»Wenn ich dir nur sagen könnte …« - Genevieve Kingston - E-Book

»Wenn ich dir nur sagen könnte …« E-Book

Genevieve Kingston

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Beschreibung

Dieses Buch »ist fesselnd und herzzerreißend und hat mir gezeigt, wie wundervoll Menschen sein können, wenn das Leben passiert.« Ann Napolitano Als Genevieve Kingston drei Jahre alt war, wurde bei ihrer Mutter Krebs im Endstadium diagnostiziert. Allen Widrigkeiten zum Trotz lebte sie noch acht Jahre. In dieser Zeit füllte sie eine Truhe mit Geschenken und Briefen an ihre Tochter zu jedem wichtigen Meilenstein und Geburtstag bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahr. Dies ist die unvergleichliche Geschichte einer jungen Frau, die im Schatten großen Verlusts aufwächst, geleitet von dem, was ihre Mutter ihr hinterlassen hat. Eine Geschichte voller Liebe und Schmerz, aber auch voller Wertschätzung und Rat – berührend, weise und halt gebend. Mutter, Tochter und das stärkste Band auf Erden »Meine Mutter reiste in der Zeit voraus, um mich zu treffen, immer in Form eines Päckchens mit rosa Schleife und einer kleinen weißen Karte. Wenn ich die Truhe öffnete, konnte ich für einen kurzen Moment in eine gemeinsame Realität eintauchen, etwas, das sie sich vor vielen Jahren für uns ausgedacht hatte. Ihre Botschaften begegneten mir wie Wegweiser in einem dunklen Wald; wenn ihre Worte mir den Weg nicht weisen konnten, boten sie wenigstens den Trost, dass jemand schon mal dort gewesen war.«

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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www.piper.de

Aus dem amerikanischen Englisch von Renate Graßtat

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Did I Ever Tell You bei Marysue Rucci Books, einem Imprint von Simon & Schuster, LLC, New York

© Genevieve Kingston, 2024

Für die deutsche Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2024

Covergestaltung: Cornelia Niere, München

Covermotiv: Foto mit freundlicher Genehmigung der Autorin

Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung der Autorin

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Text bei Büchern mit inhaltsrelevanten Abbildungen ohne Alternativtexte:

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Prolog

TEIL EINS

Ich weiß nicht …

Die ersten Schritte …

Als ich vier …

Das Motto für …

Peter und Kristina, …

Sonntags liefen wir …

Meine Mutter war …

Ich weiß nicht …

Meine Eltern brachten …

Dr. Gonzalez ließ …

Die Praxis der …

Im Sommer, als …

Im Herbst, als …

In jenem Dezember …

Im Frühling saß …

Die Chemo schlug …

In der dritten …

Das Haar meiner …

Meine Mutter überlebte …

Als ich zehn …

Im Sommer nach …

Der Rollstuhl engte …

Am Morgen meines …

Als der Herbst …

Es war ein …

Am Tag der …

In den Monaten …

TEIL ZWEI

Volle Kraft …

Vierzehnter Geburtstag

Jahre bevor …

Fünfzehnter Geburtstag

Obwohl meine Mutter …

Zuerst waren …

Sechzehnter Geburtstag

Mein Vater …

Im Alter von …

Am Morgen …

Jamies Hochzeit …

Im Laufe …

Ein paar Tage …

Die Praxis …

Obwohl …

Im folgenden …

Als ich …

TEIL DREI

An diesem Abend …

Am Morgen …

Jahrelang …

Ich holte Jamie …

Nach dem Tod …

Zu unserem letzten …

Fast fünfhundert …

Beim Empfang …

Wir beerdigten …

Wir brauchten …

Jamie fuhr …

Nachdem Jamie …

Dann setzten …

Antoinette …

Drei Wochen …

Zweiundzwanzigster Geburtstag

Zur Feier …

Im Sommer …

Die Schwester …

Ein Jahr …

Als ich …

Nach dem Abschluss …

Fünfundzwanzigster Geburtstag

Auf dem Flug …

Im vierten Monat …

Im Frühjahr …

Kurz vor Semesterende …

Im dritten Jahr …

Achtundzwanzigster Geburtstag

Als ich …

Zu meinem dreißigsten …

Dreißigster Geburtstag

In unserer Wohnung …

NACHWORT

DANKSAGUNG

Kristina Mailliard

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Kristina, Peter und Jamie

Und für alle, die unserer Familie beigestanden haben

Als ich drei Jahre alt war, erfuhr meine Mutter, dass sie eine aggressive Form von Brustkrebs hatte. Jeden Tag saß sie stundenlang an unserem Esstisch, das dunkle Haar nach hinten gebunden, umgeben von Papierstapeln, dicht bedruckt mit Fachliteratur. Ich sah vom Durchgang zur Küche aus dabei zu, wie sie alle Behandlungsmöglichkeiten durchforschte, die sie nur finden konnte: konventionelle, alternative und auch die Anrufung der Mutter Maria.

Im Laufe der nächsten Jahre suchte sie Ärzte, Spezialistinnen, Homöopathen und Heilerinnen auf. Ein Chirurg schnitt ihr das vom Krebs befallene Fleisch aus dem Körper. Sie hielt sich an strenge Diäten und schluckte Berge von Tabletten. Sie flutete ihren Körper mit Chemotherapie und mit Karottensaft. Sie war immer auf der Suche nach einer Möglichkeit zu überleben.

Als ich sieben war, begannen sich die Materialien auf dem Esstisch zu verändern. Einwickelpapier und Schleifenbänder nahmen die Stelle von Blättern voller markierter Textstellen ein. Die Hände meiner Mutter waren unermüdlich am Werk, der geschorene Kopf mit dem dunklen Flaum darübergebeugt. Eine Schere raschelte durch Geschenkpapier. Papier knautschte unter ihren Fingern zusammen, Bänder wurden mit einem Schnipp auf die richtige Länge geschnitten, Knoten mit einem leisen Quietschen festgezogen. Raschel, knautsch, schnipp, quietsch. Sie war dabei, zwei Geschenktruhen zusammenzustellen: eine für Jamie, meinen älteren Bruder, und eine für mich.

In diese Truhen legte meine Mutter Geschenke und Briefe für alle Meilensteine unseres Lebens, die sie verpassen würde: Führerscheine, Abschlüsse und jeden einzelnen unserer Geburtstage bis zum Alter von dreißig Jahren. Als die Truhen voll waren, trug mein Vater sie hinauf in unsere Zimmer.

Jedes Mal, wenn ich diese Truhe öffnete, konnte ich eine Art gemeinsames Leben spüren – etwas, das sich meine Mutter für unsere Zukunft vorgestellt hatte. Wie einen kaum noch wahrnehmbarer Duft oder die ersten Töne eines vertrauten Liedes – jedes Mal ein Hauch ihrer Gegenwart.

