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Wer sucht, der findet ... nicht unbedingt das, was er wollte: Judith, die aus Frankfurt nach Irland in das Haus ihrer Freunde fährt um nach einer unglücklichen Beziehung Ruhe und Frieden zu suchen. Und die dann auf ihrem ersten Spaziergang eine Leiche findet; die Archäologen, die an St Brendan’s Well wohl nach einem Schatz graben und dabei ihr Leben aufs Spiel setzen; Johnny the Pilot, der Kumpane aus der Vergangenheit trifft, die er lieber vergessen hätte. Dafür aber: eine Liebesgeschichte mit vielleicht glücklichem Ausgang; nicht immer gutes Wetter und eine wunderschöne Landschaft im Süden Irlands, in der Grafschaft Kerry.
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Seitenzahl: 309
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Der Roman spielt in Irland, in der Grafschaft Kerry auf Valentia Island
Alle Personen und Ereignisse in diesem Roman sind frei erfunden. Wie auch nicht alle beschriebenen Orte oder Einrichtungen so aussehen oder anzutreffen sind.
Der Wagen hielt am linken Straßenrand. Die Frau deutete auf den auf der Karte markierten Kreis. „Hier“, sagte sie. Der Fahrer nickte. Vorsichtig bogen sie in die mit Schlaglöchern übersäte Straße ein. Er fuhr langsam und wich geschickt den knöcheltiefen Löchern aus, während sie nach beiden Seiten Ausschau hielt.
„Das Kreuz mit der Heiligen Quelle ist dort drüben.“ Sie zeigte mit der Hand nach rechts hinüber auf eine am Horizont kaum auszumachende Erhebung.
Der Mann schüttelte den Kopf. „Das ist aber nah an den Häusern. Merkwürdig. Obwohl, vielleicht gab es die damals nicht. Zeig mir noch einmal die Karte.“ Er hielt an.
Sie reichte ihm den Plan hinüber. „Bitte. Sieht aber danach aus, als ob es genau dort ist.“
„Okay. Aber dann müssen wir am Ende der Straße anhalten und zu Fuß weitergehen.“
„Und wie willst du die ganzen Sachen dort hinbringen? Wir können nicht die Taschen einzeln hinschleppen, das sieht doch komisch aus.“
Er überlegte kurz. „Wir fahren näher heran und sehen uns erst mal um. Was hältst du davon, heute nur einfach herumzulaufen und morgen dann richtig anzufangen? Ist unauffälliger. Einen Vorteil haben wir: wir sind die Ersten! Und gefolgt ist uns niemand, darauf habe ich geachtet.“
Sie lachte und strich sich über die kurzen blonden Haare. „Heute ein erster Blick, morgen dann mit dem ganzen Zeug. Wer sucht, der findet.“
„Gut. Jetzt erst einmal ins nächste Kaff. Ein Bett und ein Bier.“
„Einverstanden. Hast du übrigens an Gummistiefel gedacht?“
Kapitel 1.
Kapitel 2.
Kapitel 3.
Kapitel 4.
Kapitel 5.
Kapitel 6.
Kapitel 7.
Intermezzo I
Kapitel 8.
Kapitel 9.
Kapitel 10.
Kapitel 11.
Kapitel 12.
Kapitel 13.
Intermezzo II
Kapitel 14.
Kapitel 15.
Kapitel 16.
Kapitel 17.
Intermezzo III
Kapitel 18.
Intermezzo IV
Kapitel 19.
Anmerkungen
Er musste niesen. Erschrocken hielt er inne. Als sich nichts rührte, ließ er die Haustür vorsichtig ins Schloss fallen. Er horchte wieder. Nicht ein Laut war zu hören. Unzufrieden fuhr er sich über die kurzen grauen Haare, überlegte einen Moment, ob er den Wagen so laut starten sollte, dass sie aufwachte, verwarf die Idee und öffnete die Heckklappe.
Ein schaler Geruch nach kaltem Zigarettenrauch schlug ihm entgegen und erinnerte ihn unbarmherzig an die vergangene Nacht. Er unterdrückte ein Aufstoßen, aus dem hätte mehr werden können, und verzog angeekelt das Gesicht. Obwohl er (wenn er ehrlich gegenüber sich selbst war) zugeben musste, dass der Abend nett begonnen hatte: er war mit offenen Armen aufgenommen worden, und das war ihm letzthin nur noch selten passiert. Blindlings griff er nach den neben der Haustür stehenden Gummistiefeln, warf sie ins Auto und versuchte sich zu erinnern, wo er die Angelsachen zuletzt gesehen hatte.
