Wer die Hölle kennt - Leigh Bardugo - E-Book
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Wer die Hölle kennt E-Book

Leigh Bardugo

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Beschreibung

Magisch, geheimnisvoll und höllisch düster: In Leigh Bardugos Urban-Fantasy-Roman »Wer die Hölle kennt« ist Geisterseherin Alex Stern zurück auf dem Campus der Elite-Uni Yale – und bereit, sich der Hölle selbst entgegen zu stellen. Seit Jahrhunderten ziehen acht mächtige studentische Verbindungen der Elite-Universität Yale die Fäden hinter Politik und Wirtschaft – das neunte Haus jedoch überwacht die Einhaltung der Regeln. Denn die Macht der Verbindungen beruht auf uralter, dunkler Magie. Zwar ist es Geisterseherin Alex Stern gelungen, im Auftrag des neunten Hauses eine Verschwörung auf dem Campus aufzuklären, doch dabei wurde ihr Mentor Daniel Arlington entführt. Obwohl Alex' Gefühle für Daniel in zwei sehr unterschiedliche Richtungen tendieren, unternimmt sie alles, um ihn zu retten. Auch wenn sie dafür buchstäblich durch die Hölle gehen muss! Leigh Bardugo, die Bestseller-Autorin der GrishaVerse-Romane, verbindet auch in der Fortsetzung von »Das neunte Haus« Campus-Leben mit dunkler Magie und einem Schuss Gothic Noir zu einem unwiderstehlichen Urban-Fantasy-Roman mit Kult-Potenzial. »Dieser Fantasy-Roman ist brillant, witzig, brutal und absolut großartig – er ist ein Portal zu einer Welt, die du niemals verlassen willst.« Lev Grossman (»The Magicians«) über »Das neunte Haus« Tauche ein in die magische Welt der Bestseller-Autorin Leigh Bardugo: - »Das neunte Haus« (Alex-Stern-Reihe 1) - »Wer die Hölle kennt« (Alex-Stern-Reihe 2) - »Goldene Flammen« (Grisha-Trilogie 1) - »Eisige Wellen« (Grisha-Trilogie 2) - »Lodernde Schwingen« (Grisha-Trilogie 3) - »Das Lied der Krähen« (Krähen-Dilogie 1) - »Das Gold der Krähen« (Krähen-Dilogie 2) - »King of Scars« (»King of Scars« 1) - »Rule of Wolves« (»King of Scars« 2) - »Die Sprache der Dornen« (illustrierte Märchen aus der Welt der Grisha) - »Die Leben der Heiligen« (illustrierte Heiligen-Legenden aus der Welt der Grisha) - »Demon in the Wood. Schatten der Vergangenheit« (Graphic Novel zur Vorgeschichte des Dunklen)

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Seitenzahl: 813

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Leigh Bardugo

Wer die Hölle kennt

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Lina Robertz, Silvia Kinkel, Heike Holtsch und Constanze Wehnes

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Magisch, geheimnisvoll und höllisch düster:

In Leigh Bardugos Urban-Fantasy-Roman »Wer die Hölle kennt« ist Geisterseherin Alex Stern zurück auf dem Campus der Elite-Uni Yale – und bereit, sich der Hölle selbst entgegen zu stellen.

Seit Jahrhunderten ziehen acht mächtige studentische Verbindungen der Elite-Universität Yale die Fäden hinter Politik und Wirtschaft – das neunte Haus jedoch überwacht die Einhaltung der Regeln. Denn die Macht der Verbindungen beruht auf uralter, dunkler Magie.

Zwar ist es Geisterseherin Alex Stern gelungen, im Auftrag des neunten Hauses eine Verschwörung auf dem Campus aufzuklären, doch dabei wurde ihr Mentor Daniel Arlington entführt. Obwohl Alex' Gefühle für Daniel in zwei sehr unterschiedliche Richtungen tendieren, unternimmt sie alles, um ihn zu retten. Auch wenn sie dafür buchstäblich durch die Hölle gehen muss!

Leigh Bardugo, die Bestseller-Autorin der GrishaVerse-Romane, verbindet auch in der Fortsetzung von »Das neunte Haus« Campus-Leben mit dunkler Magie und einem Schuss Gothic Noir zu einem unwiderstehlichen Urban-Fantasy-Roman mit Kult-Potenzial.

Inhaltsübersicht

Widmung

Zitate

Karte

Teil I

November

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

Der Abstieg

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

Teil II

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

Danksagung

Quellennachweis

Leseprobe »Der Vertraute«

Für Miriam Pastan, die meine Zukunft in einer Tasse Kaffee gelesen hat.

Ignorant they of all things till I came

And told them of the rising of the stars

And their dark settings, taught them numbers, too,

The queen of knowledge. I instructed them

How to join letters, making them their slaves

To serve the memory, mother of the muse.

 

Aeschylus, Prometheus Bound

Inschrift über dem Eingang zur Sterling Memorial Library, Yale University

 

 

Culebra que no mir morde, que viva mil anos.

Möge die Schlange, die mich nicht beißt, tausend Jahre leben.

 

Sephardisches Sprichwort

Diese Karte finden Sie auch im Internet unter folgendem Link: www.droemer-knaur.de/bardugo-yale-karte

Teil I

Wie oben

November

Alex näherte sich Black Elm wie einem wilden Tier. Vorsichtig schlich sie die lange, gewundene Einfahrt hinauf und versuchte, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen. Wie oft hatte sie diesen Weg schon zurückgelegt? Aber heute war etwas anders. Durch die kahlen Äste der Bäume kam das Haus in Sicht, als ob es auf sie gewartet, als ob es ihre Schritte gehört und sich bereit gemacht hätte. Es duckte sich nicht wie ein Beutetier. Vielmehr stand es da – zwei Stockwerke aus grauem Stein und ein spitzes Dach – wie ein Wolf, der seine Krallen in die Erde bohrt, die Zähne gebleckt. Früher war Black Elm zahm gewesen, glänzend und gepflegt. Aber es war zu lange sich selbst überlassen worden.

Die vernagelten Fenster im ersten Stock machten es nicht besser, eine Wunde in der Flanke des Wolfs, die ihn – unbehandelt – in den Wahnsinn treiben würde.

Sie schob den Schlüssel in das Schloss der alten schwarzen Tür und schlüpfte in die Küche. Hier drinnen war es kälter als draußen – sie konnten sich die Heizkosten nicht leisten, und für wen hätten sie auch heizen sollen? Trotz der Kälte und der Mission, wegen der Alex gekommen war, schien der Raum einladend. Kupferpfannen hingen in ordentlichen Reihen über dem großen altmodischen Herd, blitzeblank und begierig darauf, benutzt zu werden. Der Schieferboden war makellos, auf der aufgeräumten Anrichte stand eine alte Milchflasche mit Stechpalmenzweigen – Dawes’ Werk. Die Küche war der Raum, der am häufigsten genutzt wurde, die regelmäßige Zuwendung hielt ihn lebendig, eine saubere Stätte des Lichts. Das war Dawes’ Art, mit dem Schrecklichen, was sie getan hatten, umzugehen, mit dem Ding, das im Ballsaal lauerte.

Alex hatte eine Routine. Na ja, eigentlich hatte Dawes eine Routine, die Alex zu befolgen versuchte. Sie war wie ein Fels, an den sie sich klammerte, wenn, wie jetzt, die Angst in ihr aufstieg: Die Tür aufschließen, die Post sortieren und auf die Anrichte legen, Cosmo frisches Wasser und Futter geben.

Für gewöhnlich waren die Näpfe leer, aber heute hatte Cosmo sein Futter zur Seite geschoben und den Fußboden wie zum Protest mit Trockenfutter in Fischform übersät. Darlingtons Kater beschwerte sich, dass er allein war. Oder aber, dass er eben nicht mehr allein war.

»Vielleicht bist du auch nur ein wählerisches Miststück«, murmelte Alex, während sie sauber machte. »Ich richte dem Koch deine Bestellung aus.«

In der Stille klang ihre Stimme brüchig, sie gefiel ihr ganz und gar nicht, aber sie zwang sich, langsam und methodisch zu arbeiten. Sie füllte die Näpfe, entsorgte die an Daniel Arlington adressierte Werbung und steckte die Wasserrechnung, die sie mit ins Il Bastone nehmen würde, in ihre Tasche. Sorgsam ausgeführte Schritte einer Routine, aber deshalb bot sie ihr trotzdem keinen Schutz. Sie überlegte, ob sie Kaffee machen sollte. Sie könnte draußen in der Wintersonne sitzen und darauf warten, dass Cosmo seinen Beutezug nach Mäusen durch das labyrinthartige Gewirr aus Hecken beendete und sich dazu herabließ, zu ihr zu kommen. Ja, das könnte sie tun. Sie könnte ihre Angst und ihre Wut beiseiteschieben und versuchen, das Puzzle zusammenzusetzen, auch wenn sie das Bild, das mit jedem weiteren widerlichen Stück deutlicher wurde, gar nicht sehen wollte.

Alex blickte nach oben zur Decke, als ob sie durch die Holzdielen hindurchsehen könnte. Nein, sie konnte nicht einfach auf der Veranda sitzen und so tun, als wäre alles in bester Ordnung. Nicht, wenn ihre Füße sie die Treppe hinauftragen wollten, nicht wenn ihr Verstand darauf drängte, das Haus so schnell wie möglich zu verlassen und zu vergessen, dass es je existiert hatte. Alex war aus einem bestimmten Grund hergekommen, der ihr auf einmal dumm erschien. Sie war dieser Aufgabe nicht gewachsen. Sie sollte mit Dawes sprechen, vielleicht sogar Turner einweihen. Zur Abwechslung einen Plan machen, anstatt sich kopfüber in die Katastrophe zu stürzen.

