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Erwin von Witzlebens Widerstand begann bereits 1937: Sieben Jahre vor dem Attentat vom 20. Juli 1944 war er erstmals bereit, gewaltsam gegen den Diktator vorzugehen. Er war damit einer der frühesten und konsequentesten Gegner Hitlers innerhalb der Generalität. Während der Sudetenkrise 1938 plante Witzleben die Absetzung Hitlers durch einen Staatsstreich, der allerdings durch die Ergebnisse der Münchner Konferenz nicht mehr durchführbar war. In den folgenden Jahren wich Erwin von Witzleben nie von seiner Überzeugung ab, dass Hitlers Regime verbrecherisch sei, auch nicht nach den größten militärischen Erfolgen. Diese Überzeugung bezahlte er mit dem Leben. AUTORENPORTRÄT Georg von Witzleben, 1977 in München geboren, aufgewachsen in Berlin, ist ein entfernter Verwandter Erwin von Witzlebens. Nach Ausbildung zum Reserveoffizier studierte er Politikwissenschaften, Geschichte, Psychologie und BWL und promovierte zum Dr. phil. Er war mehrere Jahre Unternehmer, anschließend wechselte er in die Industrie. Zwischenzeitlich baute er ehrenamtlich die Hilfsorganisation ALEDURAS e.V. auf.
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Seitenzahl: 702
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Biografie
Mit einem Geleitwort vonRüdiger von Voß
Saga
Den Menschen, die treu an meiner Seite stehen, in Dankbarkeit gewidmet.
Die Geschichtsschreibung des deutschen Widerstandes spiegelt wie kaum ein anderer Teil der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wider, wie komplex das Bemühen war, eine wahrhaftige Bilanz von Schuld und Verantwortung für den verhängnisvollen Verlauf der Geschichte von 1933 bis 1945 aufzustellen.
Von der ersten grundlegenden Darstellung der deutschen Opposition gegen Hitler des Historikers Hans Rothfels aus den Jahren 1947/48, über die bis heute unübertroffene Geschichte des Widerstandes von Peter Hoffmann (1969/1970) bis zu der eindrucksvollen Monographie des Staatsstreiches von Joachim Fest aus dem Jahre 1994 und einer nahezu unüberschaubaren Zahl von Einzeldarstellungen, Monografien und Biografien hat der deutsche Widerstand heute seinen historischen Platz als »Aufstand des Gewissens«, als Bild des »Anderen Deutschland« gefunden. Stauffenbergs Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 ist das Signet für den aus dem Gewissen erwachsenden Gegenentwurf gegen die menschenverachtende totalitäre Herrschaft und ist damit zugleich ein unverzichtbarer Teil der Identität einer auf Freiheit, Gerechtigkeit und persönlicher Verantwortung fußenden Demokratie.
Abgesehen von den Gesamtdarstellungen und wichtigen Einzelstudien zum breiten Spektrum des politischen, gesellschaftlichen und geistigen Widerstandes fördern Biografien das Wissen um die verhängnisvolle Verstrickung des einzelnen Menschen in die Herrschaft von Gewalt und Unrecht und die hieraus folgende Zerstörung der humanen Ordnung von Staat, Gesellschaft und Kultur als Ganzes.
Auffallend bleibt bei einer kritischen Literaturübersicht, dass es nach wie vor eine erhebliche Zahl von Widerstandskämpfern gibt, die entweder noch nicht dargestellt werden konnten und gewürdigt wurden oder sogar dem Vergessen preisgegeben sind. Dies gilt sicher nicht für die historische Rolle des Generalfeldmarschalls Erwin von Witzleben (1881–1944) im militärischen Widerstand in den maßgeblichen Gesamtdarstellungen, dennoch fehlte bisher eine umfassende Biografie zur Darstellung seiner Person und seines Handelns in dieser entscheidenden Zeit der deutschen Diktatur. Georg von Witzleben, Urgroßneffe des Dargestellten, legt nunmehr eine wissenschaftlich fundierte Untersuchung vor, die diese wichtige Lücke der Forschung in eindrucksvoller Weise ausfüllt.
Der Verfasser schildert das Leben eines der herausragenden Protagonisten des Widerstandes, der – geboren 1881 – vom Eintritt in das preußische Kadettenkorps bis zur Ernennung zum Generalfeldmarschall 1940 eine große Offizierskarriere vollzog. In detaillierter und bei aller Empathie nüchterner Weise entsteht das Bild einer Persönlichkeit, die sich, auf dem Fundament ihres christlichen Glaubens, ihrem Gewissen und der damit verbundenen letzten Verantwortung stellte und zu dieser bekannte. Der Satz von Hannah Arendt, dass sich unter den Bedingungen des Terrors die meisten Menschen fügen, einige andere aber nicht, findet im Leben Erwin von Witzlebens ein leuchtendes Beispiel.
Das enttäuschende Ende des Kaiserreiches, die politischen Spannungen der Weimarer Republik ließen auch bei Erwin von Witzleben bei Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft die Hoffnung entstehen, dass der deutschen Nation eine neue aussichtsreiche Zukunft eröffnet werden könnte. Schon Anfang der dreißiger Jahre wuchs dann aber seine Skepsis gegenüber der allgemeinen politischen Entwicklung und der von Adolf Hitler verfolgten außen- und sicherheitspolitischen Ziele; eine Skepsis und später deutlich hervortretende Distanz, die er zum Teil mit dem Chef des Generalstabes Ludwig Beck teilte.
Spätestens seit dem Sommer 1937 war Witzleben zu aktivem Handeln (siehe auch die Gespräche im Herbst 1937 sowie die Planung der sogenannten »Septemberverschwörungen 1938«) gegen Hitler und sein Regime bereit. Ohne den weiteren Verlauf des sich bildenden Widerstandes hier darstellen zu können, bleibt festzuhalten, dass Witzleben der einzige Generalfeldmarschall war, mit dem die »Verschwörer« stets fest rechnen und planen konnten. Die »Walküre-Pläne«, die dem Attentatsversuch zugrunde lagen, trugen daher auch die Unterschrift Witzlebens als zukünftigem Oberbefehlshaber der Wehrmacht.
