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Aus Anlass des 70. Geburtstages am 5. September 2005: Das erste und einzige autobiographische Buch des einzigartigen Schauspielers, Satirikers und Kabarettisten: Dieter Hallervordens autobiographischer Blick zurück nach vorn. Er präsentiert mit seinem Buch Heiteres, Ironisches, Spöttisches – ein großes Mosaik seines bisherigen Schaffens. Das Buch ist nicht nur ein amüsantes Lesevergnügen, sondern auch Wegweiser und Begleiter durch die Welt des Menschen Dieter Hallervorden.
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Seitenzahl: 275
Dieter Hallervorden
Rita? Genau! Sie hieß Rita – meine erste Jugendliebe. Soweit man bei Vier- bis Fünfjährigen überhaupt schon von Jugend sprechen kann. Wir spielten über Wochen, Monate, Jahre hinweg – Tag für Tag. Und wenn wir uns verabschieden mußten, um getrennt voneinander die Nacht in unseren jeweiligen elterlichen Behausungen zu verbringen – diesen Moment des Abschieds gestalteten wir regelmäßig zum absoluten Höhepunkt unseres Zusammenseins: Auf dem spärlich erleuchteten Treppenflur rissen wir uns Unterhose respektive Schlüpfer herunter und beäugten gegenseitig unsere Genitalien. Eine aufregende Angelegenheit! Wiewohl ich anfangs ein gewisses Mitleid für Rita empfand, denn da fehlte doch ganz offensichtlich was.
Ich hielt sie ganz einfach für behindert. Erst geraume Zeit später wurde mir klar, wieviel Vergnügen beiden Seiten die unterschiedliche Ausgestaltung doch bereiten kann ...
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Aber kann man ein Buch so beginnen? Oder vielleicht doch lieber so: Ich mag 15 gewesen sein, als mich ein schwerreicher Onkel aus Westberlin einlud, ihn zu besuchen. Aus dem verschlafenen Provinznest Dessau kam ich zum ersten Mal in die neonglitzernde Welt des Kurfürstendamms. Und dort führte mich Onkel Kurt – er war klein, relativ unansehnlich und nur etwa zwölf Jahre älter als ich – kurzum, er führte mich in ein Etablissement namens Femina-Bar. Dort spielte spätnachmittags eine Combo, man saß an Tischen um das Podiumrund und nippte distinguiert an diversen Getränken.
Der Clou war eine blendend aussehende blutjunge Sängerin, der ich auf Anhieb verfallen war. Da ich sehr wohl bemerkte, daß Onkel Kurt alles andere als unbeeindruckt war von ihren wundervollen Körpermaßen, von ihren endlos langen Beinen, von ihrer gespielt unschuldigen, naiven Ausstrahlung, ließ ich mich »überreden«, ihn Nachmittag für Nachmittag in die Femina-Bar zu begleiten. Bei unserem vierten Besuch trug die Traumfrau ein hautenges Kleid und sang mit betörender Stimme »Ich zähl’s mir an den Knöpfen ab – ja, nein, ja, nein, ja –, ob ich bei dir Chancen hab ...«
Ich saß mit Onkel Kurt in der ersten Reihe – ganz dicht am Podium. Sie streifte mich lächelnd mit einem Blick, und bei der Wiederholung des Refrains sprang ihr in Busenhöhe ein Knopf von der Robe. Direkt vor meine nichtswürdigen Füße. Diensteifrig bückte ich mich, um diese Reliquie vom staubigen Fußboden wieder in die Hände des singenden Engels gelangen zu lassen. Im Wiederaufrichten stieß ich unglücklicherweise an ein Champagnerglas, in dem Bemühen, selbiges am Herunterfallen zu hindern, kippte ich das Tischlein zur Seite. Eine Kakophonie von zerberstendem Glas, Sektkübelgepolter und dem spitzen Aufschrei einer Dame, deren Fuß von der Tischkante malträtiert wurde, unterbrach die gepflegte wohlsituierte Atmosphäre.
Meine Gesichtsfarbe – zuvor schon alles andere als blaß – wechselte zu karmesinrot. Der Geschäftsführer näherte sich, und wir wurden hinauskomplimentiert.
Tags darauf schickte ich meiner Angebeteten, verbunden mit einem sicherlich äußerst gedrechselten Entschuldigungsschreiben, den Knopf zu und erhielt einen netten Antwortbrief samt Autogramm, das lange Zeit Abend für Abend mit mir schlafen ging.
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Oder sollte man mit den vier Bildern beginnen, die unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingebrannt sind. Nicht einfach nur als Erinnerung. Nein, wenn ich die Augen schließe, kann ich jede dieser vier Momentaufnahmen so klar erkennen, als würde mir jemand ein Foto hinhalten.
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Erstens: Ich bin als Neunjähriger bei den Pimpfen. In Quedlinburg, wohin ich evakuiert worden bin, sind aus allen Stadtteilen Hunderte von Jungen zu Spielen zusammengeführt worden, die sämtlich aus Kampfübungen bestehen. Wir befinden uns auf einer riesengroßen Wiese. Es ergeht lautstark die Anweisung, jeder solle sich auf das gleich folgende Kommando einen Gegner suchen und ihn besiegen. Mich schüttelt es förmlich bei dem Gedanken, mich jetzt gleich völlig grundlos mit einem Wildfremden prügeln zu müssen.
Das Kommando ertönt, und sofort ist die Wiese übersät mit kleinen Jungen, die, im Gras liegend, miteinander raufen und aufeinander einhauen. Und in der Mitte dieses ringenden Getümmels steht als einziger ganz allein Klein-Dieter ohne Gegner und kann sein Glück gar nicht fassen. Seit dieser Zeit mag ich ungerade Zahlen.
