Wenn die Hoffnung stirbt, geht's trotzdem weiter - Jean Peters - E-Book

Wenn die Hoffnung stirbt, geht's trotzdem weiter E-Book

Jean Peters

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Beschreibung

Sibylle Berg sagt: »Einer der cleversten Aktivisten, die ich kenne.« Sie meint den Aktionskünstler und investigativen Journalisten Jean Peters, der hier von seinen wahnwitzigsten, skurrilsten, mutigsten und kreativsten Versuchen, die Welt zum Besseren zu verändern, erzählt. Als sich abzeichnete, dass die Rechten auf dem Vormarsch sind, als Klimaforscher*innen vor den Folgen exponenziellen Wachstums warnten und alle weitermachten wie bisher, da verspürte Jean Peters das Gefühl politischer Ohnmacht. Um dem zu entkommen, gründete er zusammen mit Gleichgesinnten das Peng! Kollektiv: Mit Fakes, Subversion und Ironie brechen sie die Krusten der Macht auf. Klug, witzig, reflektiert und unterhaltsam erzählt Jean Peters, wie sie Shell und Vattenfall in den Panikmodus versetzen, Webseiten von Waffenhändler*innen hacken oder Menschen zur Flucht innerhalb Europas verhelfen. Und während sein pessimistisches Ich ihn immer wieder daran erinnert, dass Hoffnung der erste Schritt auf der Straße der Enttäuschung ist, sucht sein optimistisches Ich stets nach neuen Trampelpfaden. Denn wenn die Hoffnung stirbt, geht es trotzdem weiter… »Endlich wird der Schleier über dem aktivistischen Spektakel des teuflisch klugen Peng!-Kollektivs gelüftet.« Mike Bonanno, The Yes Men »Jean Peters macht, wo andere nur möchten.« Tim Wolff, Titanic Herausgeber »Jean Peters zeigt uns, wie man mit Kreativität und Entschlossenheit konkret etwas tun kann.« Carola Rackete »Wikipedia bezeichnet ›Hacken‹ eine einfallsreiche Experimentierfreudigkeit. Genau diese zeigt Jean auf dem Weg, Missstände in unserer Gesellschaft zu thematisieren und zu verändern.« Linus Neumann, Sprecher des Chaos Computer Clubs

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Seitenzahl: 328

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Jean Peters

Wenn die Hoffnung stirbt, geht's trotzdem weiter

Geschichten aus dem subversiven Widerstand

FISCHER E-Books

Inhalt

[Motto]Die HoffnungSchuld und SahneSelbstbewusstseinGewaltMilitanzDemokratieSicherheitRessourcenKorrekt verkackenAls wir Pässe fälschen ließenDas Manifest: Ein ethischer LeitfadenWenn Staat kann, schlägt Staat zurückDiskurse hackenAufruf zur FluchthilfeDie Ölfontäne bei ShellDie Vattenfall-ÜbernahmeAls Google-Manager im Forbes MagazineInterventionDer PR-Krieg gegen die WaffenindustrieDie Finanz-HypnoseDer Exit-Verein für GeheimdiensteJournalismus, Kunst & AktivismusAktion & Kunst: Aufruf zum Diebstahl im SupermarktKunst & Journalismus: Undercover beim KapitalismusJournalismus & Aktion: Unsere Geschäfte mit den Klimaleugner_innenWenn die Hoffnung stirbt, können wir uns trotzdem organisierenOrganisationKonstruktionCritical Campaigning ManifestoListe aller Aktionen & Recherchen

Nichts von dem, was in diesem Buch steht, ist wirklich passiert.

Und wenn doch, ist es reiner Zufall.

Die Hoffnung

Anfang 2015 saß mir in einem Berliner Café der ehemals hochrangige NSA-Offizier an einem dieser billigen Aluminiumtische gegenüber. Ich war im Durchhaltemodus, hatte in der Nacht zuvor kaum geschlafen. Der alte Mann ruhte in sich selbst, doch obwohl sein Körper vom Alter gezeichnet war, strahlte er eine enorme geistige Klarheit aus. Er blickte mir warm und herzlich in die Augen, holte einen Zettel hervor und schrieb mit seinem roten Kuli eine Nummer darauf. Ans Ende der aus acht Ziffern bestehenden Reihe machte er vier Kreuze: xxxx.

Mit seiner faltig-papierhäutigen und mit Altersflecken gesprenkelten Hand schob er mir den Zettel rüber: »Hier hast du die Nummern der NSA-Black-Phones.« Was Black Phones eigentlich sind, weiß ich bis heute nicht. Egal. Ich hielt die Durchwahlen zur CIA und zu Tausenden von NSA-Mitarbeiter_innen in der Hand! Nicht zum ersten Mal fühlte ich mich wie ein Trottel in einem Spionagethriller. Ein Stift, ein Zettel und eine Nummer darauf: Ich hätte nicht gedacht, dass es so einfach sein wird, der NSA auf die Pelle zu rücken.

So ging es mir bei den meisten Aktionen, die ich zusammen mit meinen Freund_innen vom Peng Kollektiv, aus dem Theater oder mit Kolleg_innen aus dem investigativen Journalismus gemacht habe: Menschen die Flucht nach Europa ermöglichen. In Robin-Hood-Manier zum Diebstahl in ausbeuterischen Supermärkten aufrufen. Den gewieftesten aller Kohlelobbyisten in eine Falle locken. Das alles geht, wenn wir es wollen.

Und mit diesem Buch möchte ich Sie dazu einladen, es zu wollen. Denn wenn die Polkappen abgeschmolzen sind, wenn faschistische Milizen weltweit wie Pilze aus dem Boden sprießen, wenn die globale Totalüberwachung sich in jedem Wohnzimmer etabliert hat – was machen wir dann? Es wird immer Gründe für sozialökologische Kämpfe geben, egal wie verzweifelt die Lage erscheinen mag. Aber es ist doch naheliegend, sie dort zu führen, wo wir den Raum dazu noch haben.

Mich treibt dabei nicht nur eine vage Utopie einer sozialen und ökologischen Gesellschaft an, sondern auch die Negation der jetzigen. In dieser Ablehnung steckt die Haltung der Suche, der Leidenschaft und der Liebe zum Menschen, so wie ich sie in den letzten Jahren immer häufiger finde: in Alice Hasters präzisen Beobachtungen des deutschen Rassismus, im Begriff der Desintegration von Max Czollek oder in den intersektionalen Erzählungen Schwarzer Frauen von Bernardine Evaristo. Ich finde sie außerdem im Begriff des revolutionären Lebens bei Eva von Redecker oder im Vergegenwärtigen einer Zukunft bei Fridays for Future. Sosehr es mich immer wieder treibt, auf Nummer sicher zu gehen und an meinem Pessimismus festzuhalten, es braut sich ein intellektueller Widerstand zusammen, es werden Strategien und Taktiken diskutiert, die Lethargie der neoliberalen Generation scheint sich aufzulösen.