Unmittelbar nach dem 20. Juli verhaftet, in der Gefangenschaft brutal gefoltert, stellte sich Witzleben vor dem Volksgerichtshof in der Verhandlung vom 7./8. August 1944 dem Vorwurf des »Blutrichters« Roland Freisler, »Hochverrat« begangen zu haben, und übernahm ohne jede Einschränkung die volle Verantwortung für sein Handeln.
Unter der Last der Folter verschwieg er die Namen seiner Mitarbeiter, seiner Freunde und Helfer im Widerstand und starb am Galgen des Gefängnisses Plötzensee. Auch mein ihm eng verbundener Vater, Hans-Alexander, verdankte seinem Schweigen nicht sofort entdeckt worden zu sein, wenngleich sein tragisches Ende sich dann am 8. November 1944 dennoch vollzog.
Georg von Witzleben hat mit der vorliegenden Biografie über Erwin von Witzleben diesen Repräsentanten des deutschen Widerstandes in eindrucksvoller Weise gewürdigt. Es gibt allen Anlass, ihm dafür im Interesse der menschlichen und politischen Reputation der Frauen und Männer des Widerstandes zu danken.
Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn. (Römer 8, 38.39)
Der Präsident des Volksgerichtshofes hatte am 7. August 1944 prophezeit: »Über den Verräter Witzleben werden Volk und Geschichte schweigen ...«1. Diese Prophezeiung ist nicht eingetreten. 69 Jahre nach seiner Hinrichtung lege ich mit diesem Buch die erste Biografie über Erwin von Witzleben vor.
Vor vielen Jahren entstanden Idee und Ziel, dieses Werk zu verwirklichen. Manche Herausforderung galt es zu bestehen, manch großes Hindernis aus dem Weg zu räumen. Dass es nunmehr vollendet ist, habe ich der Unterstützung vieler zu verdanken.
Da Dank für mich etwas sehr Persönliches ist, werde ich auch in diesem Sinne danken. Einige Ausnahmen möchte ich hier allerdings machen:
Ich danke meinem Verleger, Herrn Dr. Wolf-Rüdiger Osburg, sowie meinem Lektor, Herrn Bernd Henninger, und dem gesamten Team für die vertrauensvolle Zusammenarbeit und die exzellente Betreuung. Herrn Rüdiger von Voß danke ich für sein Geleitwort sowie für seine wohlwollende Begleitung in den letzten Jahren. Ich danke meinem akademischen Lehrer, Herrn Professor Dr. Arthur Schlegelmilch, der mir ein Doktorvater war, wie man ihn sich nur wünschen kann. Meinem Zweitgutachter, Herrn Professor Dr. Peter Brandt, danke ich für seine hilfreiche und herzliche Begleitung.
Es ist mir ein persönliches Bedürfnis, an dieser Stelle auch all jenen zu danken, die ihr Leben und ihre Unversehrtheit für unser Land einsetzen. Vor allem sie sorgen dafür, dass wir in Frieden, Freiheit und Sicherheit leben dürfen.
Am 9. und 10. August 1944 waren die deutschen Zeitungen voll von Berichten über den ersten Prozess gegen die Männer, die in das Attentat vom 20. Juli 1944 verwickelt waren. Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben war der Hauptangeklagte.2 Am 7. und 8. August 1944 hatte der Volksgerichtshof (VGH) gegen ihn und sieben weitere Angeklagte verhandelt und bereits am zweiten Verhandlungstag das Todesurteil gesprochen. Noch am selben Abend wurden die Männer in Berlin-Plötzensee gehängt.3
Wer war Erwin von Witzleben? Wer war dieser Generalfeldmarschall, der von den Verschwörern, die ein Attentat auf ihren Oberbefehlshaber (OB) planten und durchführten, als dessen Nachfolger bestimmt war und dann nach dem Scheitern des Umsturzversuches vom NS-Regime verurteilt wurde? Witzleben gehörte zur Elite von Wehrmacht und Staat, und von der Führung dieses Staates wurde er 1944 hingerichtet.4
Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus hat seinen Niederschlag in zahlreichen Büchern, Aufsätzen, Vorträgen, Filmen und Radiobeiträgen gefunden. In den letzten Jahrzehnten wurden Forschungslücken geschlossen, sodass heute über zahlreiche Widerstandskämpfer mindestens ein umfassendes Werk existiert. Immer wieder kommen neue hinzu.5 Über Erwin von Witzleben existierte jedoch bislang keine ausführliche biografische Untersuchung. Lediglich in kleineren Aufsätzen findet man Versuche, sein Wirken zu beschreiben.6 Auf der anderen Seite gibt es kaum eine Arbeit über den Widerstand, in der er nicht erwähnt wird. Was Erwin von Witzleben angeht, lag also ein Forschungsdesiderat vor. Ihm hat sich das vorliegende Werk gewidmet.
Witzleben war mein Urgroßonkel 4. Grades, der letzte gemeinsame Vorfahre mit ihm starb vor rund 250 Jahren. Dennoch wirft die Verwandtschaft und damit möglicherweise einhergehende familiäre Nähe Fragen nach der Objektivität auf:
Wenn man an eine solche Arbeit herangeht, sieht man sich mit zahlreichen Herausforderungen und Risiken konfrontiert. Das Wissen um die eigene Subjektivität ist sicherlich eine der größten Schwierigkeiten, mit denen der Biograf umgehen muss. Nicht umsonst hat Hans-Erich Bödeker darauf hingewiesen, dass im Grunde über eine Person unterschiedliche Biografien vorliegen müssten, weil erst im Kontext der unterschiedlichen Perspektiven der jeweiligen Biografen breitere Ergebnisse zu erwarten seien.7 Hinzu kommt als Herausforderung die Lückenhaftigkeit der Quellen: Der Historiker muss akzeptieren, dass sein Werk immer bruchstückhaft und unvollständig bleiben wird. Auch die Gefahr, im Nachhinein dem Leben einen kohärenten und schlüssigen Verlauf zu geben, sticht als eines der möglichen Probleme hervor.