Noch Jahre nach ihrem Tod stand die pinkfarbene Papptruhe auf dem Boden meines Kinderzimmers, und ich öffnete den Deckel, um meine Finger über die Reihen säuberlich eingewickelter Päckchen gleiten zu lassen, jedes versehen mit einem Kärtchen an dünnem, sich kräuselndem Geschenkband. Dicke Umschläge voll bedruckter Seiten, in der ordentlichen Handschrift meiner Mutter klar beschriftet – eine Einladung, die sich in eine Ermahnung hüllte: Nichts sollte vor der rechten Zeit geöffnet werden. Damals war die Truhe so schwer, dass ich sie nicht hochheben konnte.

In den letzten zwanzig Jahren ist sie mit mir auf einen anderen Kontinent gereist, von einem Staat in den anderen und von einer Wohnung in die nächste gezogen. Sie war immer das Erste, wofür ich einen Platz fand, sobald der Umzugswagen wieder abgefahren war. Sie hat in engen Nischen oder auf Zwischenböden und ganz hinten in Schränken gestanden; es war mir immer wichtig, sie zu schützen. Sie vor den Blicken anderer zu verstecken. Jedes Jahr ist die Truhe leichter geworden.

Jetzt sind nur noch drei Dinge darin übrig.

TEIL EINS

Das, wovor ich immer Angst gehabt hatte, geschah an einem Mittwochabend. Ich sah Jamie beim Warcraft-Spielen zu. Ich mochte es, ihn beim Computerspielen zu beobachten; auf diese Weise konnte er meine Anwesenheit am besten ertragen. Ich konnte ihm lange Zeit nah sein und seinen konzentriert nach unten geneigten dunklen Kopf ansehen, konnte seine auf den Laserstrahl gerichtete Aufmerksamkeit spüren, seinen tröstenden Jungsgeruch wahrnehmen, ohne dass er mir sagte, ich solle weggehen. Er kämpfte gerade gegen eine Gruppe von Orks, bewaffnet mit mittelalterlichen Schwertern, während grob gezeichnete animierte Schafe vom Rand aus der Schlacht zusahen. Jamie brachte mich zum Lachen, indem er auf ein Schaf klickte, damit es »Baa Ram Ewe« sagte. Dann klickte er noch ein paarmal darauf, damit es explodierte. Mein Vater kam ins Zimmer und sagte, wir sollten nach oben kommen.

Jamie hatte seinen Verlauf noch nicht gesichert und wollte das Spiel nicht unterbrechen.

»Eine Minute«, sagte er und schwenkte auf einen weiteren verpixelten Ork.

Mein Vater nahm ihn sanft am Arm. »Na komm«, sagte er mit seinem weichen britischen Akzent, der nach mehr als zwanzig Jahren in Kalifornien leicht verblasst war.

»Bitte, GLEICH – ?« Jamie drehte seinen Arm weg.

Nachdem er das Spiel abgespeichert hatte, folgten Jamie und ich unserem Vater die Stufen mit dem grauen Teppich hinauf und ins Schlafzimmer meiner Mutter. Ich konnte nicht sofort begreifen, was ich sah, obwohl ich es mir viele Male vorgestellt hatte.

Sie lag, wie schon seit Monaten, in dem Krankenhausbett, das wir in ihrem Zimmer aufgestellt hatten. Regen klopfte an die Fenster. Langsam streckte ich eine Hand aus. Ich hatte nicht direkt Angst, aber ich hätte kein besseres Wort gewusst. Sie jetzt zu berühren hieß, ein Mysterium zu berühren. Sie war nicht kalt, aber die Quelle ihrer Wärme fehlte. Was zurückblieb, war ein Nachhall, wie die leise Erinnerung an eine Verbrennung. Ich blickte in Jamies Gesicht, und mir stockte der Atem. Er kniete am Bett und legte seine Hände auf verschiedene Stellen ihres Körpers, ihr Bein, ihre Hand, ihre Wange, als würde er nach etwas suchen. Sanft zog er eins ihrer Augenlider zurück.

»Versuchst du, sie lebendiger aussehen zu lassen?«, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf, legte seine Wange an ihren Bauch und schluchzte. Ich weinte nicht. Ich hatte jahrelang geweint, und jetzt, so schien es, war ich ausgetrocknet. Ein Teil von mir fühlte sich sogar erleichtert. Ich war es so leid, Angst zu haben.

Mein Vater hob ihren Körper hoch und trug ihn in sein Schlafzimmer – das sie früher gemeinsam benutzt hatten –, damit die Schläuche und anderen medizinischen Apparaturen weggeräumt werden konnten. Mich überraschte seine Stärke. Ich hatte nie gesehen, dass er sie getragen hätte, als sie noch am Leben war. Jetzt würden die Frauen in der Familie ihren Körper waschen und anziehen. Meine Mutter hatte mir gesagt, dass dies geschehen würde. Es handelte sich um ein Ritual, das sie für ihre Mutter durchgeführt hatte und das sie sich auch für sich wünschte. Antoinette, die Schwester meiner Mutter, ihre Cousine Sandy und ihre Freundin Sobonfu winkten mich alle ins Zimmer. Im Alter von elf Jahren erfuhr ich so, eingebettet in ihren Kreis, dass ich eine Frau war.

Wir zogen ihr das T-Shirt in Übergröße mit dem Schlitz am Rücken aus. Zu jener Zeit trug sie nur T-Shirts in Übergröße mit einem Schlitz hinten, weil man diese leicht an- und ausziehen konnte, ohne dass sie sich aufsetzen musste. Auf diesem war ein Bild mit einer Ente, die an eine Wand geklebt war, und der Aufschrift: Duck Tape. Meine Mutter lag nackt auf dem Bett und sah dabei nicht so sehr wie meine Mutter aus, sondern vielmehr wie ein Beweis für das, was man ihr alles angetan hatte. Ihre linke Brust war unter einer langen, horizontal verlaufenden Narbe eingezogen, und die Brustwarze fehlte. Eine weitere lange Narbe von der Operation ihres gebrochenen Rückgrats zog sich ihre Wirbelsäule entlang. Ein Medikamentenport aus Plastik verursachte eine kleine Erhebung in der Haut ihrer Brust. Ihr Gesicht und ihr Körper waren durch Steroide angeschwollen. Ihr Haar war nach einer letzten Chemo-Runde kurz, und auf ihrer Stirn zeigten sich blasse Narben, an den Stellen, an denen einst ein metallener Ring in ihren Schädel geschraubt worden war. Damit sollte der Krebs behandelt werden, der sich auf ihr Gehirn ausgeweitet hatte. Sie war wie eine Landkarte, dachte ich. Nur wusste ich nicht, wohin sie führte.