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Zweitens: Das Kriegsende naht. Unsere Familie erwartet in Quedlinburg mit Bangen die Ankunft meines Vaters, der sich aus dem total zerbombten Dessau zu uns durchschlagen soll. Mein Vater war nach schwerer Krankheit doppelseitig beinamputiert und mußte die beschwerliche Reise also mit Hilfe zweier Gehprothesen in Angriff nehmen. Und ich kann heute im nachhinein nur erahnen, wieviel Mut, wieviel Tatkraft nötig gewesen sein mögen, um in den Wirren der letzten Kriegstage diese abenteuerliche Reise überhaupt auch nur anzutreten. Wieder mal wartet meine Mutter mit mir am Bahnhof, und tatsächlich: Vom Waggon eines Güterzugs klettert mein über alles geliebter Vati herunter. In der Hand hält er, was er hat retten können: einen Kochtopf!
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Drittens: Kurz vor Kriegsende wurde an die Bevölkerung verteilt, was ursprünglich mal für die Soldaten gedacht war, die inzwischen gefallen waren. Konservendosen, Wolldecken, Wehrmachtsmäntel. Meine Mutter hatte sich – wiewohl im sechsten Monat schwanger – in die Menge gestürzt und für die Familie so einiges im wahrsten Sinne des Wortes erobert. Auch einen Wehrmachtsmantel mit Hakenkreuzbinde. Und als Ende April die amerikanischen Soldaten auf Panzern in die Stadt einfuhren, stand ich kleiner Knirps vor unserem Haus auf der Straße. Sozusagen zur Begrüßung. Ich hatte mir den langen Wehrmachtsmantel angezogen, riß den rechten Arm mit der Hakenkreuzbinde nach oben und brüllte: Heil Hitler.
Soweit die Momentaufnahme. Und heute überlege ich mir manchmal: Nehmen wir mal an, ein GI hätte am Vortag durch Heckenschützen seinen besten Kameraden verloren. Wäre es da nicht menschlich nachvollziehbar gewesen, wenn er angesichts dieses »Heil Hitler« schreienden Rotzlümmels die Nerven verloren hätte? Es war mein Vater, der mich ins Haus holte und womöglich vor Schlimmerem bewahrte.
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Viertens: Jahre sind vergangen. Ich bin inzwischen in der zwölften Klasse kurz vorm Abitur. März 1953. Josef Wissarionowitsch Stalin hat glücklicherweise den Löffel abgegeben. Auf dem Portal vor dem Anhaltischen Theater hat man auf Anweisung der SED-Parteiführung einen Sarg aufgestellt, bedeckt mit dem Banner der großen ruhmreichen Sowjetunion. Alle Schüler der Stadt müssen an diesem Sarg vorbeidefilieren und als Zeichen der letzten Ehrerbietung die Mütze ziehen. Nicht nur mir ist klar, daß die Holzkiste leer ist. Scherzend sage ich zu dem neben mir defilierenden Mitschüler:
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß es der letzte Wunsch des großen Vaters aller Werktätigen gewesen ist, zum Abschluß noch mal ’n bißchen in Dessau vorm Theater rumzuliegen ... Er konnte sich doch ausrechnen, daß man ihn in dem Zustand sowieso nicht mehr auf die Bühne läßt!«
Vor einem leeren Sarg den Hut ziehen ... hatte ich da nicht irgendwann mal was Vergleichbares bei Wilhelm Tell gelesen?
Fazit: der siebzehnjährige Dieter behält die Mütze auf. Ein Lehrer bedeutet mir in Kurzform: Entblößter Kopf bei Passieren des Sarges gleich Abitur. Bedeckter Kopf bei Passieren ebendieses Sarges gleich mangelhaftes Klassenbewußtsein gleich Abitur ade! Ich behalte die dämliche Mütze auf meinem Dickschädel. Und schulde im nachhinein einem Mitschüler Dank dafür, daß er mir die Mütze vom Kopf haut.
Momentaufnahme: Meine stolze Mütze segelt vor einem leeren Sarg durch die Luft – und verschafft mir die Grundvoraussetzung fürs Studium.
Mein ganz persönlicher Urknall ereignete sich an einem 5. September in der Stadt Dessau. Wie sang Helge Schneider bei meiner Geburtstagsgala so treffend:
Im Jahre neunzehnhundertfünfunddreißig
war eine Dame ganz besonders fleißig.
Sie kriegt ein Kind mit ’nem Gesicht,
doch zu ’nem Säugling paßt die alte Fresse nicht!
Na ja, ganz so schlimm war’s denn doch nicht. Obwohl: Wenn ich mich an die ersten Fotos des kleinen Dieter Hallervorden erinnere, sehe ich eigenartigerweise einen kugelrunden Kopf mit Vollglatze vor mir. Ich sah quasi aus wie eine auf Hochglanz polierte rosafarbene Bowlingkugel.
Sprechen soll ich auch erst recht spät gelernt haben. Von meiner Mutter wurde zur allgemeinen Erheiterung immer und immer wieder erzählt, daß sie Fremden gegenüber ständig als Dolmetscher fungieren mußte, sobald ich mich verbal äußerte. So sollte ich in einem Feinkostladen eine Bestellung aufgeben. Der Text lautete: Ein Pfund Kaffee bitte! Artig wartete das etwa dreijährige Dieterchen, bis es an der Reihe war. Meine Mutter flüsterte mir noch mal zu: »Ein Pfund Kaffee, bitte!« Darauf ich zur Verkäuferin: »Huhugeigi!« Hatten sie aber leider nicht vorrätig ...
