weniger als Ausschläge nach oben und unten: wenn Gewohnheiten obsolet werden, keine beruflichen Erfolge mehr das Selbstwertgefühl aufmöbeln und Sexualität nicht selten durch freundschaftliche Zärtlichkeit ersetzt wird. Dass sowohl in heterosexuellen als auch in homosexuellen Partnerschaften die Sturm- und Drangzeit oft in den Wunsch nach bürgerlicher Geborgenheit mündet, zeigt das Gespräch mit einem Männerpaar.

Während meiner Recherchen wurde ich auf die Studie von Sabine Buchebner-Ferstl aufmerksam, in der sich die Psychologin vom Österreichischen Institut für Familienforschung mit dem Thema »Pensionierung: Konsequenzen für die Partnerschaft« auseinander setzt.2 Ich verdanke der Arbeit die Bestätigung, dass es im ehelichen Ruhestand zwischen verschiedenen Paaren mehr Parallelen als landestypische Unterschiede gibt.

Abschied vom Beruf

Morgens bleibt der Wecker stumm

Die grenzenlose Freiheit – Horror Vacuioder Urlaubsstimmung?

»Davonschleichen« wollte er sich, nur »den kleinsten Kreis« einladen. Es wurde dann doch eine große Abschiedsfeier. 30 Jahre hatte er die Geschicke eines Pharmakonzerns mitgelenkt, für Privates blieb kaum Zeit, berichtet Klaus Sasse. Mit dem Arbeitsstil der nachrückenden Generation nicht immer einverstanden, nutzte er deshalb das Vorruhestandsangebot seines Unternehmens. »Ich möchte meinem Leben noch einen anderen Sinn, einen anderen Rhythmus geben.« Gleich am ersten Tag, berichtet der 62-jährige ehemalige Hauptabteilungsleiter, fuhr er in sein Ferienhaus. Reisen, zu kurz gekommene Familienaufgaben und seine Mitarbeit in einer Selbsthilfegruppe, in der er sich als Vater eines Bluters jetzt noch mehr engagiert, bringen ihn bisher nicht in die Situation, zu Hause womöglich im Weg zu sein. Mag sein, dass er sich schon wieder unter Zeitdruck bringt. Doch besser so als umgekehrt.

Jahrzehntelang standen berufliche Anforderungen im Vordergrund. Auch das Wochenende war selten frei. Und dann von heut’ auf morgen der Wechsel ins ganztägige Privatleben. Ein Einschnitt, erzählt Irene Maas, auf den sie zunächst mit völliger Lethargie reagierte. Wie in Trance, erinnert sich die gelernte Außenhandelskauffrau, hatte sie mehrere hundert Hände geschüttelt, als sie ihren Posten als Betriebsratsvorsitzende quittierte und mit Mitte 50 aus dem Berufsleben verabschiedet wurde. Uralt fühlte sie sich damals, so »kaputt« war sie. »Ich wusste, wenn ich so weiter arbeite, habe ich bald eine großartige Beerdigung.« Obwohl sie sich auf ihre Unabhängigkeit gefreut hatte, konnte sie sich in den ersten Tagen zu nichts aufraffen. Bald jedoch suchte sie sich wieder Aufgaben. Zum einen, weil sie Rat suchende Kollegen nicht abweisen wollte. Zum anderen, da sie feststellte, wie schwer es war, ihren Vorsatz »einfach nur leben« umzusetzen: »Ich hatte ständig Gewissensbisse. Wenn ich morgens um acht noch im Bett lag oder abends spazieren ging, dachte ich: Du müsstest eigentlich ...«

Auch wenn die Mehrheit der Deutschen das offizielle Datum der Pensionierung nicht mehr erreicht, weil sie vorzeitig aus dem Berufsleben ausscheidet, ganz überraschend erfolgt die Entlassung ins ganztägige Privatleben meist nicht. Jahr für Jahr war der Stichtag näher gerückt. Wenn dann der Schlüssel zum Büro abgegeben ist, werden nicht wenige von euphorischer Urlaubsstimmung erfasst. Kein Termindruck, keine Hetze, kein körperlicher Stress mehr. Der Chef, die unsympathischen Kollegen können einem fortan gestohlen bleiben. Nun ist man sein eigener Boss, kann tun und lassen, was man will. Der Wecker bleibt morgens stumm.