Mit dem Peng Kollektiv, das wir 2013 gegründet haben, erhoben wir die Suche nach den richtigen Taktiken und Strategien im jeweiligen historischen Kontext zu einer regelrechten Forschungsaufgabe. Wir schworen uns, nie offenzulegen, wie viele wir sind, wie wir heißen und was als Nächstes kommen mag, daher vermeide ich hier Details. Aber inspiriert von interventionistischer Performancekunst, investigativem Journalismus und Aktionen zivilen Ungehorsams sprangen wir immer wieder auf die großen gesellschaftlichen Themen, probierten uns mit Alliierten aus der Kunst- und Kulturproduktion auf der Medienbühne aus und gaben unzählige Workshops für politische Gruppen und an Universitäten.

Die Erzählungen in diesem Buch handeln vom »subversiven Widerstand«. In den Geschichten geht es darum, Machtdiskurse zu unterwandern und Widerstand gegen diesen Schlachthof zu leisten, den wir als kapitalistische Sachherrschaft über Mensch und Natur kennen. Subversion und Widerstand als gezielte mediale Interventionen, die sich mit den aktuellen Verhältnissen nicht einverstanden geben wollen, sondern unser im Jetzt verfangenes Denken freisprengen, konkrete Utopien greifbarer und begehrbarer machen sollen. Machtdiskurse verstehe ich dabei nicht als verschwörerische Hinterzimmertreffen von Leuten, die sich die Hände reiben und uns alle ausbeuten möchten, um reich zu werden. Nein, es sind die Strukturen, die Gesetze, das politische System, die es ermöglichen, so reich zu werden wie Jeff Bezos, so viele Waffen ins Ausland zu exportieren wie Rheinmetall oder so sehr die Klimakrise anzuheizen wie RWE, Volkswagen und die Bayer AG.

Sie sind aus meiner Perspektive erzählt und sind doch Geschichten von vielen. Nichts von dem, was ich erlebt habe, hätte ich alleine machen können. Es stehen unzählige Menschen hinter der Arbeit, Alliierte, Freund_innen, Kolleg_innen, insbesondere von Peng, die mit mir Nächte durchgearbeitet haben. Dass wir das gemeinsam erleben durften, dafür bin ich ihnen unendlich dankbar. Alles, was ich erlebt habe, könnte auch anders erzählt werden.[1]

Dabei beziehe ich Position als jemand, der in einer gemütlichen Doppelhaushälfte mit Hibiskus im Vorgarten in einem westdeutschen Vorort aufwachsen durfte, während einige meiner Freund_innen im Sozialbau groß wurden. Ich spreche aus der Position eines Menschen, der sehr viel Glück hatte, mit einem deutschen Pass und weißer Haut geboren worden zu sein und – gepriesen sei die Statistik – vermutlich nie am Arbeitsplatz sexuell belästigt wird. Als Schüler freute ich mich auf den Sommerurlaub auf Korsika und musste gleichzeitig miterleben, wie die Eltern meiner Jugendfreund_innen von der Ausländerbehörde getriezt wurden. Das waren auch die Freund_innen, die meiner Mutter Sorgen bereiteten, weil sie angeblich ein schlechter Einfluss für mich waren. Es waren die Freund_innen, die mir zeigten, dass wir nicht alle Gerechtigkeit erfahren. Die alle stumm wurden, als eine von uns etwas zu spät zu unserem Treffen kam, weil ihr Vater mit ihrem Kopf das Küchenfenster zerschlagen hatte. Die ich dazu verleitete, auf Autodächern rumzuspringen, als schnellen Ausweg aus diesem Schmerz. Die mir spiegelten, wer ich bin, und die mich von radikaler Demokratie träumen ließen. Es ist bis heute für mich kaum zu ertragen, dass ich Glück habe und andere nicht.

Mit meiner Arbeit versuche ich, diese Verzweiflung, so gut es geht, zu verarbeiten und an den Umständen etwas zu ändern. Mit Recherchen, mit Interventionen, mit Ausstellungen und Workshops. Natürlich haben viele Aktionen nicht den Weg in dieses Buch geschafft: wie meine Mitschüler_innen und ich uns am letzten Schultag als Security mit Knopf im Ohr verkleideten, wie wir Porträts des Schuldirektors in Diktatorenmanier im Gebäude aufhängten und alle Anwesenden in die Klassen jagten, weil er uns nicht wie üblich freigeben wollte. Wie wir einen fingierten Fanclub für meinen Universitätsdirektor gründeten und »Dieter Lenzen, mein Idol, noch viel besser als Helmut Kohl« bei seinen Reden sangen, bis er rot anlief, wenn er in die Mikros gegen uns ankrächzte. Wie meine Freund_innen in meiner Heimatstadt Häuser besetzten – die FAZ schrieb von Hausbesetzung light[2] – oder wie ich mit Greenpeace auf das Atomkraftwerk in Fessenheim kletterte, das fünf Jahre später endlich stillgelegt wurde.[3]

Das sind alles Geschichten, die hier keinen Platz finden. Zum Teil ganz willkürlich, einfach weil es zu viel wäre. Ein paar Aktionen, hinter denen Peng steckt, habe ich aber auch nicht reingenommen, weil ich selbst nicht daran beteiligt war. Etwa das Projekt »Haunted Landlord«, bei dem ein Bot mitten in der Nacht Hausbesitzer_innen anrief. Der Minicomputer spielte ihnen Sounddateien von Menschen vor, die die Eigentümer_innen aus ihren Immobilien verdrängt hatten, um mehr Profit zu machen. Wie beim alten Onkel Scrooge wurden sie mit den Geschichten und der Frustration konfrontiert, für die sie verantwortlich waren. Oder die Polizeikarte »Cop-Map«, auf der nahende Polizeiwagen oder Überwachungskameras kollektiv markiert werden konnten. Das neue Polizeigesetz, das erheblich mehr Willkür aufseiten der Polizei ermöglicht, wurde bei jedem Interview zu der Skandalkarte kritisiert, von Polizeigewalt und Rassismus Betroffene wurden interviewt. Andere Aktionen erwähne ich hier nicht, weil ich bewusst entschieden habe, weder mich noch Peng damit öffentlich in Verbindung zu bringen. Ganz einfach, weil es in der Sache nichts beitragen würde oder im Gegenteil den bürgerlichen Anstrich, den eine Aktion haben soll, verschmuddeln könnte.

