Wenn die Organe ihr Schweigen brechen und die Seele streikt - Annelie Keil - E-Book

Wenn die Organe ihr Schweigen brechen und die Seele streikt E-Book

Annelie Keil

4,4

Beschreibung

Über die Verborgenheit der Gesundheit in der Krankheit Wenn wir krank werden und eine schwere medizinische Diagnose wie Brustkrebs, Herzinfarkt oder Schlaganfall erhalten, eine seelische Erkrankung wie Angststörung, Depression, Psychose oder eine diagnostische Mischung wie Burn-out oder "allgemeine Schmerzzustände" ermittelt wird, ruft das Leben mit vielen Fragen um Hilfe, und die Suche nach Antworten besetzt den Lebensalltag. Nichts ist wie vorher, und der Erkrankte möchte im Aufruhr der Diagnose möglichst schnell herausfinden, was diese Krankheit bedeutet, welche Behandlungen und Hilfen es gibt, welche Folgen für das eigene Leben zu erwarten sind und welche Heilungsaussichten bestehen. Die Bedrohung der Gesundheit durch eine Krankheit wirft grundsätzliche Fragen zur menschlichen Existenz auf. Mit den Fortschritten der Medizin und den Erkenntnissen der Psychotherapie verband sich immer wieder auch die Hoffnung, dass Krankheit letztlich vermeidbar sei. Doch Krankheit gehört zum Leben wie der Tag zur Nacht. Ohne sie wüssten wir gar nicht, was Gesundheit letztlich bedeutet. Annelie Keil ist der Verborgenheit der Gesundheit in der Krankheit auf der Spur. Warum jetzt und gerade hier an dieser Stelle unseres Leibes sind wir krank geworden? Welche besonderen Lernanforderungen stellt die jeweilige Krankheit an Körper, Geist und Seele? Haben wir etwas falsch gemacht oder unterlassen? Im Dschungel von Diagnosen und Befunden übernehmen Hilflosigkeit und Angst, Schuld, Scham und Schmerz oft das Ruder. Sie müssen erkannt und bewältigt werden, um im kritischen Dialog mit sich selbst und den "Experten" die subjektiv mögliche Gesundheit zu fördern und Krankheit und Krisen in die eigenen Hände zu nehmen.

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Annelie Keil

Wenn die Organe ihr Schweigen brechen und die Seele streikt

Krankheit und Gesundheit neu denken

Ich danke meinem Leben und den Menschen,

die mich begleitet haben und tragen.

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1. eBook-Ausgabe 2015

© 2014 Scorpio Verlag GmbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: David Hauptmann,

Hauptmann & Kompanie Werbeagentur

Grafiken: Wolfgang Pfau, Baldham

Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

ePub: 978-3-943416-83-1

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.scorpio-verlag.de

Inhalt

Einleitung

Vor viertausend Jahren

I.  Hauptsache gesund und ohne Befund?

Worum es nicht geht

Der neue Verkaufsschlager: Gesundheit als Religionsersatz

Blauer und bewölkter Himmel

Alles ist mit Arbeit verbunden

Die Organe wissen, was sie tun

Die Kunst, krank zu sein

Ein Reiseruf

So geht es nicht!

Der Körper fühlt, lügt und schwätzt mit

Unterwegssein im verletzten Leben des anderen

II.  Über den Anfang der Gesundheit im Leben: Offenheit, Überraschung, Koexistenz

Ein Überraschungsei auf Reisen

Verabredung mit der Evolution

Anfänge wagen: Geschichten aus den ersten Monaten Ihrer Biografie

Befruchten und empfangen: Glück ist kein Geschenk

Verhakende Umarmung statt feindlicher Übernahme

Das Biologische hat ein Subjekt, Gesundheit und Krankheit leben davon

Störungen fragen, Krankheit stiftet zu Gesundheit an

Lebende Systeme sind offen, Gesundheit überrascht

Die Schöpfung ist ein irres Konzept und Gesundheit ein Handwerk

Gesundheit als Improvisation in der Zeit

Co-Evolution, aktive Selbstintegration und Inklusion – gemeinsam statt einsam

Grundprinzipien eines »guten« Lebens

Ankunft und Verortung: einnisten und angenommen werden

Leben ist Koexistenz: Austausch und Teilen, Geben und Nehmen

Wie die Organe wachsen, reifen und sprechen lernen

Der Fötus als Lehrling im Budenzauber des Lebens

Das biologische Überraschungsei bei der Landung

Alles Lernen ist ein Erinnern

Geborenwerden als traumatische Erfahrung

Ohne Rezept und auf eigene Rechnung: Das Beste gibt es umsonst

Erste Lektion im Lehrplan des Lebens: Das Einmaleins der Unberechenbarkeit lernen

Zweite Lektion im Lehrplan des Lebens: Die biografische Arbeit tun

Dritte Lektion im Lehrplan des Lebens: Dimensionen der Gesundheit lebendig gestalten

Gesundheit als Provokation eines hoffenden Lebens, Krankheit als Lebenskritik des leidenden Menschen

III. Der Leib – das Zuhause der Organe, der Seele und der Krankheit

Die Angst, krank zu werden

Ohne Leib kein Leben

Wie man sich bettet, so liegt man – der Leib als Medium der Existenz

Leibliche Existenz und Kultur – Anpassung und Widerstand

Körper sein und Körper haben – der Leib als Medium des Betroffenseins

Innere Ordnungen und Arbeitsweisen

Warum, wieso, weshalb?

Das Orchester der Organe komponiert und spielt

Die Gestaltsprache der Organe

Biografische Medizin: Krankengeschichten erklären den subjektiven Befund

Ein Baum der Erkenntnis

IV. Wenn die Organe ihr Schweigen brechen und eine Krankheit spricht

Einbruch im Haus der Gesundheit

Der fremde Gast

Gefahr im Verzug – die Fahndung läuft

Brust ab! Entscheidung muss sein

Die Krankheit hat einen Zeugen

Wenn das Fass überläuft: Krankheit als Ordnungsverlust

Der Leib – ein mächtiger Gebieter

Wenn die Organe zur Kenntnis geben, wer der Gebieter ist

Vorhang auf, Bühne frei

Die kranke Seele ist nicht gern gesehen

Beim Namen genannt: Diagnosen schlagen zu und ein

Der Mensch, ein wandelnder Risikofaktor

Die Seile der Erinnerung – hinter der Demenz meldet sich das Leben zu Wort

Am Abgrund des Nichtseins und doch da: Würdigung, Toleranz und der Geist der Demut

Wenn das Herz streikt: Krankheitsarbeit als Wiederaneignung des Lebens

Wenn Arbeit krank macht

Sterben muss jeder: Die Macht der sozialen Ängste über Sinn und Bestimmung des Lebens