Es waren Schwaben gewesen. Schwäbische Angler, verbesserte er sich. Erkennbar an karierten Flanellhemden, grünen Armeehosen und absolut regenfest aussehenden Wetterhüten. - Hinten am Anbau! Da hatte Andi sie vergangene Woche nach ihrer letzten Tour hingestellt.
Angefangen hatte es wohl mit den Erzählungen über die Makrelen, die es auf der Insel zu angeln gab. Vielleicht hätte er besser nicht von Hunderten sprechen sollen. Eigentlich entsprach es ganz und gar nicht seiner Art, sich einer solchen Runde anzuschließen, geschweige denn mit der Anzahl oder Größe der Fische anzugeben, die er in seinem Leben gefangen hatte. Das hatte er nicht nötig. Vor ein paar Jahren war er ganz wild aufs Fischen gewesen. Jetzt ging er nur mit Andi. Ab und zu.
Hastig nahm er Rute, Tasche und Eimer auf, überzeugte sich, dass genügend Ersatzfedern und Gewichte bereitlagen, warf alles den Stiefeln hinterher und schloss energisch die Autotür. Egal, hatte er sich eben lächerlich gemacht. Nichts im Vergleich zu der idiotischen Idee, sich so früh zum Fischen auf Culloo zu treffen. Es war nun einmal geschehen, so what.
Er streckte den Rücken, zog die Kappe aus der Jackentasche und hob den Kopf. Zum ersten Mal blickte er sich bewusst um: es war herzlich wenig zu sehen. Ein paar schwärzliche Schatten im Hintergrund deuteten das hintere Gebäude an, die Wiese selbst verlor sich in deprimierendem Nebelgrau. Dazu wehte überraschenderweise ein recht frischer Nordwest, der im Moment noch den feinen Nieselregen in lang gezogenen Schwaden vor sich hertrieb. Im Laufe des Vormittags würde er sicherlich die tief hängende Trübe vertreiben. Das Wetter bot keine Entschuldigung, stellte er bedauernd fest.
Widerwillig schob sich der Wagen, heftig schaukelnd, den Hügel hinauf. Er gähnte. Wenn er nicht diesen idiotischen Streit mit Marion gehabt hätte, dann wäre er nicht in den Pub gegangen. Dann hätte er nicht diese Idioten kennen gelernt, nicht soviel Unsinn verzapft, sich weder betrunken, noch sich auf diese blödsinnige Wette eingelassen und säße jetzt nicht zu dieser gottverdammt frühen Zeit in dem kalten, stinkenden Auto. Hätte, hätte, wäre. Er verzog den Mund.
Mein Gott, ein Streit; obwohl, den gab es in der letzten Zeit häufiger. Entweder um Andi, das Geld oder um ihren Wunsch, wieder zu arbeiten. Oder eben - um alles. Um ihr Leben, sagte sie, und er nehme sie nicht ernst. Sie brauchte nicht wieder zu arbeiten, seinetwegen nicht. Er verdiente gut, sie hatten alles – ein Haus, zwei Autos, ein Segelboot - sogar das Ferienhaus hier auf der Insel. Natürlich nahm er sie ernst: war sie zuerst nicht begeistert gewesen, dass sie nicht mehr ins Büro musste? Was hatte sich geändert? Er schnaubte durch die Nase.
Das Gatter zur Straße zwang ihn zu einem plötzlichen Halt - er sollte sich mehr konzentrieren, sonst würde am Ende nichts aus seinem Ausflug. Er stieg aus, zog das Tor auf, fuhr den Wagen auf die Straße hinaus, besann sich, machte pflichtbewusst die Warnblinkanlage an, stieg wieder aus und schob den Riegel vor. Der Esel liebte lange Ausflüge die Straße entlang.