Mit Beklommenheit sehen andere der Freiheit entgegen, die erst einmal ein Vakuum bedeutet. Kein fester Rahmen mehr, der den Tag, die Woche gliedert. Geschäftsreisen und der Plausch in der Kantine gehören fortan der Vergangenheit an. Kein Adrenalinstoß bringt einen so richtig auf Touren. Statt morgens aus dem Haus zu eilen, steht man künftig beim Bäcker für Brötchen an. Und wie die ungewohnte Nähe gestalten, wenn sich die Ehe künftig nicht mehr hauptsächlich aufs Wochenende und den gemeinsamen Urlaub beschränkt? »Ich wusste nie so recht, was Rentner den ganzen Tag machen. Sie pusseln ein bisschen hier, ein bisschen dort. Ich hatte oft den Eindruck, es wird viel Zeit totgeschlagen«, beschreibt ein Bauingenieur im eben begonnenen Vorruhestand seine Angst, in ein Loch zu fallen, wenn der bisherige Tages-, Wochen- und Jahresrhythmus nicht mehr gilt und sich nicht abzeichnet, was an die Stelle der bisherigen Aufgaben tritt.

Wie oft hatte man Hektik und Fremdbestimmung verwünscht! Nun, da man eine andere Gangart einlegen könnte, sind die Seiten im Terminkalender bedrohlich leer, bremst Orientierungslosigkeit die freigesetzte Energie. Der sprichwörtliche Pensionsschock trifft nach Auskunft von Fachleuten vor allem jene, die bis zuletzt alle Energie in den Beruf steckten und versäumten, sich auf das neue Lebenskapitel vorzubereiten.

Doch auch wenn die rechtzeitige Pflege von privaten Interessen, das Übernehmen neuer Aufgaben den Übergang erleichtern, bringt der endgültige Ausstieg aus dem Berufsleben Verunsicherungen mit sich, erläutert der Sexual- und Paarberater Robert Bolz. Als Mitarbeiter von »pro familia« in München hat sich der 62-jährige Diplom-Pädagoge vor allem auf Lebensfragen von Menschen jenseits der 50 spezialisiert. »Der Abschied vom Beruf ist eine Zäsur, die einen kränkenden Charakter hat. Auf jeden Fall bei Männern, die in der Regel ihre Identität viel stärker über ihren Beruf beziehen als Frauen. Der Ausspruch: ›Ich freue mich, wenn ich hier fertig bin‹, trifft es in der Regel nicht. Viele stürzen in eine tiefe Depression. Besonders die, die sich nicht rechtzeitig um die Frage gekümmert haben: Was mache ich, wenn ich mit meinem Beruf aufhöre? Um die 60 kommt vieles zusammen, denn oft ist dies auch der Zeitpunkt, da die Kinder aus dem Haus gehen, und das bedeutet generell eine große Herausforderung für die Partnerschaft. Das Leben wird spürbar endlich.«

Status- und Machtverlust

Aber auch jene, die sich für die nachberufliche Zeit gerüstet haben und aufatmend Jüngeren das Feld überlassen, sehen sich mit einem verunsichernden Rollenwechsel konfrontiert. Man ist künftig von Insider-Informationen abgekoppelt, rutscht mehr und mehr gesellschaftlich an den Rand. Besonders Führungskräfte müssen damit fertig werden, dass sie mit dem Verlust von Macht und Einfluss auch an Prestige verlieren.

200 Menschen kamen zu seinem Abschiedsempfang, berichtet ein pensionierter Bankdirektor. Schon damals war ihm klar, dass er viele Gäste nicht wiedersehen würde. »Kurz vorher sagte mir der Präsident: Denken Sie daran, künftig haben Sie keine Macht mehr, keine Verpflichtungen. Und Sie werden auch nicht mehr eingeladen.«

Um sich Enttäuschungen zu ersparen, treten einige die Flucht nach vorn an. Sie kappen von sich aus den Kontakt zu ehemaligen Kollegen und zu Kreisen, die ihnen ihr Beruf erschloss. Etliche meiner Interviewpartner betonten, dass sie einen klaren Trennstrich zwischen Beruf und Privatleben bevorzugen. Ob freiwillig oder weil sie lieber nicht die Probe aufs Exempel wagen, blieb meist hinter sachlichen Begründungen versteckt.