Jemand füllte eine Schüssel mit Wasser. Wir tauchten Tücher in die Schüssel und befeuchteten ihre Haut. Sie war jetzt kühler, sie verlor jede Minute an Wärme. Ich kämpfte gegen den Impuls an, mich auf ihren Rücken zu legen und ihn mit meinem Körper zu bedecken, um sie ein wenig länger warm zu halten. Die Zeit verging bereits sehr schnell. Sie rann mir durch die Finger wie das Wasser, sosehr ich auch versuchte, die Sekunden in die Länge zu ziehen.

Ich bemerkte ein Muttermal auf ihrer Brust und versuchte, mir seine genaue Form und Position einzuprägen. Ich bemerkte die hellen Dehnungsstreifen, die sich um ihre Brüste und den Bauch abzeichneten, Spuren zweier Schwangerschaften. Ich bemerkte die feinen Furchen auf ihren Fingernägeln und die tiefen Linien in ihren Handflächen – und wünschte, ich könnte sie lesen. Vielleicht hatten sie eine Geschichte mit einem anderen Ausgang zu erzählen. Mir fiel das leuchtend grüne Display des CD-Weckers ins Auge: Es war zehn Uhr an einem Mittwochabend. Wir hätten eigentlich Star Trek sehen sollen.

Meine Mutter war ein schlaksiger, dunkelhaariger Teenager gewesen, als die ursprüngliche Star-Trek-Serie zum ersten Mal ausgestrahlt wurde. Ich stelle mir vor, dass sie – wie viele Mädchen ihres Alters – für Captain Kirk schwärmte, gespielt von dem jungen William Shatner. Als in den späten Achtzigern die Nachfolgeserie, The Next Generation, gesendet wurde, wurde das gemeinsame Ansehen der Folgen in unserer Familie ein Ritual. Solange ich zurückdenken kann, quetschten wir vier uns auf die abgenutzte braune Kunstledercouch, sobald die Worte »Der Weltraum, unendliche Weiten« im Bariton Patrick Stewarts von der Royal Shakespeare Company aus unserem klobigen schwarzen Fernseher erklangen. Diese Worte signalisierten, dass ich für die nächste Stunde von meiner Familie umgeben sein würde, sicher und geborgen. Meine Lieblingsfigur auf dem Raumschiff war Counselor Deanna Troi, und ich träumte davon, dass sich eines Tages meine glatten blonden Fransen in eine so beeindruckende dunkle Lockenpracht wie ihre verwandeln würden.

Für mich erschloss sich durch die Sendung auch ein neues Zeitkonzept. Zeit war in Star Trek etwas, das verändert, umgestaltet und nachbearbeitet werden konnte. Wenn die »Enterprise« explodierte, wusste ich, dass jemand in der Zeit zurückgehen und sie reparieren musste. Tausendmal bin ich in meiner Fantasie durch die Ebenen der Zeit zurückgereist, bis hin zu dem Moment, als der Krebs meiner Mutter begann, um ihn herauszureißen, bevor er Wurzeln schlagen konnte.

Nach der Ausstrahlung der letzten Folge von The Next Generation erlaubte mir meine Mutter dann, mittwochabends lange mit ihr aufzubleiben, um Star Trek: Voyager zu sehen. Meine Bewunderung für die Kommandantin der »Voyager«, Kathryn Janeway, stellte das, was ich für Deanna Troi empfunden hatte, weit in den Schatten. Janeways Raumschiff war mitsamt seiner Crew in einem entlegenen Quadranten der Galaxie, Tausende von Lichtjahren entfernt von zu Hause, gestrandet. Voyager war eine Geschichte des Heimwehs, und ich empfand eine solche Sehnsucht, solange ich denken konnte – nicht einfach nach einem Ort oder einem Menschen, sondern nach einer Welt, in der meine Mutter nicht sterben würde. Und Captain Janeway hatte glattes, dunkelblondes Haar.

Mittwoch für Mittwoch sahen meine Mutter und ich dabei zu, wie die »Voyager« sich im Delta-Quadranten behauptete und ein weiteres Hindernis auf einer Reise, für die mehr als siebzig Jahre veranschlagt waren, aus dem Weg räumte. Zuerst saßen wir zusammen auf der Couch, wenn wir die Serie schauten, dann Seite an Seite in ihrem Krankenhausbett. Und schließlich, als sie nicht mehr wach war, saß ich beim Fernsehen an ihrem Bett und hielt ihre Hand. Sie verpasste die letzte Folge um drei Monate.

Und so war ich am Mittwoch, dem 7. Februar 2001, um zehn Uhr abends dabei, den Körper meiner Mutter zu waschen, und wünschte mir, ich könnte Star Trek einschalten. Ich sah in die Gesichter der anderen Frauen und wusste, dass ich ihnen das niemals würde erklären können: Warum ich noch einmal bei meiner Mutter sitzen wollte, wenn der Vorspann die Lichter von Novae und Warp-Antrieben über unsere Gesichter gleiten lassen würde. Warum ich gerade in diesem Moment das Bedürfnis hatte zu wissen, dass einige Dinge gleich blieben. Warum ich mich nach einem anderen Zeitverständnis sehnte. Ich hätte ihnen niemals erklären können, dass wir uns alle jahrelang gemeinsam auf einer Reise befunden hatten, meine Mutter, Captain Janeway, die »Voyager« und ich; einer Reise nach Hause, von der wir wussten, dass sie vielleicht unser ganzes Leben lang andauern würde.

Zehn Tage später wurde ich zwölf.

Ich wachte früh auf in einem stillen Haus, und wie an den vorhergehenden zehn Morgen fragte ich mich, ob ich alles geträumt hätte. Vielleicht würde ich, wenn ich meine Tür öffnete und den Flur mit dem grauen Teppich entlang zum Nebenzimmer ginge, sie dort liegen sehen, mit dem rieselnden Tropf, den summenden Apparaten und ihrem Atem, der die Luft um ihren Schlaf bewegte. An diesem Morgen lag ich im Bett, wie an den vergangenen zehn Morgen, bis die innere Verwirrung nachließ. Das hier war real. Das hier würde für den Rest meines Lebens real sein. Es würde auch noch real sein, wenn ich schon gestorben war.

Ich schwang meine nackten Beine aus dem Bett. Ich trug eins der Nachthemden, die meine Mutter für mich gemacht hatte. Jeden Sommer nähte sie drei: zwei langärmelige, ein kurzärmeliges, zwei aus Baumwolle, eins aus Flanell. Jedes Jahr machte sie sie eine Größe größer und setzte dabei sorgfältig die Taschen vorne auf, sodass sie sich perfekt ins Muster fügten. Dieses hier war zu klein, denn in den letzten zwei Jahren konnte sie nicht mehr gut genug sehen, um zu nähen, und sie konnte nicht aufrecht sitzen, um die Maschine zu bedienen. Es schnitt unter den Armen ein.