Zu guter Letzt …

Literatur

Anmerkungen

Einleitung

Vor viertausend Jahren…

Wer hat die beiden Fersen des Menschen geformt? Wer hält sein Fleisch zusammen? Wer hat seine beiden Fußknöchel gemacht? Seine wohlgeformten Finger? Die Öffnungen? Wer hat ihm seinen stabilen Bau gegeben? Womit sind denn die beiden Fußknöchel und die beiden Knie gemacht? Wo sind denn eigentlich die Kniegelenke festgemacht, dass wir sie beugen können? Wer hat sie so festgemacht? Wer versteht das wirklich? Das Gerüst ist an vier Stellen aneinandergefügt, die Gliedmaßen zusammengewachsen, oberhalb der Knie, und doch kann sich der Rumpf biegen dank Gesäß und Oberschenkeln. Wer hat denn das geschaffen, was dem Rumpf Halt gibt? Wie viele und welche Götter haben die Knochen von Brust und Hals zusammengefügt, die Brüste einzeln angemacht? Wie viele haben die Anordnung der Schulterknochen gemacht? Der Rippen? Wer hat die beiden Arme so gefügt, dass sie Heldenhaftes vollbringen können? Welcher Gott hat dann die beiden Schultern auf den Rumpf gesetzt? Wer hat die sieben Öffnungen des Kopfes gemacht, Ohren, Nasenlöcher, Augen, Mund, die den zwei- und vierbeinigen Lebewesen erlauben, sich überall zurechtzufinden?Zwischen beide Kiefer hat er die vielseitige Zunge gelegt, auf die er nachher das mächtige Wort legte. Er wälzt sich zwischen den Welten, in Wasser gehüllt. Wer versteht das wirklich? Wer war der Gott, der als erster sein Hirn und seine Stirne, seinen Nacken und seinen Schädel schuf? Er stieg in den Himmel, nachdem er die Kieferknochen des Menschen zusammengefügt hatte. Wer ist dieser Gott? Es gibt viele geliebte und viele ungeliebte Dinge, den Schlaf, die Beklemmung und die Niedergeschlagenheit, die Wonnen und die Freuden – wer erlaubt dem Menschen, dem gefürchteten, das alles zu ertragen? Wer gab ihm die vielen verschiedenen und verschieden verlaufenden Launen, die wie mächtige Fluten strömen, rot, kupferrot, rauchfarben im Leibe hochsteigen und ihn durchdringen? Wer hat ihm die Gestalt gegeben, wer die Masse, wer den Namen? Wer hat ihm seine Gangart, sein besonderes Kennzeichen, sein Verhalten gegeben? Wer wob diesen Rhythmus des Ein- und Ausatmens in ihn, wer gab ihm diesen langen Atem? Welcher Gott hauchte so viel in diesen Menschen?

(Aus dem Atharvaveda, 2200–1800 v. Chr.)

Dieser uralte Text aus einer der heiligen Textsammlungen des Hinduismus stellt die ewig aktuellen Grundfragen des Menschseins: »Wie bin ich entstanden? Wer bin ich? Wie funktioniere ich?«

Seit Menschen die Erde bewohnen, singen sie etwas Ähnliches wie das Lied aus der Sesamstraße: »Der, die, das! Wer, wie, was! Wieso, weshalb, warum! Wer nicht fragt, bleibt dumm!« Sie suchen nach Erklärungen, wie das Leben in ihnen und um sie herum und auch ganz nebenbei lebt.

»Wer war das?« ist die Überraschungsfrage schlechthin, wenn man für einen Tatbestand einen Täter braucht oder nach einem Schuldigen sucht. Das Leben hat immer etwas parat, das man nicht erklären, einordnen oder gerade gebrauchen kann! Es kommt zu früh, zu spät oder gar nicht, geplant oder ungeplant, wie es eben will. Im Fluss des Lebens gibt es keine letzte Antwort. Die Suche geht weiter, weil Leben lebt.

Der alte Text fragt: »Wer hat die sieben Öffnungen des Kopfes gemacht, die den zwei- und vierbeinigen Lebewesen erlauben, sich überall zurechtzufinden?« Für zwei mögliche Antworten wurden 2014 die Nobelpreise für Medizin und Chemie vergeben. Der eine für die Entdeckung der Hirnzellen, die ein Navigationssystem im Kopf bilden, der andere für die Entwicklung eines Supermikroskops, mit dem man beobachten kann, wie Zellen miteinander kommunizieren und wie die Wechselwirkung zwischen Viren und Zellen aussieht, was immer dies für die Entstehung und Behandlung einer Krankheit dann bedeuten mag. Jahrtausende hat es gedauert, um wissenschaftlich eines der innersten Geheimnisse des Lebens abbilden oder dem Navigator des Gehirns zuschauen zu können.

Das umfassende Geheimnis des Lebens liegt immer wieder vor uns und in den Lebewesen selbst und zwingt uns, wie Albert Schweitzer es formulierte, zu einer »Ehrfurcht vor dem Leben«. Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben bedeutet im allgemeinen Sinne eine stetige rationale Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und dem Leben um einen selbst herum. »Um Lebendes zu erforschen, muss man sich am Leben beteiligen«, heißt es bei dem Arzt und Psychosomatiker Viktor von Weizsäcker. »Leben finden wir als Lebende vor; es entsteht nicht, sondern es ist schon da, es fängt nicht an, denn es hat schon angefangen … Die Wissenschaft hat mit dem Erwachen des Fragens mitten im Leben angefangen.«1

Die Zellen, das Gehirn und der Organismus fragen nicht, ob wir ihre Ordnung, Arbeitsweise und Absichten durchschaut haben, sondern tun ihre Arbeit, kommunizieren miteinander, kommen zu Ergebnissen, manchmal – wie bei der Entstehung einer Krankheit – auch gegen unseren Willen. Wenn die Organe schweigen oder die Stille mit starken Schmerzen durchbrechen, wissen wir zunächst nicht, was los ist, und müssen herausfinden, worum es geht.

Der Mensch muss sein Leben im aufrechten Gang mit allem, was er seit Geburt im Gepäck hat, gestalten, ausprobieren, Bedürfnisse und Lebensfreude entdecken und zielgerichtet mit Lust auf Zukunft seine Entwicklung vorantreiben. Kinder zeigen uns, wie das geht. Vom Moment der Geburt an sind sie existenziell vom Leben berührt und von Kopf bis Fuß auf Liebe und Leben eingestellt. Ohne Berührung könnten sie nicht überleben, und nur dadurch zieht das Leben mit all seinen Bedeutungen leibhaftig in sie ein, tränkt ihre Seele und bringt ihr Gehirn in unendliche Bewegungen und Vernetzungen. Sie »wissen« als Lebewesen intuitiv, dass sie essen, laufen oder sprechen lernen wollen, bevor sie es auch tun und nachahmend üben! »Alles, was von dieser Welt ist, sehnt sich nach weiteren Berührungen, um stärker und inniger bezogen und damit tiefer gehend selbst zu sein.«2

Der Drang kleiner Kinder, die Welt zu erleben und anzufassen, ist unbändig! Als »soziale Frühgeburt« braucht der Mensch vom ersten bis zum letzten Atemzug neben vielfältigem Wissen soziale, emotionale und die Persönlichkeit stärkende Kompetenzen, vor allem aber Lebensbedingungen und Erfahrungen, die kreativen Austausch, Beziehungen, Gemeinschaft und Entwicklung möglich machen.