Je nach Temperament und Selbstwertgefühl werden der Statusverlust und das Nachlassen des entgegengebrachten Interesses achselzuckend oder bitter konstatiert. »Man fällt in die Bedeutungslosigkeit«, beschreibt ein 64-Jähriger seinen Eindruck, dass er nun in die Rubrik Ruheständler eingemeindet sei und es offenbar in den Augen anderer kaum einen Unterschied bedeute, ob er als Informatiker oder Gärtner seine Brötchen verdient habe.

Rita Frisch, die als Mitarbeiterin eines regionalen Fördervereins bis zu ihrer Frühpensionierung eine öffentliche Person war, meint dagegen: »Es liegt jetzt auch an mir: Wenn ich an jemandem wirklich Interesse habe, muss ich stärker die Initiative ergreifen.«

Auch im privaten Kreis, in der Familie, verändert sich die Stellung. Obwohl die neue Lebensphase viel Spielraum für individuelle Gestaltung lässt, steckt der Status des Ruheständlers oft voller Zuweisungen. Man kann sich in das Klischee des Rentners fügen und künftig mit dem Enkel nur noch Enten füttern gehen – oder versuchen, den stereotypen Erwartungen zu entkommen und der neuen Rolle einen eigenen Stempel aufzudrücken.

Erwartungen an den Ruhestand

Dass Theodor Fontane erst nach seinem 60. Geburtstag seine großen Romane schrieb und die Malerin Grandma Moses mit 78 Jahren ihre künstlerische Laufbahn begann, sind nur schwache Hoffnungsschimmer, wenn zu Beginn des Ruhestandes Frühstück und Feierabend erst einmal ineinander gleiten, ohne dass die Stunden dazwischen erkennbar gefüllt, geschweige denn genutzt wurden.

»Mit dem Übergang vom Arbeitsleben in den Ruhestand wird der Umgang mit der freien Zeit zur zentralen Herausforderung für jeden einzelnen. Es fehlt jetzt der natürliche Spannungsbogen von Anstrengung und Ruhe«3, erklärt der Gesellschafts- und Freizeitforscher Horst Opaschowski die zunächst oft großen Stimmungsschwankungen zwischen resigniertem Rückzug und Hyperaktivität, bis eine neue Balance von Ruhe und Tätigkeiten gefunden wird.

Konkrete Pläne und die realistische Einschätzung, was finanziell und gesundheitlich möglich ist, erleichtern Umfragen zufolge die Umstellung. Nicht wenige indes schieben den Gedanken an den Ruhestand bis zur letzten Minute hinaus. Nach dem Motto »Kommt Zeit, kommt Rat« vertrauen sie darauf, dass sich schon eine neue Perspektive auftun wird, wenn ihr Kopf nicht mehr voll mit anderem ist. Vor allem Männer fühlten sich, so Barbara Langmaack, Hamburger Unternehmensund Lebensberaterin, nach dem urlaubsähnlichen Auftakt des Ruhestandes oft überflüssig und verloren: »Sie nehmen sich keine Zeit, um im Privatbereich Adäquates zu schaffen. Durch die Kombination von Beruf, Haushalt und eventuell Familie behält das Leben von Frauen größere Kontinuität. Sie retten mehr hinüber in den neuen Lebensabschnitt. Frauen sind auch schneller karrieremüde. Sie sagen: Ich habe erlebt, dass ich Abteilungsleiterin sein kann. Nun hätte ich gern noch ein paar andere Jahre.« Erwerbsbiografien von Frauen strebten eher in die Breite als in die Höhe und bescherten ihnen so im Ruhestand ein größeres Terrain von Interessen, Kontakten und Möglichkeiten.

Während einige Berufstätige die Frage nach dem künftigen Lebensinhalt so lange wie möglich verdrängen, sind bei anderen die Ziele für die »Freiheit danach« hoch gesteckt. Je nachdem, ob Menschen vom Berufsleben ausgelaugt sind oder noch immer Freude an ihren Tätigkeiten haben, gabeln sich im Ruhestand die Wege. Auch Mentalität, Ehrgeiz und gesellschaftliches Engagement führen in unterschiedliche Lebensrichtungen, die die Soziologen Gerhard Berger und Gabriele Gerngroß treffend skizzieren:

Den Weg des partiellen Weitermachens peilen besonders Menschen an, die vorher ihre Zeit und Arbeit relativ frei einteilen konnten. Warum dem 65. Geburtstag so viel Gewicht beimessen? Ohnehin ihr eigener Arbeitgeber, setzen manche Freiberufler ihre Tätigkeit fort. Ehemalige Angestellte versuchen, sich selbständig zu machen.