Meine Mutter und ich hatten am selben Tag Geburtstag, und in jedem anderen Jahr wäre ich den Flur entlanggerannt und zu ihr ins Bett gekrochen. Mein Vater hätte uns heiße Schokolade oder einen Blumenstrauß gebracht und uns »die Geburtstagsmädels« genannt. Meine Mutter hätte mich an sich gedrückt und wie jedes Jahr gesagt: »Das schönste Geburtstagsgeschenk, das ich je bekommen habe.« Stattdessen blieb ich in meinem Zimmer und schob den Zeitpunkt weiter auf, zu dem ich meine Tür würde öffnen und feststellen müssen, dass sie fort war.

Seit Monaten stand die Truhe schon in meinem Zimmer auf dem Boden, und ich hatte versucht, sie zu ignorieren. In dieser Zeit hatte sie eine Zukunft verkörpert, von der ich hoffte, dass sie niemals eintreten würde. Jetzt bewegte ich mich langsam aus dem Bett und kniete mich neben sie. Ich zog die Schnappverschlüsse einen nach dem anderen zurück, zögerte den Moment hinaus. Als ich den Deckel hob, sah ich als Erstes ein großes schwarzes, spiralgebundenes Notizbuch mit zwei roten Birnen auf dem Einband. Mein Atem beschleunigte sich, als ich es herauszog und die erste Seite aufschlug.

Liebste Gwenny,

eine Auflistung der beigefügten Briefe und aufbewahrten Andenken, um bedeutsame Ereignisse im Leben zu würdigen und zu feiern. Ich habe diese Liste für dich gemacht, nur für den Fall, dass etwas mit den Briefen oder Erinnerungsstücken selbst passiert. Den Stift, mit dem ich sie geschrieben habe, schenke ich dir auch und hoffe, dass du Freude daran hast.

In Liebe, Mommy

An dem Spiralbuch war mit einer Klammer ein grün-goldener Füllfederhalter befestigt – einer von denen, die mit flüssiger Tinte schreiben. Ich zog ihn heraus und fühlte sein erstaunliches Gewicht in der Hand. Tränen ließen die Worte vor mir verschwimmen. Meine Mutter hatte mir Jahre zuvor das Notizbuch gezeigt, und ich hatte es, genauso wie die Truhe, in meinem Kopf ganz nach hinten geschoben – wie ein Werkzeug, das ich gar nicht lernen wollte zu benutzen. Ich maß seine Dicke mit den Fingern ab und drückte es an meine Brust, hungrig nach den Worten, die es in seinem Inneren bereithielt.

Unter dem Notizbuch war die Truhe bis zum Rand vollgepackt. Päckchen in verschiedenen Formen und Größen waren wie in einem dreidimensionalen Puzzle angeordnet. Innen an dem gewölbten Deckel klebte ein dünnes Blatt Millimeterpapier, auf dem der gesamte Inhalt der Truhe systematisch aufgelistet war. Ich ließ meinen Finger die Liste entlanggleiten. Auf Geburtstage folgten Abschlüsse, darauf Heirat und Kinder. Neben jedem Teil zeigte ein Häkchen, dass er vorhanden war – abgehakt.

Ich durchsuchte die oberste Schicht der Päckchen, bis ich das mit der Aufschrift Gwennys zwölfter Geburtstag fand. Es war ein Pappkästchen mit einem Muster aus Muscheln und einem rosa Kringelband. Als ich es in der Hand hielt, fühlte ich plötzlich den ersten stechenden Schmerz der Neugier: Ich wollte sehen, was meine Mutter für mich ausgesucht hatte. Ich löste das Band und öffnete das Kästchen.

Darin fand ich einen kleinen Messingring in der Form einer Blume mit einem winzigen Amethyst in der Mitte. Der Amethyst war unser Geburtsstein. Auf der Rückseite der Karte stand: Herzlichen Glückwunsch, mein Schatz! Seite 8, und ich blätterte durch die cremeweißen Seiten des Notizbuchs. Oben auf Seite acht war ein Foto des Rings, und darunter hatte meine Mutter ein paar Sätze geschrieben.

Liebe Gwenny,

das war mein zweiter Ring mit meinem Geburtsstein. Ich hatte immer einen Geburtsstein-Ring haben wollen, als ich ein kleines Mädchen war, und bettelte Granny Liz an, damit sie mir einen schenkte. Schließlich gab sie nach, und wir suchten in einem Schmuckladen im Ort einen hübschen kleinen Ring aus. Ich kann es gar nicht in Worte fassen, wie sehr ich ihn liebte. Eines Tages, als ich schwimmen ging, wickelte ich ihn in mein Handtuch ein, um ihn sicher aufzubewahren. Als ich vom Schwimmen zurückkam, war er weg. Ich war am Boden zerstört. Aber Granny Liz und ich fanden dann diesen bei Cost Plus in San Francisco. Ich hoffe, er gefällt dir auch.

xox Mommy

Der Ring passte auf meinen rechten Zeigefinger. Ich zog ihn über und stellte mir vor, wie meine Mutter denselben Ring zum ersten Mal auf ihren Finger gesteckt hatte. Ich versuchte, sie mir so vorzustellen – ein kleines Mädchen, voller Schuldgefühl, weil es den alten Ring verloren hat, und voller Dankbarkeit für den neuen. Dieser Moment lag über drei Jahrzehnte zurück. Ich wurde an dem Morgen geboren, als meine Mutter siebenunddreißig wurde. An diesem Tag wäre sie neunundvierzig geworden. Ich hielt das Notizbuch offen auf meinem Schoß und zeichnete die Spuren ihres Füllers nach. Ihre Worte, mit denen sie die Kluft zwischen uns überbrücken wollte, bohrten sich durch Zeit und Raum. Ich las sie immer und immer wieder.

Ich weiß nicht mehr, wie und wann ich erfuhr, dass meine Mutter krank war. Meine Erinnerung setzt erst eine Weile nach dem Tag ein, an dem sie mit der Nachricht vom Arzt zurückkam, dass der Knoten in ihrer Brust kein verstopfter Milchkanal war, aus der Zeit, als sie mich gestillt hatte. Ich erinnere mich nicht mehr an das blaue und weiße Haus, in dem wir lebten, als all das passierte, abgesehen von den undeutlichen Konturen eines splitterigen hölzernen Klettergerüsts und der Kinderzimmertapete mit den Enten am oberen Rand. Irgendwo in diesem Haus muss es einmal einen winzigen schwarz-weißen Welpen gegeben haben, einen schwächlichen Hofhund mit einem starken Herdeninstinkt und zwei verschiedenfarbigen Augen. Doch Tippy erscheint mir immer nur schwanzwedelnd als ausgewachsene Hundedame, den weißen Streifen auf ihrer Nase mit Schmutz bedeckt, im Maul die von der Sprinkleranlage meines Vaters ausgerissenen Gummischläuche. Der Welpe ist, wie auch die Diagnose, in der Ursuppe des Davor untergegangen.