Sie wusch sich die Hände über der Spüle und erst als sie sich umdrehte und nach einem Handtuch griff, sah sie die offene Kellertür im Geschirrzimmer.

Alex trocknete ihre Hände und versuchte, das wilde Pochen ihres Herzens zu ignorieren. Die Tür – eine Lücke zwischen den stilvollen Glasschränken und -regalen – war ihr vorher nie aufgefallen. Und ganz sicher hatte sie sie noch nie offen gesehen.

Vielleicht hat Dawes sie offen gelassen. Aber Dawes leckte noch immer ihre Wunden von dem Ritual und versteckte sich hinter ihren Karteikarten. Sie war seit Tagen nicht hier gewesen, nicht seit sie die Flasche mit den Zweigen auf den Tresen gestellt hatte, ein Mahnmal dafür, wie das Leben sein sollte: einfach und ordentlich. Ein Gegengift für den üblichen Wahnsinn ihrer Tage und Nächte, für das Geheimnis, das im ersten Stock schlummerte.

Dawes und Alex betraten das Geschirrzimmer mit seinen Regalreihen voller verstaubter Teller und Gläser und der Suppenterrine, die so groß war wie eine kleine Badewanne, so gut wie nie. Es war eins der verkümmerten Extremitäten des Hauses, überflüssig und vergessen, dem Verfall überlassen, seit Darlington weg war. Genau wie der Keller. Alex hatte nie einen Gedanken an den Keller verschwendet. Bis zu diesem Moment. Jetzt stand sie neben der Spüle, umgeben von hübschen blauen Fliesen mit Windmühlen und Segelschiffen, und starrte auf die schwarze Öffnung, ein perfektes Rechteck, eine plötzliche Leere. Als ob ein Stück der Küche herausgerissen worden wäre. Es sah aus wie der Eingang zu einem Grab.

Sag Dawes Bescheid.

Alex lehnte sich gegen die Anrichte.

Schleich dich raus und ruf Turner an.

Sie legte das Handtuch weg und zog ein Messer aus dem Block neben der Spüle. Sie wünschte, es wären Graue in der Nähe, aber sie wollte auch nicht nach einem rufen und sich damit bemerkbar machen.

Sie spürte das erdrückende Gewicht des großen Hauses und seine tiefe Stille um sie herum. Sie sah wieder nach oben, dachte an den goldenen Schimmer des Kreises, die Hitze, die von ihm ausging. Ich habe Gelüste. Hatten diese Worte sie erregt, obwohl sie eigentlich nur Angst in ihr hätten wecken sollen?

Lautlos ging Alex auf das schwarze Rechteck zu. Wie tief hatten sie beim Bau dieses Hauses gegraben? Den Beginn der Treppe konnte sie ausmachen, drei, vier, fünf steinerne Stufen, die in der Dunkelheit verschwanden. Vielleicht gab es nicht mehr Stufen. Vielleicht würde sie nach der letzten einen Schritt machen und fallen, immer tiefer in die Kälte hinabfallen.

Sie tastete an der Wand nach einem Lichtschalter, dann blickte sie auf und sah das schäbige Stück Schnur, das von der nackten Glühbirne baumelte. Sie zog daran, und sanftes, warmes Licht ergoss sich über die Treppe. Die Birne summte beruhigend.

»Heilige Scheiße«, sagte Alex atemlos. Ihre Furcht löste sich in nichts auf und ließ sie peinlich berührt zurück. Es waren nur Stufen, ein hölzernes Geländer, Regale voller Lumpen und Farbdosen, Werkzeuge an den Wänden. Ein schwacher, modriger Geruch stieg aus der Dunkelheit zu ihr auf, der dumpfe Gestank von verrottenden Pflanzen. Sie hörte Wasser tropfen und ein leises Rascheln, vielleicht eine Ratte?

Sie konnte das Ende der Treppe noch immer nicht ausmachen, aber irgendwo musste eine weitere Glühbirne sein oder ein Schalter. Sie würde nach unten gehen, sich vergewissern, dass alles in Ordnung war, nachsehen, ob sie und Dawes vielleicht Fallen aufstellen sollten.

Aber warum war die Tür offen gewesen?

Vielleicht hatte Cosmo sie bei der Mäusejagd aufgestoßen. Oder Dawes war tatsächlich hier gewesen und hatte irgendetwas total Banales aus dem Keller geholt – Unkrautvernichter oder ein Paket Küchenrollen zum Beispiel. Und danach hatte sie die Tür nicht richtig zugezogen.

Alex würde sie schließen. Darauf achten, dass sie hinter ihr ins Schloss fiel. Und falls wider Erwarten doch etwas hier unten lauerte, was dort nicht hingehörte, dann würde es im Keller bleiben, bis Alex Verstärkung geholt hätte.

Sie griff nach dem Schnurschalter, hielt aber in der Bewegung inne, die Hand um den Faden geschlossen, die Ohren gespitzt. Hatte sie nicht gehört, dass …? Da! Da war es wieder, ein leises Zischen.

Jemand – oder etwas – sagte ihren Namen. Galaxy.

»Fuck!« Sie wusste, wie die Sache enden würde, auf gar keinen Fall würde sie hinunter in den Keller gehen.

Sie riss an der Schnur. Mit einem Plopp ging das Licht aus, dann stieß von hinten etwas hart zwischen ihre Schulterblätter.

Alex stürzte. Das Messer fiel ihr klappernd aus der Hand. Instinktiv wollte sie die Hände ausstrecken, um ihren Sturz abzufangen, stattdessen zwang sie sich, die Arme schützend über den Kopf zu werfen, sodass ihre Schulter die volle Wucht abbekam. Halb rutschte, halb stolperte sie die Treppe hinunter und prallte hart auf dem Boden auf. Die Luft entwich aus ihren Lungen wie eine Brise durch ein offenes Fenster. Über ihr knallte die Tür zu. Sie hörte das Schloss klicken. Dunkelheit umfing sie.

Ihr Herz raste. Was war noch hier unten? Und wer hatte sie mit diesem Etwas eingesperrt? Steh auf, Stern. Reiß dich verdammt noch mal zusammen. Mach dich bereit zum Kampf.

War das ihre eigene Stimme, die sie hörte? Oder Darlingtons?

Nein, es musste ihre eigene sein. Darlington würde niemals fluchen.

Alex rappelte sich auf und presste den Rücken an die Wand hinter ihr. Aus dieser Richtung konnte sie jedenfalls nichts überraschen. Jeder Atemzug war eine Qual. Ob Knochen sich wohl daran gewöhnten, zu brechen? Blake Keely hatte ihr vor weniger als einem Jahr zwei Rippen zertrümmert. Gut möglich, dass sie wieder gebrochen waren. Ihre Hände fühlten sich glitschig an. Der Boden war nass, wahrscheinlich waren die Wände undicht, und ein merkwürdiger Gestank hing in der Luft. Sie wischte sich die Handflächen an ihrer Jeans ab und wartete. Ihr Atem ging rasselnd. Irgendwo in der Dunkelheit hörte sie ein Wimmern.

»Wer ist da?«, krächzte sie und verfluchte die Angst in ihrer Stimme. »Los, komm schon, du feiges Stück Scheiße!«

Nichts.

Alex tastete nach ihrem Handy. Als der Bildschirm grell aufleuchtete, zuckte sie zusammen. Sie ließ den bläulichen Schein über die Regale gleiten, in denen Dosen mit Farbverdünner standen, Kartons mit Darlingtons eckiger Handschrift darauf und staubige Holzkisten, auf denen ein kreisförmiges Logo prangte: Arlington & Co. Rubber Boots. Dann streifte der Lichtkegel zwei Paar Augen.

Alex unterdrückte einen Schrei und ließ beinahe das Handy fallen. Die Augen gehörten nicht zu Menschen, sondern zwei Grauen, ein Mann und eine Frau, die sich aneinanderklammerten und vor Angst zitterten. Aber es war nicht Alex, vor der sie sich fürchteten.

Sie hatte sich geirrt. Die Feuchtigkeit auf dem Boden war kein Regenwasser, sie stammte nicht von einer undichten Stelle oder einem gebrochenen Rohr. Der Boden war mit Blut bedeckt. Es klebte an ihren Händen. Sie hatte es sich auf die Hose geschmiert.

Zwei Leichen lagen auf dem alten Ziegelfußboden. Sie sahen aus wie achtlos fallen gelassene Klamotten, ein Haufen Dreckwäsche. Sie erkannte die Gesichter. Der Himmel Schönheit hätten sie getrübt.

Da war so viel Blut. Frisches Blut.

Die Grauen hatten ihre Körper nicht zurückgelassen. Selbst in ihrer Panik verstand Alex, dass das nicht normal war.

»Wer hat das getan?«, fragte sie.

Die Frau stöhnte, und der Mann presste einen Finger auf seine Lippen. Sie schwebten aufgelöst durch den Keller, in ihren Augen stand die nackte Angst. Das Flüstern des Mannes drang durch die Dunkelheit.

»Wir sind nicht allein.«

1

Oktober

Einen Monat zuvor

Taras Wohnung war nicht weit entfernt. Alex kannte die Gegend: In ihrem ersten Studienjahr war sie mit Darlington hier gewesen, später allein auf der Jagd nach Taras Mörder. Damals war Winter gewesen, die Äste kahl, die winzigen Gärten verkrustet von dreckigen Schneehaufen. Die frühen, noch warmen Oktobertage standen diesem Viertel besser: Wolken aus grünen Blättern ließen die Kanten der Dächer weniger scharf erscheinen, Efeu wucherte über die Maschendrahtzäune, die funkelnden Straßenlaternen malten goldene Kreise in das sanfte Halbdunkel der Dämmerung und tauchten alles in ein weiches, verträumtes Licht.