Auch in vielen anderen Läden, in die mich meine optimistische Mutter führte, schüttelte die jeweilige Verkäuferin nur mitleidig den Kopf. Für mich Dreikäsehoch stand irgendwann eindeutig fest: Huhugeigi war in der ganzen Stadt vergriffen.
Wenn in meiner Entwicklung je etwas schiefgelaufen sein sollte, kann ich mich zu meinem Leidwesen auf schwere Jugend oder chaotisches Elternhaus nicht berufen. Alles verlief im wesentlichen in liebevollen und fürsorglichen Bahnen, so daß es mir just an dieser Stelle dummerweise an jeder Form von gehässigem Seitenhieb auf meine Erzeuger mangelt.
Klar, es wurden Grenzen gesetzt, aber Strafen hielten sich rückblickend in erträglichen Grenzen. Eine besonders schwere Missetat wurde allerdings mit ein paar Hieben bedacht, die mittels einer siebensträhnigen Peitsche verabreicht wurden. Aber auch das nur ein einziges Mal, vielleicht auch, weil ich dieses Gerät schnellstens so versteckte, daß es nie wiedergefunden wurde. Und Teppichklopfer kommen auf Gesäßteilen ja längst nicht so nachdrücklich zur Geltung wie ein »Siebensträhniger«.
Aber da ich, wenn ich ehrlich wäre, zugeben müßte, daß ich im Befolgen von erzieherischen Ratschlägen nicht eben mustergültig war, besteht wahrlich kein Anlaß, hier groß Klage zu führen. Ob ich in die Kohlenschütte pinkelte oder antike Möbelstücke mit Tintenmalerei veredelte, ob ich einer Passantin mit Schneebällen die Brille von der Nase schoß oder meine kleine Schwester für ein paar Stündchen im Klo in Einzelhaft nahm – es wurde letztendlich großzügig verziehen! Nach einer gewissen Wartefrist! Da mußte man schon mal ein paar Tage Geduld aufbringen. Seitens meiner Eltern! Weil ich unendlich lange brauchte, bis ich mich zu einer wohlformulierten Entschuldigung bequemte.
Mein Vater war Diplomingenieur und arbeitete als Flugzeugkonstrukteur bei Junckers. Er hatte eine schwere Erkrankung überlebt, die eine doppelseitige Beinamputation zur Folge hatte. Nie, in keiner Situation, nie hat er mich auch nur andeutungsweise daran erinnert, darauf Rücksicht zu nehmen. Er hat – und das bewundere ich natürlich erst im nachhinein – er hat sein Leben gelebt, als würde diese Behinderung nicht existieren.
Eine Erzählung von ihm werde ich nie vergessen. In den letzten Kriegstagen versucht er sich – wie schon berichtet –, von Dessau nach Quedlinburg zu seiner Familie durchzuschlagen. Er tut das mit seinem Auto, das auf Grund seiner Behinderung für ihn umgebaut wurde: das Gaspedal ist links, Bremse rechts. In Halberstadt wird er von zwei Wehrmachtsoffizieren, die sich offensichtlich auf der Flucht vor den amerikanischen Truppen befinden, gestoppt. Sie requirieren das Auto aus »verteidigungstechnischen« Gründen. Der Hinweis meines Vaters auf seine Gehprothesen und das dementsprechend umgebaute System der Fußpedale bleibt für die Herren Offiziere unerheblich. Sie lassen ihn stehen, und er darf zusehen, wie sie den Wagen voll gegen die nächste Wand fahren. Genau so, wie sie es in treuer Pflichterfüllung mit der ganzen Nation getan haben.
Seit frühester Kindheit schüttelt es mich, wenn ich – bei welcher Gelegenheit auch immer – etwas von Soldatenehre höre.
Meine Mutter – ich widme ihr später ein Extrakapitel – war Arzthelferin im Fachbereich HNO. Und meine Großeltern väterlicherseits waren einfach klasse. Großvater war Gartenarchitekt. Er hat seinerzeit die Neuanlage des Botanischen Gartens in Dahlem geplant und geleitet; unter seiner Ägide entstanden dort die Teiche, ein Teil der Felsanlagen und die Pflanzungen im Arboret. Später hat er als Gartenarchitekt die Verwaltung des gesamten Herzoglich Anhaltischen Besitzes an Gärtnereien und Parks übernommen.
Zwanzig Jahre lang hat er sich intensiv bemüht, den kunsthistorisch wichtigen Anhaltischen Gartenbesitz zu erhalten und großenteils wiederherzustellen. Bis er – das Datum ist bezeichnend – am 1. April 1939 von den Nazis in den Ruhestand getreten wurde. Sein Vergehen: Er hatte ein paar Sieg-Heil-rufende Randalierer daran gehindert, die Synagoge im Wörlitzer Park in Brand zu stecken. Wenn man auf so einen Opa nicht stolz sein darf, auf wen dann?
Nun heißt es ja immer: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm! Daran besteht bei mir denn doch leiser Zweifel, denn:
Mein Großvater konnte wunderbar zeichnen und malen. Wenn ich dagegen einen Elefanten male, hält das mein Sohn für einen Tintenfisch!
Mein Vater konnte – nach Durchführung entsprechender Experimente in einem Windkanal – auf den Bruchteil eines Millimeters den Kippwinkel von Flugzeugtragflächen berechnen. Ich jedoch war in Mathe die Niete par excellence.
Meine Mutter assistierte bei Operationen. Mir wird schon schlecht, wenn ich eine Spritze nur von weitem sehe.