Ich bekenne mich zu diesen in der modernen Biografieforschung benannten Herausforderungen. Gerade hier zeigt sich aber auch einer der großen Vorteile der Geschichtswissenschaft als Diskurswissenschaft: Analyseergebnisse von Historikern unterliegen beständiger Kritik. Obwohl Konsens in Bezug auf erzielte Ergebnisse möglich ist, gibt es »die historische Wahrheit« in ganzer Konsequenz nicht. Umso wichtiger ist die möglichst nachvollziehbare Analyse, Erklärung und Interpretation der genutzten Quellen und der aus ihr erwachsenen Erkenntnisse. Eine der größten Herausforderungen besteht in der Bewertung von historischen Prozessen, Entscheidungen und Taten, weil diese auf einer individuellen Basis getroffen werden. Dabei kommuniziert und begründet der jeweilige historische Akteur nicht immer authentisch und offen. Gerade bei der Frage, wann das persönliche Gewissen das Individuum zur Tat drängte, wird der Historiker immer an seine Grenzen stoßen und muss diese auch akzeptieren.
Als Biograf kam ich Witzleben nahe und habe versucht, mich in ihn hineinzufühlen und seine Sicht der Dinge zu verstehen. Dann ging es darum, wieder kritische Distanz einzuhalten. Ich habe mich bewusst für eine wissenschaftliche Arbeitsweise entschieden, um so professionell wie möglich arbeiten zu können.
Nur die wissenschaftliche Herangehensweise, bei der durch »kritisch ausgewertete Quellen«8 die Darstellung belegt werden muss, »simplifizierende Sichtweisen zu vermeiden [sind] und der florierenden Legendenbildung entgegenzutreten«9 ist, schien mir deshalb der richtige Ansatz zu sein. Grundlage des vorliegenden Buches ist demnach auch meine Dissertation. In dieser habe ich in einem ausführlichen Kapitel meinen methodischen Ansatz dargestellt.10 Auf den Abdruck dieses Kapitels wurde hier bewusst verzichtet, um den Rahmen nicht zu sprengen. Allerdings habe ich in diesem Buch im Anmerkungsteil sämtliche Quellenbelege erhalten, sodass der interessierte Leser diese nachvollziehen kann, und die wissenschaftliche Belegweise gewahrt bleibt. Ebenso befinden sich im Anhang meine Ausführungen zur Rezeption des deutschen Widerstandes, zu Forschungsstand und Forschungsfragen sowie zu den Quellen.
Obwohl ich mir bewusst bin, dass Menschen viele Seiten haben – Stärken und Schwächen, Licht- und Schattenseiten –, und trotz gründlicher Forschungen ist im Ganzen ein sehr positives Bild von Witzleben entstanden. Man hätte versucht sein können, die Darstellung durch »dunklere Kapitel« (vermeintlich) wissenschaftlich aufzuwerten, jedoch konnte ich nicht in sein Leben oder bestimmte Lebensabschnitte etwas hineininterpretieren, was es nach meiner intensiven Bearbeitung und kritischen Betrachtungsweise so nicht gab.
Mein Buch will einen Beitrag zur Widerstandsforschung leisten und einen ersten Versuch einer umfassenderen Untersuchung von Witzlebens Leben vorlegen, vor allem im Hinblick auf sein Engagement im Widerstand. Schwerpunkte sind nicht die militärischen Operationen der 1. Armee im Zweiten Weltkrieg und auch nicht die Tätigkeiten von Witzlebens Verbänden in Frankreich zwischen 1940 und 1942. Eine detaillierte Untersuchung dieser Fragen hätte die Thematik der vorliegenden Arbeit zu stark erweitert und wird in der Zukunft bearbeitet werden können.
Erwin von Witzleben entstammte dem Rittergeschlecht von Witzleben, das zum historischen Uradel gehört.11 Die Familie hat sich nach dem Ort Witzleben, nahe der Stadt Arnstadt benannt.12 Frühe Spuren nennen das Jahr 1088,13 urkundlich erwähnt wurde die Familie erstmals im Jahre 1133.14 Die Witzlebens wurden mit vielen Orten und Gütern zunächst im heutigen Südthüringen, ab Mitte des 14. Jahrhunderts auch im heutigen Nordthüringen/südlichen Sachsen-Anhalt belehnt. Mitte des 15. Jahrhunderts hatte sich die Familie in die Linien »zu Wendelstein und Berka, zu Elgersburg, Liebenstein, Molschleben und Marlishausen«15 geteilt. Erwin von Witzleben entstammte der Elgersburger Linie, die sich nach der Elgersburg im südlichen Thüringen benannte.16
Im 16. und 17. Jahrhundert schwand der Einfluss der Familie, und Anfang des 18. Jahrhunderts folgten zahlreiche Witzlebens dem Ruf der preußischen Könige und wurden Offiziere in der preußischen Armee. Mancher Witzleben ging auch in sächsische und oldenburgische Dienste.17 Im 18. und 19. Jahrhundert stellte die Familie rund ein Dutzend Generäle in Preußen und Sachsen.18 Der Soldatenberuf war der bevorzugte Berufswunsch bei den männlichen Familienmitgliedern, zusammen mit Landwirt (wenn eigener Boden vorhanden war), Forstwirt und Dienst in der Staatsverwaltung.19 Ein Cousin von Witzlebens Großvater, Job Wilhelm von Witzleben, 1818–1835 Generaladjutant von König Friedrich Wilhelm III. von Preußen und von 1832–1835 zusätzlich preußischer Staats- und Kriegsminister20, gründete die Kadettenanstalt in Schlesien,21 die Erwin von Witzleben später besuchte.