Sie stand in den dunklen Schatten zwischen zwei Reihenhäusern und beobachtete die Straße vor dem Taurus Café, einem fensterlosen Klotz aus Backstein, dessen Fassade von Keno-, Lotto- und Corona-Werbung geziert wurde. Das Wummern der Bässe drang nach draußen. Vor dem Café standen die Menschen in kleinen Gruppen zusammen, rauchten und unterhielten sich im Schein der Laternen, obwohl an der Tür ein Schild hing: Aufenthalt vor dem Haus untersagt, Polizeikontrollen. Für den Lärm war Alex dankbar, aber die Aussicht auf Zeugen war weniger erfreulich. Sie sollte bei Tageslicht wiederkommen, wenn die Straße leer war, doch das konnte sie sich nicht erlauben.

Sie wusste, dass es in der Bar von Grauen nur so wimmeln würde. Der Schweiß, die dicht gedrängten Körper, das Geräusch der aneinanderklirrenden, eiskalten Bierflaschen zog sie an, aber sie brauchte jemanden in der Nähe.

Da! Neben einem streitenden Paar schwebte ein Grauer. Ungeachtet der drückenden Hitze des ewigen Sommers trug er Parka und Wollmütze. Sie fing seinen Blick ein. Als sie sah, wie jung er war, zog sich ihr Magen zusammen. Er war zu früh gestorben.

»Come on along«, sang sie leise, dann schnaubte sie verächtlich. Ausgerechnet von diesem bescheuerten Song hatte sie einen Ohrwurm … Irgendein A-cappella-Chor hatte im Hof geprobt, als Alex das Studentenwohnheim verlassen hatte.

»Wie können die so früh schon mit diesem Scheiß anfangen?«, hatte Lauren sich beschwert, während sie durch ihre Platten stöberte. Ihr blondes Haar war nach dem Sommer, den sie als Rettungsschwimmerin am Strand verbracht hatte, beinahe weiß.

»Das ist Irving Berlin«, merkte Mercy an.

»Ist mir egal.«

»Es ist sowieso rassistisch.«

»Rassistischer Scheiß!«, brüllte Lauren aus dem Fenster, legte eine Platte von AC/DC auf und drehte die Lautstärke bis zum Anschlag.

Alex genoss jede Sekunde mit den beiden. Sie war selbst überrascht gewesen, wie sehr sie Lauren und Mercy während des Sommers vermisst hatte; das unbeschwerte Geplauder, das Lästern, die geteilten Sorgen, ob sie die Kurse bestehen würden, die Streite über Musik und Klamotten – an diese Strohhalme klammerte sie sich, wenn die normale Welt ihr zu entgleiten drohte. Das ist mein Leben, dachte sie, während sie zusammengerollt auf der Couch vor dem lärmenden Ventilator lag und Mercy dabei zusah, wie sie eine Sternengirlande über den Kamin in ihrem neuen Gemeinschaftsraum hängte – eine ganz schöne Veränderung zu ihrer winzigen Wohnung auf dem alten Campus. Sofa und Sessel stammten noch aus diesem früheren Leben, ebenso der Beistelltisch, den sie zu Beginn ihres ersten Jahres gemeinsam zusammengeschraubt hatten, der Toaster und der scheinbar unendliche Vorrat an Pop-Tarts, die Laurens Mum ihnen netterweise geschickt hatte. Alex hatte Lethe am Ende ihres letzten Studienjahres um ein Fahrrad und einen neuen Laptop gebeten. Sie hatten sofort zugestimmt, und Alex ärgerte sich, dass sie nicht mehr verlangt hatte.

Das Erstsemesterhaus auf dem alten Campus war der schönste Ort gewesen, an dem Alex je gewohnt hatte, aber das JE-Wohncollege – das Jonathan Edwards College – fühlte sich echt an, solide und elegant, von Dauer. Sie mochte die fleckigen Glasscheiben, die in Stein gehauenen Gesichter an den Wänden des Innenhofs, den abgewetzten Holzfußboden, den reich verzierten Kamin, der zwar nicht funktionierte, aber den sie mit Kerzen und einem alten Globus geschmückt hatten. Sogar die kleine Graue in dem altmodischen Kleid mochte sie, ein Kind, dessen Haar in ordentliche Locken gelegt worden war und das sich gerne in dem Baum mit der Schaukel aufhielt.

Mercy und Alex teilten sich ein Doppelzimmer, weil Lauren beim Auslosen gewonnen und das Einzelzimmer bezogen hatte. Alex war sich ziemlich sicher, dass Lauren geschummelt hatte, aber es störte sie nicht. Natürlich wäre es leichter gewesen, unbemerkt zu kommen und zu gehen, wenn sie ein Zimmer für sich gehabt hätte, andererseits hatte Mercys nächtliches Schnarchen etwas Beruhigendes. Und immerhin wurden sie nicht mehr in Stockbetten gepfercht.

Später am Abend wurde Alex bei Book and Snake erwartet, um das Ritual zu beaufsichtigen. Davor hatte sie eigentlich vorgehabt, ein paar entspannte Stunden mit Mercy und Lauren zu verbringen, Schallplatten zu hören und das nervtötende Mmmmh ooh des Chores zu ignorieren, der beschlossen hatte, Irving Berlin mit seiner Interpretation von »Alexander’s Ragtime Band« zu bestrafen.

Come on along. Come on along. Let me take you by the hand.

Aber dann war die Nachricht gekommen.

Deshalb stand sie jetzt hier herum und beobachtete das Taurus Café. Sie wollte gerade aus dem Schatten treten, als ein Polizeiauto vorbeifuhr. Es war ein neuer Streifenwagen, glatt und lautlos wie ein Meeresräuber. Seine Scheinwerfer blitzten auf und ein kurzes Sirenengeheul erklang, eine Warnung, dass New Havens Polizei tatsächlich kontrollierte.

»Fickt euch doch«, grölte jemand, aber die Menge zerstreute sich, die Leute trieben in den Club oder torkelten auf der Suche nach ihren Autos den Bürgersteig entlang. Es war noch nicht spät. Genug Zeit, eine andere Party zu finden, doch noch auf seine Kosten zu kommen.

Alex wollte nicht über die Cops nachdenken, darüber, was passieren würde, wenn man sie schnappte, oder was Turner sagen würde, wenn sie in Einbruch oder, schlimmer noch, Körperverletzung verwickelt wäre. Seit dem letzten Semester hatte sie nichts mehr von dem Detective gehört, und sie bezweifelte, dass er sich über ein Wiedersehen freuen würde, selbst unter harmloseren Umständen.

Sobald der Streifenwagen um die Ecke gebogen war, vergewisserte Alex sich, dass keine möglichen Zeugen in der Nähe waren, überquerte die Straße und ging auf ein hässliches weißes Doppelhaus in der Nähe des Cafés zu. Schon komisch, dass sich traurige Orte immer ähnlich sahen. Überquellende Abfalleimer. Verwucherte Gärten. Zugemüllte Verandas. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe stets auf morgen. In der Einfahrt dieses Hauses stand jedoch ein nagelneuer Truck mit personalisiertem Kennzeichen: ODMNOUT. Immerhin wusste sie jetzt, dass sie richtig war.

Alex zog eine Puderdose mit Spiegel aus der Hosentasche. Wenn sie nicht gerade damit beschäftigt gewesen war, eine Karte von sämtlichen Kirchen New Havens zu erstellen, hatte sie den Sommer damit verbracht, in den Schubladen von Il Bastones Waffenkammer zu wühlen. Sie redete sich ein, dass sie Lethe auf diese Weise besser kennenlernte und – für den Fall der Fälle – einen Überblick bekam, was sich zu stehlen lohnte. Aber in Wahrheit hatte sie, während sie in den Schränken kramte und die kleinen handgeschriebenen Karten entzifferte – Ozymandias’ Teppich; Monsun-Ringe für Regenzauber (Set unvollständig); Palillos de Dios –, das Gefühl, als gucke Darlington ihr über die Schulter. Wenn man den richtigen Takt spielt, können diese Kastagnetten einen Poltergeist vertreiben, Stern. Aber die Finger wirst du dir dabei trotzdem verbrennen.

Es war tröstlich und beunruhigend zugleich gewesen. Immer wieder hatte sich ein anklagender Unterton in seine sonst so pragmatische Stimme geschlichen. Wo bleibst du, Stern? Warum lässt du dir so viel Zeit?

Alex rollte die Schultern zurück und versuchte, das Schuldgefühl abzuschütteln. Sie musste sich konzentrieren. Heute Morgen hatte sie den kleinen Spiegel vor den Fernseher gehalten, um auszuprobieren, ob der glamour auch mit einem Gesicht vom Bildschirm funktionierte. Sie war sich nicht sicher gewesen, aber es hatte geklappt. Jetzt ließ sie die Puderdose aufschnappen und den Illusionszauber wirken. Sie sprang die Stufen zur Veranda hinauf und klopfte.

Der Mann, der die Tür öffnete, war riesig und mit Muskeln bepackt, sein Nacken so dick und rosig wie ein Zeichentrickschinken. Sie brauchte das Bild auf ihrem Smartphone nicht, sie erkannte ihn auch so: Vor ihr stand Chris Owens alias Oddman, dessen Strafakte so lang war wie er selbst und doppelt so breit.

»Ach du Scheiße!«, entfuhr es ihm, als er Alex in der Tür sah. Sein Blick verweilte ein ganzes Stück über ihrem Kopf. Der glamour machte sie gut dreißig Zentimeter größer.

Alex hob die Hand und winkte.

»Ich … Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte Oddman.

Alex nickte mit dem Kinn in Richtung Flur.

Oddman schüttelte den Kopf, als ob er eben erst aus einem Traum erwacht wäre. »Ja, na klar.« Er trat zur Seite und bat Alex mit ausgestrecktem Arm herein.