 

Die Wahrscheinlichkeit, dass Krisen sich in Zukunft verdichten werden, ist hoch. Und während die einen sich in Krisen miteinander solidarisieren, nutzen andere die Krise, um ihre persönlichen Ziele durchzusetzen. Staatliche Datenschutzbehörden drücken ein Auge zu, wenn massenhaft Handydaten von Regierungen abgefangen werden. Menschen ohne europäische Aufenthaltserlaubnis werden in den Metropolen aufgegriffen und eingebuchtet. Private-Equity-Unternehmen kaufen die Häuser von Familien auf, die ihren Kredit nicht mehr bezahlen können, um sie ihnen teuer zu vermieten.

Zugleich existieren regressive und progressive Bewegungen immer parallel zueinander. Es besteht momentan eine nie dagewesene Chance, den klimaschädlichen Autosektor durch neue Mobilitätskonzepte zu ersetzen. Technologisch ist es längst möglich, in globalen Lieferketten sorgfältig mit Menschen- und Umweltrechten umzugehen. Die weltweit zunehmenden Dürren lassen langsam die Politik aufhorchen, wenn es um ökologische Kleinbäuer_innenmodelle geht, und fast jedes große Medienhaus hat mittlerweile dezidierte Klimajournalist_innen. Auch die globale Cypherpunk-Szene ist nicht schwächer geworden, und es werden immer mehr Alternativen zu überwachungsanfälligen Handys entwickelt.

Große historische Brüche sind meistens nur retrospektiv zu erklären, sei es die Französische Revolution, der Fall der Mauer oder der Arabische Frühling. Ich vermute, dass wir einen erneuten historischen Bruch ansteuern, nur ist offen, ob er zu mehr sozialökologischer Gerechtigkeit oder zu einer Faschisierung des Kapitalismus tendieren wird. Das Wissen, das es braucht, um eine gerechtere Welt anzustreben, ist in verschiedensten Lesarten weitgehend da. Was häufig fehlt, sind Strategien und Taktiken, um die kommenden Grabenkämpfe konkurrierender Ideologien auszufechten. Zur Entwicklung dieser Taktiken und Strategien möchte ich Sie einladen. Und während mein pessimistisches Ich uns freundlich daran erinnert, dass Hoffnung der erste Schritt auf der Straße der Enttäuschung ist, sucht mein optimistisches Ich nach neuen Trampelpfaden. Denn wenn die Hoffnung stirbt, geht es trotzdem weiter.

Schuld und Sahne

Der eigentliche Tortenwurf dauerte vom Drücken der Türklinke bis zur Sahne auf dem Gesicht von Beatrix von Storch nur sieben Sekunden. Der Mann am Platz direkt hinter der Tür lächelte freundlich, als ich mit meinem frisch geschminkten Clownsgesicht, der goldpaillettierten Mütze aus der Berliner Klamottenkiste und meiner rot-weiß gestreiften Hose den Raum betrat. Etwa 20 Köpfe drehten sich zu mir um. Um nicht weiter aufzufallen, sang ich laut drauflos, Happy Birthday. Ich musste mit den zwei Torten, eine in jeder Hand, nur noch neun gemütliche Schritte gehen bis wo die Chefin saß. Musste vorbei an den erfreut schauenden Gesichtern (Oh, Chefin hat Geburtstag?) der führenden AfD-Riege (alle gefühlt 80 Jahre alt), die gekommen war, um das Parteiprogramm für ihre erste Bundestagswahl zu besprechen und interne Machtkämpfe auszufechten. Vorbeizwängen an der Plastikstuhlreihe und der Raumtrennwand, alles ganz normal wirken lassen. Acht Meter noch.

Da saß sie, am Ende des Tisches. Die Enkelin mütterlicherseits von Adolf Hitlers Reichsminister der Finanzen, Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigk. Dem Mann, der 1933 das Ermächtigungsgesetz unterschrieb, der für die »fiskalische Verfolgung und Ausplünderung der Juden« und die »völkerrechtswidrige Geldbeschaffung und Geldwäsche in Europa« maßgeblich verantwortlich war.[4] Die Enkelin auch des SA-Nazis Nikolaus von Oldenburg, der Himmler 1941 anbettelte, nach dem Endsieg im Osten »größere Güter« einkaufen gehen zu können.[5] Sie, heute also AfD-Vizechefin. Hatte sie denn nichts gelernt, nichts aufgearbeitet?[6] Sie saß da in Kassel, am 28. Februar 2016, im kargen Konferenzraum im Keller des Pentahotels, abgehängte Decken, Klimaanlage. Wo am Abend zuvor eine Deutsche-Schäferhund-Halter_innen-Versammlung stattgefunden hatte. Sie saß da und fragte sich vermutlich, warum wohl ein Clown mit einer Torte in jeder Hand fröhlich singend auf sie zukam. Ob die wohl für sie seien? Oder für ihren Klimawandelleugner-Kollegen Albrecht Glaser vielleicht, der neben ihr saß? Fünf Meter noch, dann sollte sie es wissen.

 

Beatrix von Storch hatte gerade einen Mediencoup gelandet, nachdem sie vorgeschlagen hatte, auch auf Frauen und Kinder an der Grenze zu schießen. »Wer das HALT an unserer Grenze nicht akzeptiert, der ist ein Angreifer«, schrieb sie auf Facebook. »Und gegen Angriffe müssen wir uns verteidigen.«[7] Auch ihre damalige Parteikollegin Frauke Petry rief die Polizei auf, bei illegalen Grenzübertritten »notfalls auch von der Schusswaffe Gebrauch [zu] machen«. So stehe es im Gesetz, sagte sie dem Mannheimer Morgen.[8]

Anfang 2016 war der Höhepunkt der AfD-Strategie erreicht, die daraus bestand, gezielt moralische Grenzen zu überschreiten, um empörte Journalist_innen vor ihren Karren zu spannen. Und das funktioniert jedes Mal: Ohne sie auszusprechen, deutet Storch eine Mordphantasie an, die aufgeklärten Redaktionsstuben sind empört, schlucken aber ihre Wut runter und berichten dann fachlich korrekt und wertungsfrei, was passiert sei. Leser_innen sehen die Meldung und klicken drauf, weil es irre und spannend und empörend ist. So kommt es, dass auch mehr Werbung gesehen wird und die Verlagsleitungen sich freuen, da sie mehr Geld damit verdienen. Es ist das traurige Spiel der liberalen Medien im Kapitalismus als Verstärker der neuen faschistischen Partei. Dreieinhalb Meter, Happy Birthday to youuu.