Dass wir so wenig über das Wunder, die Natur und die Entwicklung unserer leiblichen Existenz, ihre Funktionszusammenhänge, über die Arbeitsweise unseres Denkens und Fühlens oder über unsere Organe, die Wunderwerke der Schöpfung, fühlen und wissen, führt zu einem Wirklichkeitsverlust. Dieser hindert uns daran, die schöpferische Liebe und Berührungskraft des Lebens zwischen Ordnung und Chaos, Kontrolliertem und Spontanem sinnlich zu erfahren, zu greifen und als unsere eigene Lebendigkeit zu begreifen.

Menschen brauchen lebenslang – unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrem sozialen Hintergrund, ihrer Kultur, Religion oder ihrem Alter – vor allem eine liebende, lebendige, sich selbst übende Praxis der Verbindung zu ihrem und dem Leben der anderen Lebewesen, ob Mensch, Tier oder Pflanze. Nur indem wir leben, uns beteiligen, in Beziehung treten und uns berühren lassen, verstehen wir uns, das Leben und seine Qualität. Die Sehnsucht nach Zukunft ist die Triebkraft, die bis ins Sterben auf Selbst- und Mitgestaltung drängt und alles für möglich hält. Dasein ist Mitsein. Wir wachsen in die Erfüllung hinein, denn Leben lebt über Austausch, Aushandlung, Geben und Nehmen vom Teilen. Die Bestätigung, dass wir als Menschen einander und jeden Einzelnen brauchen, ist die Grundlage jener Hoffnung, dass die Würde des Menschen unantastbar sei. In Bezug darauf aber müssen wir Mensch für Mensch, Kultur für Kultur, Gesellschaft für Gesellschaft im Gespräch bleiben. Wir müssen Bezüge schaffen und Beziehungen gerade dann aufbauen, wenn wir über Gesundheit, Krankheit, Lebenssinn und Lebensqualität sprechen. »Jede Beziehung im Lebensnetz bringt Sinn hervor, weil es für die beteiligten Wesen immer um ihr ganzes Leben geht.«3 Die Notwendigkeit dieser Lebensvernetzung sitzt uns bereits in jungen Jahren im Nacken. Wir wollen dabei sein, brauchen Freundschaften, sind von der Hoffnung auf Leben angespornt, alles scheint möglich. Die Lebensflamme braucht Zündstoff, Ausbrennen ist eine Gefahr für Leib und Leben. »Das große Geheimnis ist, als unverbrauchter Mensch durchs Leben zu gehen. Wenn die Menschen das würden, was sie mit vierzehn Jahren sind, wie ganz anders wäre die Welt … Was wir gewöhnlich als Reife an einem Menschen zu sehen bekommen, ist eine resignierte Vernünftigkeit«, formulierte Albert Schweitzer in einer seiner vielen Ansprachen.4

Die Kunst, vom Augenblick der Geburt an bis zum letzten Atemzug im konkreten Leben und über alle Zumutungen hinweg relativ wohlbehalten und gesund älter zu werden, ist uns nicht in die Wiege gelegt. Gesundheit und Krankheit sind nicht »angeboren« und einfach da, sondern kontinuierliche Herausforderung, Aufgabe, Übungsfeld und auf der Suche nach Klarheit und Lebenssinn eine Art Meditation. Insbesondere dann, wenn das Leben mit Wendepunkten, dem Streik von Körper und Seele und anderen unerbetenen Vorschlägen für Überraschungen, Unruhe, Chaos und Krisen sorgt, bedarf es der besonderen Kompetenz, dies zu ertragen, sich selbst an die Hand zu nehmen, die unvorhersehbaren Konstellationen und Bedingungen zu integrieren und das Leben im Kontext eigener Fähigkeiten und Schwächen, Wünsche, Bedürfnisse und Enttäuschungen zärtlich, diszipliniert und so gut es geht authentisch weiter zu gestalten. Bei guter Gesundheit möglichst lange ungestört unterwegs zu bleiben ist der Lebenswunsch der meisten Menschen, sozusagen die Präambel ihres Grundgesetzes. Fast niemandem gelingt das ohne Hürdenläufe, Zickzackkurse oder die lebensüblichen Abstürze, für die es keinen Rollator zu kaufen gibt.

Was befähigt einzelne Menschen, sich mit eigenen Wurzeln im Erdreich des Lebens zu verankern und die richtigen Nährstoffe zu finden? Wo finden wir durch alle Lebensphasen hindurch konkrete Anregungen und Hilfen für den Erwerb von Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit, von Problemlösungsbereitschaft, Selbstständigkeit, Kreativität, Vertrauen, Partizipations- und Bindungsbereitschaft? Was befähigt ein Kind oder einen alten Menschen tatsächlich, sich in einer globalen schnell wandelnden Gesellschaft zu orientieren? Wie lernt ein Mensch, sich mit anderen auseinanderzusetzen, ohne Gewalt anzuwenden, und wie, sich zu trennen, ohne in die Isolation, die Sucht oder eine andere Krankheit zu geraten? Wie verbinden sich Weltwissen, Erfahrungswissen, Selbstbildung und Lernen in eigener Regie zu einer praktischen Lebenskunst, die sich aus der Liebe und der Verbundenheit mit allem, was lebt, nährt und Sterben und Tod aus der Gemeinschaft mit dem Leben nicht ausschließt?