Das Wohnzimmer war erstaunlich schick: In einer Ecke stand eine Halogenlampe, es gab ein wuchtiges Ledersofa und einen dazu passenden Sessel sowie einen riesigen Flachbildschirm, auf dem der Sportsender ESPN lief. »Möchten Sie etwas trinken oder …?« Er zögerte, und Alex wusste, was ihm durch den Kopf ging. Es gab nur einen Grund dafür, dass ein Promi an einem Donnerstagabend auf seiner Türschwelle stand – wie an jedem Abend in der Woche. »Brauchen Sie Stoff?«

Eigentlich hatte Alex keine weitere Bestätigung gebraucht, aber nun hatte sie eine. »Sie schulden ihm zwölf Riesen.«

Oddman taumelte, als ob er plötzlich das Gleichgewicht verloren hätte. Das war der Effekt von Alex’ echter Stimme. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie zu verstellen, und die Dissonanz zu dem glamour, der Oddman vorgaukelte, dass sie Tom Brady war, hatte den Zauber geschwächt. Aber das war egal. Alex hatte die Magie nur gebraucht, um ohne Aufsehen in Oddmans Haus zu gelangen.

»Was zur Hölle …?«

»Zwölf Riesen«, wiederholte Alex.

Jetzt sah Oddmann die echte Alex in seinem Wohnzimmer stehen, ein schmächtiges Mädchen mit schwarzen Haaren und Mittelscheitel, so dünn, dass sie geradewegs durch die Ritzen zwischen den Dielen verschwinden könnte.

»Keine Ahnung, wer du bist«, brüllte er, »aber du hast verdammt noch mal das falsche Haus erwischt!«

In großen Schritten kam er auf sie zu, der Boden bebte unter seinem Gewicht.

Alex’ Arm schoss zur Seite, in Richtung Fenster, hinter dem das Taurus Café und der Bürgersteig lagen. Sie spürte, wie der Graue mit der Mütze in sie strömte; sie schmeckte süßsaure Apfelbonbons, roch den beißenden Rauch von Gras. Der Graue fühlte sich unfertig an, hektisch, wie ein Vogel, der sich wieder und wieder gegen eine Fensterscheibe warf. Aber seine Kraft war roh und wild. Sie streckte noch einmal die Hände aus und Oddmans Brust prallte direkt dagegen.

Der Hüne flog durch die Luft. Er krachte in den Fernseher, der Bildschirm fiel zu Boden und zersprang. Alex konnte nicht behaupten, dass es sich nicht gut anfühlte, die Kraft des Grauen zu stehlen; für einen Moment gefährlich zu sein.

Sie durchquerte den Raum, beugte sich über Oddman und wartete, bis sein benommener Blick wieder klar wurde.

»Zwölf Riesen«, sagte sie noch einmal. »Du hast eine Woche, ansonsten komme ich zurück und breche deine Knochen.« Obwohl sein Brustbein vielleicht schon gebrochen war …

»Ich habe kein Geld«, stöhnte Oddman und rieb sich die Brust. »Das Kind meiner Schwester …«

Alex kannte die Ausreden, sie hatte sie selbst oft genug benutzt. Meine Mom ist im Krankenhaus. Mein Gehalt kommt nicht. Mein Auto muss in die Werkstatt und wenn ich nicht zur Arbeit fahren kann, kann ich dich nicht bezahlen. Es war egal, ob sie stimmten oder nicht.

Sie hockte sich neben ihn. »Das tut mir leid. Wirklich. Aber ich habe meinen Job und du hast deinen. Zwölftausend Dollar bis nächsten Freitag oder er schickt mich wieder her, um an dir ein Exempel zu statuieren. Für jeden kleinen Scheißer, der hier jemals auch nur ein Baggy vertickt hat. Und darauf habe ich keinen Bock.«

Das stimmte sogar.

Oddman schien ihr zu glauben. »Er … Hat er etwas gegen dich in der Hand?«

»Genug, damit ich heute Abend hier bin, und genug, damit ich wiederkomme.« Plötzlich pulsierten Alex’ Schläfen, und der Geschmack nach Apfelbonbons schoss ihr wieder in den Mund. »Scheiße, Mann. Du siehst echt übel aus.«

Alex verstand nicht gleich, dass sie es war, die da sprach – mit einer fremden Stimme.

Oddman starrte sie aus großen Augen an. »Derrik?«

»Yeah!« Das war nicht Alex’ Stimme, nicht ihr Lachen.

Oddman berührte sie an der Schulter, seine Hand zitterte – vor Staunen oder vor Grauen. »Du … Ich war bei deiner Totenwache.«

Alex stand auf, fast hätte sie das Gleichgewicht verloren. In dem gesprungenen Bildschirm erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf ihr Spiegelbild, aber die Person, die ihr entgegenblickte, war nicht das dürre Mädchen in Jeans und Tanktop. Es war ein Junge mit Mütze und Parka.

Sie stieß den Grauen – Derrik – von sich. Einen Augenblick lang starrten sie sich an. Sie wusste nicht, woran er gestorben war, und sie wollte es auch nicht wissen. Irgendwie war es ihm gelungen, sich an die Oberfläche ihres Bewusstseins zu drängen, die Kontrolle über ihr Gesicht und ihre Stimme zu erlangen. Das gefiel ihr überhaupt nicht.

»Bela Lugosi’s dead«, schnauzte sie. Das waren den ganzen Sommer über ihre Lieblings-Todesworte gewesen. Er verschwand.

Oddman drückte sich gegen die Wand, als wolle er mit ihr verschmelzen. Er hatte Tränen in den Augen. »Was zur Hölle geht hier vor?«

»Mach dir darüber keine Gedanken«, sagte sie. »Besorg das Geld, dann ist der ganze Spuk vorbei.«

Alex wünschte, es wäre für sie auch so einfach.

 

 

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Rete mirabile

Herkunft: Galway, Irland, 18. Jahrhundert

Gestiftet von: Book and Snake,1962

 

Das »Wundernetz« befindet sich seit ca. 1922 im Besitz der Lettermen. Wann genau oder von wem es erschaffen wurde, ist unklar, aber mündliche Überlieferungen besagen, dass es durch keltische Liedermagie oder Seiðr (s. Eintrag zur nordischen Meeresriesin Rán) entstand. Analysen haben ergeben, dass das Netz aus gewöhnlicher Baumwolle besteht, durchsetzt mit menschlichen Sehnen. Wenn eine geliebte Person auf See verschollen war, wurde das Netz an einem Pflock befestigt und ausgeworfen. Am nächsten Morgen hing die Leiche im Netz, was manchen Leuten Linderung versprach, für andere zusätzliche Qualen bedeutete – je nach Zustand der leiblichen Überreste.

Das Netz wurde von Book and Snake gestiftet, als deren Versuche, gewisse Leichen zurückzuholen, scheiterten.

 

Aus dem Verzeichnis der Lether Waffenkammer, vervollständigt und bearbeitet von Pamela Dawes, Oculus

 

Warum bekommen die Jungs von Book and Snake eigentlich nichts hin? Erst erwecken sie einen Haufen Seemänner zum Leben, die nur Irisch sprechen. Dann verprassen sie die nicht unerhebliche Summe in ihren Kassen für einen – scheinbar echten – Brief aus dem Mittleren Reich des alten Ägyptens, bevor Wolf’s Head das Geld aufgetrieben hat. Mit dem Brief wollen sie einen König auferstehen lassen. Aber wer taucht auf, als sie das Ding in ihrer Gruft anzünden? Nicht etwa Amenophis oder der gute alte Tutanchamun, noch nicht einmal der kopflose Charles I., sondern Elvis Presley – müde, aufgedunsen und mit großem Appetit auf ein Bananen-Erdnussbutter-Sandwich. Es war ein Riesenärger, ihn wieder nach Memphis zu bekommen, und danach waren sie natürlich kein Stück schlauer.

 

Tagebücher über die Zeit bei Lethe

von Dez Carghill (Branford College 62)

2

Der Fußweg zurück zum Campus zog sich, und die Hitze hing an ihren Schritten wie ein Tier, dessen feuchten Atem sie im Nacken spürte.

Aber Alex verlangsamte ihr Tempo nicht. Sie wollte möglichst viel Abstand zwischen sich und diesen Grauen bringen. Was war dort geschehen? Und wie sollte sie verhindern, dass es wieder passierte? Schweißtropfen liefen ihr über den Rücken. Sie wünschte, sie hätte Shorts angezogen, aber es fühlte sich nicht richtig an, jemandem in kurzen Hosen eine Abreibung anzudrohen.

Sie lief parallel zum Kanal, zählte ihre langen Schritte, wollte den Kopf freibekommen, bevor sie den Campus erreichte. Ein Stück dieses Weges war sie letztes Jahr mit Mercy gegangen, um zu sehen, wie das Herbstlaub seine Farben änderte – ein Meer aus Rot und Gold, Feuerwerke, eingefangen in der schönsten Blüte. Damals hatte sie gedacht, wie sehr sich dieser Ort vom Los Angeles River mit seinen Betonufern unterschied. Sie hatte sich daran erinnert, wie sie in dem schmutzigen Gewässer getrieben war, erfüllt von Hellies Kraft, und sich wünschte, sie beide könnten hinausschwimmen ins offene Meer, zu ihrer eigenen Insel werden. Sie hatte sich gefragt, wo Hellie beerdigt war, und hoffte, dass es ein schönerer Ort war als jener traurige, sich mühsam vorwärtsschiebende Fluss, der an eine kollabierte Vene erinnerte.