Die Familie von Witzleben betrachtete sich am Ende des 19. Jahrhunderts als Teil einer Elite: Sie sah auf eine jahrhundertelange Geschichte zurück, war vor allem im preußischen Staatsdienst verwurzelt und hatte in allen preußischen Kriegen seit Anfang des 18. Jahrhunderts ihren Beitrag geleistet. Hinzu kam, dass mit Pfalzgräfin Esther-Maria zu Birkenfeld-Gelnhausen geborene von Witzleben eine Angehörige der Familie die spätere Stammmutter der Herzöge in Bayern – einer Nebenlinie der bayerischen Könige – wurde. Hierzu schrieb der Chronist der 1880 erstmalig herausgegebenen Familiengeschichte, dass »[die] Ebenbürtigkeit mit einem deutschen Fürstenhause durch ein vom Kaiser sanctionirtes Urteil des Reichs-Hofraths in Wien vom 11. April 1715 anerkannt war.«22
Neben diesem Elitebewusstsein fehlte es nicht an Lebensfreude, die sich in einem humorvollen Familienspruch widerspiegelt: »Gott und dem König ergeben – Nur Gutes im Leben erstreben – Ab und zu mal einen heben – Das ist der Witz vom Leben.«23
Zahlreiche Güter waren einst in Witzleben’schem Besitz. Neben den bereits erwähnten Burgen waren dies unter anderem Angelroda (1363 bis ins 16. Jahrhundert, wieder 1651–1946), Berka, Bösleben, Molschleben (1351–1737) und außerhalb Thüringens unter anderem Hude in Oldenburg (seit 1678) und Liszkowo/Witzleben in Posen (Mitte 19. Jahrhundert bis 1945).24
Am 9. Mai 1869 kamen 21 männliche Angehörige der Familie von Witzleben in Berlin zum ersten Familientag und zur Gründung eines Familienverbandes zusammen. Auch Witzlebens Vater war dabei.25 Die Gründung wurde am vierten Familientag am 27. April 1874 formal abgeschlossen. Seit 1869 finden alle zwei Jahre Witzleben’sche Familientage statt, zu denen die Angehörigen der Familie eingeladen sind.26 Teil des Familientagrituals war zu Zeiten der Monarchie und noch bis in die 1930er Jahre auch die Verehrung und Huldigung des Kaisers.27
Durch Luthers Reformation kam es zur Schließung zahlreicher Klöster in Kursachsen. Die damaligen Vögte des Klosters Roßleben waren die auf dem Wendelstein ansässigen Witzlebens.28 Für den Vogt, Ritter Heinrich von Witzleben, stellte sich die Frage, wie er Gebäude und Gut des Klosters weiter nutzen könne. In Anlehnung an die Errichtung von Knabenschulen durch seinen Landesherrn, den sächsischen Kurfürsten, entschloss sich Heinrich von Witzleben, in Roßleben eine Internatsschule einzurichten. So gründete er 1554 die Klosterschule Roßleben mit dem Ziel, Schülern eine gute Ausbildung zu ermöglichen, möglichst unabhängig von deren sozialer Herkunft. Finanziert wurde die Schule durch das dazugehörende Klostergut sowie durch die von den Eltern zu zahlenden Schulgelder.
Roßleben war zunächst eine regional anerkannte Bildungseinrichtung, die im Laufe der Zeit immer mehr auch überregional an Bedeutung gewann. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war sie eine der bedeutendsten Bildungseinrichtungen in Preußen. Zu ihren Absolventen zählten zahlreiche hohe Beamte, Minister und Generäle, später auch Unternehmer. Die Schule wird seit dem 19. Jahrhundert in Form einer Familienstiftung geführt und ist heute die älteste familiengeführte Schule Deutschlands.29
Die Witzleben’sche Familie hat sich – unabhängig von der jeweiligen Abstammung bestimmter Linien – mit ihrer Schule in den letzten Jahrhunderten stark identifiziert. Die Witzlebens schickten spätestens seit dem beginnenden 18. Jahrhundert häufig auch ihre eigenen Söhne auf die Klosterschule.30 Erbadministrator Heinrich Graf von Witzleben-Altdöbern führte Anfang des 20. Jahrhunderts die Befreiung vom Schulgeld für Angehörige der Familie ein.31 Erwin von Witzleben ist in Roßleben nicht zur Schule gegangen, aber zahlreiche Onkel, Cousins sowie sein Sohn Job Wilhelm.32
Roßleben sollte im Widerstand gegen den Nationalsozialismus noch eine Rolle spielen. So war die Traditionsschule der Entstehungsort für viele Freundschaften, die später zu Keimzellen der Netzwerke des Widerstands werden sollten;33 keine andere zivile Bildungseinrichtung in Deutschland brachte mehr Widerstandskämpfer gegen Hitler hervor als Roßleben.34 Auch zwei spätere Mitarbeiter von Witzleben waren frühere Klosterschüler.35 Manche lernten sich dort schon kennen, andere erst nach der Schulzeit, einige gingen auch mit Witzlebens Sohn Job Wilhelm in Roßleben zur Schule. In Roßleben gewesen zu sein schuf seit jeher eine Bindung, und der gemeinsame »Stallgeruch« erleichterte das gegenseitige Vertrauen. Traf man auf einen »Alten Roßleber«, so entstand unwillkürlich eine gewisse Nähe, hatte man doch gemeinsame Werte und teilte viele Erlebnisse. Noch heute sprechen ehemalige Klosterschüler von ihrer »Alma Mater Rhodoscia«36.