Will man Krankheit und Gesundheit »neu«, »anders« oder »umdenken«, muss man sich durch allerlei Verlachtes, Verkanntes und Gedachtes durcharbeiten. »Anstrengungen machen gesund und stark«, meinte Martin Luther in seinen Tischreden, aber welche Anstrengungen er gemeint hat, bleibt offen. Arthur Schopenhauers Satz »Gesundheit ist zwar nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts« macht auch nicht unbedingt schlauer, denn es bleibt unklar, was denn dieses »Alles oder Nichts« bezogen auf die Qualität einer Gesundheit aussagt, die sich eindeutig von einer Krankheit abgrenzen will. Der Philosoph fragt, wie viele andere auch, ob denn ein gesunder Bettler nicht glücklicher sei als ein kranker König, weil Gesundheit alle äußeren Güter überwiege, und gibt die Beantwortung wie üblich an uns weiter. »Wer weder raucht noch trinkt, der wird als gesunder Mensch sterben«, sagt man in Georgien, aber was man davon hat, bleibt ungewiss. Der Hinweis »Auch wer gesund stirbt, ist definitiv tot« eignet sich als Slogan für die Rückseite einer Zigarettenpackung, die auf der Vorderseite davor warnt, dass Rauchen tödlich sein kann. »Dass der Gesunde nicht weiß, wie reich er ist, mag stimmen«; dass »kein kranker Mensch die Welt genießt«, wie Goethe meinte, gehört zu den wirksamen, aber trotzdem fragwürdigen Stimmungsbildern über Gesundheit und Krankheit.

Jenseits der Aphorismen, Sprüche und Gedichte als dem Panorama der Alltagsklugheiten zu Gesundheit und Krankheit, die für die persönlichen Wege und Irrwege als Trostpflaster nützlich sein mögen, bleibt für die wissenschaftliche Reflexion zu fragen, warum in der Ideengeschichte und Geschichte der Medizin manche bedeutende Ansicht zum Zusammenhang von Körper, Geist und Seele nicht nur unterging, sondern bewusst ausgeschlossen wurde. Seit René Descartes hat sich die Ansicht vom »Körper als einer seelenlosen Maschine«, also einem aus reparierbaren Teilen zusammengesetzten Körper, als medizinisches Leitmodell einer ganzen Epoche durchgesetzt. Sie bestimmt weitgehend bis heute das professionelle und öffentliche Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Die Tatsache des menschlichen Leibseins als einer integrierten Einheit von Körper, Geist und Seele wurde immer mehr verdeckt, und so ging der Leib als empfindender und empfindlicher »Resonanzkörper«, wie der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs ihn bezeichnet, und durch den wir fühlend und mitdenkend an der Welt teilnehmen, dem Diskurs über Gesundheit und Krankheit verloren.

Um die Folgen dieser Entwicklung soll es in diesem Buch gehen. Statt den erkrankten Menschen als Subjekt des Geschehens in den Mittelpunkt der »Humanmedizin« zu stellen, eroberte die Pathologie der Krankheit die Führungsposition, und der Patient wurde zum »Magen von Zimmer drei«. Das Gehirn übernimmt in den Neurowissenschaften zunehmend die Monopolstellung als Ort des Geistes und soll uns losgelöst vom Körper und von der sinnlich erlebten und gefühlten Welt abstraktes Vertrauen und Selbstbewusstsein vermitteln. Gehirnjoggen statt Denken und Fühlen. Die Zeit für ein Umdenken ist längst gekommen, und Thomas Fuchs schreibt auf Einsicht vertrauend in der Einleitung seiner phänomenologischen Anthropologie: »Wir sind keine Engelwesen, sondern wir leben in einem irdischen, verletzlichen und auch sterblichen Leib. Dass wir diesen Leib nicht etwa bedienen wie ein Autofahrer seinen Wagen, und seine Verletzung nicht wie eine Warnanzeige am Armaturenbrett bemerken, dass wir vielmehr ›eng mit ihm verbunden und gleichsam vermischt‹ sind, ja ›mit ihm eine Einheit‹ bilden – dies war auch Descartes durchaus bewusst, wie in seinen Meditationen nachzulesen ist.«5

Der große Beurteilungsstreit, der sich durch die Geschichte der Medizin und Heilkunde zieht, ringt mit der Frage, wie Körper, Geist und Seele miteinander kommunizieren, sich mit der Umwelt und ihren Einflüssen auseinandersetzen, was als gesund oder krank gilt, und auf welche Weise die »Selbstheilungskräfte« des Menschen ins Geschehen von Gesundheit und Krankheit eingreifen.

So wie Ebbe und Flut am Meeresufer eine Linie zeichnen, in der sich interessante Dinge ansammeln, so gibt es auch eine Gezeitenlinie zu Gesundheit und Krankheit, in der man den Gedanken, Theorien und Erfahrungen nachspüren kann, die zu ihrem heutigen Bild geführt haben. Diese Linie berichtet durch Jahrhunderte hindurch von Übergängen, Gradunterschieden und Arten des Daseins, die jeweils gestaltend oder gefährdend den menschlichen Lebenslauf durchziehen. Als Ausdruck von individuellen und kollektiven Lebensbewegungen beschreiben Gesundheit und Krankheit Zustände des Lebens und darin ihre historischen und aktuell relevanten Ausdrucksformen wie Umgangsweisen mit ihnen. Krankheiten wie Pest, Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten, verschiedene Formen der Sucht, Allergien, AIDS, eine Infektion wie Ebola oder die Zunahme einer Erkrankungsform wie Demenz ordnen sich immer auch als Zeichen der Zeit in die Zeitgeschichte ein, indem sie als soziale Bilder eingefärbt, in Kultur und Gesellschaft öffentlich reflektiert, beurteilt und in Wissenschaft, Literatur, Autobiografien und Kunst verarbeitet werden.

»Zeige deine Wunde« war der Titel einer Installation des Künstlers Joseph Beuys, die als Aktion in einem virtuellen Krankenzimmer Therapie und Heilung thematisierte und danach fragte, wie Gesellschaft und Kultur mit dem Memento mori, mit Krankheit, Schwäche, Alter und Sterblichkeit umgeht. Nur die Wunde oder Krankheit, die man zeigt, kann man heilen, und nur wenn man genau hinhört, kann man einen Ausweg finden. Der Titel des Kunstwerks sollte den Betrachtern ihren verwundbaren Punkt, die Endlichkeit ihrer Existenz, vor Augen führen und thematisierte die individuelle Erfahrung der Verdrängung von Leiden als »Todesstarre des Verschweigens« und als Krankheit der Gesellschaft.

Als leibhaftige Erfahrung und eingebunden in die Berührung mit der Welt, sperren sich Gesundheit und Krankheit in ihrer sinnlich-sinnstiftenden Komplexität gegen ein Denken in eindeutigen Definitionen und kausalen Zuschreibungen. Mit dem Titel dieses Buches – »Wenn die Organe ihr Schweigen brechen und die Seele streikt« – geht es um mehr als eine im engen Sinn medizinische Diagnose. Vielmehr geht es um die »Geburt« der Gesundheit aus der »Schwangerschaft« mit dem Leben und, anhand von seelischen und körperlichen Erkrankungen, zusammen mit dem erkrankten Menschen um eine nachdenkliche, biografische Spurensicherung, die uns zu den Innenwelten und Außenbeziehungen von Gesundheit und Krankheit und ihrer subjektiven Gestaltung leitet. Auf diese Weise können gesunde oder erkrankte Menschen wie auch ihre professionellen Begleiter besser verstehen lernen, wie sich die leibliche Existenz und die Erfahrung des Krankseins anfühlen, und was ein Mensch über sich zu berichten weiß, wenn er sagt: »Ich bin erschöpft«, »Ich bin krank«, »Ich habe Angst« oder »Ich kann die Schmerzen nicht mehr aushalten«.