Am Kanal müsste jetzt eigentlich alles grün sein, der Weg unter Sommergewächsen erstickt, aber die Grauen liebten das, und Alex wollte in diesem Moment nicht in ihrer Nähe sein. Also hielt sie sich an die tristen Parkplätze und gesichtslosen Bürogebäude des Science Park, eilte an den Gewerbehallen vorbei und weiter zum E-Werk. Hier verfolgte sie nur Darlingtons Geist. Seine Stimme erzählte Geschichten über die Winchester-Familie und wie deren Nachkommen sich mit der Yale-Elite vermischt und verheiratet hatten. Oder über das wuchtige Grab von Sarah Winchester oberhalb der Stadt – ein zweieinhalb Meter hoher Klotz aus grob behauenem Stein, in den ein Kreuz hineingepresst worden war. Es erinnerte an das Kunstprojekt eines Schulkindes. Alex fragte sich, ob es Mrs Winchesters Wunsch gewesen war, in Evergreen beerdigt zu werden statt in Grove Street, weil sie wusste, dass sie keine Ruhe finden würde so nah an der Fabrik, in der ihr Mann einen Gewehrlauf nach dem anderen, eine Waffe nach der anderen herstellte.

Alex wurde erst langsamer, nachdem sie die juristische Fakultät passiert hatte und auf die Prospect Street einbog. Es war beruhigend, wieder in der Nähe des Campus zu sein, wo die Baumkronen über den Straßen zusammenwuchsen. Wie war sie nur zu jemandem geworden, der sich hier mehr zu Hause fühlte als auf den Straßen vor dem Taurus? Gefährlich. Behaglichkeit war eine Droge, die sie erst erkannt hatte, als sie bereits süchtig war nach Tassen mit Tee, Regalen voller Bücher und Nächten, die nicht unterbrochen wurden vom Geheul der Sirenen und dem unablässigen Kreisen von Hubschraubern am Himmel.

Ihr Tom-Brady-glamour hatte sich aufgelöst, als sie den Grauen in sich hineinließ. So brauchte sie sich keine Sorgen zu machen, dass sie auf dem Campus Aufsehen erregte. Studenten genossen die warme Nacht, schleppten Sofas nach draußen, verteilten Flyer für Partys. Ein Mädchen fuhr auf Rollerskates, furchtlos mitten auf der Straße, in Bikinioberteil und knappen Shorts, ihre Haut schimmernd in der blauen Nacht. Dies waren die magischen ersten Tage des Herbstsemesters, der Glücksdunst des Wiedersehens, in dem sich alte Freundschaften in Glühwürmchenfunken neu entzündeten, bevor die richtige Arbeit begann. Alex wollte auch darin schwelgen, sich daran erinnern, dass sie in Sicherheit war, dass es ihr gut ging. Aber dafür blieb keine Zeit.

 

Bis zur Hütte waren es nur noch wenige Blocks. Sie blieb stehen, lehnte sich gegen die niedrige Mauer vor der Sterling Library und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Wie hatte der Graue sie so überrumpeln können? Natürlich war ihre Verbindung zu den Toten tiefer geworden durch das, wozu sie im Kampf mit Belbalm gezwungen gewesen war. Sie hatte sie zu sich gerufen und ihre Namen genannt. Sie hatten geantwortet. Sie hatten sie gerettet. Und Rettung hatte ihren Preis. Ihr ganzes Leben lang hatte sie die Grauen schon sehen können; nun konnte sie sie auch hören. Sie waren jetzt viel näher, so viel schwerer zu ignorieren.

Aber vielleicht hatte sie nicht wirklich verstanden, was die Rettung sie kosten würde. Etwas ganz Übles war in Oddmans Haus passiert, etwas, das sie nicht erklären konnte. Sie sollte die Toten kontrollieren, sie nutzen. Und nicht umgekehrt.

Sie holte ihr Handy hervor und sah zwei Nachrichten von Dawes, im Abstand von exakt fünfzehn Minuten und in Großbuchstaben. DRINGENDER RÜCKRUF.

Alex ignorierte die Nachrichten und scrollte weiter. Dann tippte sie ein knappes Ist erledigt.

Die Antwort kam sofort: Wenn ich mein Geld habe.

Hoffentlich brachte Oddman seine Angelegenheiten in Ordnung. Sie löschte die Nachrichten, dann rief sie Dawes an.

»Wo steckst du?«, meldete sich Dawes atemlos.

Irgendetwas Großes musste vor sich gehen, wenn Dawes das Protokoll außer Acht ließ. Alex sah sie förmlich vor sich, wie sie im Wohnzimmer von Black Elm auf und ab ging, ihr rotes Haar auf einer Seite zu einem Knoten gedreht, Kopfhörer um den Hals gelegt.

»Sterling. Auf dem Rückweg zur Hütte.«

»Du kommst zu spät zum …«

»Wenn ich hier rumstehe und mit dir quatsche, bestimmt. Was ist los?«

»Sie haben einen neuen Prätor gewählt.«

»Verdammt. So schnell?«

Der Prätor war der Fakultätsbeauftragte von Lethe, der als Verbindungsglied zur Universitätsverwaltung fungierte. Nur der Präsident und der Dekan von Yale wussten über die wahren Aktivitäten der Geheimbünde Bescheid, und Lethe sorgte dafür, dass es auch so blieb. Der Prätor war eine Art Herbergsmutter – der verantwortungsbewusste Erwachsene im Raum. Zumindest sollte er das sein. Dekan Sandow hatte sich als Mörder entpuppt.

Alex wusste, dass der Prätor ein ehemaliger Abgesandter von Lethe und Mitglied des Lehrkörpers von Yale sein oder zumindest in New Haven wohnen musste. So jemand war nicht leicht zu finden. Alex und Dawes waren fest davon überzeugt gewesen, dass das Gremium noch mindestens ein Semester brauchen würde, um Ersatz für den toten Dekan Sandow aufzutreiben. Mehr noch – sie hatten sich darauf verlassen.

»Wer ist er?«, fragte Alex.

»Es könnte auch eine Frau sein.«

»Ist sie es?«

»Nein. Aber Anselm hat mir keinen Namen genannt.«

»Hast du gefragt?«, drängte Alex.

Es folgte eine lange Pause. »Nicht so richtig.«

Es brachte nichts, Dawes zu piesacken. Sie mochte Menschen genauso wenig wie Alex, aber im Unterschied zu Alex scheute sie Konfrontation. Und es war auch nicht ihre Aufgabe. Oculus sorgte dafür, dass in Lethe alles reibungslos lief, Kühlschrank und Waffenkammer gefüllt, Rituale planmäßig durchgeführt, Eigentum in Ordnung gehalten wurde. Sie war der Forschungsbereich von Lethe und nicht für das Schikanieren der Vorstandsmitglieder zuständig.

Alex seufzte. »Wann wird er eingeführt?«

»Samstag. Anselm möchte eine Besprechung ansetzen. Vielleicht zum Tee.«

»Nein. Auf keinen Fall. Ich brauche mehr als nur ein paar Tage, um mich vorzubereiten.«

Alex wandte sich von den vorbeigehenden Studenten ab, starrte hinauf zu den Steininschriften, die die Türen der Sterling Library bewachten. Darlington war mit ihr hier gewesen, um die Geheimnisse von Yale zu entschlüsseln. »Ägyptische, Maya-, hebräische, chinesische und arabische Stiche von Höhlenmalereien aus Les Combarelles. Sie haben alles abgedeckt.«

»Was haben die zu bedeuten?«, hatte Alex gefragt.

»Zitate aus Bibliotheken und heiligen Schriften. Das chinesische Zitat stammt aus dem Mausoleum eines toten Richters. Das Maya-Zitat stammt aus dem Tempel des Kreuzes, aber es wurde zufällig ausgewählt, denn erst zwanzig Jahre später war jemand in der Lage, es zu übersetzen.«

Alex hatte gelacht. »Wie ein betrunkener Kerl, der sich ein Kanji-Tattoo stechen lässt.«

»Um eine deiner Redewendungen zu benutzen: Das ist unausgegorener Mist. Aber es sieht beeindruckend aus, findest du nicht, Stern?«

Tat es. Das tat es immer noch.

Nun beugte sich Alex über ihr Handy und unterhielt sich flüsternd mit Dawes, wusste, dass sie aussah wie ein Mädchen, das sich gerade von ihrem Freund trennt. »Wir brauchen einen Aufschub.«

»Was soll uns das bringen?«

Darauf hatte Alex keine Antwort. Den ganzen Sommer hatten sie nach dem Höllenpfad gesucht und standen immer noch mit leeren Händen da.

»Ich war in der First Presbyterian.«

»Und?«

»Nichts. Zumindest, soweit ich das sagen kann. Ich schicke dir die Fotos.«

Michelle Alameddine hatte sie gewarnt. »Tore zur Hölle stehen nicht einfach so herum, damit die Leute hindurchspazieren können«, hatte sie gesagt, als sie sich alle nach Dekan Sandows Beerdigung in einem Coffeeshop zusammensetzten. »Das wäre viel zu gefährlich. Stell dir den Höllenpfad als eine Art geheimen Durchgang vor, der erscheint, wenn du die magischen Worte sagst. Aber in diesem Fall sind die magischen Worte eine Reihe von Schritten, die du gehen musst. Erst wenn du das Labyrinth betrittst, offenbart sich dir der weitere Weg.«

»Wir suchen also etwas, das wir nicht einmal sehen können?«, hatte Alex gefragt.

»Es wird Zeichen geben, Symbole.« Michelle hatte mit den Schultern gezuckt. »So lautet zumindest eine Theorie. Das ist alles, was die Hölle und das Leben nach dem Tod sind. Theorien. Weil die Menschen, die die andere Seite gesehen haben, nicht zurückgekommen sind, um davon zu erzählen.«

Sie hatte recht. Alex war lediglich in den Grenzbereichen gewesen, als sie ihr Geschäft mit dem Bräutigam abschloss, und selbst das hatte sie nur mit Müh und Not überlebt. Die Menschen waren nicht dazu bestimmt, sich zwischen diesem Leben und dem nächsten hin- und herzubewegen. Aber genau das mussten sie tun, um Darlington nach Hause zu holen.