Nach drei Kriegen und jahrzehntelangem Ringen wurde am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles das Deutsche Reich proklamiert. Fast elf Jahre später, am 4. Dezember 1881, wurde in Breslau, der Hauptstadt der preußischen Provinz Schlesien, Job Wilhelm Georg Erdmann Erwin von Witzleben geboren.37
Erwin von Witzlebens Vater, Georg von Witzleben, war zuletzt Platzmajor im kleinen schlesischen Städtchen Glogau.38 Er war im Deutsch-Französischen Krieg (1870/1871) mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse ausgezeichnet worden und hatte die Armee 1874 als Hauptmann verlassen.39 Nach seiner Dienstzeit kaufte er 1876 ein Gut in Schlesien, das er aber schon im selben Jahr wieder veräußerte.40 Später erwarb er das kleine Gut Ober-Poppschütz (Landkreis Freystadt) in Oberschlesien.41 Erwin von Witzlebens Mutter, Therese Brandenburg, stammte aus einer schlesischen Kaufmannsfamilie. Witzleben hatte einen Bruder, der kurz nach der Geburt starb.42 Er selbst wurde am 6. Februar 1882 getauft.43 In seinem evangelischen Elternhaus wuchs er ganz selbstverständlich im christlichen Glauben auf44, die ersten Jahre wohl zunächst in Breslau und dann in Ober-Poppschütz.45 Witzlebens gesellschaftliche und mehr noch seine menschliche Prägung hatte naturgemäß ihre Grundlage in seinem Elternhaus. Die finanzielle Ausstattung der Familie war bescheiden; das vom Vater bewirtschaftete Gut ergab nur wenig oder gar keine Erträge und wurde spätestens nach dessen Tod veräußert. Geld für eine gute Ausbildung des Sohnes war nicht vorhanden.46
Bei der Frage, welchen Beruf der junge Erwin ergreifen sollte, kam der Familie ein Umstand zur Hilfe. Es gab die Möglichkeit – vor allem für adelige Familien, die dem preußischen Staat schon länger als Offiziere dienten –, Knaben im Rahmen einer vormilitärischen Ausbildung auf den Soldatenberuf vorbereiten zu lassen.47 Im Kadettenkorps der preußischen Armee war die Ausbildung abhängig vom Einkommen der Eltern und wurde im Bedarfsfall vollständig vom preußischen König übernommen, ab 1871 durch die sogenannte »Kaiserzulage«48. Deshalb nannte man die jungen Kadetten auch »Kaisers Söhne«.49
Die Kadettenausbildung war so organisiert, dass es in den preußischen Provinzen acht Vorkorps gab50, in denen die Erziehung der jüngsten Kadetten entsprechend den Schulklassen Sexta (5. Klasse) bis Untertertia (8. Klasse) begann. Von der Obertertia (9. Klasse) an wurden sie in der Hauptkadettenanstalt in Groß-Lichterfelde bei Berlin zusammengezogen. Die dortige Ausbildung enthielt alle Lehrabschnitte, die notwendig waren, um Offizier zu werden. Neben Fächern wie Taktik, Reiten, Schießen, Schwimmen und militärischer Führung sollte auch die Allgemeinbildung und der gesellschaftliche Umgang geschult werden, außerdem wurde Englisch und Französisch unterrichtet.51 Der Sohn sollte dem Vater in der Berufswahl folgen. Mit Eintritt in das Kadettenkorps in seinem 11. Lebensjahr waren die Versorgung und die berufliche Zukunft des Jungen gesichert.52 Aber nicht nur die finanziellen Verhältnisse der Familie spielten bei diesem Schritt eine Rolle: Immerhin galt die Ausbildung im preußischen Kadettenkorps auch als gute Grundlage für eine spätere militärische Karriere.53
Witzleben setzte damit auch eine lange familiäre Tradition fort.54 Sein Ururgroßvater Albrecht von Witzleben55, noch im Stammland Thüringen geboren, trat in preußische Dienste und nahm als Offizier an allen Schlachten Friedrichs des Großen teil, was dieser bei seinem Abschied dankbar feststellte. Nach den Worten des Königs war Albrecht von Witzleben ein mutiger und tapferer Offizier.56 Dessen zweiter Sohn und Erbe57, Witzlebens Urgroßvater Job Wilhelm von Witzleben, von 1766 bis 1771 Schüler der Klosterschule Roßleben, folgte dem Vater in den preußischen Dienst.58 Er kämpfte gegen Napoleon I., erlebte die bitteren Niederlagen gegen die Franzosen und 1807 die französische Gefangenschaft. Schließlich kämpfte er in den Befreiungskriegen und wurde 1817 als preußischer Oberstleutnant verabschiedet.59 Witzlebens Großvater, Heinrich von Witzleben, diente über dreißig Jahre im herausragenden preußischen Garderegiment »Gardes du Corps«60 und brachte es anschließend zum Oberst und Kommandeur des 1. Garde-Ulanen-Regimentes in Potsdam.61 Er hatte die Tochter eines preußischen Spitzendiplomaten geheiratet und war Ritter des Johanniterordens.62 Witzlebens Vater war, wie bereits erwähnt, preußischer Hauptmann.63
Neben seinen direkten Vorfahren waren auch zahlreiche weitere Familienangehörige Offiziere. Ein Bruder seines Urgroßvaters, Heinrich von Witzleben64, kämpfte zusammen mit seinem Vorgesetzten, dem späteren Generalfeldmarschall Johann David Ludwig Graf Yorck von Wartenburg, gegen die napoleonische Armee. Heinrich von Witzleben sagte man Entschlossenheit und Furchtlosigkeit nach. Während des Monarchenkongresses in Erfurt 1808 wurde er deshalb von preußischen Patrioten aufgefordert, sich Napoleons I. lebend oder tot zu bemächtigen. Dies lehnte er ab mit den Worten, »wie er im ehrlichen Kampfe sein Leben für den König gern hingeben, zu einem Unternehmen aber, das mit einem Morde endigen könne, sich niemals verstehen werde«.65
Die Neigungen des jungen Erwin von Witzleben gingen aber noch in eine andere Richtung. Zeit seines Lebens war er ein begeisterter Jäger. Seitdem er offensichtlich schon während seiner Jugend die Ausbildung zum Jäger absolviert hatte, begab er sich, wo er konnte, auf die Jagd. Wenn er die Wahl gehabt hätte, wäre Witzleben eher Förster als Soldat geworden.66