Andere Ruheständler versuchen, ihre Kompetenz und ihr fachliches Wissen anderweitig einzusetzen. Während der »Weitermacher« sein professionelles Wissen weiterhin verkaufen will, fragt der »Anknüpfer« danach, wo er gebraucht wird. Zu diesem Typ gehören vor allem Menschen, denen soziale und politische Fragen unter den Nägeln brennen.

Für eine dritte Gruppe herrschten im Beruf ungeliebte Tätigkeiten vor. Befreit von der Last, wollen sie im Ruhestand aufgeschobene Wünsche verwirklichen und Versäumtes nachholen.

4

Nach einer Phase von Hochs und Tiefs richtet sich laut Umfragen die Mehrzahl der Ruheständler in der Mittellage ein: Man wird keine Bäume mehr ausreißen, sich nicht neu erfinden. Doch verbraucht und müde ist man auch noch nicht!

Wilhelm Kewig: »Man fällt in ein Loch und weiß nicht, wietief es ist.« – Sonja Kewig: »Der Ruhestand ist wie eine Krankheit,die ich loswerden will.«

Arbeit gäbe es genug. Haus, Garten, die beiden Söhne. Dazuihr Start als freischaffende Künstlerin, obgleich Sonja Kewigdiese Bezeichnung selbst nicht gebraucht. Die Dekorationsartikelfür Heim und Garten, die sie seit drei Jahren verkauft,seien Handwerk. Zufrieden hatte die 57-jährige Hamburgeringeschildert, dass sich für sie nach 19 Jahren als Hausfrau undMutter noch ein schöpferisches Berufsfeld auftut und sich sodurch die Pensionierung ihres Mannes ihr Alltag gar nichterheblich verändern werde. Als wir ein halbes Jahr nach WilhelmKewigs beruflicher Verabschiedung nochmals ein Gespräch führen, ist Sonjas Zuversicht getrübt. In vielen Punktenunterstreicht sie jetzt die nüchterne Sicht ihres 66-jährigenMannes, der als Stadtplaner in einer Hamburger Baubehördearbeitete und mich nun um zehn Uhr morgens mit einer Gartenharkein der Hand begrüßt.

Seit 28 Jahren wohnen Wilhelm und Sonja Kewig in einerländlichen Region nördlich der Hansestadt. Für beide ist esdie zweite Ehe. Die ausgebildete technische Zeichnerin, pechschwarzeHaare, weiter V-Ausschnitt, und der HamburgerArchitekt, ein stiller, leicht untersetzter Mann, lernten sich amArbeitsplatz kennen. 20 Jahre nach Sonjas Tochter aus ersterEhe kam ihr gemeinsamer, jetzt 19-jähriger Sohn zur Welt. Ihrzweiter Sohn ist 17 und damit nur wenige Jahre älter als diebeiden Berliner Enkel.

Wilhelm Kewig

Ich habe vor einem halben Jahr aufgehört zu arbeiten. Für mich hat also der soziale Abstieg begonnen. Nicht, weil weniger Geld auf das Konto fließt, sondern weil die sozialen Kontakte fehlen. Jahrzehnte wirkte ich mit am öffentlichen Leben, jetzt sitze ich zu Hause und werde mehr oder weniger als Hilfskraft benutzt. Der Chef bin ich nicht mehr, das war mal. Man fällt erst einmal in ein Loch und weiß noch nicht, wie tief es ist.

Den Termin meiner Pensionierung kenne ich seit 40 Jahren. Trotzdem war ich überrascht, als er da war. Mit viel Mühe bekam ich eine einjährige Verlängerung. An meinem letzten Arbeitstag habe ich noch eine neue amtliche Verfügung erlassen, diese Aufgabe hat mich noch einmal aufgeputscht. Ich hätte auch deshalb gern weiter gearbeitet, weil wir zwei schulpflichtige Kinder haben. Die wollen nicht, dass der Alte zu Hause sitzt. Unser Sohn ist da sehr deutlich. Er findet es peinlich, dass er so einen alten Vater hat und die anderen das auch merken.