»Es kursieren Gerüchte über einen Höllenpfad auf Station Island im Lough Derg«, fuhr Michelle fort. »Möglicherweise gab es einen in der Imperial Library von Konstantinopel, bevor diese zerstört wurde. Und laut Darlington haben ein paar Jungs aus einer Verbindung genau hier einen erschaffen.«

Dawes hätte beinahe ihren Tee ausgespuckt. »Darlington hat das gesagt?«

Michelle schenkte ihr einen amüsierten Blick. »Es war sein Steckenpferd, eine magische Karte von New Haven anzufertigen, von all den Plätzen, an denen die Macht kam und ging. Er sagte, einige Verbindungsmitglieder hätten den Pfad als Mutprobe erschaffen und dass er ihn finden wolle.«

»Und?«

»Ich habe ihm gesagt, dass er ein Idiot ist und mehr Zeit damit verbringen sollte, sich Sorgen über seine Zukunft zu machen, statt in Lethes Vergangenheit herumzuwühlen.«

Alex ertappte sich dabei, dass sie lächelte. »Hat er auf dich gehört?«

»Was glaubst du?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, erwiderte sie, zu müde und zu angeschlagen, um etwas anderes vorzugeben. »Darlington liebte Lethe, aber er hätte auch auf seinen Vergil hören wollen. Er nahm das sehr ernst.«

»Genau das mochte ich an ihm«, sagte Michelle und studierte die Überreste ihres Scones. »Er hat mich ernst genommen. Sogar dann, wenn ich es nicht tat.«

»Ja«, hatte Dawes leise zugestimmt.

Aber Michelle war während des Sommers nur einmal nach New Haven zurückgekehrt. Dawes hatte den ganzen Juni und Juli über im Haus ihrer Schwester in Westport recherchiert und Alex in die Lethe-Bibliothek geschickt, damit sie ihr Bücher und Abhandlungen besorgte. Sie hatten versucht, die richtige Reihenfolge von Wörtern zu finden, um ihre Anfragen im Albemarle-Buch zu formulieren, aber alles, was dabei herauskam, waren alte Berichte von Mystikern und Märtyrern, die Visionen von der Hölle gehabt hatten. Karl der Dicke, Dantes zwei Türme von Bologna, Höhlen in Guatemala und Belize, die angeblich nach Xibalba führten.

Dawes nahm ein paarmal den Zug von Westport, damit sie sich zusammensetzen und nach einem Ausgangspunkt suchen konnten. Sie luden auch Michelle ein, die jedoch nur ein einziges Mal zu ihnen stieß, an einem Wochenende, an dem sie nicht in der Abteilung »Schenkungen und Anschaffungen« der Butler Library arbeitete. Sie brüteten den ganzen Tag über Berichten zu Verbindungen und Büchern über den Mönch von Evesham, aßen dann im Salon zu Mittag. Dawes hatte Geflügelsalat vorbereitet und in karierte Servietten gewickelte Zitronenschnitten mitgebracht. Aber Michelle pickte nur an ihrem Essen herum und schaute ständig auf ihr Handy, begierig darauf, endlich verschwinden zu können.

»Sie will nicht helfen«, sagte Dawes, nachdem Michelle gegangen war.

»Sie will schon«, erwiderte Alex. »Aber sie hat Angst.«

Alex konnte ihr keinen Vorwurf machen. Das Lethe-Gremium hatte unmissverständlich klargestellt, dass es Darlington für tot hielt und kein Interesse an anderslautenden Informationen habe. Im vergangenen Jahr hatte es zu viel Unruhe gegeben, zu viel Lärm. Sie wollten, dass dieses Kapitel geschlossen wurde. Aber zwei Wochen nach Michelles Besuch gelang Alex und Dawes der große Durchbruch: ein einzelner, einsamer Absatz in den Tagebüchern von 1938 über die Zeit bei Lethe.

Alex stieß sich von der Außenwand des Sterling-Gebäudes ab und ging die Elm hinauf zur York. »Sag ihnen, ich kann am Samstag nicht. Erzähl ihnen, ich hätte … Einführungskurs oder was auch immer.«

Dawes stöhnte. »Du weißt, wie schlecht ich lüge.«

»Wie willst du besser werden, wenn du nie übst?«

Alex eilte die Gasse entlang und betrat die Hütte, begrüßte die kühle Dunkelheit der Hintertreppe, den herbstlichen Duft nach Nelken und Korinthen. Die Zimmer waren aufgeräumt, aber verlassen, die zerschlissenen karierten Sofas und die Gemälde mit den Hirten, die ihre Herden hüteten, gefangen in der Finsternis. Sie verbrachte nicht gern Zeit in der Hütte. Alex wollte nicht an die verlorenen Tage erinnert werden, als sie sich in diesen geheimen Räumen versteckt hatte, verwundet und ohne Hoffnung. Erbärmlich. Dieses Jahr würde sie nicht zulassen, dass ihr das passierte. Sie würde einen Weg finden, die Kontrolle zu behalten. Sie schnappte sich den Rucksack, den sie zuvor mit Utensilien gepackt hatte – Friedhofserde, Knochenstaubkreide und etwas, das sich Phantomschlinge nannte, eine Art schicker Lacrosseschläger, den sie aus der Waffenkammer von Lethe stibitzt hatte.

Ausnahmsweise hatte sie ihre Hausaufgaben gemacht.

 

Alex liebte die Gruft von Book and Snake, weil sie gegenüber des Grove Street Cemetery lag. Das bedeutete, dass sie kaum Graue sehen würde, vor allem nachts. Manchmal wurden sie von Beerdigungen angezogen, wenn der Verstorbene besonders geliebt oder verabscheut worden war. Einmal war Alex in den Genuss des grausigen Anblicks eines Grauen gekommen, der einer weinenden Frau die Wange ableckte. Aber nachts war der Friedhof nichts weiter als kalter Stein und Verwesung – der letzte Ort, an dem Graue sein wollten, wenn direkt nebenan ein Campus lag, voller flirtender und schwitzender Studenten, die zu viel Bier oder Kaffee tranken, überdreht und mit aufgeplustertem Ego. Die Gruft selbst ähnelte einer Mischung aus einem griechischen Tempel und einem überdimensionierten Mausoleum – weder Fenster noch Türen, nur weißer Marmor mit hoch aufragenden Säulen. »Es soll aussehen wie das Erechtheion«, hatte Darlington ihr erzählt. »Auf der Akropolis. Manche sagen auch wie der Nike-Tempel.«

»Und welches ist es nun?«, hatte Alex gefragt. Sie kannte sich ein wenig aus, denn sie hatte einmal die Akropolis und die Agora durchgenommen und die Geschichten über die griechischen Götter geliebt.

»Weder noch. Es wurde dem Nekromanteion nachempfunden, ein Ort, an dem man die Toten willkommen heißt und mit ihnen Zwiesprache hält.«

Alex hatte gelacht, denn damals wusste sie bereits, wie sehr die Grauen es hassten, an den Tod erinnert zu werden. »Sie haben also ein riesiges Mausoleum gebaut? Sie hätten besser ein Kasino errichten und vorne ein Schild aufhängen sollen: Gratis-Drinks für Frauen.«

»Das ist geschmacklos, Stern. Aber recht hast du.«

Das war fast auf den Tag ein Jahr her. Heute Nacht war sie allein. Alex stieg die Stufen hinauf und klopfte an die hohen Bronzetüren. Es war das zweite Ritual, bei dem sie dieses Semester anwesend war. Das erste – ein Erneuerungsritual bei Manuscript – war einfach gewesen. Die neue Delegation hatte sich splitternackt ausgezogen und einen grauhaarigen Nachrichtensprecher in einen mit Rosmarin und heißen Kohlen ausgelegten Graben gerollt. Zwei Stunden später kam er wieder heraus – mit rotem Gesicht, verschwitzt und zehn Jahre jünger aussehend.

Die Tür öffnete sich, und vor Alex stand ein Mädchen in schwarzer Robe, das Gesicht mit einem transparenten Schleier verhüllt, auf den schwarze Schlangen gestickt waren. Sie zog den Schleier über den Kopf.

»Vergil?«

Alex nickte. Die Verbindungen fragten nicht länger nach Darlington. Für die neuen Delegierten war sie Vergil, eine Expertin, eine Autorität. Sie waren dem Gentleman von Lethe nie begegnet. Sie wussten nicht, dass sie nur eine halb ausgebildete Betrügerin bekamen. Für sie war Alex Lethe, und das schon immer. »Bist du Calista?«

Das Mädchen strahlte. »Die Delegationspräsidentin.«

Sie war vermutlich nur ein Jahr älter als Alex, aber sie wirkte wie eine andere Spezies – zarte Haut, strahlende Augen, ihr Haar ein sanfter Heiligenschein aus Locken.

»Es ist schon alles vorbereitet. Wir können gleich anfangen. Ich bin so nervös!«

»Musst du nicht sein«, versicherte Alex. Das waren die Worte, die man von ihr erwartete. Vergil war ruhig, bewandert, sie hatte all das schon gesehen. Sie gingen an einer in Stein gemeißelten Inschrift vorbei: Omnia mutantur, nihil interit. Alles ändert sich, nichts verschwindet.

Darlington hatte die Augen verdreht, als er es ihr bei einem ihrer Besuche übersetzte. »Frag mich nicht, warum eine Verbindung, die um eine griechische Totenbeschwörung herum geschaffen wurde, ausgerechnet einen römischen Dichter zitiert. Omnia dicta fortiori si dicta Latina.«

»Jetzt erwartest du, dass ich frage. Also tue ich es nicht.«

Er hatte tatsächlich gelächelt. »Auf Latein klingt alles beeindruckender.«

Sie hatten sich damals gut verstanden, und Alex hatte so etwas wie Hoffnung gespürt, eine Art Leichtigkeit zwischen ihnen, aus der Vertrauen hätte werden können.