Bereits im zarten Alter von 10 Jahren trat er also in das Kadettenkorps ein. Wahlstatt in Schlesien sollte zunächst seine Ausbildungsheimat werden. Ein Jahr später, am 9. September 1892, starb der Bruder des Vaters, Heinrich von Witzleben, auf seinem Besitz Collm bei Niesky in Schlesien. Er hatte 1874 seine Großcousine Auguste von Witzleben, genannt Gutta, geheiratet. Diese erbte Collm von ihrem Vater, der den Besitz 1856 erworben hatte. Heinrich und Auguste von Witzleben hatten keine Kinder. Warum Witzleben Collm nach dem Tod seiner Tante 1917 nicht erbte – was üblich gewesen wäre und für ihn auf lange Sicht ein Leben außerhalb der Armee hätte bedeuten können ist unklar.67 Auguste von Witzleben hatte zu ihrem Neffen ein gutes Verhältnis.68 Offenbar war aber die finanzielle Belastung des Gutes der Grund für einen späteren Verkauf durch die Tante.69
Vier Jahre später – am 5. Mai 1896 – starb Georg von Witzleben in seinem 58. Lebensjahr. Erwin verlor damit seinen Vater bereits im Alter von 14 Jahren.70 Er blieb auch nach dessen Tod in Wahlstatt, wo die religiöse Erziehung fortgeführt und er am 31. März 1898 konfirmiert wurde: »Denn Gott der Herr ist Sonne und Schild; der Herr gibt Gnade und Ehre: er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen«71, lautete der von seinem Lehrer Frielinghaus ausgewählte Konfirmationsspruch, der Witzleben fortan begleiten sollte. Im selben Jahr wechselte der Kadett in die Hauptkadettenanstalt nach Groß-Lichterfelde bei Berlin, wo er zahlreiche Kameraden fand, die später Teil eines großen Netzwerkes wurden. Dazu kamen Freundschaften, die in Lichterfelde ihren Anfang nahmen. Ähnlich wie in Roßleben war das Zusammengehörigkeitsgefühl groß. Diese Netzwerke konnten später die Basis für vertrauensvolle Beziehungen werden.72
Die Ausbildung im Kadettenkorps wurde nicht nur von Offizieren, sondern auch von älteren Kadetten durchgeführt. Dadurch sollte erreicht werden, dass die angehenden Offiziere früh lernten, Menschen zu führen. Einer seiner Ausbilder war der elf Jahre ältere Cousin Georg von Witzleben aus Dornheim.73 So wuchs das Einzelkind Erwin von Witzleben auch ganz natürlich in dem Bewusstsein auf, Angehöriger einer großen und weitverzweigten Soldatenfamilie zu sein. Die Ausbildung war hart, die Lebensbedingungen sehr bescheiden und die Ernährung alles andere als feudal. Die jungen Offiziersanwärter sollten preußisch bescheiden und leidensfähig erzogen werden, wobei die physische und psychische Disziplin eine große Rolle spielte. Daneben heckten die jungen Kameraden aber auch den einen oder anderen Streich aus und genossen diese Form der Kameradschaft.74
Anfangs war Witzleben nicht gerade ein begnadeter Schüler, und so musste er die Quarta (7. Klasse) wiederholen.75 Dann führte er sich bis zum vorletzten Jahr so gut, dass er eine Fleißprämie76 bekam und Selektaner wurde.77 Selektaner hatten das besondere Privileg, nach Abschluss ihrer Kadettenausbildung direkt als Offiziere (Leutnant) in ein Regiment einzutreten.78 Nun übernahm auch er Führungsaufgaben, wurde als Stubenältester ganz praktisch auf die Aufgaben als Zugführer in einem Regiment vorbereitet und bildete jüngere Kameraden aus.79 Selektaner aus adeligen Familien wurden auch als Pagen am kaiserlichen Hof in Berlin eingesetzt. Page zu sein, war damals eine große Ehre. Man nahm an Essen der regierenden Häupter Deutschlands bei Hofe teil und war verantwortlich für die Versorgung »seines« jeweiligen Landesherrn. Die Pagen standen bei Festessen hinter den Plätzen ihrer Fürsten und wichen diesen nicht von der Seite. Oft sind hieraus später langjährige Beziehungen entstanden.80 Witzleben wurde Page des Fürsten Heinrich XIV. Reuß jüngerer Linie.81
Anfang 1901 musste sich sein Jahrgang den Abschlussprüfungen stellen. In der Theorie waren Witzlebens Leistungen zum Teil nur durchschnittlich. Am 5. Februar 1901 wurde er geprüft. Nur mit einem »Befriedigend« wurde der Kadett Erwin von Witzleben mit Datum vom 22. März 1901 die Befähigung zum Offizier zugesprochen.82 Seit dieser Zeit hatte er den Wahlspruch: »Treue ist das Mark der Ehre!«83 für sich gewählt.
Nach bestandener Offiziersprüfung kehrte Witzleben sogleich in seine Heimat Schlesien zurück und trat in das Grenadierregiment König Wilhelm I. (2. Westpreußisches) Nr. 7 in Liegnitz ein.84 Die sogenannten Königsgrenadiere waren ein Traditionsregiment, das von König Friedrich Wilhelm II. von Preußen am 20. Februar 1797 gegründet worden war.85 Das Regiment hatte einen ausgezeichneten Ruf.86 Der Dienst bedeutete für den jungen Offizier eine klare Positionierung im Staatsgefüge und dessen Gesellschaftsordnung.87 Das Offizierkorps bestand ausschließlich aus Angehörigen adeliger Familien88, was in der preußischen Armee des beginnenden 20. Jahrhunderts nicht mehr für alle alten Regimenter galt.89 Durch den Kaisersohn Prinz Oskar von Preußen, der dem Regiment beigeordnet war, bestand zudem eine direkte Verbindung zur Herrscherfamilie.90 Witzleben machte als Kadett und junger Offizier vergleichbare, zeittypische Erfahrungen, wie sie auch aus den Biografien anderer späterer Feldmarschälle hervorgehen.91