Er fuhr, sich sorgsam an den linken Straßenrand haltend, wenig mehr als Schritttempo, da die Straße seine gesamte Aufmerksamkeit erforderte. Schmal und unübersichtlich, von Hecken und Mauern begrenzt, wand sie sich in vielen unvermittelten Kurven einmal um die ganze Insel. Trotzdem hätte er den Abzweig nach Culloo fast verpasst. Er bog ab und fluchte. Jedes Mal! Der Wagen holperte, jedes Loch voll auskostend, den von Wind und Regen ausgewaschenen Weg entlang. Jetzt, in der Vagheit des nebligen Morgens und in seiner vernebelten Wahrnehmung erschien ihm die Landschaft fast bedrohlich: das Moor war eine nasse Leere, unterbrochen von einigen stehen gebliebenen Mauerresten am Wegesrand, die kundtaten, dass es hier einmal menschliche Behausungen gegeben hatte. Selbst die Felsen von Culloo, die sich bei klarem Wetter gut sichtbar gegen den Horizont abhoben, konnte er in dem verwaschenen Grau nicht ausmachen. Auch wenn der Wind weiter aufgefrischt hatte.
Als er das Wagenfenster einen Spalt weit öffnete, bekam er einen Schwall feuchtkalter frischer Luft ins Gesicht, der ihn aufschrecken ließ. Schon wieder! Diesmal war es eine einfache Eisenstange, die von einem Steinpfosten zum anderen den Weg versperrte. Und keine Kuh weit und breit zu sehen. Er schüttelte den Kopf, knirschte leise mit den Zähnen und stieg aus dem Wagen. Er schob die Stange aus ihrer Halterung, fuhr den Wagen durch und legte die Stange wieder an ihren Platz zurück. Was die sich wegen ihrer paar Viecher alles einfallen ließen. Einfallen lassen mussten, verbesserte er sich. Clever waren sie, wenn er da nur an Will dachte. Arbeitete sich nicht tot, hatte trotzdem sein Auskommen.
Obwohl, die Zeiten änderten sich. Dieses Formular, das Will ihm gezeigt hatte, hatte er trotz seiner guten Sprachkenntnisse nicht verstanden. Europa. Er kannte sich eigentlich aus. Aber Agrarsubventionen?
Nächste Woche galt es, dann waren alle Unterschriften zusammen, alle Anträge durch und abgesegnet. Dann konnte er loslegen. Er klopfte sich innerlich auf die Schulter und lächelte zufrieden in sich hinein. Sein Projekt! Schadenfreude? Vielleicht ein wenig. Irgendwie, fand er, hatten sie es auch nicht anders verdient.
Toms Angriff hatte ihn überrascht. Auch seine Skrupel. Der würde sich mit der Zeit hoffentlich wieder einkriegen.
Nur, Marion war ganz still geworden, als er ihr seine Pläne am gestrigen Nachmittag erzählt hatte. Er hatte Begeisterung, vielleicht einen Freudenausbruch erwartet, nicht dieses Schweigen. Vor allem nicht ihren Protest, dass sie hier nicht leben wollte. Hier gab es doch alles. Fast alles. Angeschrien hatte sie ihn, dass sie hier umkomme vor Langeweile. Niemanden kenne. Allein sei. Fassungslos hatte er sie angestarrt. Sie bekamen alle naselang Besuch. Seine Geschäftsfreunde, hatte sie erwidert, seine Anglerfreunde, seine, seine, seine. Und ich? hatte sie gefragt, und was mache ich? Zuhause sitzen? Hilflos hatte er geantwortet, du hast doch mich. Und Andi. Jedenfalls, bis der in die Schule kam. Danach könne man ja sehen, hatte er eingelenkt. Es musste hier doch eine Stelle für sie geben, halbtags. Wenn sie unbedingt arbeiten wollte. Sie hatte ihn nur angesehen und gesagt, er verstehe rein gar nichts. Und war aus dem Zimmer gerannt. Ehrlich gesagt, er hatte es tatsächlich nicht verstanden. Gut, dass ihm das mit den Blumen eingefallen war. Rosen, die mochte sie. Sie würden schon eine Lösung finden.
Er blickte in den Rückspiegel und zog eine Grimasse. Lächeln, ermahnte er sich, einfach ganz entspannt lächeln. Gleich galt es. Langsam nahm er die letzte Kurve vor dem Parkplatz.
In der Gewissheit, im nächsten Moment einem Haufen aufgekratzter Männer gegenüber zu stehen, die ihm fröhlich zuwinkten, behielt er das festgefrorene Grinsen bei – aber niemand erwartete ihn, keine Männer, kein lautes Hallo, noch nicht einmal ein einsames Auto. Er hielt an und versuchte sich zu besinnen. Sie hatten sich verabredet, da war er sich ganz sicher. Sie hatten sich für heute verabredet, und zwar früh, da war er sich ebenfalls sicher. Er sah auf seine Uhr: genau sieben.