Meine Oma konnte wunderbar kochen. Ich auch! Aber eben nur Tee, Kaffee und Eier. Meine Oma machte künstlerische Holzschnitzarbeiten, ich komme mit dem Messer allenfalls beim Essen zurecht.
Und trotz alledem: Wenn man sich im Bildteil dieses Buches den Kupferstich meines Vorfahren aus dem 17. Jahrhundert anschaut, erkennt man mit genügend Einfühlungsvermögen, daß ich eben doch ein echter Hallervorden bin.
Andere mögen Stolz darüber empfinden, Deutscher zu sein – mir reicht es völlig, stolz auf meine Vorfahren sein zu können ...
Es gilt unter Fachleuten als gesicherte Erkenntnis, daß das Elternhaus für die Entwicklung eines Kindes von ausschlaggebender Bedeutung ist. Irgendwie einleuchtend, daß das Kind einer Waldorf-Lehrerin ’n bißchen anders aufwächst als das Kind einer Damenringkämpferin.
Meine Mutter war glücklicherweise weder das eine noch das andere, sie war – wie schon erwähnt – Arzthelferin und brachte in unserer Familie ganz schön Leben in die Bude. Sie sprühte vor phantasievollen Einfällen und war eine Frau, die ständig den Schalk im Nacken hatte. Zwei Schnurren will ich hier mal zum besten geben.
Da wird sich jetzt mancher denken: Was soll denn das jetzt? Warum kommt er uns jetzt mit irgendwelchen Familientratsch? Aber: Geduld! Sie werden gleich begreifen, warum.
Also: Wir sitzen beim Mittagessen, ich will mir gerade die Nachspeise einverleiben, da sagt meine Mutter vorwurfsvoll zu mir: »Ich hab’ dich jetzt in den letzten zwei Tagen mindestens fünfmal gebeten, die Süßkirschen abzuernten. Resultat: nischt! Gar nischt! Na, da muß ich das auch mal wieder alleine machen.« Steht auf, verläßt den Mittagstisch, geht in den Garten.
Ich denke: »Wenn sie nur ’n bißchen Fußball spielen könnte, würde sie diese blöden Kirschknubbel auch am Baum hängenlassen.«
Will mir grade noch ’n Nachschlag vom Grießpudding reinziehen, da höre ich einen entsetzlichen Schrei meiner Mutter – und danach Totenstille. Ich eile nach draußen, und schon von der Terrasse aus sehe ich: Die Sprossenleiter hängt im Kirschbaum auf halb acht, und darunter liegt in völlig verrenkter Haltung meine Mutter. Leblos!
Ich stürze hin, und meine Mutter richtet sich freudestrahlend auf, will sich schier ausschütten vor Lachen über ihre gekonnte Inszenierung und darüber, wie perfekt ich ihr auf den Leim gekrochen bin.
Ein andermal: Meine Mutter muß schwerkrank das Bett hüten. Das Schlafzimmer liegt im ersten Stock, direkt darunter befindet sich unser Eßzimmer. Wenn meine Mutter irgendwas braucht, klopft sie mit einem Besenstiel auf die Dielen, unten fährt man vor Schreck wie von der Tarantel gestochen zusammen, und ich eile dann schnurstracks nach oben, um mich zu erkundigen, was es denn diesmal sein darf: Kaffee oder Käse, Becher oder Bürste, Teller oder Tasse.
Das Klopfen ertönt. Die Intensität verdeutlicht: Dringlichkeitsstufe eins. Ich spurte die Treppe rauf, öffne die Tür und befinde mich in einem absolut abgedunkelten Schlafzimmer direkt vor einem Totenkopf mit leuchtenden Augen.
Meine Mutter hatte einen leeren Puppenkopf auf einer Kommode installiert, in diesem Kopf mit seinen leeren Augenhöhlen brannte eine Kerze.
Erst hörte man meinen tierischen Schreckensschrei und dann das amüsierte Lachen meiner Mutter. Sie konnte wirklich recht zufrieden sein: Gute Idee, erstklassige Ausführung, äußerst zufriedenstellender Abschluß! Es ging ihr gleich ein bißchen besser. Und nur wenig später stimmte ich in ihr Lachen ein.
Und damit dürfte die Frage, wo denn die Quelle liegt für meinen schwarzen Humor und meinen Sinn für Schadenfreude – diese Frage dürfte mit diesem Kapitel eindeutig geklärt sein.
Ein echt rewoluzionäres Ächsperiment. Das Wort Asfalt jetzt endlich mit f – da will man doch kein Filister sein und schreipt in Zukunft folgerichtig: Fosfor, Farmazeut, Fleckma, Füsick, filosofieren, Fillipienen – das sieht doch fantastisch aus und ist fonetisch fänomehnal.
Ich finde es einfach ärgerlich, wenn Leute ohne sprachgeschichtliche Kenntnisse und mit offenbar sehr wenig Gefühl für Sprache sich erdreisten, uns neue Rechtschreib- und Interpunktionsregeln vorzuschreiben, die unsinnig sind.