Noch am 22. März 1901 wurde er mit Patent vom 22. Juni 1901 Leutnant und am selben Tag Zugführer in der 12. Kompanie. In den nächsten Jahren sollte er mehrere Kompanien des Regimentes durchlaufen, Jahre, die wohl zu den unbeschwertesten seines Lebens gehörten.92 Witzleben verrichtete seinen Dienst gern und nutzte die freie Zeit, um sich seiner Passion, der Jagd, zu widmen.93 Anfang des 20. Jahrhunderts war auch die Zeit der fortschreitenden technischen Entwicklung in der Armee. Witzleben konnte die Innovationen gerade bei der Entwicklung von Luftstreitkräften während einer Vorführung in Liegnitz selber beobachten.94
1905 war er zusammen mit seiner Mutter, die mittlerweile auch in Liegnitz lebte, zur Hochzeit von Paul Kleeberg, einem Bekannten der Familie, eingeladen.95 Die Schwester des Bräutigams war die am 10. März 1885 in Chemnitz geborene Alma Elsa Margaretha Kleeberg.96 Die Neunzehnjährige entging Witzlebens Aufmerksamkeit keineswegs, und er fasste Zuneigung zu ihr. Elsa Kleeberg, die in der Familie immer nur Else gerufen wurde, war eine sehr aufgeweckte und temperamentvolle junge Frau, die mit drei älteren Brüdern aufgewachsen war.97 Sie war klug und gebildet und hatte ein gesundes Selbstbewusstsein. Zuweilen konnte sie sich über etwas aufregen und auch laut werden, war dabei aber nie nachtragend.98 Elsa Kleeberg interessierte sich sehr für Politik und setzte sich mit aktuellen politischen Fragen auseinander. Wenn sie von einer Sache überzeugt war, blieb sie konsequent.99 Sie war nicht nur ein wacher Geist, sondern auch sehr beliebt.100
Die evangelische Kirche und der Glaube an Gott spielten in Elsa Kleebergs Leben eine große Rolle; sie besaß auch eine umfangreiche Bibliothek, in der sich zahlreiche religiöse Schriften befanden.101 Gleichwohl wuchs sie in einem sehr liberalen Elternhaus auf. Ihr Vater, Stadtrat Friedrich Richard Kleeberg, war Freimaurer und Meister vom Stuhl.102Auch ein Treuegefühl gegenüber dem sächsischen König bestand im Hause Kleeberg. Elsa Kleeberg liebte das Reiten und das Spielen am Klavier,103 auch war sie eine begeisterte Schützin und der Jagd zugetan.104
Das junge Paar fühlte sich sehr zueinander hingezogen105, und die beiden entschieden sich schnell, ihr zukünftiges Leben miteinander zu teilen. Bereits 1906 verlobten sie sich, konnten jedoch nicht gleich heiraten.106
Leutnante und Oberleutnante bezogen nur ein sehr bescheidenes Gehalt, mit dem sich keine Familie ernähren ließ. Andererseits war die Stellung eines Offiziers in der Gesellschaft jedoch so bedeutend, dass auf solide finanzielle und familiäre Verhältnisse größten Wert gelegt wurde. Somit war es Offizieren unter dem Rang eines Hauptmanns verboten, zu heiraten. Allerdings konnten Ausnahmen genehmigt werden, wenn der heiratswillige Offizier nachwies, dass er aus anderen – moralisch vertretbaren und legalen Mitteln – über ausreichende Ressourcen verfügte, um eine Familie ernähren zu können.107 Da seine zukünftige Frau vermögend war, wurde die Heirat des Leutnants gestattet.108 Am 21. Mai 1907 heiratete Witzleben Elsa Kleeberg in der Kirche zu St. Jakobi in ihrer sächsischen Heimat Chemnitz.109
Das Paar zog zusammen und lebte gemeinsam in Liegnitz. Als Tochter eines erfolgreichen Seidenfärbereibesitzers bekam die junge Frau eine große Aussteuer mit in die Ehe. Dazu gehörten neben zahlreichem Mobiliar auch größere finanzielle Mittel.
Die Eheleute ergänzten sich in vielfältiger Hinsicht. Witzleben bestand in seiner Ehe nicht auf einer einseitigen, patriarchalischen Führung. So war beispielsweise seine Frau diejenige, die fortan im Witzleben’schen Haushalt für die Verwaltung der Finanzen zuständig war, ungewöhnlich für die damalige Zeit.110 Dank der finanziellen Ausstattung war es Witzleben möglich, eine eigene Jagd zu pachten.111 Gemeinsam teilten beide die Freude am Klavierspielen; ein großes schwarzes Piano blieb jahrzehntelang gern genutztes Inventar.112 In dieser Zeit wurde Witzleben von einem Kameraden als jemand beschrieben, der »klar, gerade, immer verbindlich kameradschaftlich« war und sich »nie in den Vordergrund« drängte.113
Am 8. März 1908 kam in Liegnitz das erste Kind, Eva Maria Edelgarde Charlotte Amalie, zur Welt.114 Die Kleine wurde fortan »Edel« gerufen.115 Einige Monate später wurde Witzleben in das Bezirkskommando nach Hirschberg kommandiert, blieb aber formal Angehöriger seines Regimentes.116 Die Bezirkskommandos waren den jeweiligen Generalkommandos unterstellte Militärbehörden, vor allem zuständig für die Überwachung der Wehrpflicht und Rekrutierungsfragen.117 Hier kümmerte sich Witzleben auch um die Veteranen seines Regiments.118
Die Familie siedelte von Liegnitz nach Hirschberg über. Dort wurde am 3. Juli 1909 das zweite Kind geboren, Job Wilhelm Georg Richard Erwin.119 Und nach neun Jahren als Leutnant erfolgte schließlich am 26. Juni 1910 mit 28 Jahren Witzlebens Beförderung zum Oberleutnant.120
Am 6. November 1911 wurde er in Hirschberg verabschiedet, um anschließend wieder zu seinem Regiment zurückzukehren. Die Familie zog nach Liegnitz zurück.121 In den folgenden Jahren diente Witzleben in sechs Kompanien seines Regiments.122 1913 wurde der Oberleutnant dort so sehr gefordert, dass er auch seine Teilnahme am 23. Familientag – der am 22. November 1913 in Berlin stattfand – aus »dienstlichen Gründen«123 absagen musste. Witzleben war bereits 1908 dem Witzleben’schen Familienverband beigetreten.124