Mühsam nahmen undeutliche Gesprächsfetzen in seinem Hirn Gestalt an. Der Dicke hatte etwas von Tide gesagt. Dann hatten sie alle gerechnet. Jemand, der rechts von ihm saß (der, mit dem er dann Brüderschaft getrunken hatte?), hatte etwas von schlechtem Wetter erzählt. Es hatten alle gelacht, und einer der anderen Männer hatte sieben Uhr vorgeschlagen. Er zögerte. Und wenn sie ihn reinlegen wollten und bereits am Felsen warteten? Hatte er dann die Wette verloren? Allerdings, kein Wagen da… den konnte allerdings einer von ihnen zurückgefahren haben. Besser nachsehen, entschied er. Außerdem, holte er eben allein ein paar Makrelen hoch. Sollten sie ihn alle… Entschlossen schlug er den Kragen hoch, zog die Kappe tief in die Stirn und stieg aus. Er tauschte die Schuhe gegen die Gummistiefel ein, nahm die Angelsachen und den Eimer, schloss den Wagen ab und ging auf die Brücke zu.
Schon wieder ein neuer Stacheldraht. Früher, bevor die Klippen noch nicht als Geheimtipp in allen Anglerzeitschriften auftauchten, und nur die Einheimischen mit ihren Söhnen oder solche Leute wie Lorenz und er selbst dort den Sonntagnachmittag verbrachten, konnte man den Felsen direkt von der Straße aus erreichen. Seither hatte der Farmer mit stoischer Geduld, aber aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen, immer wieder versucht, die Angler auf die nächste Wiese umzuleiten.
Er kroch unter der Brücke hindurch und wand sich mühsam durch den dort gespannten Draht, überkletterte die Mauerreste eines Stalls und landete an den Ufern eines mit dunklem Wasser gefüllten Torfgrabens. Dem folgte er, bis ihn der nächste Zaun direkt auf die Klippen von Culloo zuleitete.
An sonnigen, warmen Tagen war dieser Gang reines, ungetrübtes Vergnügen. Langsam an den tiefbraunen, glänzenden Abstichen der Torfbänke entlang über den weichen, nachgiebigen Boden zu laufen mit Blick auf den Atlantik und das Moor, ließ ihn tiefen Frieden fühlen. Heute dagegen erschien ihm der Marsch unangemessen lang und anstrengend. Der Wind hatte so an Stärke gewonnen, dass er sich richtig dagegenstemmen musste. Da behielt ja sogar der Wetterprophet von gestern Recht.
Eigentlich war er stolz auf seine Menschenkenntnis, sonst wäre er nicht das geworden, was er war. Nur, dass er sich in der Reaktion seiner eigenen Frau so verschätzt hatte, verunsicherte ihn. Ratlos zuckte er die Schultern. War sie in der letzten Zeit anders gewesen? Hatte er die Anzeichen übersehen, dass sie unzufrieden war? Er überlegte, doch es fiel ihm nichts ein. Und er war sich doch gleichgeblieben, in all den Jahren, die sie nun schon verheiratet waren, oder? Sieben Jahre. Glückliche sieben Jahre. Überhaupt Glück, dass er sie getroffen hatte. Nach Ruths Tod hatte er lange Zeit nicht noch einmal heiraten wollen. Vor allem nicht eine jüngere Frau. Und ein Kind zeugen. Es war anders gekommen, und das war gut so. Auch, wenn es jetzt Schwierigkeiten gab. Die konnte man überwinden. Nicht umsonst, wie gesagt, hatte er erreicht, was er nun war. Es war nicht das Geld, das ihn interessierte, zumindest nicht nur. Menschen zu beeinflussen, das war es. Damit sie das taten, was er wollte.
Inzwischen hatte er die Furt erreicht - eine Reihe von Springsteinen - und machte sich daran, das letzte Hindernis zu überwinden. Eine Holztreppe, wahrscheinlich erbaut mit Geldern des Reiseunternehmens,das jetzt Culloo vermarktete, ermöglichte eine elegante und bequeme Überquerung des letzten Viehzauns.
Vor ihm ragten die Klippen von Culloo auf. Ein paar Meter, bevor das Land zum Meer hin plötzlich abbrach, endete das Gras und der bloße Fels trat hervor. Im Laufe der Jahre hatte das Wasser die Felsen zu Quadern geformt, die sich in unordentlichen Stufen über ihm aufschichteten, tatsächlich so, als hätte sie ein Gigant mutwillig übereinander fallen lassen. Weiches Gestein war der Wucht des Wassers gewichen, übrig geblieben waren die Formen, die ihm getrotzt hatten.