Für mich hatte der Beruf nie einen höheren Stellenwert als die Familie. Nach außen hin konnte ich mich jedoch eher über den Beruf identifizieren, auch wenn mir die Arbeit manchmal zum Hals raushing. Was die Aufrechterhaltung beruflicher Kontakte betrifft, bin ich eher pessimistisch. Ich kenne das von Kollegen, die vor mir gegangen sind. Man hat euphorisch Abschied genommen und gesagt: »Wir sehen uns ja weiterhin.« Wenn dann jemand wirklich ins Büro kam, hatte niemand Zeit. Einige Leute sagen: »Wir brauchen bestimmt mal deine Beratung.« Aber das ist eine vage Sache. Es ist der Gang der Dinge. Ich hatte ein erfülltes Berufsleben und wurde mit einer großen Feier im Rathaus verabschiedet, geehrt und gelobt. Man muss das nicht alles so ernst nehmen, aber die Anteilnahme war doch sehr groß. Jeder der 30 Kollegen hat mir eine Rose überreicht, an der ein Zettelchen hing mit einem persönlichen Satz. Ich finde, so ein Schlusspunkt ist wichtig. Ich bin jetzt Pensionär. Wenn die Kinder aus dem Haus sind, kommt wahrscheinlich das nächste Loch. Jetzt fehlt der Beruf, dann fehlen die Kinder. Ab und zu sagt mir der Kopf, dass ich im letzten Lebensdrittel bin. Aber ich lebe nicht danach.

Ich stehe wie gewohnt um sechs Uhr auf und fahre unsere Söhne zur Schule, damit sie nicht den Bus nehmen müssen. Wenn schönes Wetter ist, kommt es vor, dass wir im Garten etwas länger frühstücken. Aber da ich mir vorgenommen habe, das Haus auf Vordermann zu bringen, bin ich eigentlich den ganzen Tag beschäftigt. Wenn ich merke, dass Sonja terminlich unter Druck steht, wasche ich die Wäsche, kaufe ein – und mache das auch meistens gern. Dass Sonja ihr Hobby beruflich ausbauen kann, freut mich. Ich kann dabei ein bisschen mitwirken, auch wenn sich zeigt, dass das gemeinsame Arbeiten nicht so einfach ist. Wir haben beide eigene Vorstellungen, die kollidieren manchmal. Wichtig ist, dass man etwas tut. Es darf nicht sein, dass man morgens aufwacht und sich fragt: »Was soll ich heute machen?«

Wenn das Telefon klingelt, ist es fast immer für Sonja. Beruf und Privates: Das waren für mich bisher zwei getrennte Welten. An unsere Freunde hat Sonja mich herangeführt. Wenn ich aus dem Büro kam, war unser soziales Umfeld organisiert. Ich denke, es wird sich entwickeln, dass ich auch mehr private Kontakte pflege.

Vor allem brauche ich noch irgend etwas für den Kopf und hoffe, dass sich etwas Geeignetes findet. Ich möchte Dinge tun, die sinnvoll sind und Spaß machen – und das ohne Stress. Das gehört ja zur Freiheit im Rentenalter. Seit kurzem greife ich wieder zum Pinsel. Die letzten Aquarelle habe ich vor 18 Jahren gemalt, bevor die Kinder kamen. Ich würde auch gern durch Europa reisen. Zur Zeit ist mein Terminkalender jedoch noch völlig leer.

Sonja Kewig

Als ich Mitte 20 war und im Büro Kollegen verabschiedet wurden, dachte ich: »Die gehen nach Hause zum Sterben.« Heute sage ich: Gesund aus dem Arbeitsleben auszuscheiden, ist ein großes Geschenk. Man muss sich dieses Privileg bewusst machen. Trotzdem sah ich Wilhelms Pensionierung mit Beklemmungen entgegen. Durch die Verlängerung seiner Berufszeit um ein Jahr konnte ich mich besser darauf einstellen. Zuletzt habe ich mich sogar gefreut. Ich dachte: »Man kann auch mal ein bisschen rumleben in seinem Haus. Das geschieht nicht, wenn man arbeitet.« Doch jetzt akzeptiere ich den neuen Lebensabschnitt weniger, als ich vermutet habe. Mittlerweile empfinde ich den Ruhestand wie eine Krankheit, die man loswerden muss.