Wenn sie ihn nicht hätte sterben lassen.

Das Innere das Grabmals war kalt und mit Fackeln erleuchtet. Kleine Ventilatoren an der Decke bliesen den Rauch weg. Die meisten Räume waren schlicht, aber der zentrale Tempelraum war vollkommen rund und mit leuchtend bunten Fresken verziert – nackte Männer mit Lorbeerkränzen.

»Warum steigen sie Leitern hinauf?«, hatte Alex gefragt, als sie die Wandmalereien zum ersten Mal sah.

»Nicht: Warum sind sie alle nackt? Symbolismus, Stern. Sie steigen auf zu höherem Wissen. Auf den Rücken der Toten. Schau nach unten.«

Die Leitern standen auf den gebeugten Rücken kniender Skelette.

In der Mitte des Raums ragten zwei Statuen verschleierter Frauen in die Höhe, steinerne Schlangen zu ihren Füßen. Eine Lampe hing von ihren gefalteten Händen herab, das Feuer brannte in einem sanften Blau. Darunter standen zwei ältere Männer in ein Gespräch vertieft. Einer trug eine schwarz-goldene Robe, ein Alumnus, der als Hohepriester fungieren würde. Der andere sah aus wie der sehr strenge Vater von jemandem, grauer Bürstenhaarschnitt, das Hemd ordentlich in die gebügelte Kakihose gesteckt.

Zwei weitere Gestalten in Roben traten ein. Sie trugen eine große Kiste, und Alex bezweifelte, dass es sich dabei um ein Ikea-Sofa handelte. Sie stellten die Kiste zwischen zwei Messingsymbole auf den Boden – griechische Buchstaben, die sich spiralförmig über die Marmorplatten ausbreiteten.

»Warum hast du dich so sehr dafür eingesetzt, dass diese Woche ein Ritual genehmigt wird?«, wandte sich Alex an Calista, während die beiden Lettermen mit einer Brechstange den Deckel der Kiste aufhebelten. Für gewöhnlich nutzten die Verbindungen die ihnen im Kalender zugeteilten Abende und baten nur gelegentlich um eine Notfallzuteilung, was unweigerlich den gesamten Zeitplan über den Haufen warf. Aber die Lettermen hatten klar und bestimmt diese Donnerstagnacht für ihr Ritual beantragt.

»Es war der einzige Tag …« Calista zögerte, hin- und hergerissen zwischen Stolz und dem Vertraulichkeitsanspruch. »Ein gewisser Viersternegeneral hat einen sehr straffen Zeitplan.«

»Verstehe«, sagte Alex und blickte zu dem streng aussehenden Mann mit dem Bürstenhaarschnitt. Sie holte die Kreide und ihre Notizen heraus und begann, den Schutzkreis zu zeichnen, sorgfältig und präzise. Sie merkte gar nicht, wie fest sie die Kreide drückte, bis diese in zwei Hälften zerbrach und sie mit einem der beiden Stummel weiterarbeiten musste. Sie war nervös, hatte jedoch nicht dieses panische Ich hab nicht für den Test gelernt-Gefühl. Sie war ihre Notizen durchgegangen, hatte in der schummerigen Behaglichkeit des Salons von Il Bastone die Symbole wieder und wieder gezeichnet, während New Order über das blecherne Soundsystem tönte. Sie hatte sich gefühlt, als wüsste das Haus ihre neu entdeckte Sorgfalt zu schätzen, die Türen abgeschlossen und verriegelt, die schweren Vorhänge zugezogen, um das Sonnenlicht draußen zu halten.

»Können wir anfangen?« Der Hohepriester kam näher, rieb sich die Hände. »Wir müssen einen Zeitplan einhalten.«

Alex konnte sich nicht an seinen Namen erinnern, irgendein Absolvent, den sie im vergangenen Jahr getroffen hatte. Er würde das Ritual mit der neuen Delegation überwachen. Sie sah, wie die Lettermen hinter ihm eine Leiche aus der Kiste hoben. Sie legten sie auf den Boden, nackt und weiß. Der Duft von Rosen erfüllte die Luft, und der Priester musste Alex’ Überraschung bemerkt haben, denn er sagte: »So präparieren wir den Leichnam.«

Alex hielt sich nicht gerade für zimperlich; ihr ganzes Leben war sie dem Tod zu nah gewesen, um wegen ein paar abgetrennter Gliedmaßen oder Schusswunden zu erschrecken – zumindest, wenn es um Graue ging. Aber mit einer echten Leiche war es doch immer etwas anderes, so steif und still, und in dieser Stille fremdartiger, als es ein Geist je sein könnte. Als spürte sie die Leere, wo eigentlich eine Person sein müsste.

»Wer ist das?«, fragte sie.

»Niemand mehr. Er war Jacob Yeshevsky, ein Liebling des Silicon Valley und Freund russischer Hacker auf der ganzen Welt. Starb vor weniger als vierundzwanzig Stunden auf einer Jacht.«

»Vierundzwanzig Stunden«, wiederholte Alex. Book and Snake hatte bereits im August diese Nacht für ihr Ritual angefragt.

»Wir haben unsere Quellen.« Er deutete mit dem Kopf in Richtung Friedhof. »Die Toten wussten, dass seine Zeit kommen würde.«

»Und haben es auf den Tag genau vorhergesagt. Wie rücksichtsvoll von ihnen.«

Jacob Yeshevsky war ermordet worden. Davon war sie überzeugt. Und selbst wenn Book and Snake es nicht geplant hatten, so mussten sie gewusst haben, dass es passieren würde. Aber sie war nicht hier, um Ärger zu machen. Und Jacob Yeshevsky konnte sie sowieso nicht mehr helfen.

»Der Schutzkreis ist fertig«, sagte Alex. Das Ritual wurde durch den Kreis geschützt, aber sie hatte in jeder Himmelsrichtung eine Pforte gesetzt, und eine würde offen bleiben, damit Magie einfließen konnte. Dort würde Alex Wache stehen, falls Graue die Party stören wollten, getrieben von Sehnsucht, Gier, irgendeiner starken Emotion. Obwohl sie bezweifelte, dass Graue in der Nähe eines frischen Toten und dieser prunkvollen Grabesstimmung sein wollten.

»Du bist viel süßer als dieses Mädchen, mit dem Darlington immer herumgelaufen ist«, sagte der Priester. Alex erwiderte sein Lächeln nicht. »Michelle Alameddine ist eine Nummer zu groß für dich.«

Sein Grinsen wurde noch breiter. »Für mich ist niemand eine Nummer zu groß.«

»Hör auf, die Hilfe anzubaggern, und lass uns anfangen«, blaffte ihn der General an.

Immer noch grinsend, verzog sich der Priester.

Alex war nicht sicher, ob es mutig oder gruselig war, in unmittelbarer Nähe einer Leiche zu flirten, aber sie nahm sich vor, so schnell wie möglich von Book and Snake wegzukommen. Sie musste das brave Mädchen bleiben. Den Job erledigen. Es richtig machen. Sie und Dawes wollten keinen Ärger, sie wollten Lethe keinen Grund geben, sie zu trennen oder sich in ihre Pläne einzumischen. Dass ihnen ein neuer Prätor in die Quere kam, war nervig genug.

Ein tiefer Gong ertönte. Die Lettermen standen außerhalb des Kreises, den Schleier vor das Gesicht gezogen, Trauernde in Schwarz, ließen nur den General, den Hohepriester und den Toten im Innern des Kreises. »Dort, Gelehrte, lasst mich sitzen«, intonierte der Priester und seine Stimme hallte durch den Raum, »in Dialog treten mit dem mächtigen Tod.«

»Wenn du mich fragst, bezieht sich dieses Zitat auf Bibliotheken und nicht auf Totenbeschwörung«, hatte Darlington ihr einmal zugeflüstert. Es läutete jedes Ritual von Book and Snake ein. »Es ist in der Sterling in Stein gemeißelt.«

Alex hatte nicht zugeben wollen, dass sie den Großteil ihrer Zeit in der Sterling Library damit verbrachte, in einem der Leseräume zu dösen, mit den Füßen auf einem der Heizungsgitter.

Der Priester warf etwas in die Lampe über ihm. Blauer Rauch stieg von den Flammen empor, schien sich dann zu setzen, hinabzusinken zu den nackten Füßen der Statuen. Eine der Steinschlangen regte sich, ihre weißen Schuppen schillerten im Feuerschein. Sie schlängelte sich zu der Leiche, glitt in Wellen über den Marmorboden, stoppte dann, als würde sie den Körper riechen. Alex unterdrückte ein Keuchen, als sich die Schlange mit weit aufgesperrtem Maul auf die Wade des Toten stürzte.

Die Leiche zuckte, ihre Muskeln verkrampften sich, dann hüpfte sie vom Boden hoch wie Maiskörner in einer heißen Pfanne. Die Schlange löste ihre Kiefer und Yeshevskys Körper sprang in eine tiefe Hocke. Die Füße weit auseinander, die Knie mit den Händen umfasst, bewegte er sich seitwärts wie ein Krebs, aber in einem Tempo, das Alex eine Gänsehaut verursachte. Das Gesicht – sein Gesicht – war zu einer Grimasse verzogen, die Augen panisch aufgerissen, die Mundwinkel herabgezogen wie eine Maske der Tragödie.