Als er sich weiter nach links wandte, hörte er das Meer. Donnernd brachen sich die Wellen an den Felskaskaden, drangen über die unterirdischen Spalten bis in die Ecken der ausgewaschenen Höhlen vor, um sich dann in ruhiger Würde wieder zurückzuziehen und der nächsten Welle Platz zu machen. Er blieb stehen und wartete ehrfürchtig, bis das Wasser zurückgeflutet war. Wenn hier schon die Wellen so klangen, wie mochte es sich wohl oben auf der Plattform anhören? Vielleicht sollte er einfach zurückgehen und behaupten, er habe bei dem Wind nichts gefangen. Aber - am Ende standen sie bereits dort oben. Er blickte sich um. Er konnte nicht einmal mehr seinen Wagen erkennen. Widersinnig. Trotzdem, er musste nachsehen.
Aufseufzend begann er den Aufstieg. Mit Gummistiefeln fiel es ihm schwer, sicheren Tritt in den rutschigen, von Algen überwachsenen Felsen zu finden. Noch dazu mit Rute und Eimer in der einen Hand, die Tasche mit den Angelutensilien in der anderen, die ihn zwangen, immer von neuem anzusetzen, nachzuziehen, Hände und Füße aufzusetzen. Ich höre mich an wie eine Herde Seekühe, dachte er, als der Eimer gegen die Steine krachte. Er keuchte vor Anstrengung und zwang sich anzuhalten um Luft zu holen. Rechts von ihm fiel nach ein paar Metern der Felsen steil ab, und als die nächste Welle kam, wurde er von der Gischt übersprüht. Halte dich mehr links, ermahnte er sich selbst, nur noch ein paar Meter. Mit Kraft schwang er sich über den letzten Felsen, rutschte ab, fing sich wieder, schlitterte an dem abfallenden Rand entlang und kam, wie er dachte, glücklich an dem scharfkantigen Felsvorsprung zu stehen, den es als letztes Hindernis zu umklettern galt, um hinunter auf den Angelplatz zu gelangen.
Er klammerte sich mit der freien Hand fest und riskierte einen Blick hinunter. Es war wohl besser, auf jede Eleganz zu verzichten und rückwärts auf die nur ein paar Quadratmeter große Plattform zu steigen. Mühsam tastete er sich den Vorsprung hinunter. Er schwitzte. Noch zwei Schritte, dann war das Schlimmste geschafft. Noch einmal Atem schöpfen. Langsam richtete er sich auf und drehte sich dem Meer zu. Er vermeinte Stimmen zu hören und beugte sich vor. Er spürte den Schlag mehr, als dass er ihn sah, spürte die Gischt, die Wucht des Wassers, die ihn mit sich riss, auf die Felsen warf, nach unten stürzen ließ ins Nichts. Den Aufschlag spürte er schon nicht mehr.
Marion legte den Kopf zurück auf das Kissen. Er war fort. Natürlich hatte sie gehört, wie er nach unten gegangen war, gehört, wie er geflucht hatte, hatte die Tür gehört, das Auto. Einen Moment lang hatte sie gezögert, ob sie aufstehen und ihn rufen sollte. Ihm die Hand reichen, sich an ihn schmiegen sollte: Versöhnung anbieten. So weit war sie noch nicht.
Sie hatte die Nacht über wach gelegen und nachgedacht. Dass er so wenig Rücksicht auf sie nahm, noch nicht einmal gefragt hatte, ob sie einverstanden sei hier zu leben, hatte sie tief getroffen. Dass er die Entscheidungen, die den Betrieb betrafen, nicht mit ihr diskutierte, in Ordnung. Bisher hatten sie zumindest gemeinsam das beschlossen, was sie auch beide anging. Sie hatte oft auf ihn gehört, er war älter, hatte Erfahrung. Eigentlich hatte sie immer das gemacht, was er vorschlug, dachte sie. Beharrte sie jemals auf ihren Vorschlägen? Oder widersprach ihm? Das hatte sie sich im Laufe ihrer Ehe irgendwie abgewöhnt. Unwillkürlich zuckte sie die Schultern. Anfangs war es angenehm, nicht alles allein entscheiden zu müssen. Später wohl einfach bequem.