Dass Wilhelm einen guten Beruf und eine sichere Position hatte, war nie das, was mich an ihm faszinierte. Man sagt ja: Macht macht erotisch. Aber das würde implizieren, dass er für mich nun weniger wert sei. Er ist nun aus allen beruflichen Bezügen herausgefallen. So etwas erleben ja nicht bloß Menschen, die in Rente gehen. Jede Frau kennt den Verlust von gesellschaftlicher Anerkennung, wenn sie Kinder kriegt und sich entschließt, zu Hause zu bleiben. Meine Stelle als technische Zeichnerin kann man zwar nicht mit Wilhelms Position vergleichen, trotzdem war meine Arbeit für mich wichtig.

Seit Wilhelm nicht mehr arbeitet, ist ein wichtiger Schwerpunkt in unserem gemeinsamen Leben verschwunden. Das beunruhigt mich. Ich möchte, dass es etwas gibt, was Wilhelm morgens fröhlich aufstehen lässt. Ihn lässt jetzt die Verantwortung aufstehen, nicht die Begeisterung, die ihn bei Berufsprojekten anstachelte. Wenn ich ihm die Chance dazu ließe, würde er jetzt gern ab und zu ein gemächlicheres Leben führen. Aber ich treibe ihn ständig an und bin hyperaktiv, weil ich Angst habe, dass seine Lebendigkeit erlischt. Morgens nehme ich mir vor: »Heute gebe ich mir Mühe.« Zwei Stunden später denke ich mir schon wieder Aufgaben für ihn aus.

Meine Einstellung ist: Wenn die berufliche Anerkennung wegfällt, muss man für eine andere Form der Bestätigung sorgen, damit man nicht aus dem sozialen Gefüge gerät. Aber Wilhelm hat ein völlig anderes Naturell. Neulich schlug ihm ein Kollege vor, einem Verein beizutreten. Ich sagte: »Klasse, dann bringst du etwas Frisches nach Hause.« Wilhelm sagte nur: »Es muss mir ja auch gefallen.« Es kommt vor, dass ich ihm vorschlage: »Ruf doch mal deine Kusine an.« Dann ist seine Antwort: »Das kann ich ja demnächst mal tun.« Bevor Wilhelm pensioniert wurde, habe ich immer gemeint: »Vor dem Ruhestand davonlaufen, ist genau so schrecklich, wie sich bewusst in den Ruhestand hineinfallen zu lassen.« Aber wenn er so reagiert, schwimmen mir alle Felle weg.

Manchmal habe ich Angst, dass seine Wortkargheit zur Sprachlosigkeit wird. Ich bin ein redseliger Mensch. Er ist genau das Gegenteil. Es gab schon Phasen, da nickte er nur noch. Inzwischen passe ich auf, dass ich Fragen stelle und nicht nur einfach berichte. Wenn ich vom Einkaufen komme, sage ich nicht: »Ich habe Müllers getroffen«, sondern: »Ich war bei Edeka. Was meinst du, wen ich getroffen habe?«

Ich beobachte kritisch, dass Nichtigkeiten plötzlich eine Bedeutung bekommen, mit denen Wilhelm sich vorher nie abgab, zum Beispiel, dass Prinz Charles geheiratet hat. Das hätte er früher kaum zur Kenntnis genommen. Jetzt bildet er sich seine Meinung darüber. Ich empfinde das als kleinkariert. Als Wilhelm noch arbeitete, habe ich mich allerdings auch manchmal vormittags ins Wohnzimmer gelegt und eine Talkshow angeschaltet. Das traue ich mich nicht mehr so. Ich geniere mich, obwohl Wilhelm nie etwas sagen würde.

Mit der Herstellung von Dekorationsartikeln habe ich vor drei Jahren begonnen. Wilhelm hat mich nie eingeengt, hat meine Entwicklung unterstützt. Ich war immer sehr rührig. Eine Zeitlang habe ich ständig die Möbel umgestellt. Bewusst wurde mir das, als Wilhelm einmal nach Hause kam und fragte: »Wo schlafe ich denn heute?« Damals beschloss ich, meine Aktivität woanders auszulassen. Zur Herstellung und zum Verkauf meiner Sachen bin ich nun viel häufiger in der Stadt, tauche dort ein in die Atmosphäre von Freiheit, Betrieb, Geschwindigkeit. Es stärkt mein Selbstbewusstsein zu spüren, dass ich etwas kann. Manchmal denke ich: »Schade, dass ich nicht früher damit begonnen habe.« Aber mir fehlte der Mut. Und ich wollte den Luxus genießen, zu Hause bleiben zu können. Mein größter Erfolg sind unsere Kinder. Die Vorbilder, die ich vermitteln wollte, sind angekommen.