 

Zwei Wochen zuvor blinkte auf meinem Handy eine neue Nachricht. Ich hatte eine E-Mail weitergeleitet bekommen, ohne Betreff, ohne Kontext. Ich wollte sie erst löschen, weil so was eben meistens Spam ist. Ich zeigte sie wenig später beim Mittagessen beiläufig einer Kollegin. Meine Peng-Mitstreiterin schaute noch mal genau hin. Ihr war trotz der wenigen Details sofort klar: Der Absender schien selbst aus der AfD zu sein, hatte offenbar eine interne E-Mail des Vorstands an mich weitergeleitet. In solchen Momenten, wenn ich das Gefühl habe, dass was Besonderes passiert und ich noch nicht weiß, ob es gut oder schlecht ist, spüre ich ein Ziehen direkt unterm Brustkorb. Warum schickte die_der anonyme Absender_in derart bizarre Interna? Mir, der kein ausgebildeter Journalist war und gerade mit seinem aktionskünstlerischen Kollektiv zu innereuropäischer Fluchthilfe aufgerufen hatte? In der Mail diskutierten Glaser und Storch, damals Vorsitzende des Programmausschusses der Partei, über die bestmöglichen Strategien, ihre Inhalte zu bewerben. Ort und Zeit eines Treffens in Kassel mit dem versammelten Ausschuss standen dort, Parteiprominenz aus ganz Deutschland sollte extra anreisen, der aktuelle Entwurf des Programms war angehängt.

In meinem Postfach lag offenbar ein kleiner Scoop! Die interne AfD-Medienstrategie, auf die die Presse immer wieder reingefallen war – das war der Beweis. Der Plan zur Ausnutzung einer Schwachstelle im System des journalistischen Marktes, der von Klicks und Gefühlen abhängt. Der Grund, weshalb diese Neonazis immer und immer wieder hochgeschrieben werden, schwarz auf weiß in nüchternen Worten ausformuliert: In dieser Mail stand, wie die AfD die Journalist_innen manipulierte. »Asyl und Euro sind verbraucht, bringen nichts Neues«, schrieb Storch. »Die Presse wird sich auf unsere Ablehnung des politischen Islams stürzen wie auf kein zweites Thema des Programms.« Na, liebe Beatrix, sicherlich nicht, dachte ich, nachdem ich diese Mails an die Presse weitergeleitet hatte. »Wir müssen das Thema Islam mit einem Knall öffentlich machen!«, schrieb sie weiter. »Wenn wir das – noch dazu in unverbindlicher Fragemanier – vorwegnehmen, machen wir einen kommunikativen Fehler.«[9] Das war eine Warnung an alle Redaktionen. Finally! Drei Meter. Sie schaut mich an.

Wir gaben also die Informationen dem Recherchezentrum Correctiv in Berlin. Es veröffentlichte die wichtigsten Inhalte der E-Mail, beschrieb die Strategie, besprach das Parteiprogramm. Der Spiegel zog nach[10], nun war es öffentlich: Die AfD plante, die Medien über das Islam-Stöckchen springen zu lassen. Ich war mir sicher: Damit war die Presse geimpft. Wenn eine Redaktion – so empört und klickzahlenabhängig sie auch sein mag – liest, wie sie instrumentalisiert wird, sollte es schon gut gehen, dachte ich … Und irrte mich. Die Zeitungen waren schlagartig voll vom nächsten Schritt der AfD, der neue Rassismus, als Religionskritik getarnt, wurde wie ein Lauffeuer von allen brav gemeldet. Der Informant, der offenbar in einen Machtkampf innerhalb der AfD verstrickt war oder eine persönliche Kränkung erlebt hatte – so genau werde ich es nie erfahren –, hatte mir geschrieben, er könne die Informationen natürlich auch direkt der Presse geben. Aber bei uns sei er sicher, dass wir damit mehr machen würden, als wieder nur darüber zu berichten und damit die AfD als tonangebend zu präsentieren. Zwei Meter. Zwei Torten.

Einen Meter vor ihr holte ich aus. Ich hatte kurz zuvor noch »Gloup Gloup Gloup« gemurmelt, den Schlachtruf der dadaistischen Bewegung der Tortenwerfer_innen. Es ist ein alter Brauch, vor jedem Wurf »Gloup Gloup Gloup« zu rufen, wenn man in die Gilde der Patisserie Internationale aufgenommen werden will. Und das wollte ich. Ich hatte Videos gesehen, in denen Noel Godin, ein dicker anarchistischer Belgier, der mindestens schon 50 Prominente getortet hatte, bei Lesungen konservativer Ideolog_innen »Gloup Gloup Gloup« durch den Saal rief, bevor die Sahne auf Gesicht und Pult und wenig später wuchtige Bodyguards auf ihn flogen.

In Kassel waren wir zu dritt. Ruben, mein Kollege von Peng, und ich hatten alles gut durchgeplant: Wir hatten ein Zimmer im Hotel gebucht und drei Kameras dabei. Ein handliches Gerät für den Livestream und eines mit besserer Auflösung. Dazu eine Knopfkamera in meinem Hemd, just in case. Ziel Nummer eins waren Bilder der Tortung. Ziel Nummer zwei Bilder der AfD-Programmkommission, wie sie einen Clown verprügelt. Dazu kam noch ein Bekannter, der sich als Hotelmitarbeiter verkleiden sollte, um zu deeskalieren, wenn die sich alle auf mich stürzen sollten. Was sie auch taten.

Doch bevor sie es taten, warf ich. Und traf. Storch schaute ohne nennenswerte körperliche Reaktion einen Liter Sahne an, als er geradezu in Richtung ihres Gesichts flog. Natürlich ging das alles ganz schnell, aber durch das Adrenalin in meinem Körper nahm ich es wie in Zeitlupe wahr, sah, wie die Sahne das gesamte Gesicht überzog, sich im Tortenboden ein Abdruck ihrer Nase hervorschob. Aber ich hatte ja noch eine zweite Torte. Links. Na ja, und weil ich mit der ersten getroffen hatte, warf ich die zweite auf Albert Glaser, der zwar älter, aber auch schneller war als Storch, und es schaffte, während des Tortenflugs aufzuspringen, um die Flugsahne schützend mit der Andeutung eines Hitlergrußes abzuwehren. Der Führer wäre stolz gewesen. Und trotzdem: Flugsahne schlabbert sich um die Hand, zieht daran vorbei, fliegt noch ein bisschen weiter, wenn man sie hitlergrüßt. Es war vollzogen: zwei Würfe, zwei Treffer.

Das Nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, wie ich innerlich sanft lächelte und dabei von hinten am Hals gewürgt wurde. Von außen betrachtet, vermutlich eine der tragischsten Momente im Leben eines Clowns. Mein Körper wurde in drei Richtungen gezerrt, und der Perspektive nach zu urteilen, lag er auf dem Boden. Ich kann mich an die Sekunden vom Boden bis zum Vorraum ehrlich gesagt auch kaum noch erinnern, außer dass mein als Hotelier getarnter Kollege wie verabredet rief: »Ich bin vom Hotel! Die Polizei ist schon gerufen! Lassen Sie den Clown los!« Der beste Weg, autoritären Charakteren zu begegnen, ist, nun ja, eben mit Autorität. Und Humor, weil der ihnen die Macht aberkennt. Aber das war ja schon geschehen. Also nun die Polizei, die angeblich gerufen worden war.