»Ich brauche Passwörter«, sagte der General, während die Leiche im Tempel herumwanderte, »solide Infos, keine« – er wedelte mit der Hand durch die Luft, verfluchte die Kuppelgruft, die Studenten in ihren Roben und den armen toten Jacob Yeshevsky mit einer einzigen Geste – »Wahrsagerei.«

»Wir werden dir beschaffen, was du brauchst«, erwiderte der Priester mit ruhiger Stimme. »Aber wenn du aufgefordert wirst, deine Quelle preiszugeben …«

»Glaubst du, ich will, dass die Aufsicht bei diesem Illuminaten-Schwachsinn herumschnüffelt?«

Alex konnte das Gesicht des Priesters hinter dem Schleier nicht erkennen, aber seine Verachtung war deutlich. »Wir sind keine Illuminaten.«

»Aufgeblasene Angeber«, murmelte einer der Lettermen, der direkt neben Alex stand.

»Bring ihn einfach zum Reden«, verlangte der General.

Er tat nur so, dachte Alex. Dieses kurz angebundene, knurrende, geschäftsmäßige Gebaren war eine Fassade. Der General hatte nicht gewusst, worauf er sich einließ, als er seine Vereinbarung mit Book and Snake traf, eingefädelt von einem hochrangigen Absolventen. Was hatte er sich denn vorgestellt? Ein paar gemurmelte Worte, eine Stimme aus dem Jenseits? Hatte er angenommen, das hier würde eine würdige Angelegenheit werden? Aber so sah echte Magie nun mal aus – unsittlich, dekadent, pervers. Willkommen in Yale. Sir, yes, Sir.

Ein Speichelfaden hing von Jacob Yeshevskys Mund herab, während er in dieser tiefen, unnatürlichen Hocke wartete, hin und her schaukelte, leicht mit den Zehen wackelte, die Augen rollte, das personifizierte Groteske.

»Ist der Schreiber bereit?«, fragte der Priester.

»Bin ich«, antwortete einer der Lettermen, der verschleiert auf einem kleinen Balkon über ihnen hockte.

»Dann sprich«, dröhnte der Priester. »Solange du kannst. Beantworte unsere Fragen und begib dich wieder zur Ruhe.«

Er nickte dem General zu, der räusperte sich.

»Wer war dein erster Kontakt am FSB?«

Yeshevskys Körper wanderte im Krebsgang nach links, nach rechts, nach links, mit dieser unheimlichen Geschwindigkeit. Alex hatte im vergangenen Jahr ein bisschen über Golems und glumae recherchiert, aber sie hatte keinen Schimmer, wie sie ein solches Ding bekämpfen sollte, wenn es auf sie zugestürmt käme. Yeshevsky bewegte sich auf dem Boden von Messingbuchstabe zu Messingbuchstabe, als wäre der ganze Raum ein Hexenbrett. Die Leiche schlingerte darüber wie ein Münzrohling, und der Schreiber dokumentierte von oben jede Pause. Immer wenn der Körper langsamer wurde, gab der Priester etwas in die Flamme und erzeugte blauen Rauch. Die Schlange erhob sich, schlängelte sich über den Boden, biss Yeshevsky und injizierte ihm, was auch immer sie in ihren Giftzähnen hatte.

Es ist nur eine Leiche, ermahnte sich Alex. Aber das stimmte nicht so ganz. Ein Teil von Yeshevskys Bewusstsein war zurückgeholt worden, um die Fragen des polternden Generals zu beantworten. Würde er hinter den Schleier verschwinden, wenn diese kranke Angelegenheit vorbei war? Kehrte er unversehrt in das Leben nach dem Tod zurück oder hatte er gelitten unter dem Horror, zurück in seinen leblosen Körper gestopft worden zu sein?

Deshalb hielten sich die Grauen von Book and Snake fern. Nicht weil ihre Grabstätte aussah wie ein Mausoleum, sondern weil die Toten nicht so behandelt werden sollten.

Alex betrachtete die verschleierten, gesenkten Köpfe der Lettermen.

Ihr tut gut daran, eure Gesichter zu verbergen, dachte sie. Wenn eure Zeit kommt, wird auf der anderen Seite jemand warten und euch die Rechnung präsentieren.

3

Wie sich herausstellte, dauerte es sehr lange, sich von einem wiederbelebten Leichnam Buchstabe für Buchstabe eine Nachricht diktieren zu lassen; erst um zwei Uhr morgens endete das Ritual endlich. Während Alex den Kreidekreis wegwischte, achtete sie darauf, dem Hohepriester weiträumig aus dem Weg zu gehen. Sicher würde es ihrer neuen Strategie, keine Wellen zu schlagen, gar nicht gut bekommen, wenn sie einem namhaften Alumnus das Knie in die Eier rammte.

»Calista«, sagte sie leise und winkte die Delegationspräsidentin heran.

»Vielen, vielen Dank, Alex! Vergil, meine ich.« Sie kicherte. »Es hat alles so gut geklappt.«

»Jacob Yeshevsky ist da vermutlich anderer Meinung.«

Wieder lachte sie. »Sehr wahrscheinlich.«

»Was passiert jetzt mit ihm?«

»Die Familie glaubt, dass er eingeäschert wird, also schicken wir ihnen seine Asche. Keine große Sache.«

Alex sah hinüber zu der Kiste, in der Yeshevskys Leiche transportiert worden war. Als der General seine Antworten erhalten und das Ritual mit einem letzten Gongschlag geendet hatte, war der Leichnam nicht einfach in sich zusammengefallen. Es hatte eine Weile gedauert, bis er müde wurde, und bis dahin war er weiter über die Buchstaben gekrabbelt. Was auch immer er hatte mitteilen wollen, niemand hatte sich die Mühe gemacht, es aufzuschreiben, und der Anblick des Leichnams, der fieberhaft über den Boden tanzte, Wort um Wort zusammensetzte – unverständlichen Buchstabensalat, einen Hilferuf von jenseits des Grabes oder das Bananenbrotrezept seiner Großmutter –, war irgendwie noch schlimmer gewesen als alles davor.

»Keine große Sache«, echote Alex. »Was hat er buchstabiert, am Ende?«

»Irgendwas über Muttermilch. Oder die Milchstraße.«

»Bedeutungslos«, sagte der Hohepriester. Er hatte Schleier und Robe abgelegt und trug jetzt Hose und Hemd aus weißem Leinen, als käme er gerade von einem Strandspaziergang auf Santorin. »Eine kleine Panne. Kommt schon mal vor. Ist noch viel schlimmer, wenn der Leichnam nicht mehr frisch ist.«

Alex warf sich den Rucksack über die Schulter. Sie wollte unbedingt von hier verschwinden. »Ah, na dann.«

»Vielleicht hatte es ja mit dem Weltraumprogramm zu tun«, sagte Calista und warf dem Alumnus einen flüchtigen Blick zu, wie um Anerkennung suchend.

»Es gibt noch Drinks im …«, begann der Hohepriester.

Doch Alex bahnte sich bereits einen Weg durch den Tempelraum in die Eingangshalle. Sie verlangsamte ihre Schritte erst, als sie das Mausoleum von Book and Snake mit seinem Rosengestank hinter sich ließ und in die Nacht hinaustrat – die Luft noch immer warm vom letzten Seufzer des Sommers, der Himmel über New Haven sternenlos.

 

Alex war überrascht, Dawes in der Hütte vorzufinden. In Cargoshorts und einem weißen T-Shirt saß sie barfuß im Schneidersitz auf dem Teppich, ihre Karteikarten lagen in ordentlichen Stapeln um sie herum, und ihre Haare steckten in einem schiefen Dutt. Ihre Tevas hatte sie an der Tür stehen lassen.

»Und?«, fragte sie. »Wie war’s?«

»Die Leiche hat sich losgerissen, und ich musste sie mit der Phantomschlinge einfangen.«

»O Gott.«

»Jep«, sagte Alex und ging ins Badezimmer. »Hab mein Lasso geschwungen und die alte Mähre bis nach Stamford geritten.«

»Alex«, sagte Dawes ungeduldig.

»Es ist alles gut gelaufen. Aber …« Alex zog sich aus, sie konnte es kaum erwarten, den Geruch des Unheimlichen loszuwerden. »Ich weiß nicht. Am Ende ist die Leiche irgendwie ausgerastet. Hat irgendwas von der Milchstraße oder von Muttermilch oder Milch für seine untoten Cornflakes buchstabiert. Das war echt gruselig.« Sie ließ das Wasser in der Dusche laufen. »Hast du Anselm gesagt, dass wir am Samstag keine Zeit haben, den neuen Prätor kennenzulernen?« Als Dawes nicht antwortete, wiederholte Alex ihre Frage: »Ich kann den neuen Prätor am Samstag nicht treffen, okay?«

Nach einem langen Moment des Schweigens sagte Dawes: »Ich hab’s Anselm gesagt. Aber das verschafft uns höchstens eine Woche. Vielleicht … vielleicht ist der Prätor ja ganz aufgeschlossen.«

Das bezweifelte Alex. Lethes Geschichte war zwar voller Draufgänger: Lee De Forest beispielsweise hatte einen campusweiten Stromausfall verursacht und war daraufhin suspendiert worden; und einer der Gründer, Hiram Bingham III., hatte in Peru Artefakte geklaut, obwohl er keinen blassen Schimmer von Archäologie gehabt hatte. Trotzdem gingen die Chancen gegen null, dass Lethe jetzt einen kleinen Rebellen zum Prätor gemacht hatte, nicht nach den Ereignissen des letzten Jahres. Und nicht, solange Alex mit von der Partie war. Sie war immer noch eine unbekannte Variable, ein Experiment, dessen Ergebnis sie erst abwarten wollten.

»Glaub mir, Dawes. Wer immer dieser Typ ist, er wird uns keinen Ausflug in die Hölle genehmigen.«

Sie entzündete das Räuchergefäß mit Zeder und Palo Santo, stieg unter die Dusche und spülte den Gestank des Unheimlichen mit Verbeneseife ab.