Das Haus, an das ich mich dagegen erinnere, war blassgrau, hatte zwei Stockwerke und versteckte seine Fassade hinter einem Vorhang violetter Blauregenpflanzen. Es hatte eine großzügige Veranda mit weißen Korbmöbeln und einem metallenen Briefkasten neben der Eingangstür. Ein paar Häuser weiter links stand das große Gutshaus, wo 1960 der Film Alle lieben Pollyanna gedreht wurde, in dem meine Großmutter als Komparsin aufgetreten war. Als wir einzogen, lebte Granny Liz noch anderthalb Blöcke weiter die Straße hinab. Meine Mutter kehrte, wie eine Meeresschildkröte, an den Ort zurück, an dem sie aufgewachsen war, um nun ihre eigene Familie großzuziehen. Unser neues Haus war viel größer als das alte. Es hatte vier Schlafzimmer, eine Garage für zwei Autos und einen Swimmingpool im Garten. Finanziert wurde es durch eine Erbschaft, die meine Mutter kürzlich erhalten hatte. Wir bezogen es kurz nach ihrer Krebsdiagnose, an meinem dritten »Vierten Juli«, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag.

Meine Mutter strich die vier Schlafzimmer himmelblau. Ich durchlief gerade eine Prinzessinnenphase, und ich war begeistert, als mein Vater ein hauchdünnes Moskitonetz über meinem großen Bett aus poliertem Kiefernholz aufhängte. Ich fühlte mich ganz wie die Disney-Prinzessin Jasmin, nur ohne den Tiger.

Mein Bruder und ich teilten uns ein Badezimmer und eine Wand. In Jamies Zimmer befanden sich eine beeindruckende Lego-Sammlung sowie Regale mit Dungeons-and-Dragons-Miniaturen, kleinen Drachenfiguren in verschiedenen Stadien der Bemalung. Ich beneidete ihn um seine Fantasiewelten. Er konnte darin Stunden allein zubringen, geschützt vor den Ängsten um die Gesundheit meiner Mutter, die sich bereits in unserem Haus ausbreiteten und immer intensiver wurden. Meine eigenen Fantasiespiele bestanden aus planlosen, unmotivierten Szenen wie »Mein Bett ist ein Piratenschiff« oder »einen Zaubertrank aus Dreck mischen«. Ab und zu durfte ich sein exklusives Multiversum betreten. Es störte ihn nicht, wenn ich ihm beim Malen oder Lesen zusah, solange ich nicht redete. Ich lechzte nach seiner Aufmerksamkeit wie nach der Luft zum Atmen, und ein einziges Wort, ein einziger Blick, zähneknirschend gewährt, konnte mich stundenlang glücklich machen. Er nannte mich Gwenny, nach Königin Guinevere aus seinem Lieblingsfilm, Camelot; und obwohl auf meiner Geburtsurkunde der Name Genevieve stand, blieb sein Name für mich bestehen.

Die Straße vor dem Haus war eine breite, von Magnolien-, Ahorn- und Ginkgobäumen gesäumte Allee. Das eine Ende führte in die Innenstadt von Santa Rosa, das andere zum nächstgelegenen Friedhof. Solange sie gemeinsam dort lebten, gaben meine Eltern an jedem 4. Juli auf der Straße vor unserem Haus ein Fest für die ganze Nachbarschaft. Mein aus England immigrierter Vater liebte den amerikanischen Unabhängigkeitstag, bestand aber darauf, neben der amerikanischen auch die britische Flagge zu hissen.

Es war noch legal, ein eigenes Feuerwerk zu veranstalten, und überall in der Straße saßen Familien draußen und zündeten kleine, helle Raketen. Die Luft war rauchgeschwängert und roch beißend, wie der Kopf eines Streichholzes. Onkel Jonathan (genannt Onkel Q) war der jüngste der drei Brüder meiner Mutter. Er erschien immer, wenn es noch hell war, mit Taschen voll selbst gebastelter Pyrotechnik. Selbst dünn wie ein Streichholz, hatte er die Raketenhüllen vom letzten Jahr aufgehoben und bestückte sie mit den Raketen von Piccolo Pete, sodass sie losgingen wie ein Artilleriefeuer, wenn man es am wenigsten erwartete. Er hatte schon immer eine Schwäche für alles, was brannte. Es gab das Gerücht, dass er als Teenager in genau dieser Straße die Briefkästen mit Cherry Bombs in die Luft gesprengt haben solle.

Ich kann unsere Hündin Tippy vor mir sehen, völlig verschreckt durch das Feuerwerk, wie sie ungewöhnlich still liegt – schwarze und weiße Streifen, flach auf den Boden gepresst. Wenn die Sonne unterging, durften Jamie und meine älteren Cousins jeder eine Wunderkerze anzünden. Sie liefen damit los, wirbelten sie herum und schrieben ihre Namen, brannten helle, flüchtige Skizzen in die herannahende Dunkelheit. Granny Liz, die die zweihundert Schritte von ihrem Haus gekommen war, saß aufrecht auf einem Campingstuhl mit einer Decke im Schottenmuster auf den Knien und einer riesigen Brille (ihre »spectacles« nannte sie »spectaculars«), die mit ihren gebogenen Bügeln tief in dem kurzen Haar mit den Silbersträhnen steckte. Antoinette, die Schwester meiner Mutter, saß daneben.

Mein Vater, in Khakishorts und langen weißen Socken, zündete den Grill an, ein qualmender Zeitungsstapel fiel zu den Kohlen hin in sich zusammen, eine Reihe von Hähnchenvierteln lag bereit. Meine Mutter legte den Schlauch zurecht, für den Fall, dass entweder der Grill oder die wie Frankenstein zusammengebastelten Feuerwerksraketen außer Kontrolle gerieten. Sie war immer auf der Hut, angespannt wie Tippy; sie ließ uns anderen unseren Spaß und wappnete sich, immer, gleichzeitig für die Katastrophe.