Was dann folgte, wurde zur vermutlich längsten halben Stunde meines Lebens. Mit wutschnaubenden Parteifunktionären der AfD im Kellervorraum des Pentahotels in Kassel. Als sei das nicht schon bedrückend genug, war alles in beigen Farbtönen gehalten. An den Wänden Dekorationsversuche gescheiterter Hoteldesigner_innen, die mit zweitklassigen Hotelketten ihr Geld verdienen und uns allen das Leben hässlicher machen.

Was ich wusste, was sie nicht wussten: Die AfD und ich, wir warteten im Keller auf eine Polizei, die nicht gerufen worden war. Durchgängig mindestens eine Hand in meinen Arm verkrallt, damit der Clown nicht abhaut. Ich wusste es, sie nicht. Ich wartete darauf, dass die Bilder hochgeladen wurden, sie schnaubten, ruhiggestellt mit dem Zauberwort Polizei. Storch machte ein Foto mit Sahne, »warte, noch nicht abwaschen«, sie posierte mit heruntergezogenen Mundwinkeln, noch mal tiefer ziehen, versuchte es mal seitlich, mal angeekelt, mal hundeblickiger, irgendwie Opfer halt. Es war skurril, diesem Fotoshooting im Clownskostüm beizuwohnen wie ein Praktikant, der seinen Job ja schon gemacht hatte und, nun ja, auf sein Polizeitaxi wartete. Spätestens da wurde mir noch mal mulmig, weil so klar war, dass sie versuchen wollte, aus der Aktion Profit zu schlagen. Und sie machte ja irgendwie auch meinen Job, denn ihr Foto wurde später massenhaft im Netz geteilt: Genau so ein Foto hatten wir noch gebraucht.

Sie machte noch ein Bild von mir, das später auf Neonaziblogs geteilt wurde. Naiv von mir, dass ich vorher das Internet nicht besser aufgeräumt hatte, weshalb sie die Adresse meiner Familie fanden. Aber sosehr ich hin und her geschubst wurde, sosehr die AfD-Rentner_innen mir mit ihren Bundeswehrsöhnen drohten (Fallschirmjägerdivision!), die mich aufknüpfen und sich an mir rächen würden, ich werde ja noch sehen und so weiter – ich war gut gelaunt. Es war vollbracht. Die Operation Tortaler Krieg gegen die AfD war erfolgreich abgeschlossen.

Ruben, mein Kollege mit der Kamera, hatte das Ziel Nummer eins im Kasten. Ziel Nummer zwei, das Verprügeln des Clowns, hatte er nicht mehr mitnehmen können und war lieber abgehauen, bevor die sich mit ihren altersgeschwächten Armen auch noch auf ihn stürzen konnten. Also hopp, nach Hause und Video hochgeladen: Zwei weitere Peng-Kolleg_innen, die gerade Urlaub an der Ostsee machten, hatten eine Website vorbereitet, auf der ein politisches Pamphlet als Beilage zu den Bildern veröffentlicht wurde. Damit die Presse in ihren Berichten vermeintliche Zitate, sogenannte O-Töne, abdrucken konnte, hatten sie einfach die rassistischen Zitate von Storch und Petry genommen und einzelne Wörter ersetzt.

Im Ton einer offiziellen Pressemitteilung stand auf der Website:

Sogenannte besorgte Bürger sind die steinerne Grabplatte, unter der Demokratie und Menschenrechte begraben liegen. Die Torte ist das Stemmeisen, mit dem man diese Grabplatte lüften kann.

Heute haben Menschen an der moralischen Außengrenze des Landes von der Torte Gebrauch gemacht. Bei einem Treffen der AfD am 28. Februar 2016 im Pentahotel in Kassel wurden die AfD-Vizes Beatrix von Storch und Albrecht Glaser getortet.

Zur Aktion sagt der Tortenwerfer:

»Wer den moralischen Grenzübertritt verhindern will, muss notfalls auch von der Sahnetorte Gebrauch machen. So steht es im Gesetz. Denn wer das HALT an unserer ethisch-moralischen Grenze nicht akzeptiert, der ist ein Angreifer. Und gegen Angriffe müssen wir uns verteidigen.«

Auf die Frage, ob die Aktion notwendig gewesen sei und ob das nun Alltag werden solle, sagte der Aktivist:

»Kein Aktivist will einen Politiker torten. Ich will das auch nicht. Aber zur Ultima Ratio gehört der Einsatz von Sahnetorten. Und derzeit ist der Gebrauch von Torten das moralische Gebot der Stunde. Der Tortenwurf ist letztes Mittel am Grenzbaum zur Unmenschlichkeit und dringlichster Ausdruck direkter Demokratie.«

Die Aktivisten betonten zudem, Kinder würden auch in Zukunft aus Rücksicht vor der Menschenwürde nicht getortet werden. Dennoch zeige der Tortenwurf den süßen und klebrigen Zorn der demokratischen Mehrheit. Und für die Zukunft lassen die Aktivisten wissen:

»Keiner darf glauben, dass er den Boden von Ethik, Moral und Menschenrechten durch die Drohung tödlicher Gewalt gegen Menschen ungestraft verlassen kann. Wer das wie die AfD tut, läuft Gefahr, einen tortalen Krieg auszulösen.«[11]

Von der Zeit über die Augsburger Allgemeine bis zur Tagesschau berichteten über 150 Medien, die lokale Antifa besetzte das Hoteldach, und die Bundespolizei begleitete die AfD-Mitglieder zum Bahnhof. Die Programmsitzung war abgebrochen. Als ich zur Polizeiwache gefahren wurde – nachdem es auf Bild Online stand, wurde die Polizei dann doch »noch mal« gerufen – konnten die Beamt_innen sich das Lachen nicht verkneifen. Ein Clown auf der Rückbank und den obersten Staatsschutz am Telefon, der sie ermahnte, jetzt ganz professionell zu sein. Nach über zehn Jahren bei der Polizei habe der Einsatzleiter so was noch nicht erlebt.

Aber nicht alle in der Kasseler Wache fanden das lustig. Eine_r der Kolleg_innen erstattete sogar Anzeige gegen mich, wegen angeblich illegaler Aufnahmen. Das war offenbar eine Impulshandlung, denn er hatte juristisch gesehen keine Chance. Am Telefon beschimpfte er mich dafür ordentlich, als ich nach dem beschlagnahmten Videomaterial aus meiner Knopfkamera fragte. Es war erstaunlich zu sehen, wie gespalten die Polizei anscheinend zu diesem Zeitpunkt schon gegenüber der AfD war. Heute bestätigt auch ein Polizeigewerkschafter ganz offen einen rechtsnationalen Hang der Polizei zur AfD und bezieht sich auf 2015 als Ausgangspunkt.[12] Die Polizeibehörden tendieren aus einer Gesamtheit geschichtlicher und kultureller Aspekte nach rechts, doch diese Offenheit eines Gewerkschafters lässt mich erschaudern. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, denke ich an den Anfang vom Ende der Demokratie, wie wir sie kannten.