Die Reform schreibt zum Beispiel die konsequente Getrenntschreibung von Prädikativum plus Partizip vor, also nicht mehr alleinstehend sondern: allein stehend. Das folgende Beispiel aus dem Internet zeigt, wie durch Befolgung dieser Regelung der ursprüngliche Sinn eines Satzes eine äußerst zweideutige, anzügliche Note bekommt: »Frau Pfarrer versorgte eigenhändig die allein stehenden Glieder der Gemeinde.«
Für den sinnentstellenden Effekt einer freien Interpunktion gab Dr. Näser ein ebenso einleuchtendes wie humoriges Beispiel: »Er fuhr um die Kurven seiner Frau und dem Hund wurde schlecht.«
Darüber hinaus hat wohl bei den sogenannten Reformen niemand bedacht, welch verhängnisvolle Auswirkungen dieses Wirrwarr auf den Deutschunterricht im Ausland hat. In Frankreich ist der Anteil an Schülern und Studenten, die Deutsch lernen wollen, drastisch zurückgegangen. Kein Wunder, weil sich hier Deutschlehrer seit Jahrzehnten um die Vermittlung von richtiger Orthographie bemüht haben und nun als Lehrpersonal selber verunsichert sind.
Franzosen – und nicht nur sie – stehen vor einem Rätsel, wenn sie jetzt schreiben sollen: »Er war ihm Spinnefeind!« Sie fragen mit gutem Recht: »Warum darf spinnefeind jetzt groß geschrieben werden? Es ist doch kein Substantiv, denn es gibt ja keinen ›Spinnefeind‹!«
Wenn französische Kultusminister ihr kulturelles Sprachgut genausowenig schützenswert fänden wie ihre deutschen Kollegen, wohin würde das aus purer Vereinfachungssucht wohl führen. Ein Beispiel an Stelle vieler Möglichkeiten, es sich bequemer zu machen, soll hier genügen.
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Für den deutschen Umlaut ä gibt es im französischen sieben (!) unterschiedliche Schreibweisen: è, ê, ai, ei, e, ë, et. Bestimmt schwer zu lernen für Kinder! Sehr schwer! Man greife deswegen zur Vereinfachung eine Möglichkeit heraus und erhebe sie zur Regel. Wir nehmen als Beispiel folgenden idiotischen Satz:
Zu Weihnachten geht die Großmutter zum Fenster, um sechzehn Walfische zu beobachten, die sich um einen grünen Stein herum vergnügen.
Das würde bisher im Französischen so geschrieben: »A Noël la grand-mère va à la fenêtre pour observer seize baleines s’ébattant autour d’un galet vert.«
Und jetzt – welche Freude für Kinder, welch Albtraum für kulturbewußte Sprachfeinschmecker – würde man die oben erwähnten Möglichkeiten auf eine, nämlich: ai, reduzieren und das würde dann so aussehen: »A Noail la grand-maire va à la fenaitre pour observer saize balaines s’ébattant autour d’un galait vairt.«
Gelesen würde sich phonetisch nichts ändern, geschrieben jedoch offenbart sich die Kulturschande. Da Franzosen aber wissen, daß die zu schützende Umwelt nicht nur aus Luft, Wasser, Boden, Pflanzen- und Tierwelt besteht, bleibt es deutschen Kultusministern vorbehalten, den ersten Schritt zu tun.
Beginnen könnte man bei der vereinfachten Rechtschreibung von Wörtern, die aus dem französischen Wortschatz stammen. Man sollte sie konsequent so schreiben, wie sie gesprochen werden.
Zum Beispiel folgendermaßen: Ich sitze hier bei Fromasch und Krähm fräsch in meiner Mäsonett auf’m Schäselonk und seh mir auf Premjähre ’ne Sendung über Wernissasch und Oht Kutür an.
Bevor das alles so kommt, schreibe ich dieses Buch mal lieber noch so, wie ich es gelernt habe. Und zwar Frase für Frase – und erflähe dafür Ihr Ferschtäntnis. Merssi bokuh!
Zur Schule ging ich ungefähr so gern wie zum Zahnarzt. Obwohl ich stets und ständig der Klassenbeste war – im unteren Mittelfeld. Aber immerhin: Im Mittelfeld war ich – unten – der Beste! In manchen Fächern stark abstiegsgefährdet.
Von Chemie zum Beispiel verstand und verstehe ich so viel wie ein buddhistischer Mönch von Bordellpreisen. Meine mitunter mangelhaften Leistungen wurden von den Paukern jedoch zu Unrecht auf reduzierte Auffassungsgabe oder Konzentrationsschwäche zurückgeführt. Ich hatte vielmehr spätestens seit der siebten Klasse erkannt: Hey, hier stopft man mich ja mit Wissen voll, das ich im späteren Leben genauso nötig brauchen werde wie ’ne Milchkuh den Guide Michelin.
Verdampfungstheorien, Klimazonen, H2SO3, russische Grammatik, Funkeninduktoren, Marxismus-Leninismus, Wurzelziehen – und das alles unter dem Motto: non scolae sed vitae discimus. Wollten die mich verscheißern? Mit unendlicher Geduld machte mir mein Vater klar, daß man sich seinem Ziel manchmal auf Umwegen nähern muß. Der Umweg war nach leidvoller Erfahrung klar skizziert: Verdampfungstheorien etc. Aber wo war das Ziel?
Damit meine spätere Berufswahl sich nicht in der Alternative Müllkutscher oder Kohlenhändler erschöpfte, gab mir mein Vater vier Etappenziele. Erstens: gute Noten, zweitens: Zulassung zur Oberschule, drittens: Abitur, viertens: Studium. Es handelte sich für mich als Zwölfjährigen also mehr um eine Art Fernziel.
Selbst mit Feldstecher kaum auszumachen ... Trotzdem nahm ich die Herausforderung an. Mit kräftigen Schritten wurde der vermaledeite Umweg durchmessen. Keine Einbahnstraße war vor mir sicher, jede Sackgasse wurde mit Akribie erkundet. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten, ich verließ das Mittelfeld – mit der Startgeschwindigkeit einer Rennschnecke. Legte aber ständig an Tempo zu, so daß die Lehrer einen Großteil ihrer Energie darauf verwendeten, herauszufinden, wo dieser Faulpelz Hallervorden denn bloß abschrieb.