Die ersten Schritte in der Behandlung meiner Mutter bildeten eine Mastektomie, bei der zusammen mit dem Tumor die gesamte rechte Brust entfernt wurde, sowie eine Rekonstruktion, um den leeren Platz auszufüllen, den sie hinterlassen hatte. Eine lange rosa Wunde ersetzte ihre Brustwarze, wie ein Mund mit eingezogenen Lippen, der die Bedrohung, so hofften wir, im Innern versiegelte. Zuerst sagten meine Eltern nur, dass sie krank war. Später erklärten sie uns, dass ihr Alter (sie war erst vierzig) und die Aggressivität des Krebses bedeuteten, dass er wahrscheinlich zurückkommen würde – obwohl die Operation sehr gründlich durchgeführt worden war. Ihre Ärzte empfahlen Bestrahlung und dann Chemotherapie.

Nachdem meine Mutter aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen war, weigerte ich mich wochenlang, von ihrer Seite zu weichen. Ich folgte ihr von einem Zimmer ins andere, selbst ins Bad, vor Angst, sie könne sich in Luft auflösen, wenn ich nur einmal blinzelte. In diesen Wochen konnte ich beobachten, wie das lange Oval unseres Esstisches unter Papierstapeln verschwand. Jeden Tag saß sie dort stundenlang, unterstrich Textstellen in Zeitungsartikeln und blätterte durch Berge bedruckter Seiten.

»Es war eine der schwierigsten Entscheidungen meines Lebens«, sagte sie einige Jahre später und blickte dabei in die Linse einer Kamera, mit der sie eine Videobotschaft für meinen Bruder und mich aufnahm, »was ich tun würde, um gegen den Krebs anzukämpfen. Ich habe sechs Wochen damit zugebracht, zu lesen, zu forschen, zu reden und zu beten. Ich entschloss mich dazu, eine OP machen zu lassen, aber nicht die konventionellen Behandlungen, die mir empfohlen wurden. Ich hatte das Gefühl, ich würde dieses Toxische nicht ertragen. Ich hatte das Gefühl, es würde mir dabei zu elend gehen und ich würde es nicht überstehen. Ich weiß nicht, ob das stimmte oder auch nicht; es war meine Intuition, die mir das sagte.«

Stattdessen machte sie ein alternatives Behandlungsprogramm einer Privatklinik ausfindig, das unter dem Namen »Gonzalez Protocol« bekannt ist.

Dr. Gonzalez sagte meiner Mutter, dass Heilung möglich sei, doch nur, wenn sie keinerlei andere klinische Untersuchungen durchführen lasse: keine Tests, keine Scans. Alle anderen Ärzte, die sie aufsuchte, müssten innerhalb der Parameter arbeiten, die er festsetzte. Während seines Programms befolgte sie eine strenge vegetarische Diät, nahm jeden Tag bis zu einhundert Tabletten und verabreichte sich zweimal täglich einen Kaffeeeinlauf. Sie kaufte auch einen General-Electric-Champion-Entsafter, ein wuchtiges Ding aus beigefarbenem Kunststoff und Emaille, der eine ganze Arbeitsplatte für sich mit Beschlag belegte. Sie ließ täglich einen ganzen Beutel Karotten durch den Champion laufen und trank bis zum Rand gefüllte Gläser von der schaumigen orangefarbenen Pampe.

»Das ist antikarzinogen.«

Ich fragte sie, was das bedeutete.

»Es schützt vor Krebs«, sagte sie, »und Karotin hilft auch, im Dunkeln zu sehen.«

Ich probierte ein paar Schluck von dem orangefarbenen Schleim. Ich fand, er schmeckte nach Baumrinde. Später ging ich nach draußen, um meine Sehfähigkeit im Dunkeln zu testen, aber alles war wie immer. Ich hatte den Verdacht, dies sei nur ein weiterer Trick der Erwachsenen, um uns Gemüse schmackhaft zu machen.

Meine Mutter trank Karottensaft, bis ihre Hände und ihr Gesicht sich orange färbten. Als wir im nächsten Jahr in der Vorschule Bilder von unserer Familie zeichneten, benutzten alle anderen weißen Kinder die orangefarbene Kreide für die Haut.

»Aber die von meiner Mom ist wirklich orange«, verkündete ich, »deshalb passt das bei mir.«

Das war in den Neunzigern, und meine Eltern glaubten fest an Homöopathie und Naturheilmittel. Ihnen gehörte eine kleine Getränkefirma, die sie auch selbst betrieben – ein früher Pionier beim Einsatz von Nahrungsergänzungen. Sie hieß »Mrs Wiggles Rocket Juice«, und ihr Slogan war: »Nutrition for your mission« (etwa: »Die richtige Ernährung für Ihre Mission«). Jamie und ich zogen zusammen mit Onkel Qs Töchtern, Jessie und Tori, durch das große Lager, wo Säfte wie »Ginkgo Think« und »Spirulina Smoothie« gemixt, in Flaschen gefüllt, mit Etiketten versehen und verpackt wurden. Wir vier wetteiferten miteinander, wer es am längsten in dem begehbaren Kühlschrank aushielt, wo wir mit den Zähnen klapperten und unsere Fingerkuppen langsam blau anliefen. Es gab einen herrlichen Raum voll schwerer Kartons, aufgestapelt zu riesigen Bergen, die wir bis zur Spitze hinaufstiegen oder in kunstvolle Festungen verwandelten. Die Luft in der Juice Company roch wie ein Regenwald: feucht, süß und lebendig. Im Büro meines Vaters hing ein langes Bord an der Wand mit allen Rocket-Juice-Labeln, die sie je produziert hatten. Auf jedem Etikett war irgendwo im Bild eine ganz kleine Rakete versteckt, und ich starrte darauf, bis ich jede einzelne gefunden hatte.

Zu Hause in unserer Küche war alles bio. Wir kauften nicht bei Safeway ein, wie die Familien meiner Freunde und Freundinnen. Stattdessen trotteten Jamie und ich hinter unserer Mutter durch die engen Gänge des Community Market – des unabhängigen Bioladens im Ort –, in dem es Dinge wie lose Linsen gab und nach Bienenwachskerzen und Vitaminpulver roch. Bei kleineren Beschwerden gingen wir zu Homöopathen, wo wir braune Glasfläschchen mit Arsen und Opium bekamen, hochverdünnt und in winzige weiße Zuckertabletten gepresst, die wir unter der Zunge zergehen ließen. Niemand bei uns zu Hause trank, rauchte oder aß verarbeitete Lebensmittel. Wir trieben Sport. Wir benutzten Zahnseide. Wir waren ein Musterbeispiel für gesundes Leben – nur dass eine von uns krank war.