 

Aber mal eine grundsätzliche Frage: Hat sich dieser Tortenwurf gelohnt?

Selbstbewusstsein

So unterhaltsam der Tortenwurf auf die AfD auch sein mag, er bleibt nicht ganz unproblematisch. Künstlerisch gesehen finde ich nach wie vor, dass Sahne auf Nazis wunderbar funktioniert. Ich würde mir weit mehr freie Theatergruppen wünschen, die auch Sahneperformances von der Tribüne des Bundestags aus machten, vielleicht mit schwarz-rot-goldener Lebensmittelfarbe. Nein, ästhetisch ist das durchaus interessant und sollte Eingang in deutsche Traditionskunst finden, in interdisziplinären Studiengängen der Konditor_innen und der darstellenden Künste.

Alas, die Kunst des politischen Tortenwerfens ist voller theoretischer und praktischer Herausforderungen. Das offensichtlichste Problem ist, dass eine professionell durchgeführte Tortung auch immer der AfD selbst nutzt, weil sie sich dann erfolgreich als Opfer inszenieren kann. Ich erinnere an die kokett mundwinkelrunterziehenden Storch-Posen. Dazu kommt die Frage nach den richtigen Mitteln zur richtigen Zeit im richtigen kulturellen Kontext. Ist eine Torte Ausdruck von Gewalt? Was wäre das dann genau – symbolische, kulturelle oder sahnige Gewalt? Sind Tortungen vielleicht einfach nichts für jemanden, die_der mit beiden Füßen auf dem Boden der demokratischen Grundordnung steht, weil Tortungen schlicht undemokratisch sind? Und abgesehen von der gesellschaftspolitischen Dimension, muss man auch immer für sich entscheiden, was die eigenen Grenzen und Kapazitäten sind, bevor man zielt und wirft. Weder Staat noch Nazis reagieren in der Regel freundlich auf unerbetene Sahnebenetzungen.

Schauen wir uns diese drei Punkte mal an: Ist es überhaupt richtig, so etwas zu tun? Ist es der richtige Zeitpunkt und der richtige Kontext? Und schließlich: Ist es für Sie, werte_r Leser_in, das Richtige?

Diese Fragen passen gut an den Anfang einer jeden Aktionsplanung, und dieses Tortenbeispiel ist so plump und plastisch, dass ich diese Fragen daran beispielhaft durchgehen will. Denn sie sind die Basis für die Entwicklung eines politischen Selbstbewusstseins: des Bewusstseins, wo die Grenzen und Möglichkeiten des eigenen politischen Handelns liegen.

Zunächst zum Täter-Opfer-Spiel. Dass die Neue Rechte einen Sandkastenpopulismus pflegt, ist bekannt. Entweder sie greift alle Anwesenden an, oder sie schreit als Opfer auf: Hauptsache, alle schauen hin. Sie spielt die Opfer-Täter-Klaviatur so laut und intensiv, dass man kaum weghören kann, wie bei einem Unfall. Es hat auch immer etwas Faszinierendes an sich. Innerhalb einer solchen Strategie bedeutet jeder Angriff die Chance auf noch mehr Aufmerksamkeit. Das macht es sehr schwer, die Neue Rechte effektiv anzugreifen, da sie vor allem auf der emotionalen Ebene mobilisiert. Ich finde den Vergleich mit einem Sandkastenstreit nerviger kleiner Kinder gar nicht so schlecht – abgesehen davon, dass die AfD-Politiker_innen als Erwachsene voll in der Verantwortung stehen. Doch die Gesten des Kreischens, das Du-bist-schuld und Ich-armes-Ding, all das hat eben oft was Kindlich-Affektives. Und bei dem Bild merkt man auch, wie wenig sinnvoll es ist, eine intellektuelle Reaktion auf eine rassistische Aussage zu liefern – zum Beispiel auf die Aussage, dass man jetzt weg von Europolitik, hin zu Islamverboten schwenken sollte, weil die Presse es sicher feiern würde. Es geht nicht darum, wer recht hat. Es geht darum, wer lauter schreien kann.

Entscheidend ist aber auch, dass die AfD solche Schreie als rationale Argumente verpackt, ihnen den Anschein eines Debattenbeitrags verleiht. Vielleicht denke ich da zu primitiv, aber mir hilft das Bild des kleinen Arschlochkindes im Sandkasten auch beim Lösungsansatz: Wenn es plötzlich die Sandförmchen klaut, dem Nachbarskind ins Gesicht spuckt und mit der Kelle haut … Ich würde ihr_ihm erst mal klare Grenzen aufzeigen und zugleich darauf achten, dass sie_er auf einer anderen Ebene wieder eingefangen wird als allein auf der des rationalen Arguments. Ich würde es menschlich ernst nehmen. Mit den Eltern reden. Und übertragen heißt das, gesellschaftlich mehr soziale Gerechtigkeit aufzubauen und tiefgehenden Rassismus zu bekämpfen.

In dem Sinne war die Tortung eine symbolische Grenzsetzung im Mediendiskurs. Keine gesamtpolitische Lösung. Eine Intervention, die das Gewand des Debattenbeitrags der AfD ignorierte und auf der performativen Ebene blieb. Ein Moment, in dem wir sagten: Stopp, auf dieser Ebene lassen wir dich nicht gewinnen. So konnte Storch zwar ihre gewohnte Opferkarte spielen, aber das Zeichen war gesetzt. Und es sollte nicht das letzte sein. Es bleibt ambivalent, aber ich hoffe, sagen zu können, erst mal stand es 1:1.

Gewalt

Dann hätten wir in Deutschland nun die grundsätzliche Frage nach Sahne und Gewalt. Ist es schon eine moralische Grenzüberschreitung, ist es körperliche Gewalt, jemandem Sahne ins Gesicht zu werfen, dazu noch als Clown verkleidet, was potenzielle Kindheitstraumata triggern kann? Und ist Sahne nur der Anfang, der zwangsläufig »zu linksradikalen Morden führen wird«, wie mir eines der AfD-Mitglieder sagte, als wir gemeinsam auf die nicht gerufene Polizei warteten?