Wenn ich Angst vor dem Alter habe, dann deshalb, weil ich fürchte, unzufrieden zu werden. Meine Eltern sind zufrieden alt geworden, und ich hoffe sehr, dass ich in diese Richtung gehe. Und ich habe Angst davor, dass all die Erfahrungen, die man angehäuft hat, zum Hindernis werden. Erfahrungen bremsen die Neugier. Man kann alles vorhersehen, stürzt sich nicht mehr in Experimente. Andererseits habe ich festgestellt, dass Riten, ein straffer Tagesrhythmus ganz wichtig sind. Das Mittagessen einfach wegfallen zu lassen, würde ich nicht befürworten, auch wenn die Kinder mal aus dem Hause sind. Und bis zehn Uhr morgens zu schlafen, ist nicht gut für meinen Rücken. Für meine Stimmung schon gar nicht.

Über die Zukunft denke ich ungern nach. Wenn die Kinder einmal fort sind, werden wir zukunftsorientierter planen: Bleiben wir in diesem Haus? Müssen wir uns breitere Türen einsetzen lassen, damit jemand mal mit dem Rollstuhl reinkommen kann? Aber ich kenne mich: Wenn ich zu sehr über das Alter nachsinne, stelle ich mir keine Blumen mehr auf den Tisch, weil ich das Gefühl habe, es lohnt sich doch nicht mehr.

Michael Gregor: »Ich kam mir völlig nutzlos vor.« – IsabellaGregor: »Auf diesen Absturz war ich nicht gefasst.«

Mehrere Monate nach dem Interview schickt mir MichaelGregor einen Brief, in dem der 66-jährige ehemalige Schuldirektornoch einmal betont, wie sehr ihm seine Frau geholfenhabe, aus seinem Tief herauszukommen: »Nach meiner Pensionierungwar ich in einem Zustand der Betäubung. An mancheserinnere ich mich gar nicht mehr genau. Ich habe wohlauch vieles, was quälend war, verdrängt.«

Michael und Isabella Gregor sind seit 34 Jahren verheiratetund leben in wohlgeordneten Verhältnissen. Ihre beiden Kindersind erwachsen. Sechs Jahre jünger als ihr Mann, arbeitetIsabella Gregor weiterhin halbtags in einer Apotheke. DieseTätigkeit sei nicht ihr Wunschberuf gewesen, sondern eineMöglichkeit für sie, etwas dazu zu verdienen und damit unabhängigerzu sein, erklärt die dunkelblonde, jugendlich aussehendeFrau. Als ihr Mann die traditionelle Rollenteilung damitbegründet, er habe lange gar nicht von der Option des Jobsharinggewusst, ist sie erstaunt: »Im Grunde haben wir einenRollentausch nie erwogen. Mein Mann hatte eine ganz andereBeziehung zum Beruf. Und ich hätte mir nicht vorstellen können,die Kinder von einem Fremden betreuen zu lassen«, begründetsie ihre unterschiedlichen Gewichtungen von Berufund Familie und den Abbruch ihres Aufbaustudiums, als siemerkte, dass dieses zeitlich mit der Beförderung ihres Mannesnicht zu vereinbaren war.

Michael Gregor

Vor zwei Jahren wurde ich kurz vor Pfingsten pensioniert, und am Pfingstdienstag fiel ich in ein Loch. Das heißt, Isabella und ich haben noch eine Reise mit Freunden nach Paris gemacht, und danach stellte sich das Gefühl ein: »Was soll ich denn noch?« Ich kam mir völlig nutzlos vor. Ich war immer von sieben Uhr morgens bis elf Uhr abends eingebunden gewesen. Und nun war erst einmal gar nichts. Die Überlegung, wie ich mich neu organisieren solle, machte mich ratlos. Ich wusste, dass meine Frau dachte, der Mann hat ja viele Interessen. Aber ich hatte keine Lust zu irgendetwas. Es gab zunächst gar nichts, was mich reizte, ich war nur erschöpft. Ich bin jedoch nicht im Bett geblieben und habe mir die Decke über den Kopf gezogen, das fand ich unangemessen. Wenn unser Sohn anrief und fragte: »Was machst du denn so?«, konnte ich nicht viel erzählen. Ich wollte ihn nicht belasten, habe allenfalls angedeutet, wie es mir geht. Unsere Tochter, die etwas dichter dran war, kriegte meine Tiefs durchaus mit. Wenn sie mich auf meine Verfassung ansprach, konnte ich mich schlecht verstecken. Aber mein Vorsatz war, mich selbst wieder in den Griff zu bekommen.