Unsere Leiberfahrung in Gesundheit und Krankheit geht der Erkenntnis des Organismus voraus. Wir spüren, hören, tasten, riechen und sehen, dass etwas nicht stimmt. Erst dann kommt die Spurensicherung der Untersuchung. Frische oder Erschöpfung, Behagen oder Unruhe, Anspannung oder Gelöstheit spüren wir. Schmerzen pochen, wandern, strahlen aus. Gesundsein und Kranksein ist leibliches Erleben, zu dem der Kranke wie der behandelnde Arzt jenseits von Diagnose und Behandlung immer wieder zurückkehren muss. Die Frage, wie es uns geht, ist nur von daher zu beantworten.

Dieses Buch soll kein Klagelied und keine Werbetrommel für Gesundheit und gegen Krankheit sein, sondern eher ein »Reisebericht« über das Reden und Schweigen der Organe, über zufriedene und streikende Seelen, über Leid und Leidenschaft, über Not und Beglückung, über Behinderung und Bestärkung, über Pathos und Pathologie. Es will zu Berichten und Reisenotizen in eigener Sache anregen.

Dass das Buch mit den Spuren, die ich entlang der vielen Fragen des viertausend Jahre alten Sanskrit-Textes gefunden habe, einen Beitrag zur gemeinsamen Besinnung leisten möge, wünsche ich mir, aber auch das Folgende, in den Worten von Rainer Maria Rilke:

Und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.6

I.  Hauptsache gesund und ohne Befund?

Worum es nicht geht

Wer niest, macht auf sich aufmerksam. Ohne dass eine Frage gestellt wurde, ruft irgendjemand prompt die aufmunternde Antwort: »Gesundheit!« Im Werte-Ranking ist »Gesundheit« auch für die junge Generation die Spitzenreiterin, gefolgt von »Freiheit« und »Erfolg«. Der Beipackzettel für Gesundheit ist kein leichtes Gepäck, aber jeder kennt und hat ihn als innere Stimme im Kopf. Und dann geht es los: Guten Tag! Wie geht’s? Die Familie okay? Alles im grünen Bereich? Was sagen die Werte? Was macht das Gewicht? Nicht rauchen, keinen Alkohol, dafür literweise Wasser trinken, weniger und gesund essen, Nahrungsergänzungsmittel nicht vergessen, dreimal die Woche ein Spaziergang, keine unnötige Erregung, cool bleiben und nicht so viel grübeln, Laborwerte und Prognosen im Auge behalten, die richtigen sozialen Kontakte aufbauen und pflegen, verheiratet ist besser als gar nicht, nicht sündigen, Lächeln trainiert bestimmte Muskeln und kann nicht schaden, loslassen üben. Meditation und Gebet sollen gut für die Gesundheit sein und »Organe« beruhigen, wenn diese anfangen zu meckern. Fit und gesund bis hundert, nicht einknicken, mit Rolle vorwärts in den Sarg, Testament und Patientenverfügung unter dem Arm! Auf geht’s! Ob dies alles Lebenslust fördert, wer es überhaupt will und ob man auf diese Weise eher alt aussieht als alt wird, sei dahingestellt.

Gesundheit ist die »Abwesenheit« von Krankheit, so stand es lange in den Lehrbüchern. Die interessierte Sorge galt der Krankheit. Gesundheit wurde zur Leertaste, und die Kurzformel beruhigte mit dem Gefühl, unauffällig, symptomfrei, normal und deshalb auch gesund zu sein. Überprüfbar am Katalog von Normalwerten, erschien Gesundheit mehr oder weniger messbar, und der Mensch war danach medizinisch gesehen »ohne Befund«! Ein leeres Blatt.

Ganz nebenbei war Gesundheit auf ihre somatische Dimension verkürzt worden, die seelische, geistige und soziale Dimension geriet ins Abseits. Sie waren weniger messbar und galten in der Fachsprache als »weiche Daten«, die den harten körperlichen Befunden nicht das Wasser reichen konnten. Das »Schweigen der Organe« nannte der französische Philosoph Paul Valéry (1871–1945) diesen friedlichen Zustand zwischen Innen und Außen.

Umso mehr wurde Krankheit zu einer unberechenbaren Gemeinheit, die man verhindern, schnell in den Griff bekommen und als Fremdkörper mit allen Mitteln bekämpfen sollte. Über sie wird auf vielen Krankenblättern in diagnostischer Geheimsprache über jeden kranken Menschen genau Buch geführt. Eindeutige Klarheit ist verlangt. Entweder man ist gesund, oder man ist krank! Ob der, der krank ist, nicht auch noch gesund ist, oder ob derjenige wirklich gesund ist, bei dem kein »objektiver Befund« vorliegt, steht auf einem anderen Blatt. Ordnung muss sein. Hauptsache gesund! Nur keinen objektiven Befund!

Gesundheit und Krankheit treten vor diesem Hintergrund des Entweder/Oder in ein Überwachungsverhältnis ein, das sie aneinanderkettet. Dem Wunsch, vor allem körperlich gesund zu bleiben, und der daraus folgenden Angst vor Krankheit wird der »Glaube« gegenübergestellt, dass Krankheit vermeidbar und Gesundheit machbar sei, wenn der Mensch sich beraten lässt, Maßnahmen ergreift und die Regeln einhält, die vor allem die Experten der Medizin aufstellen. Wesentliche Aufgabe der Gesundheitsförderung ist die Abwehr von Risiken, die als Krankheitsgefahren erkannt wurden, durch Verhaltensänderung und die Einhaltung von Regeln.

Um subjektive Befunde, das »Befinden«, um den Sinn der Gesundheit oder den Zusammenhang zwischen Befund und Befinden geht es zunächst nicht. Um die unberechenbaren Eskapaden des Lebens, die Körper, Geist und Seele selten getrennt, sondern immer zusammen behelligen, auch nicht. Sie würden das klare Bild nur stören, das besagt: Wer krank wird, hat die medizinische Vorsorge nicht ernst genommen, sich offensichtlich falsch verhalten, etwas übersehen oder den medizinischen Experten nicht zugehört. Es liegt eine Störung vor, die behoben werden muss, damit der normale Lebensbetrieb ungestört weiterlaufen kann. Die Medizin hat dafür Strategien entwickelt und gute Schalthebel in der Hand. Der beste sei Prävention, sagen die Fachleute. Schließlich wisse man, wo die Ursachen für das eine oder andere Problem liegen. Die Erforschung des Organismus und seiner Funktionen gehört zweifellos zu den Siegeszügen der Medizin. Observieren, testen, kontrollieren kann deshalb nicht früh genug beginnen. Wehret den Anfängen!