Die Frage, wann und ob Gewalt ein angemessenes Mittel zur Lösung von Problemen sein kann, hat sich stets gewandelt und ist ein stabiles Diskussionsthema, egal ob Staat, Kindergärtner_in oder Gastgeber_in einer BDSM-Party. Es kommt eben auf den Kontext an. Die Suffragetten, eine feministische Gruppe Anfang des 20. Jahrhunderts in England, schmissen die Fensterscheiben von Männerläden ein. Das ist symbolische Gewalt gegen Dinge, ohne die das Frauenwahlrecht nicht so schnell eingeführt worden wäre.[13] Mahatma Gandhi ist bekannt für seine gewaltfreien Proteste gegen die britische Kolonialherrschaft, doch ohne die terroristischen Anschläge von Subhas Chandra Bose im Süden Indiens wäre der Druck auf die britische Regierung nicht hoch genug gewesen, um die Macht zu übergeben.[14] Und die Riots in den USA Mitte 2020 aufgrund systematischer Polizeigewalt kamen zu einem Zeitpunkt, da sie die Kraft entfalteten, Polizeipräsident_innen zurücktreten zu lassen. Das wäre vermutlich nicht denkbar gewesen, hätte die Black-Lives-Matter-Bewegung nicht jahrelang Basisarbeit geleistet, wären da nicht gerade die Arbeitslosenzahlen auf einem Rekordhoch und die COVID-19-Toten nicht ungleich öfter aus der schwarzen Community gekommen.[15] Ich bin mir sicher, dass es Momente geben kann, in denen direkte Gewalt einen Zweck erfüllt: Die Beispiele, die ich nannte, sind sehr unterschiedliche Momente, in denen Verantwortliche struktureller und kultureller Gewalt die letzten Meter bis auf den Scherbenhaufen der Geschichte getragen wurden – oder noch dorthin gepusht werden.

 

Auch wenn ich nicht alle seine Standpunkte unterschreiben würde, hilft mir die Unterscheidung in drei Formen von Gewalt des Friedens- und Konfliktforschers Johan Galtung.[16] Es ist recht einfach: Direkte Gewalt ist sichtbar und richtet sich gegen Dinge und Personen. Also ein Schlag in die Beine mit dem Schlagstock, die Entglasung eines Ladenlokals oder die subtile Drohung mit einem sexuellen Übergriff. Strukturelle Gewalt ist etwas indirekter. Die erfährt man zum Beispiel, wenn die Mieten im eigenen Viertel so lange steigen, bis man ausziehen muss, weil man sich die eigene Wohnung nicht mehr leisten kann. Wenn man mit türkisch klingendem Namen nur viel schwieriger eine Beförderung bekommt, sich deshalb nicht im teureren Viertel ansiedeln kann, wo die guten Schulen sind, dann ist das strukturelle Gewalt – mit Folgen für die ganze Familie. Strukturelle Gewalt kann auch in Gesetze gegossen werden, etwa durch ein duales Krankenkassensystem, in dem Gutverdienende nicht in den Topf der Pflichtversicherungen einzahlen müssen und durch ihre privaten Krankenversicherungen leichter an Arzttermine kommen. Oder wenn Menschen mit einem deutschen Pass mehr Rechte genießen als andere. So kommt es, dass Wirtschaftsliberale als Freiheit bezeichnen, was andere als Gewalt empfinden. Womit wir bei der kulturellen Gewalt wären: Die findet sich in Sprache und Wissenssystemen wieder und dient zur Legitimation von direkter und struktureller Gewalt. Wenn eine Frau in der Feedbackrunde als Einzige keine inhaltliche Kritik bekommt, dafür aber ihr Aussehen gelobt wird, wenn die Männer öfter und lauter zu Wort kommen, dann erlebt sie Sexismus, hier als kulturelle Gewalt.

Diese drei Formen von Gewalt existieren nicht getrennt voneinander, sie spielen immer zusammen. Wenn in Deutschland seit 1990 mindestens 159 nicht weiße Menschen in Polizeigewahrsam zu Tode kamen und bis heute keiner der zuständigen Polizeibeamt_innen ernsthafte Konsequenzen gespürt hat[17], dann bilden strukturelle Gewalt und kulturelle Gewalt die Basis für direkten Rassismus.

 

Ist die AfD hier nun Opfer von Gewalt geworden, vermeintlich sogar einer Vorstufe von Terrorismus, wie der Journalist Alan Posener in der Welt überlegte, nachdem er von Storch in einem Café am Hackeschen Markt getroffen hatte? Er schrieb: »Mit Clownerien und Gewalt gegen Sachen begannen auch diejenigen, die später die Terrorgruppe RAF gründeten«.[18] War die Tat sogar staatlich finanziert, wie die Bild mit der Überschrift »Wurde diese Torte mit Steuergeldern bezahlt« suggerierte?[19] Ja, war meine Sahne, um noch so ein schräges Bild wie die Torte als Stemmeisen zu bemühen, vielleicht die eigentliche Grabplatte des liberalen, demokratischen Diskurses, dem nun eine Reihe weiterer Gewalttaten folgen sollten, wie in den schäumenden Facebook-Kommentaren der Von-Storch-Getreuen nun befürchtet wurde?

Juristisch gesehen trifft all das jedenfalls nicht zu. Der Polizist, der mich nach dem Tortenwurf abholen kam, fragte die Getroffene drei Mal, ob ihr übel geworden sei, ob sie sich übergeben musste. Mit offenbar verletztem Stolz verneinte sie das prompt und schaute etwas brüskiert, als wäre ihre Verletzlichkeit ein Tabuthema. Zehn Minuten später versuchte sie, eine Anzeige wegen Körperverletzung zu stellen. Der Polizist erklärte ihr freundlich, dass sie das machen könne, aber dazu in aller Regel Übelkeit oder Erbrechen in der ersten halben Stunde nach dem Tortenwurf vorgekommen sein müsse, was sie ja eben noch verneint habe. Er sei kein Jurist, aber das habe er so gelernt. Mit aufgerissenen Augen sah ich dann das kleine Sandkastenkind vor mir, das den Polizisten anflehte, ihr zu glauben, dass ihr doch eben übel gewesen sei, sie habe es nur vergessen.

 

Dann wäre da noch die ästhetische Frage. Hagen Philipp Wolf, der Regierungsdirektor der damaligen Kulturstaatsministerin Monika Grütters, erkannte in meinem Tortenwurf offenbar Kunst. Kunst, die er eigentlich nicht bewerten wolle, wie er der Bild sagte, denn es sei »nicht Aufgabe des demokratischen Rechtsstaates, Kunst zu bewerten«. Das sei »die Lehre aus zwei deutschen Diktaturen im 20. Jahrhundert«. Die Freiheit der Kunst sei grundgesetzlich verbürgt. Und dann bewertete er sie doch, als er hinzufügte, das gelte »auch für geschmacklose Kunst, soweit diese nicht strafrechtliche Grenzen überschreitet«.[20]

Das Gericht verurteilte mich Monate später, nicht wegen Körperverletzung, sondern wegen tätlicher Beleidigung. 50 Tagessätze.