Dass er dachte, sie würde hier leben wollen. Hatte sie wirklich nie angedeutet, mit keinem Wort, dass sie sich hier langweilte? Im Sommer, wenn die Sonne schien, es warm war, gut, dann konnte man spazieren gehen oder mit dem Boot hinausfahren, schwimmen, Muscheln suchen. Wie oft schien die Sonne?
Ein bisschen tat er ihr leid, als sie sich sein erschrockenes Gesicht vorstellte, als sie niemals geschrien hatte. Warum nicht Spanien, Italien, hatte sie gefragt, da ist es warm, da scheint die Sonne. Liebte sie Valentia denn nicht, hatte er gefragt. Sie überlegte. Liebte sie die Insel? Langsam schüttelte sie den Kopf. Nein, dachte sie, ich liebe sie nicht.
Judith erwachte, als die Sonne das Fenster erreicht hatte und ihr voll ins Gesicht schien. Plötzlich war es viel zu hell und viel zu warm. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie sich befand. Erst langsam kam die Erinnerung zurück: auf Valentia. Natürlich. Sie drehte sich auf die Seite und steckte den Kopf unter die Decke. In Anbetracht ihrer Ankunft weit nach Mitternacht durfte sie wohl heute ausschlafen. Ein nicht aufschiebbares Bedürfnis ließ sie allerdings schon nach einer halben Minute von einem weiteren Aufenthalt im Bett Abstand nehmen und schlaftrunken ins Bad wanken. Das war einer der Vorzüge von Gisela und Heiners Cottage: der weite ungehinderte Blick über die Insel. Sie genoss erst einmal den Ausblick, der sich ihr aus dem Badfenster bot: die grünbraune, sanft gewellte Ebene, die sich vor ihr ausbreitete, gelb betupft mit blühendem Ginster; der tiefblaue Himmel, über den hier und da grau angehauchte weiße Wolken zogen; das überraschende Mittelmeerblau des Atlantiks; die scharf gezeichneten Konturen der baumlosen Berge; das blendende Weiß der verstreut liegenden Häuser; der braune Strich einer Torfbank.
So viel Landschaft – und so überraschend gutes Wetter! Dass sie nach der Fahrt vom Flughafen durch die trübe Nacht ganz und gar nicht erwartet hatte. Eigentlich – eigentlich hätte es neblig sein müssen. Spontan beschloss sie sofort aufzustehen, Einkauf und Frühstück aufzuschieben und als Erstes einen Gang hinunter zur Küste zu machen - wer weiß, wie lange das Wetter hielt. Das wusste sie aus leidvoller Erfahrung: anfangs hatte sie immer bis Mittag geschlafen -und dann am Nachmittag ebenfalls, weil es sich bis dahin bereits eingeregnet hatte.
Sie warf einen kritischen Blick in den Spiegel und versuchte ihre Haare mit beiden Händen zu fassen und sie zu einem Knoten zu bändigen, den sie am Hinterkopf feststecken konnte. Es gelang ihr im zweiten Anlauf, auch wenn sich sofort wieder ein paar Strähnen gelöst hatten, die ihr vor die Ohren fielen. Macht nichts, dachte sie, es sieht mich ja niemand. Sie trat vor ihren Koffer, den sie nachts nur noch geöffnet hatte um ihr Nachthemd heraus zu zerren. Sie hatte vor allem die Sachen mitgenommen, denen Regen und Wind, nasse Wege oder feuchtes Gras nichts ausmachten. Das schränkte ihre Möglichkeiten ein: eine blaue oder eine schwarze Jeans, eine rote oder eine blaue Fleecejacke? Das übliche Outfit für sportliche Aktivitäten. Obwohl, zu Jogginghosen hatte sie sich nicht durchringen können. Immerhin zu Laufschuhen, die sie nun schnürte. Nicht ohne Mühe, wie sie feststellen musste. Sie hatte zugenommen. So viel machte das nicht aus bei 68kg im Verhältnis zu 170cm. Gut erhalten nannte man das, dachte sie, oder: wohl proportioniert. Bei dieser Formulierung musste sie merkwürdigerweise immer an Hähnchenschenkel denken. Sie konnte sich - immer noch - sehen lassen, tröstete sie sich.
Das Haus, das die Freunde ihr nicht ganz uneigennützig zur Verfügung gestellt hatten, lag am Ende einer Sackgasse. Ihr Auftrag bestand darin zu überprüfen, ob alles in Ordnung für den Saisonbeginn war, den Rasen zu mähen und Mrs Branagan, die Nachbarin, zu überreden weiterhin als Hausbesorgerin zur Verfügung zu stehen.