Leben gefährdet Gesundheit, und deshalb wird diese nicht nur zur Hüterin der Krankheits- und Todesangst, sondern zum Pflegekind, das beschützt, beobachtet und vor allem erzogen werden muss. Im Kontext zunehmender Medizingläubigkeit und wachsender Sicherheitsbedürfnisse wurde der ganze Mensch zum Risikofaktor erklärt und muss nun vor sich selbst und seinen riskanten Verhaltensweisen geschützt werden. Der Mensch als Fehlkonstruktion des Universums, der aufrechte Gang als orthopädisches Desaster! Auf Zigarettenschachteln klärt man uns über die Endlichkeit auf. »Keine Experimente«, lautete jener politische Slogan, der als vertrauensbildende Maßnahme die kritische Selbstbesinnung zum Risikofaktor der sozialen Gesundheit machte.

Nicht nur rauchen kann tödlich sein! Leben ist es auf jeden Fall, aber das kommt später. Vorher brauchen die Gesundheitskampagnen klare Feindbilder, gegen die sie kämpfen können: Fette, Zigaretten, faule Beine! Das Gesundheitsvolk jubelt über diese Klarstellungen.

Bei allen Miseren, die das Leben umlagern und erschweren, gibt es wenigstens einen erlösenden Glauben: Gesundheit ist machbar, überall zu haben, macht fit, schön, schlank und hält jung, wenn man die richtigen Frischhaltekuren und Salben kauft. »Jeder ist seines Glückes Schmied«, lautet die Devise – vor allem Schmied und Schmiedin seines Körpers, wenn der sich genug einreden lässt. Zur eigenen Verantwortung für ihr Glück durch Gesundheit aufgerufen, inhalieren die Menschen Köper- und andere Bilder über Problemzonen, die wie eine Art Doping wirken und entgegen der individuellen Hoffnung auf maßgeschneiderte Gesundheit schwere Nebenwirkungen wie Essstörungen, missglückte Körpermodifikationen, riskante Schönheitsoperationen und Medikamentensucht nach sich ziehen.

Der neue Verkaufsschlager: Gesundheit als Religionsersatz

Gesundheit wird als neue »Religion« gefeiert, die dem Diesseits nutzt, das Paradies auf die lange Bank schiebt, sich »positiv denkend« mit geschlossenen Augen im Hier und Jetzt den Realitäten des Lebens entgegenstellt und diejenigen ins Abseits stellt oder wegsperrt, die es mit ihren Lebenskrisen und ihrer Fragilität vielleicht nicht so gut geschafft haben. Auffälligkeit, Armut, Gebrechlichkeit und Krankheit stellen das gesellschaftlich hofierte Selbstbild offensichtlich infrage. »Lasst uns froh und munter sein, und uns recht von Herzen freu’n!« ist eben nicht nur ein Weihnachtslied und bleibt auch den Gesündesten als Trallerallala zunehmend im Hals stecken.

Gesundheit ist das höchste Gut, zeigen alle einschlägigen Meinungsumfragen, und kaum eine Gratulation lässt den Wunsch nach Gesundheit aus, auch wenn die Beglückwünschten zufällig sehr krank sind, im Sterben liegen oder andere Sorgen haben. Gesundheit wird zur Allzweckwaffe einer kriselnden Moderne und kommt mit vielen Rezepten als Allheilmittel auf den Markt der Möglichkeiten. Symptome, die auf Behandlung warten, gibt es genug. Traditionelle Glaubens- und Wertesysteme wandeln sich, mit dem demografischen Wandel und der Ökonomisierung aller Lebensbereiche, der Zunahme prekärer Lebenslagen gehen neue Herausforderungen einher. An die Kommunikationsbereitschaft und Flexibilität der Persönlichkeit werden bis ins Alter hohe Anforderungen gestellt.

Woran soll eine Gesellschaft noch glauben, die in allen Bereichen auf Leistung, Wachstum und Machbarkeit setzt, den Anpassungsdruck ständig erhöht und die Menschen mit dem dazu erforderlichen Tempo fast in den Wahnsinn treibt? Die Angst vor der demografischen Welle, fehlende Altersbilder, spärliche Generationsdialoge springen der Sorge um die Gesundheit bei, denn die Beeinträchtigung des Wohlbefindens kommt für viele Menschen näher und dauert länger. Je größer der Druck, umso besser muss der Mensch funktionieren. Zwischen Familienpflichten, Singledasein, Berufsanforderungen, Fortbildungen, Internetrecherche und Freizeitstress – häufig am Rande der psychischen und physischen Kräfte – soll sich jeder, der »in« sein will, auf irgendeinen Marathon vorbereiten, auf dem Heimweg vom Job oder als Aktivposten im Altenheim eine Gesundheitsmaßnahme abhaken und seine Lebenserwartung in Kalorien ausrechnen. Um Irritationen im eigenen Inneren oder im zwischenmenschlichen Bereich von Familie, Nachbarschaft oder Beruf kümmert man sich frühestens dann, wenn sie da sind.

Im Angesicht der großen Sorgen ist die präventive Sorge um individuelle Gesundheit und körperliche Fitness, die man messen, wiegen, verordnen, wie eine Ware herstellen und kaufen kann, zum Verkaufsschlager geworden und mausert sich als »Wahnsinn der Normalität«, wie Arno Gruen die Sucht nach messbarem Durchschnitt nennt, zu einer neuen Gesundheitsgefährdung. Keine der Anregungen ist unnütz, viele Vorschläge können Menschen von der Reservebank ihres Lebens locken. Aber als Gesundheitswahn gegen die Angst vor Krankheit und vor dem Altern, als Ersatz für Lebenssinn, als Ablenkung von den Seelennöten der Zeit und ungeeignete Hilfe zur Selbsthilfe geht die Sinnorientierung verloren. Die Trimmpfade werden zu Sackgassen und käuflichen Stolperfallen.

Jeder soll teilhaben, mitmachen, alle sollen kaufen und glücklich werden. Schnäppchenjagden mit Hürdenlauf zu den Supermärkten für »gesunde Gesundheit« sind das Beiprogramm zu »Deutschland bewegt sich«. Alle Altersgruppen geraten unter Druck, und viele Menschen fühlen sich kränker, ärmer und ausgeschlossener, als sie es ohnehin schon sind. Die Deutschen sind »dick und depressiv« – so in etwa fassen die wissenschaftlichen Muntermacher die neueste Forschung zusammen.