Wenn ich die Augen schließe, kann ich meine Mutter immer noch an unserem Esstisch sitzen sehen, den Blick nach unten gerichtet, einen Becher mit dampfendem Lemongrastee neben sich. Sie stützt sich auf ihre braunen Arme voller Sommersprossen und brütet über den Ergebnissen medizinischer Studien, schneidet Artikel aus Zeitschriften aus. Mehr als alles in der Welt möchte ich meine Arme um die Frau am Tisch schlingen und ihr ins Ohr flüstern, was ich über die Zukunft weiß: dass Dr. Gonzalez nicht die Lösungen hat, nach denen sie sucht. Dass sie trotz all ihrer Intelligenz, ihrer Anstrengungen und ihrer Intuition der falschen Person vertraut.

Als ich vier war, bekamen wir einen gelb-grünen Wellensittich mit kleinen blauen Wangenflecken. Er hatte einen weißen Käfig mit einer Kuppel, einem Kalkwetzstein und einer Glocke, die an einem Faden aus Zwirn hingen. Es gab auch einen Spiegel, aber den mussten wir herausnehmen, als er begann, sein Ebenbild zu flügelschlagenden Wettbewerben herauszufordern, die die gesamte Arbeitsplatte erschütterten, auf der sein Käfig stand. Seine oberen Federn waren immer am Flügel gestutzt, daher ließen wir die kleine weiße Tür einen Spalt weit offen, und er konnte im Haus herumflattern und auf Fingern, Schultern und Köpfen landen.

Davey sprach in kleinen Quietschern, Tschirpen und durch das Auf und Ab seines Köpfchens. Ich lernte, das alles genau zu imitieren, sodass ich wiederholen konnte, was er zu mir sagte. Er sagte etwas, und ich wiederholte es, immer und immer wieder – er dressierte mich statt umgekehrt. Ich wusste nie, was wir da gerade sagten, aber ich war überzeugt, dass es etwas Schönes und Geheimnisvolles war. Er nahm meinen Finger sanft in seinen Schnabel und drehte den Kopf, um mich mit Augen anzusehen, die die Größe und die Farbe schwarzer Sesamsamen hatten. Hin und wieder unterbrach Jamie unsere Unterhaltung, um munter »Chirp chirp, little twerp« zu sagen (Tschirp, tschirp, kleiner Dummkopf) und dann weiterzuziehen.

Mittags, wenn beide Zeiger auf unserer Küchenuhr oben auf die Artischocke zeigten (die Uhr hatte Gemüsesorten anstelle von Zahlen um den Rand herum), stürmte ich von der Vorschule zur Tür herein, und Davey sang einen lauten Willkommensgruß. Sein Tschirpen bedeutete, dass ich einen weiteren Vormittag fern von zu Hause überstanden hatte. Fünf Tage pro Woche setzte mich meine Mutter an der First Presbyterian Preschool ab, anderthalb Blöcke von unserem Haus entfernt, und jeden Morgen schrie ich, schluchzte und bettelte, sie möge mich dort nicht allein lassen. Ich klammerte mich mit Armen, Beinen und Zähnen an sie.

»Bitte!« Ich kreischte, wenn sie sich umgedreht hatte, und die starken Arme einer Lehrerin hielten mich fest. »Bitte komm zurück!«

Von meiner Mutter getrennt zu werden fühlte sich an, wie ohne meine Haut herumzulaufen. Ich wusste, dass ihr Leben in Gefahr war, und es versetzte mich in Panik, auch nur ein paar Stunden fern von zu Hause zu verbringen. Was, wenn sie sterben würde, während ich fort war? Ich traute niemand anderem, wenn es darum ging, für ihre Sicherheit zu sorgen.

In der Vorschule lief ich von Raum zu Raum und spielte ein wenig, doch die meiste Zeit starrte ich auf die großen schwarzen Uhren, die über jeder Tür hingen. Wenn der Vorschultag zu Ende war, stürmte ich hinaus, stieg auf dem Klettergerüst ganz nach oben, schaute über den Spielplatzzaun zu unserem Gartentor und konzentrierte meine ganze Energie darauf, meine Mutter dahinter erscheinen zu lassen.

Eines Sommers entwickelte Davey eine Verdickung an seinem Bein, und wir brachten ihn zum Tierarzt, um sie entfernen zu lassen.

»Er muss operiert werden«, sagte mein Vater im Auto.

Meine Mutter scherzte: »Glaubst du, sie ziehen ihm eine winzig kleine Narkosemaske über seinen Schnabel?«

Ich stellte mir vor, wie er in einem Nachthemd ruhiggestellt auf einem kleinen OP-Tisch lag, während maskierte Gestalten mit Zahnstochern und Pinzetten um ihn herumschwebten. Er kam ohne den Knoten nach Hause, aber der Krebs saß bereits in seinen hohlen Knochen.

Davey hatte immer in meinem Zimmer geschlafen, aber nach der OP brachte meine Mutter ihn in ihres, denn ich vergaß manchmal, morgens das große Handtuch von seinem Käfig zu nehmen, und ließ ihn so in anhaltender Dunkelheit. Plötzlich brauchte er Dinge, die ich ihm nicht geben konnte, wie Medikamente und Mitgefühl. Ich wusste, ich sollte eigentlich traurig sein wegen seiner Knochen, aber die Knochen waren unsichtbar, und so schaffte ich es nicht einmal, überhaupt irgendetwas zu fühlen, was damit zu tun hatte. Wie meine Mutter sah auch Davey nicht krank aus. Er hatte immer noch seine hellen Federn und den gleichen fragenden Blick in seinen Sesamaugen. Immer noch landete er auf meinem Kopf, erleichterte sich und flog wieder weg und machte dabei ein Geräusch wie ein hohes, pfeifendes Lachen.

Wenn Krebs unsichtbar war, hieß das, jeder konnte ihn haben. Ich stellte mir vor, wie er, genau wie Kopfläuse, von einer Person zur anderen wanderte. In meiner Schule wurde viel über Kopfläuse geredet.

»Nein«, sagte meine Mutter, »du kannst nicht von Davey oder von mir Krebs bekommen. Krebs ist einfach etwas, was im Innern schiefläuft.«

Eines Morgens kam meine Mutter mit etwas in den Händen in mein Zimmer und zog das Prinzessinnen-Moskitonetz zur Seite, um sich auf meinen Bettrand zu setzen.

»Heute Nacht wirkte Davey sehr aufgeregt und flog in seinem Käfig herum. Deshalb habe ich ihn herausgenommen und ihn einfach an meine Brust gehalten, sodass er meinen Herzschlag spüren konnte, das schien ihn zu beruhigen. Wir blieben ein paar Stunden lang so, und dann konnte ich sein Herz nicht mehr an meinem fühlen – und ich wusste, dass er gestorben war.«

Als ich das kleine Stoffbündel in den Händen meiner Mutter sah, ahnte ich, was gleich geschehen würde, und mein ganzer Körper stemmte sich dagegen. Ich wollte es nicht sehen. Ich schloss halb meine Augen, als ob ich dadurch nur einen Teil der Wahrheit hereinlassen würde, aber sie schlug das Tuch zurück, und da war er, zwischen den dunklen Rändern meiner Augenlider, ganz grün und gelb und still.