Es machte mir einen Heidenspaß, Schwierigkeitsgrade pfiffig zu umschiffen. In Biologie lautete z. B. die Aufgabe: Beschreibe die verschiedenen Entwicklungsphasen im Leben eines Tieres! Und welches Tier wählte ich? Die Eintagsfliege! Schade, daß viele Lehrer wenig Humor haben ...
Schließlich der Tag der Entscheidung: achte Klasse, Abschlußprüfung. Wenige Tage vorher läßt ein Lehrer einen Hefter mit Prüfungsfragen geradezu einladend aufgeblättert rumliegen. Philanthropie? Oder Alzheimer? Wir halten uns mit der Klärung dieser Frage nicht lange auf, schreiben ab, was das Zeug hält, und pauken ab jetzt sehr zielorientiert. Bald darauf steht fest, wer diese Vorlage am gekonntesten in einen Volltreffer verwandelt: Ich erhalte eine Urkunde als Bester des Landkreises. Und damit meine Freude sich in Grenzen hält, ist diese Urkunde in ein dickes Buch eingeklebt. Es trägt den Titel: »Wie der Stahl gehärtet wurde.«
Heißa, denke ich, eins kann mir niemand mehr nehmen: den Besuch der Oberschule. (Komisches Wort! Bin ich vorher in der Unterschule gewesen?) Aber: wieder mal die Rechnung ohne den Wirt gemacht! Meine Eltern sind weder Arbeiter noch Bauern, noch gehören sie zur technischen Intelligenz. Sie erhalten also von der zuständigen Kommunalverwaltung die Aufforderung, mich bei irgendeinem volkseigenen Betrieb in die Lehre zu geben. Mein Vater verweigert die Zustimmung, behält mich entgegen den gesetzlichen Vorschriften zu Hause, rennt von Pontius zu Pilatus, um meine Ablehnung rückgängig zu machen. Acht Wochen später, nach einem Besuch beim Landesschulrat in Halle, sind seine Bemühungen endlich von Erfolg gekrönt: Ich darf wieder die Schulbank drücken ...
Daß Eltern ihre Kinder ernähren, kleiden und vielleicht auch noch ein bißchen erziehen – das kann man ja wohl von seinen Erzeugern erwarten. Aber daß mein Vater in einem relativ autoritären Regime die Zivilcourage aufbrachte, für seinen Sohn das Recht auf Bildung zu erstreiten – wer dafür nicht Dankbarkeit und Respekt empfindet, muß emotional arg verkümmert sein.
Nicht auszudenken, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich mich als Schlosser, Maurer oder Tischler versucht hätte. Gut – ich hätte die Leute mit Leistungen auf diesen Gebieten gewiß auch zum Lachen gebracht. Allerdings jeden Kunden höchstens einmal.
Mein geistiger Horizont hätte sich folgendermaßen gestaltet: Günter Grass hätte ich für ’n Samenhändler gehalten. Einstein wahrscheinlich für ’n Baumarkt. Und ein Proszenium für ’ne Geschlechtskrankheit.
Nichts gegen Schlosser, Maurer oder Tischler – aber ich wäre als knapp vierzehnjähriger Pubertant wahrscheinlich eher zum Fußball gegangen als ins Theater, ich hätte nicht Hermann Hesse gelesen, sondern Kontaktanzeigen, und ich hätte den Bildern von Picasso garantiert supergeile Aktfotos vorgezogen.
Böswillige Zungen werden behaupten: Na und? Da hätte sich dein wahres Ich doch ungehindert entfalten können ... So aber nahm ich den Umweg über vier Jahre Oberschule. Eigenartigerweise ist mir aus dieser Zeit besonders ein Erlebnis in Erinnerung geblieben. Fußballstadion. Sportunterricht. Tausendmeterlauf.
Bereits nach 50 Metern setze ich mich an die Spitze des Feldes. Halte konstant mein Tempo. Bleibe auch nach sage und schreibe 400 Metern in Führung. Eigenartig, ich spüre nicht mal den leisesten Hauch eines Atemzuges meiner Verfolger im Nacken. Ein Blick über die Schulter zeigt mir, daß meine Konkurrenten weit zurückgefallen sind. Es scheint sie jedoch zu erheitern. Komisch! Ich drehe meine zweite Runde und komme an einem Mitschüler vorbei, der sich neben der Aschenbahn auf dem Rasen wälzt und sich förmlich ausschütten will vor Lachen. Kurz vor der Ziellinie überrunde ich sogar noch zwei äußerst fröhliche Nachzügler und trabe lockerlässig aus. Geschafft!
Nachdem sich eine dreiköpfige Verfolgergruppe 30 Sekunden nach mir grinsend und kichernd über die Ziellinie schleppt, erkundige ich mich nach dem Grund für die ausgelassene Stimmung. Einer prustend: »Mensch – dein Laufstil! Du läufst ja wie ’n frisch kastrierter Erpel!«
Die Motorik meines Bewegungsablaufs hatte meine Klassenkameraden also dermaßen erheitert, daß mir vor lauter Lachen keiner Paroli bieten konnte. Kopfschüttelnd nehme ich das zur Kenntnis, ich verstand überhaupt nicht, wovon die redeten. Und insgeheim schwor ich mir: Wenn die schon über mich lachen – dann aber irgendwann gegen Geld! Aber bis dahin sollte es ja noch eine Weile dauern ...