Obwohl die meisten Menschen gerne länger leben wollen, fürchten sie sich davor, wie es im Alter weitergeht. Sie haben mehr Angst vor dem Sterben als vor dem Tod und fürchten den Prozess des Älterwerdens als ständige »Insolvenzveranstaltung«, in der ein Defizit den nächsten Verlust jagt: Gebrechlichkeit, Armut, Krankheit, Verlust an Autonomie und Selbstständigkeit, Kontrollverlust. Zwischendrin verliert man die Lebensabschnittsgefährten, die Erwerbsarbeit, die Kinder und vielleicht auch noch das eigene Gedächtnis, wenn es schlimm kommt. Dass Menschen all dies nicht nur durchstehen, sondern auch leben und erleben, Erfahrungen sammeln, zu überraschenden Konfliktlösungen kommen und trotz allem weiterleben, sich berühren lassen und das Leben genießen wollen, darüber wird auch unter denen, die das tun und ihre subjektive Gesundheit als erfahrungsbezogene Lebenskompetenz entwickelt haben, zu wenig gesprochen.

Eine Armee von Ratgebern samt Gesundheitsindustrie ist stattdessen angetreten, um den Glauben an eine machbare, käufliche und vor allem körperliche Gesundheit zu festigen. Dass Alter selbst keine Krankheit ist, haben wir geahnt, und Feiglinge wollten wir schon als Kinder nicht sein. Ob und wie aber Leben, vor allem langes Leben, zum »Traumland« oder zur letzten Gelegenheit für Gesundheit wird, müssen wir nach Ansicht der Gesundheitsstrategen offensichtlich erst noch lernen, trainieren und vor allem käuflich erwerben. Dass Medikamente, Therapien, Operationen und Pflegeangebote zum Standardprogramm im Gesundheitssystem gehören, erstaunt nicht, und niemand bezweifelt, dass sie grundsätzlich gebraucht werden. Für einen Verkaufsschlager und eine »sinnstiftende religiöse Erneuerung« reicht dieses Standardangebot des Gesundheitssystems allerdings nicht, und so lag die Anwerbung neuer Käuferschichten nahe. Ältere Menschen, vor allem die begüterte Rentnergeneration, sind für den Wundertütenreigen in Sachen Gesundheit ein gefundenes Fressen. Neben jungen Menschen und Frauen mittleren Alters entpuppten sich die Angehörigen der älteren Generation als eifrige Anhänger der neuen Gesundheitsreligion. Für ihre Gesundheit möchten sie im Alter alles tun, was sie vorher nicht wussten, bewusst versäumten oder sich zeitlich und wirtschaftlich nicht leisten konnten.

»Niemand muss alt sein« und »Sag ja zum Alter« propagieren Seniorentage und führen die grauen Panther und Silberlocken aus den bildungsnahen und weniger prekären Schichten durch die Messehallen, um zu zeigen, wie Bejahung des Alters geht. Wer Ja zum Alter sagt, ist per se gesünder als der, der am Glück des Alters zweifelt, vermitteln die Plakate und Werbeprospekte zu Seniorenmessen als Botschaft, und die strahlenden Fotos von »jungen Alten« in flotter Kleidung und mit entsprechender Ausrüstung dienen als Beweis. Altersheime werden zu »Residenzen«, ohne Seniorenabteilungen kommen Sportvereine nicht mehr über die Runden. Navigatoren durch die Supermärkte garantieren, dass Senioren den Weg in die Bioabteilung finden, ihren laktosefreien Aufstrich und das »Pflaumenmus nach alten Rezepten« kaufen können. Die Zutaten zu einem »gesünderen, besseren, glücklicheren, sinnvolleren Leben auch im Alter« sprühen Funken. Altengerechte Bildschirme und Telefone, Nahrungsergänzungsmittel, Yogamatten, Matratzen, Wärmedecken, sprechende Haushaltsgeräte, Rollatoren, Kopfhörer, Spannkraft erzeugende Hautkosmetik, Viagra, begehbare Badewannen, Rad-, Bahn- und Schiffsreisen für Ältere, Berge von Gesundheitsjournalen und Ratgebern für Körper, Geist und Seele beglücken Herz und Verstand, das ist keine Frage. Mit fünfundsiebzig probiere auch ich längst einiges von dem aus, was sich die Märkte für Menschen wie mich ausgedacht haben.

Dass neue Ideen und Produkte alte Menschen nicht nur erfreuen, sondern ihnen darüber hinaus hilfreich und nützlich sind, macht das individuelle wie gemeinsame Leben in vielerlei Hinsicht leichter. Die meisten dieser »Gesundheitsaktionen« aber tragen einen Anti-Aging-Stempel, pathologisieren das Älterwerden schon in frühen Jahren, machen quer durch alle Lebensalter Angst vor Veränderungen, die das Leben immer verlangt. Die »Ersatzreligion Gesundheit« orientiert sich wie in anderen Lebensbereichen am »Haben und Besitzen« und nicht an einer Kultur des »Seins«, das sich vom Leben berühren lässt und seine Spuren nicht löscht, wie der Sozialpsychologe Erich Fromm den Zwiespalt der modernen Gesellschaften und ihrer Ökonomie beschrieb. Weil ich habe, bin ich wer! Die Vermarktung und Medikalisierung von Leben und Gesundheit grenzt nicht nur viele Menschen von der Teilhabe aus, sondern nimmt ihnen Sinnbezug, Orientierung und Selbstwertgefühl. Der Stolz, eine Krise gemeistert, einer schweren Krankheit die Stirn geboten zu haben oder mit einer Behinderung fertiggeworden zu sein, kommt als persönliche Gesundheits- und Lebensleistung nicht mehr zur Geltung. Gesundheit wird zu einer abstrakten Größe und verhindert andere, vor allem subjektive Blickwinkel auf den Wert der Jahre, die spezifischen Lebensleistungen, auf die Stärken und Schwächen der eigenen Gesundheit, die als biografische Lebenskompetenz den Grad der Zufriedenheit und Erfülltheit im eigenen Leben anzeigen und einem Wohlbefinden dienen, das die körperlichen, seelischen, geistigen und sozialen Belange umfasst.