»Du kannst ihn berühren«, sagte sie.

Ganz langsam streckte ich einen steifen Finger aus und streichelte die weichen gesprenkelten Federn.

Bei Davey wirkte der Tod irgendwie archaisch. Reptilienhäute bedeckten seine blanken Augen und auch seine geschuppten Beine und gebogenen Krallen. Es war, als bemerkte ich diese zum ersten Mal. Er sah kleiner aus und ein bisschen fremdartig, wie sechzig Millionen Jahre der Evolution schlafend in einem Tuch in meiner Hand. Lange blieb meine Mutter auf meinem Bett sitzen, ließ mich weinen und hielt dieses abgeschlossene Leben in ihrer Handfläche.

Wir begruben Davey mit einer formellen Zeremonie im Vorgarten. Sein Grab schaufelten wir unter einer Buchsbaumhecke aus und markierten es mit einem kleinen hölzernen Kreuz. Ich streute kleine Zweige von Waldlorbeer, die ich von den Büschen im Garten hinter dem Haus abgebrochen hatte, auf die aufgeworfene Erde, bevor wir Davey hinabließen. Um ihn herum legten wir Hirsekolben und einen Schnabelwetzstein: das, was er am liebsten gehabt hatte. Ich weinte, alle sagten ein paar Worte, und die ganze Zeit fühlte ich die Augen meiner Mutter auf mir.

Jedes Mal, wenn sich Davey über die Jahre gemausert hatte, hatte meine Mutter die ausgefallenen Federn vom Boden des Käfigs aufgesammelt und in eine durchsichtige Plastikbox mit vielen kleinen rechteckigen Fächern gelegt – eine ähnliche Box wie die für ihre vielen Tabletten. Es gab dort lange, elegante Deckfedern; es gab Daunenfedern von der Brust in Zitronenbuttergelb; und in den kleinsten Fächern bewahrte sie ihre Lieblingsfedern auf: die ganz kleinen Wangenfedern mit ihren kleinen blauen Punkten. Sie sagte, sie werde sie vielleicht eines Tages für ein Kunstprojekt benutzen.

Meine Mutter hatte immer an Dingen festgehalten. Die Schränke und Schubläden in unserem Haus waren voll mit Muscheln und Steinen, die sie auf langen Spaziergängen gesammelt hatte, alten Briefen und Geburtstagskarten, Stapeln von Fotos in Schuhkartons. Selbst Dinge wie Geschenkpapier und Joghurtbecher aus Plastik wurden aufgehoben und wiederverwendet. Doch als ihre Krankheit weiter fortschritt, maß ich ihrer Sammelleidenschaft eine neue Bedeutung bei. In den nächsten Jahren betrachtete ich jedes Blatt und jede Blume, die sie aufhob und zwischen den Seiten eines Buches presste, jedes alte Band, das sie säuberlich zu einer Kugel zusammenrollte, jeden irgendwo aufgelesenen Knopf, den sie in ihren Nähkorb legte, als ein gutes Omen. Für mich waren sie alle ein Zeichen für ihren Glauben daran, dass sie noch eine Zukunft hatte.

Das Motto für die Party zu meinem fünften Geburtstag – dem ersten, an den ich mich erinnern kann – war Alice im Wunderland. Ich habe immer noch eine der Einladungen, die meine Mutter aus Tonpapier gemacht hatte, damit sie wie der graue Zylinder des verrückten Hutmachers aussahen. Auf der Innenseite wurde jedem Gast eine Figur zugeteilt, deren Rolle er spielen sollte. Die Kinder waren die Grinsekatze, die Raupe oder Tweedledee. Die Erwachsenen waren ein Spielkartendeck. Ich war natürlich Alice.

Meine Eltern ließen Granny Liz Unmengen von Bastelpapier auf unserer Veranda anbringen und so anmalen, dass es wie der Eingang zu einem Kaninchenloch aussah. Mein Vater, als das weiße Kaninchen, lieh sich einen kompletten Hasenanzug aus dem Kostümverleih. Meine Mutter fertigte aus Plastikgolfschlägern eine Reihe von Krocketschlägern an, die sie in die Beine von knallrosa Nylonstrumpfhosen steckte. Sie bekamen runde Köpfe und kleine Körper aus weichem Füllmaterial, dazwischen befand sich ein langer Hals. Als Letztes erhielt die ganze Herde Filzfüße, Schnäbel und große, rollende Augen. Sie lagen auf der Terrasse hinter dem Haus bereit, neben einem Paar Styroporbällen, eingewickelt in Kunststoff. Am Tag der Party stand ich in meinem blauen Kleid mit Schürze auf der Veranda vor dem Eingang und wartete auf die Ankommenden.

Die Gäste kamen mit angemalten Gesichtern, Filzohren und pelzigen Schwänzen, und wir saßen im Esszimmer bei Kuchen und Milch zusammen. Mein Vater hatte das Skript der Szene aus dem Disney-Film ausgedruckt, in der Alice in eine verrückte Teegesellschaft gerät, und meine Mutter hatte aus Pappe eine riesige Taschenuhr gebastelt und sie mit Goldfolie umwickelt. Während Jamie (der Märzhase) und Nancy, die Freundin meiner Mutter (der verrückte Hutmacher), ihre Zeilen lasen, spielten wir den Teil, in dem die Gäste zuerst Butter in die Uhr des weißen Kaninchens füllen, dann Tee und dann Marmelade. Danach spielten wir Krocket, wobei wir unsere Flamingos benutzten, um die Igel durch kleine weiße Tore, die in den Rasen getrieben waren, zu jagen.

Meine Mutter hatte sich als Köchin der Herzogin verkleidet, mit einer hohen Kochmütze auf ihrem glänzenden dunklen Haar und einer weißen Schürze um die Taille. Sie lief zwischen uns im Garten umher und schrie immer wieder: »Mehr Pfeffer!« Dabei ließ sie aus einem riesigen Shaker, den sie aus einer leeren Kaffeekanne gemacht hatte, hier und da Konfetti auf einen Kopf rieseln. Sie wurde an diesem Tag zweiundvierzig. Sie erzählte mir später, dass sie sich auf ihre Vierzigerjahre gefreut hatte. Sie hatte das neue Jahrzehnt als Chance gesehen, alten Groll und Erwartungen loszulassen und ein authentischeres Kapitel ihres Lebens zu beginnen.