Im Wonnemonat Mai des Jahres ’53 hieß es endlich: Penne ade! Die schriftlichen wie mündlichen Abiturprüfungstorturen waren glücklich überstanden. Gesamtnote: gut! Mit Freunden gab ich mich tagelang einer sportlichen Betätigung hin, und zwar dem einarmigen Reißen – wie wir das Stemmen von Bierkrügen nannten. Einem Studium stand nun nichts mehr im Wege. Außer der Tatsache, daß ich nicht die leiseste Ahnung hatte, womit ich später mal meine Brötchen verdienen wollte.
In welcher Fakultät sollte man sich immatrikulieren lassen, wenn man nicht weiß, was man werden will. Schließlich entschied ich mich für Medizin. Nicht erst aus heutiger Sicht der pure Wahnsinn. Denn ich habe die fatale Neigung, angesichts einiger weniger Blutstropfen ohnmächtig in eine der vier Himmelsrichtungen zu kippen. Als Arzt wäre ich in etwa so geeignet wie ein Blinder als Flugkapitän oder ein Taubstummer als Simultandolmetscher. Aber das Schicksal meint es gnädig mit mir. In der medizinischen Fakultät sind alle Studienplätze belegt. Und weil ich das große Latinum mit Eins abgeschlossen habe, empfiehlt man mir das Studium der Romanistik.
Ich habe zwar keine Ahnung, was das sein soll, aber ich greife zu. Später kann man ja wechseln. Besser Dingsdanistik als gar nischt! Aber manchmal muß man anscheinend zu seinem Glück gezwungen werden. Ich höre wunderbare Literaturvorlesungen beim großen Victor Klemperer, werde in die Geheimnisse der Sprachwissenschaft eingeführt, begreife, was es mit dem accent circonflexe im Wort fenêtre auf sich hat, lerne Französisch, Italienisch und Rumänisch.
Auch aus dieser Zeit ist mir eine absolute Nebensächlichkeit in Erinnerung geblieben. In der Pause zwischen zwei Vorlesungen trällere ich ein Liedchen in Anlehnung an eine allseits bekannte Schnulze:
»Bei einer kleinen Tasse Tee –
saß die gesamte KVP!«
Drei Tage darauf kriege ich eine Vorladung vor den universitätsinternen SED-Parteirat (oder wie der sich auch immer nannte). Ich muß mich verantworten wegen Verächtlichmachung der Kasernierten Volkspolizei. Und ich muß mir die Belehrung gefallen lassen, daß unserer KVP durchaus mehr als eine Tasse Tee zur Verfügung steht. Und zwar pro Tag und Mann!
Spätestens seit dieser Begebenheit ist mir klar: Kommunisten haben keinen Humor!
Sobald meine Französisch-Kenntnisse geringfügig über der Marke »spärlich« lagen, wurde ich als Dolmetscher eingesetzt. Ein Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs wurde durch die Hauptstadt der DDR geführt. Er wurde nicht nur aus reiner Gastfreundschaft von einem SED-Bonzen begleitet.
Ich übersetzte die Fragen des ausländischen Gastes und die Antworten des deutschen Apparatschiks. Meine Verpflichtung bestand aus zwei Punkten. Erstens: korrekte Übersetzung dieser Antworten ohne jede persönliche Bewertung und zweitens (bei vorübergehender Abwesenheit des Parteiheinis): Beantwortung aller Fragen nach bestem Wissen und Gewissen im Sinne unseres Arbeiter- und Bauernstaates.
Da passierte es denn schon mal, daß der Franzose sich außerordentlich lobend über die niedrigen Fleischpreise ausließ, bis ich ihn darauf hinwies, daß diese Preise nur für das geringe Kontingent galten, auf das man auf Lebensmittelkarten Anrecht hatte. Ich führte ihn dann vor ein Schaufenster der staatlichen Handelsorganisation, und angesichts der dort ausgepreisten Ware fiel dem französischen Kommunisten förmlich die Kinnlade auf den Bauchnabel.
Ein anderes Mal wollte unser ausländischer Gast, dem natürlich die DDR nur in den rosigsten Farben geschildert worden war – Versorgungsengpässe gibt es bei uns nicht! –, er wollte also gerne Streichhölzer kaufen. Ich führe ihn in den ersten Laden: Fehlanzeige! Ebenso im zweiten und dritten! Für einen Franzosen relativ unverständlich. Im vierten Laden gibt es endlich die ersehnten Zündhölzer. Unser ausländischer Gast möchte gern gleich drei Päckchen. Der Verkäufer winkt ab: Jeder hat Anrecht auf ein Päckchen! Aber selbst wenn er dem Gast zuliebe eine Ausnahme machen wollte, er hat nur noch dieses eine – es ist das letzte!
Der Franzose kommt sichtlich ins Grübeln ... Und ich freue mich, was ich da gerade mal wieder an »Aufklärung« bewerkstelligt habe, toll! Tja, das war eben so, wie sich Klein-Moritz den Widerstand vorstellt!
Dann aber gehe ich einen Schritt zu weit. Internationales Diskussionsforum auf der Insel Usedom. Wieder bin ich für einen ausländischen Gast zuständig, und langsam bin ich darin geübt, meine persönlichen Kommentare geschickt einfließen zu lassen. Aber vielleicht doch nicht ganz so geschickt, denn in den Blumenarrangements, die die Tische schmücken, sind Mikrophone versteckt. In einer Diskussionspause macht mich ein mir wohlgesonnener Mitarbeiter darauf aufmerksam. Die Bänder mit den Aufnahmen werden gerade zurückgespult, um anschließend ausgewertet zu werden. So schnell, wie ich damals, ist noch niemand von der Insel Usedom runter. Hastewaskannste nach Berlin, schon bin ich in meiner Untermieterbude, werfe in aller Eile meine sieben Sachen in ein Köfferchen – und dann nischt wie weg!