Isabella Gegor

Als mein Mann in den Ruhestand ging, habe ich mich gefreut. Der Abschluss des Arbeitslebens ist ein ganz normaler Prozess, und Michaels Unlust am Beruf wurde immer deutlicher. Wenn er Freitagabend völlig erledigt einschlief, dachte ich: »Das kann es nicht sein, dass man sich die ganze Woche auspowert.« Irgendwann schlug ich vor: »Willst du nicht eher aufhören?« Es gibt ja Männer, die identifizieren sich so stark mit ihrem Beruf, dass gar nichts anderes mehr gilt. Aber mein Mann musste sich immer eher Sachen verkneifen, die er gern getan hätte. Es war ja auch eine Bürde, Schulleiter zu sein, und nicht nur Erfüllung. Ich dachte: Der Mann hat so vieles aufschieben müssen: Er liest gern, hatte bisher keine Zeit zu malen, da wird er von morgens bis abends zu tun haben. Trotzdem habe ich seine näher rückende Pensionierung in den letzten Jahren ab und zu angeschnitten. Seine Reaktion war oft: »Lass mich damit in Ruhe. Ich habe jetzt keine Zeit. Pläne mache ich später.« Seine Weigerung, über das Thema zu sprechen, hat mich sehr befremdet. Ich verstand nicht, warum man nicht ein paar Jahre weiter guckt. Dass es so ein Absturz werden würde, darauf war ich jedoch nicht gefasst.

Michael Gregor

Ich hatte bis zum Schluss noch sehr viel zu tun. Aber ich kann nicht bestreiten, dass ich mich um die Frage herumgedrückt habe, wie es weiter gehen soll. Ich war gerne Schulleiter, habe da schon Ehrgeiz hineingesteckt, mich mit meiner Arbeit immer stark identifiziert. Viele Menschen denken, der Schulleiter ist der König in seinem Reich. Davon kann keine Rede sein. Ich hatte etwas Einfluss, aber keine Macht. Zum Schluss wurde die Tätigkeit durch immer neue Aufgaben, die von der Behörde auf die Schulleiter niederprasselten, sehr anstrengend. Immer wenn ich sagte: »Es geht nicht. Die Kollegen können nicht mehr«, hieß es: »Sie müssen die eben motivieren.« Freitagabend saß ich oft halb im Schlaf auf dem Sofa und war zu nichts mehr in der Lage. Als das Teilzeitmodell für Lehrer kam, beschloss ich: Ich muss nicht mehr die Kastanien für die Behörde aus dem Feuer holen.

Isabella Gregor

Natürlich habe ich gemerkt, wie schwer für Michael anfangs die Tage waren. Sein Nichtstun fand ich eigentlich nicht schlimm. Wenn er fröhlich gesagt hätte: »Ich habe den ganzen Tag rumgelegen und fand das wunderbar«, hätte ich das auch wunderbar gefunden. Ich erwarte nicht, dass er die Spülmaschine ausräumt oder Fenster putzt. Das einzige, was ich mir wünsche, ist, dass er an den Tagen kocht, an denen ich arbeite. Schlimm fand ich, dass er so niedergedrückt war. Das war fast eine Depression. Seine Haltung »ich kann nichts mehr, will nichts mehr« hat mich sehr beunruhigt und mich teilweise auch ärgerlich gemacht. Ich hatte das Gefühl, ich müsste ihn mal rütteln: »Komm doch raus aus deiner Lethargie! Mach mal was, und wenn du nur Kartoffeln schälst.« Manchmal war ich froh, wenn ich morgens das Haus verlassen konnte. Ich grenzte mich ab, indem ich nicht da war. Zum Glück hielt dieses Stimmungstief nicht an.

Michael Gregor