Militanz

Die Klärung der Frage, ob Gewalt ein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung sein kann, steht seit Beginn meines politischen Denkens als »Militanzfrage« auf meiner To-do-Liste. Bis heute habe ich mich ausweichend für die Position des strategischen Antimilitaristen entschieden. Ich weiß von mir selbst, dass ich mir eher in die Hose machen würde, als dass ich mit meinen dünnen Ärmchen jemanden körperlich angreifen könnte. Aber abgesehen von akuten Situationen, geht es ja hier um die große Frage, die Staaten immer wieder dazu bewegte, in fremden Staaten kriegerisch einzugreifen – nicht nur, aber insbesondere in US-republikanischen Debatten gilt es als ethische Verpflichtung, Demokratie militärisch durchzusetzen. Im Kleinen führt das zu der Frage, ob man den komplexen Formen der strukturellen und kulturellen Gewalt mit gezielten Interventionen – also direkter Gewalt – begegnen sollte.

Ich kann solche Überlegungen nachvollziehen: Was soll ich denn tun, wenn ich in Nigeria auch nach über 50 Jahren Klagen und Öffentlichkeitsarbeit keine Kompensationen bekomme, obwohl mein Zuhause durch eine Ölkatastrophe, verschuldet durch einen Konzern, zerstört wurde? Wie kann eine schwarze Community in den USA sonst einen Wandel forcieren, wenn anscheinend Person für Person von der Polizei umgebracht wird, obwohl die Community sogar schon einen schwarzen Präsidenten gestellt hat?

Und trotzdem kann ich direkte Gewalt nicht befürworten. Vielleicht weiche ich hier ein Stück weit aus, aber ich betone lieber, dass es sehr viel produktive Arbeit zu tun gibt, bevor man in so was investiert. Man kann sich organisieren, streiken, Druck auf kommunaler Ebene aufbauen. Man kann Straßen blockieren und Farbbeutel auf Autos werfen, man kann Texte schreiben und solidarisierende Feste feiern. Bevor nicht jede gewaltfreie Aktion versucht wurde, kann ich für mich selbst keine Rechtfertigung finden, direkte Gewalt anzuwenden.

Genauso sollten erst mal zivile Organisationen im Irak, in Syrien oder Libyen gestärkt werden, die sich gegen Kriegsparteien organisieren, bevor man Waffen aus deutscher Produktion dorthin schickt. Ich habe dabei immer ein bisschen Angst, unrealistisch zu sein, will da aber ganz nach dem, was als protestantische Ethik verbrämt wird, das gute Gewissen haben, es wenigstens versucht zu haben. Es ist schlicht Arbeit, kreative Lösungen zu finden. Es ist für mich ein beruhigender Gedanke zu wissen, dass es reichlich Alternativen zur direkten Gewaltanwendung gibt, die auch noch richtig Spaß machen.

Ich habe mich dazu entschieden, medientaktische Interventionen, subversiven zivilen Ungehorsam und investigativen Journalismus als Mittel zu nutzen. Auch weil ich es kann. Und zur Sahne im Gesicht von Neonazis: Die halte ich tatsächlich weder für Kunst noch für eine Form unangemessener Gewalt. So schön sie ästhetisch ins Bild passte, es war am Ende auch einfach nur eine geworfene Torte.

Demokratie

Einen Zweifel an der Legitimität der Torte hätte ich aber doch noch, und es wundert mich, dass das zu dem Zeitpunkt nicht diskutiert wurde – ich frage mich nach dem demokratischen Wert der Torte: War die AfD im Fall der heimtückischen Besahnung vielleicht Opfer einer antidemokratischen Handlung?

Diese Überlegung finde ich schon viel zutreffender, denn immerhin hüpfte gleich nach dem Tortenwurf die lokale Antifa aufs Hoteldach, und die Bundespolizei brach aus Sicherheitsgründen die Sitzung der AfD ab. Eine Sitzung, in der ein politisches Parteiprogramm besprochen werden sollte. Möglicherweise wurde ein demokratischer Willensbildungsprozess gestört. Und falls Sie nun denken: »Ja, aber doch genau der demokratische Willensbildungsprozess der AfD«, dann lassen Sie mich doch kurz erklären, weshalb das ein Paradox ist und es sich eventuell lohnt, auf ursprünglich undemokratische Mittel zurückzugreifen (Sahne).

Die AfD ist nach meiner Definition keine demokratische Partei. Im Gegenteil: Sie nutzt jedes demokratische Mittel, das sie finden kann, um konstruktive demokratische Prozesse zu unterwandern. Und ich meine damit nicht nur, dass sie offen rassistische Pläne schmiedet, etwa Menschen an der Grenze umzubringen. Sie stellt in Parlamenten kleine Anfragen, die auf Erfindungen basieren – etwa im Landtag Nordrhein-Westfalens zu Angriffen auf Metzgereien durch Veganer_innen, die es nie gegeben hat, oder zu einer Vergewaltigung in einem Maxim-Gorki-Park, den es nach Aussage des damaligen sächsischen Innenministers Markus Ulbig in Sachsen gar nicht gibt.[21] Sie stellten 630 meist rein rhetorische Anfragen im Sächsischen Landtag zur »Pinocchio-Presse«, vermutlich einfach nur, um den parlamentarischen Betrieb aufzuhalten.[22] Die Liste performativer Politik, die vor allem den demokratischen Betrieb aufhält und inhaltlich nichts zu einer Debatte beiträgt, ist lang. Genauso überschlagen sich Meldungen, in denen führende Politiker_innen der Partei offen demokratische Grundwerte ablehnen, wie Pressefreiheit, Meinungsfreiheit oder die Gewaltentrennung.[23] Deshalb kann man die AfD-Mitglieder getrost als Gegner_innen, vermutlich gar als Feind_innen der Demokratie bezeichnen.

Die Unterscheidung zwischen Gegner_in und Feind_in ist eine lang diskutierte Grundlage der Rechtsphilosophie. Mir hat hier die Philosophin Chantal Mouffe mit ihrem Buch On the Political geholfen, in dem sie von einem gemeinsamen Band schreibt, das zwischen den im Konflikt liegenden Positionen bestehen müsse, damit sie sich nicht als zu zerstörende Feind_innen betrachten.[24] Sie beschreibt Gegner_innen so, dass sie nie bis zur vollkommenen Vernichtung kämpfen würden. Feind_innen hingegen schon. Es mag ironisch klingen, dass ich eine linke Theoretikerin heranziehe, die sich auf Carl Schmitt bezieht, einen ehemaligen Nationalsozialisten, um ihre Abhandlungen wiederum auf den Umgang mit der AfD anzulegen. Mit ihrer Interpretation bekomme ich das Dilemma aber besonders gut zu greifen: Feind_innen sind Gift für jeden Diskurs, da sie bereit sind, über Leichen zu gehen, bereit sind, die gemeinsame Grundlage für eine friedliche Konfliktlösung zu zerstören. Wie also soll man mit ihnen umgehen?