Sein Privatleben war in dieser Zeit nicht ohne Probleme: Nach der Heirat kam es immer wieder zu Konflikten zwischen Mutter und Schwiegertochter, die bis zum Tode der Mutter 1925 anhielten. Witzlebens Tochter vermutete später, dass sich die Schwiegermutter in die Familienführung der jungen Schwiegertochter einmischte. Erschwerend kam hinzu, dass sie alle in der Kleinstadt Liegnitz lebten. Witzleben war das einzige lebende Kind seiner verwitweten Mutter, und Elsa von Witzleben besaß einen ebenso starken Charakter wie ihre Schwiegermutter. Witzleben hat unter den Auseinandersetzungen, zu denen es zwischen den beiden kam, sehr gelitten, war jedoch nicht imstande, sie zu beenden.125
Abgesehen davon war seine Ehe nach dem Zeugnis der Tochter und dem von Freunden sehr glücklich.126 Witzleben liebte seinen Beruf und darin die Ausbildung von jungen Soldaten, aber nicht minder genoss er auch das Leben mit der Familie. Mehrere Urlaubsaufenthalte, sowohl an der Ostsee in Bansin als auch im Thüringer Wald, der alten Heimat der Großfamilie, erlebte er in diesen Jahren. Das Paar reiste auch nach Berlin und verbrachte dort einen vergnügten Urlaub.127
Es war die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in der Deutschland – zur Großmacht aufgestiegen – prosperierte und der Wohlstand in Frieden von der jungen Familie genossen werden konnte. In diesen Jahren wuchsen die beiden Kinder heran. Elsa von Witzleben war in der für diese Zeit selbstverständlichen Rollenverteilung für ihre Erziehung verantwortlich. So war sie diejenige, die mit den Kleinen abends vor dem Schlafengehen betete und sang. Allerdings war sie strenger mit den Kindern als ihr Mann,128 achtete aber auch auf liebevolle Fürsorge, sodass sie bis zu ihrem Tod 1942 zu Tochter und Sohn ein gutes Verhältnis bewahren konnte. Wenn es sich zeitlich ergab, dann brachte auch der Vater die Kinder abends zu Bett und betete mit ihnen.129 Solange sie noch nicht erwachsen waren, blieb der Sonntag »Elterntag«. Die Eltern spielten mit Tochter und Sohn und gingen mit ihnen spazieren.130
Am 1. August 1914, kurz vor acht Uhr abends, überbrachte der deutsche Botschafter in Moskau, Friedrich Graf von Pourtalès, dem russischen Außenminister Sergei Dmitrijewitsch Sasonow eine Note seines Kaisers. Sie enthielt die Botschaft, dass sich das Deutsche Reich mit Russland im Kriegszustand betrachte. Wenige Stunden später überschritten erste russische Truppen die ostpreußische Grenze.131 Den Mittelmächten (Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und Türkei) mit rund 9,8 Millionen Soldaten standen die Alliierten (Großbritannien, Frankreich, Italien, Montenegro, Serbien, Rumänien und Russland) mit rund 13 Millionen Soldaten gegenüber.132
Am 11. August 1914 zog Witzleben ins Feld und mit ihm dreißig weitere Angehörige der Witzleben’schen Familie.133 Der Oberleutnant hatte sich zu Beginn des Krieges entschieden, fortlaufend ein Tagebuch für seine Kinder zu führen, denn ihm war bewusst, dass der Krieg ein besonderes Erlebnis sein würde.134
Als er ins Feld rückte, war seine Kriegsbegeisterung im Vergleich zur Stimmung anderer etwas gedämpfter, trotzdem wird aus seinen Worten in diesen Tagen deutlich, mit welch positiven Gefühlen der Offizier an die Front zog.135 Witzleben sah sich in einer Reihe mit seinen Vorfahren, die im Krieg gewesen waren. Die Bewährung im Kampf mit der Waffe, das Beweisen von Mut und Tapferkeit und das Siegen waren die Bezugspunkte in seinem Fühlen und Denken.136 Witzleben hinterfragte die Notwendigkeit des Krieges nicht, sondern er akzeptierte sie.137 Zwar ging er davon aus, bald wieder zu Hause zu sein, aber der Abschied von seiner 29 Jahre jungen Frau und seinen zwei kleinen Kindern fiel ihm sehr schwer.138
Im Eisenbahntransport ging es in den nächsten zwei Tagen direkt an die Westfront. Witzlebens Mobilmachungsbestimmung sah ihn als Adjutant der 19. Reserve-Infanterie-Brigade vor, die noch in Liegnitz aufgestellt worden war.139 In seiner Funktion sollte der Offizier das erste Mal eine größere Übersicht über die Aufgaben, die Herausforderungen und das Wirken auf Brigade- und Divisionsebene erhalten. Im Laufe des Krieges steigerten sich diese Lernmöglichkeiten noch in anderen Verwendungen.
Witzleben war bei den kleinen Dingen des täglichen Lebens unselbständig und umso dankbarer für die Unterstützung seiner Burschen.140 Den ganzen Krieg über und noch darüber hinaus sollte er von seinem Burschen Paul Beier, der elf Jahre jünger war als Witzleben, begleitet werden.141 Beier war oft bei seinem Vorgesetzten zu Hause und spielte mit den Kindern, die ihn sehr ins Herz geschlossen hatten. Zwischen Witzleben und seinem Burschen entwickelte sich eine Freundschaft, die auch lange nach ihrer gemeinsamen Dienstzeit andauern sollte. Noch Jahrzehnte später besuchte Beier seinen alten Vorgesetzten in Berlin, und es kam sogar vor, dass die beiden zusammen durch den Zoologischen Garten spazierten.142
Am 20. August 1914 überschritt Witzlebens Brigade gegen zwei Uhr mittags die luxemburgische Grenze. Er war angetan von dem freundlichen Verhalten der Bevölkerung gegenüber den deutschen Truppen. Zwei Tage später geriet Witzleben in seine ersten Kämpfe: die Schlacht bei Longwy und dabei zuerst das Gefecht bei Fillières. Noch war es sein Wunsch, möglichst schnell an den Feind zu kommen. Ein Armeebefehl des Deutschen Kronprinzen, in dem dieser erklärte, »uns heute zum ersten Male an den Feind« zu führen, motivierte den Brigadeadjutanten. Eine uneingeschränkte Siegeszuversicht beherrschte den Liegnitzer Offizier so wie die ganze Armee. Man wollte beim Sieg dabei sein und seinen Beitrag dazu leisten. In dieser ersten Phase hatte Witzleben ein positives Kriegsbild, das sich aber im Laufe des Krieges wandelte.
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