Viele Menschen beschleicht schon früh im Leben das Gefühl, nicht genug zu wissen, nicht schnell genug, nützlich, liebenswert oder zu kompliziert und gestört zu sein. Aus Überforderung, Ohnmacht und Hilflosigkeit begeben sie sich früher als nötig und ganz in die Hände von Experten und öffnen damit dem systematischen Prozess der »Enteignung von Gesundheit« durch Gesundheits- und Medizinexperten Tür und Tor, wie der Theologe, Philosoph und bekannte Medizinkritiker Iwan Illich argumentiert. Von der Geburtsstation bis ins Sterbezimmer halten uns Fachleute und selbst ernannte Gesundheitsflüsterer auf Trab. Bloß keine Zeit mit sich selbst verplempern, keine Umwege gehen, effektiv gegen sich selbst, aber dafür erfolgreich im Leben sein. Weicheier, Schwächlinge und Müßiggänger stehen unter Krankheitsverdacht. Um die gesellschaftlichen Rationalitäts- und Rentabilitätskriterien durchzusetzen, haben militante Herrschaftsansprüche ökonomischer, politischer, wissenschaftlicher, kultureller und weltanschaulicher Art zugenommen. Sie ringen in allen Lebensbereichen, so auch im Gesundheitsbereich, um die Führung und versuchen erfolgreich, die Lebensinteressen der Menschen unter die Macht ihrer Verwaltung zu bringen, die sich zwischen Überwachung, Krankheitsvermeidung und Beruhigung bewegt.

»Melissengeist«, »Doppelherz« und »4711« waren die Mittel unserer Mütter und Großmütter, wenn sie sich ein wenig Unterstützung holen und im Krankenhaus mit mehr als dem Alltagsduft der Medizin umgeben wollten. Natürlich darf es heute gerne etwas mehr sein. Aber entgegen allen Versprechungen und Hoffnungen: Gesundheit kann man nicht kaufen! Sie lebt bis ins hohe Alter vom Wechsel zwischen Genuss und Bescheidenheit, Selbstsorge und Fremdsorge und vor allem von der Sehnsucht und dem Willen, zu leben. Leere und teure Versprechungen enttäuschen die Kaufwilligen, erzeugen Resignation und beeinträchtigen das Wohlbefinden. Statt um Glücksräder, Kauflust und schnelle Befriedigung geht es im lebenslangen Älterwerden von frühester Kindheit bis ins hohe Alter darum, das Band zum Leben zu entwickeln und nicht zu kappen, das Risiko des eigenen Irrtums auf sich zu nehmen, die eigenen Bedürfnisse zu fühlen, sich von den Bedürfnissen der anderen berühren zu lassen und ohne Erlaubnis von der »oberen Gesundheitsbehörde« die subjektive Gesundheit zu wagen. Ihre Kaufkraft und ihr Vergnügen bezieht eine solche Gesundheit unter anderem aus einer Weisheit, die den Boden der Tatsachen berührt hat, aus einer Lebenserfahrung, die Beständigkeit, Geduld und Freiheit geübt hat, und aus der Liebe und Hingabe an ein Leben, das man selbst und in Beziehungen leben will.

Statt also die biografische Lebensleistung zu Gesundheit und Krankheit nicht nur älterer, sondern auch chronisch kranker oder behinderter Menschen würdigend wahrzunehmen, mit den Erkenntnissen aus Wissenschaft und Therapie zu verbinden und daraus zu lernen, dass »Gesundheit« weder eine medizinische Einbahnstraße, Einkaufsmeile oder Leertaste noch »Krankheit« eine Strafe für falsches Verhalten oder eine sinnlose Gemeinheit ist, sucht man weiter nur nach »pathologischen Substraten« oder dem »statistischen Mustermenschen« in allen Altersklassen. Erkennungsmerkmal: Hauptsache normal, gesund und ohne Befund!

Hauptsache unseres Lebens ist das Leben selbst! Natürlich ist es uns in gesundem Zustand lieber, als wenn wir es mit Irritationen, Schmerzen, Befindlichkeitsstörungen und Krankheiten der unterschiedlichsten Art zu tun haben. Um Gesundheit und Krankheit verstehen zu lernen, brauchen wir ein umfassenderes Bild von Gesundheit als das eines funktionierenden Körpers, der wie eine Maschine auf seine Wartung oder Reparatur wartet. Ein Bild, das Sonnen- und Schattenseiten der leibhaftigen Existenz des Menschen aufscheinen lässt und Körper, Geist und Seele ins Verhältnis zueinander setzt. Der Wahn vom perfekt reparierbaren, einsatzfähigen Körper, von gesunden Seelen, die nie streiken und dunkel werden, von Gehirnen, die normal, rational und jenseits der Gefühle als gesunder Menschenverstand vor sich hindenken, sowie die nachhaltige Tabuisierung der Endlichkeit des Menschen gehören zu den größten Gesundheitsgefährdungen. Die Angst vor Krankheit und Tod ist letztlich eine Angst vor dem Leben, das uns die Auseinandersetzung mit unserer Verletzlichkeit und Endlichkeit auferlegt, aber auch möglich gemacht hat.

Die Frage, warum sich manche Menschen im Lauf ihres Lebens mehr mit Krankheit, Schmerz und Tod auseinandersetzen müssen als andere, und warum manche Menschen trotz widriger Umstände immer älter und sogar unvermutet zu Hochbetagten werden; ob die tägliche Zigarre, das Glas Milch, Knoblauch, Gesundheitseifer, eine harmonische oder eher konfliktreiche Ehe, mehr oder weniger Geld, Bescheidenheit, Gebete oder Gottvertrauen zu mehr Gesundheit oder trotzdem in die Krankheit geführt haben, kann letztlich niemand beantworten. Wie viele Gesundheitsrituale, Vorsorgeuntersuchungen und Versicherungspolicen Menschen sich ausdenken mögen, um das Leben zu begradigen und die Risiken auszuschalten – dem Wandel und offenen Ausgang des Lebens können wir nicht entrinnen. Voller Zweifel durchleben wir lebenslang die damit verbundene Ambivalenz. »Der Mensch will immer, dass alles anders wird, und gleichzeitig will er, dass alles beim Alten bleibt«, schreibt der brasilianische Schriftsteller Paulo Coelho in Der Dämon und das Fräulein Prym und gibt dazu einen gesundheitsdienlichen Hinweis: »Höre nie auf zu zweifeln. Wenn du keine Zweifel mehr hast, dann nur, weil du auf deinem Weg stehen geblieben bist … Aber achte auf eines: Lass nie zu, dass Zweifel dein Handeln lähmen. Triff auch dann immer die notwendigen Entscheidungen, wenn du nicht sicher bist, ob deine Entscheidung richtig ist.«

Blauer und bewölkter Himmel

Hinter dem rätselhaften Geschehen, dass Menschen ein bestimmtes Alter erreichen, dass sie gesund bleiben oder krank werden, und dass ihre Gefühle und Stimmungen in den jeweiligen Zuständen unvorhersehbar sind, lächelt das Leben. Gelassen wehrt sich das Lebendige gegen den Versuch, Gesundheit und Krankheit als feste Burg, statistische Größe, Strafe oder Belohnung einzumauern. Beide gestalten sich aus der Verborgenheit.

Die menschliche Entwicklung folgt biologischen und universellen Lebensprinzipien. Jeder Mensch gestaltet, entscheidet und erleidet sie in einer einzigartigen Biografie als sein