Zumindest in dieser Jahreszeit lag es wunderbar ruhig. Der Verkehr beschränkte sich auf die wenigen Nachbarn, die die Einfahrt zum Wenden nutzten, zu ihrem Vieh unterwegs waren, das an der Küste weidete oder zu ihren Torfbänken, um Torf zu stechen. Ruhig war es auch wegen der riesigen Hecke, die Haus und Garten umgab und die sich gerade so überblicken ließ, von der Straße her hingegen die Sicht auf das Haus vollkommen versperrte. Wahrscheinlich hatte Gisela deshalb sofort Gefallen an dem Cottage gefunden, weil im Sommer die Hecke von kleinen roten Rosen überwuchert war. „Wie bei Dornröschen", hatte sie geschwärmt und diese romantische Anwandlung hatte mit Sicherheit dazu geführt, dass der Verkäufer den Preis ordentlich erhöht hatte. Es war ein nettes Haus und geräumig genug - jedenfalls für eine Person. Oder auch zwei.
Sie war allein gekommen. In therapeutischer Absicht. Um sich die Wunden zu lecken, dachte sie grimmig, ohne mitleidige Zuschauer. So gern sie die Freunde hatte, auf Tröstungen und Mitleidsbekundungen aller Art konnte sie im Moment verzichten.
Judith trat auf die Straße hinaus. Auf der gegenüberliegenden Weide hatten sich sechs oder sieben Kälber um den Futtertrog versammelt und rangelten um den besten Platz. Als sie lockend die Hand durch den Zaun streckte, sprangen sie erschrocken zurück. Das eine oder andere Schaf wanderte hierhin und dorthin, halb verdeckt von dem bereits recht hoch gewachsenen Gras, vor sich hin bockende Lämmer im Gefolge. Von weit her war das Tuckern eines Dieselmotors zu hören.
Genussvoll blinzelte sie in das Sonnenlicht und gratulierte sich zu ihrem Entschluss. Der war zwar nicht ganz freiwillig zustande gekommen, die Freunde hatten sie unter sanften Druck gesetzt. Dem sie nicht lange widerstanden hatte, musste sie zugeben. Zu verlockend war das Angebot gewesen, hier zwei kostenlose Wochen zu verbringen. Den Rasen zu mähen und nach dem Rechten zu schauen schien ihr nicht allzu viel Arbeit zu sein. Mehr Sorgen bereiteten ihr, wie sie sich Mrs Branagan nähern sollte. Aber dazu würde sie sich später Gedanken machen.
Sie zögerte kurz, ob sie nicht doch zum Bray Head laufen sollte, entschied sich aber dann, den Weg zur Küste einzuschlagen. In der hellen Mittagssonne schien sie unwirklich nah und das Wasser glitzerte verheißungsvoll. Einen Moment lang erwog sie ernsthaft, Badesachen mitzunehmen. Immerhin war es Ende Mai, die Sonne brannte bereits richtig heiß und hinten an den Klippen gab es eine Art Swimmingpool, in dem man baden konnte.
Fast automatisch war sie dem rechten der beiden Abzweige gefolgt, in die sich die Straße am Ende gabelt. Der eine war so gut als Spaziergang wie der andere, führten doch beide zur Steilküste hinunter, der eine unterhalb, der andere oberhalb der Klippen. Ob sie allerdings so weit gehen sollte… schaudernd erinnerte sie sich an die Angler, die dort Stunden verbrachten und unermüdlich Makrele nach Makrele aus dem Wasser holten. Sie war froh, dass niemand zu sehen war und, soweit sie erkennen konnte, nur ein Auto an der Brücke stand.
Es war doch nicht so warm, merkte sie – ein ziemlich frischer Wind blies ihr die Haare ins Gesicht. Sie fiel in leichten Trab, zum einen der Wärme wegen, zum anderen aus reinem Vergnügen an dem wunderbar federnden Untergrund, der ihr das Laufen entlang der Küste zum Genuss machte: Der nachgiebige Torfboden und das von den Schafen kurz gehaltene Gras bildeten eine Art Matte, so dass sie weich und Knöchel schonend abfederte. Sie flog geradezu dahin. Und fühlte sich einen Moment frei von dem Gefühl irdischer Unvollkommenheit, die ein Sport ungewohnter Körper ansonsten mit sich bringt.