Mich sticht der Hafer, anstatt via S-Bahn auf schnellstem Wege nach Westberlin zu fahren, mache ich noch einen Abstecher beim Institut für Romanistik, schreibe an die Wandtafel meine ironische Adieu-Annonce und gehe anschließend – Köfferchen immer dabei – auch noch in der Mensa Mittagessen. Ein Kommilitone, seines Zeichens das, was man einen Hundertprozentigen nannte, holt mich auf dem Bahnsteig ein.
Ich steige in den Zug, und kurz bevor sich die Türen schließen, ruft er mir zu: »Du fährst in die falsche Richtung. Du wirst es bereuen. Bald, sehr bald schon haben wir dich wieder!« Im Abfahren winke ich ihm freundlich zu, schon damals fest davon überzeugt, daß es irgendwann eher genau umgekehrt geschehen würde ...
*
Von Westberlin aus schicke ich dann meiner Vermieterin noch die geschuldete Monatsmiete. Wenige Tage später schreibt sie mir: »Zwei Stunden, nachdem Sie ausgezogen sind, waren zwei Herren hier, die Sie zu einem Spaziergang abholen wollten. Beide schienen ein wenig verärgert, Sie verpaßt zu haben ...«
Junge, Junge – das war knapp!
Nachdem ich aus dem sogenannten demokratischen Sektor Berlins an die sogenannte Freie Universität in Westberlin gewechselt war, beschlich mich ein Gefühl, das ich bisher nicht gekannt hatte: das Gefühl der Einsamkeit, der Verlassenheit. Ich kannte keine Sau und keine Menschenseele in dieser unendlich großen Stadt. Zwar hatte ich zwei oder drei Verwandte vierten bis fünften Grades in Westberlin, aber mir war klar, daß es denen bedeutend lieber war, mir zweimal pro Monat ein Päckchen zu schicken, als mich einmal pro Jahr leibhaftig ertragen zu müssen.
Während ich die Gänge zur nächsten Vorlesung entlangtrottete, entdeckte ich einen Anschlag am Schwarzen Brett: Man wollte eine französischsprachige Theatergruppe gründen, Interessierte sollten sich melden. Also nischt wie hin – und ich lernte Menschen kennen, mit denen ich über das Studium hinaus noch viele Jahre in Kontakt blieb. Wir nannten die Theatergruppe »Compagnie des Inconnus«, und schon bald wurde ich innerhalb der Gruppe mit den Hauptrollen betraut.
Ich spielte unter anderem den »Malade imaginaire«, den eingebildeten Kranken von Molière, und die Titelrolle in »Les fourberies de Scapin«. Selten zuvor hatte ich so viel Spaß und Lust am Leben empfunden. Wir – aber speziell eben auch ich persönlich – bekamen phantastische Kritiken, und in mir wuchs mehr und mehr der Wunsch, aus diesem Hobby einen Beruf zu machen. Mir war damals schon klar: Viele halten sich für berufen, die Menschen als Schauspieler in ihren Bann zu ziehen. Aber nur wenige liegen mit dieser Einschätzung richtig.
Also: drei klassische Monologe einstudieren und Anmeldung zur Aufnahmeprüfung an der Max-Reinhardt-Schule zu Berlin. Nach wochenlangem Warten nahte der große Tag der Entscheidung. Mit klopfendem Herzen pilgerte ich zum heiligen Gral. Banges Warten unter Mitbewerbern. Alle viel jünger als ich. Ich werde aufgerufen. Ich betrete den Vorsprechraum, stolpere aufs Podium, werde befragt, was ich vorbereitet habe, stottere Stücktitel, Autorennamen und Rollenbezeichnung herunter, soll anfangen. Zum ersten Mal spiele ich nicht vor vollem oder gutbesuchtem Theatersaal, sondern vor drei Gestalten, die ganz offenbar auch schon mal munterer und weniger abgestumpft gewesen sein mögen. Jedenfalls in grauer Vorzeit!
Und kurz bevor ich anfange, schießt mir durch den Kopf: »Drei gegen einen – ist feige!« Aber dann lege ich los. Ich gebe den Eingangsmonolog des Sosias aus dem Stück »Amphytrion« von Kleist. Und ich gebe alles, spiele mir die Seele aus dem Hals, merke selbst, wie gut ich gerade drauf bin, gebe alles – aber nur etwa sieben Sätze lang. Dann wird abgebrochen: »Danke – das genügt!« Ich gucke erwartungsvoll vom Podium ins Halbdunkle und höre als Beurteilung: »Abgelehnt!« Ich kann es nicht fassen und frage: »Und ... äh ... und warum?« – »Wollen Sie das wirklich wissen?« fragt die Schulleiterin, eine gewisse Hilde Körber. Darauf ich: »Ja – warum nicht?« Darauf sie knallhart: »Mangels Begabung!«
Ich weiß nicht mehr, wie ich den Saal verlassen habe, ich nehme an: grußlos! Was tun? Aufgeben war von jeher nicht meine Sache. Schließlich ist mein Wahlspruch: »Ich will – und ich kann!«
Also Anmeldung zur Eignungsprüfung vor einer Kommission der Deutschen Bühnengenossenschaft. Letzte Chance! Wenn es diesmal nicht klappt, kann ich meinem Berufstraum abhaken. Dann kann ich mich als Romanistik-Student weiter damit beschäftigen, daß das Lateinische a in offener Silbe im späteren französisch zu e diphthongierte.