Langsam und stetig folgte sie der Küstenlinie, wobei sie die letzte Spitze im Südwesten nach kurzer Überlegung aussparte und direkt auf die Klippen zuhielt. Der Blick von dort war ebenso wunderbar: über die gesamte Bucht und auf die gegenüberliegende Küste nach Dingle und zu den Blasket Islands hinüber, ohne dass sie fürchten musste, den makrelensüchtigen Anglern ins Gehege zu kommen. Bis dorthin war es allerdings noch ein schönes Stück, und sie bewunderte zutiefst ihre persönliche Leistung. Angesichts eines zu erwartenden drohenden Herzanfalls verlangsamte sie jedoch das Tempo. Ab und zu musste sie innehalten, um wieder zu Atem zu kommen. Das Alter, natürlich. Obwohl, so alt war sie doch noch gar nicht, mit Mitte vierzig - mehr „mitten im Leben stehend“.
Wenn sie sich an den vergangenen Monat erinnerte, was sie nicht gerne tat, war ihr bewusst, wie nah sie daran gewesen war sich aufzugeben. Die Sehnsucht, einfach im Bett liegen zu bleiben. Die Zeit einfach verstreichen zu lassen. Es waren nicht nur Trauer und Wut nach Richards Weggang, die sie niedergedrückt hatten, sondern vor allem die Scham. Sie schämte sich ganz furchtbar, dass sie sich so getäuscht hatte. Nicht nur in ihm, sondern in ihrem Gefühl für andere Menschen. Wie hatte es nur geschehen können, dass sie ihm, seinen Lügen so vorbehaltlos Glauben geschenkt hatte? Dabei war sie gewarnt: sie wusste – eigentlich - von welchem Typ Mann sie die Finger lassen sollte. Es war nicht das erste Mal, dass sie mehr gewollt hatte als ihr angeboten wurde. Aber das Versprechen auf eine gemeinsame Zukunft war vielleicht zu verlockend gewesen.
Sie brach die ebenso sinnlosen wie bedrückenden Gedankengänge ab und konzentrierte sich erneut auf den Weg. Trotz aller Mühe schienen die Felsen kaum näher zu rücken. Sie trabte also wieder schneller, inzwischen nicht nur vom Ehrgeiz, sondern ebenso vom Hunger getrieben und verfluchte sich, nicht an einen Keks oder Apfel gedacht zu haben. Ihr Magen gluckerte bei jedem Schritt unwillig, um plötzlich übergangslos ein wildes Knurren auszustoßen. Das brachte sie jählings zum Stehen. Toast erschien vor ihrem inneren Auge, eine Portion Eier mit Speck, eine große Tasse Tee. Sie schluckte schwer. Sollte sie sich ihre Unsportlichkeit eingestehen und schnellstens umkehren? Wenigstens ein Blick!
In diesem Augenblick sah sie es. Es sah aus wie eine Ballonhülle oder ein umgekipptes kleines Schlauchboot. Auf jeden Fall ungewöhnlich: ein buntes Bündel, das sich träge auf den Wellen wiegte. Erst auf den zweiten Blick dämmerte es ihr, dass es sich um einen menschlichen Körper handelte.
Eine Sekunde lang setzte ihr Herzschlag aus, um dann umso härter und schneller wiedereinzusetzen. Verzweifelt blinzelte sie gegen das helle Licht an. Da ertrank jemand. Instinktiv spurtete sie los. Keuchend und nach Luft schnappend erreichte sie den Rand der Steilküste und musste erst einmal die Hände auf die Knie stützen, bis sich ihr Atem normalisiert hatte. Oben angekommen, fiel ihr Blick geradewegs auf den unten im Wasser treibenden Körper. Jede hereinkommende Welle hob ihn hoch empor und ließ ihn dann sanft wieder zurück gleiten. Fast schien es, als ob er immer an der gleichen Stelle blieb. Es war eindeutig ein er. Ein Mann, bekleidet mit Hose und Jacke, die sich oben mit Luft gefüllt hatte und ihn aufgebläht und voluminös erscheinen ließ. Irgendwie sah es unnatürlich, fast Ekel erregend aus. Ihr leerer Magen hob sich, und es begann in ihren Ohren zu sausen. Ihr wurde schwarz vor Augen und sie tastete blind um sich, bis sie einen Platz zum Hinsetzen gefunden hatte.
Es war merkwürdig, aber keinen Moment lang kam sie auf die Idee, er könnte noch leben. Später fand sie das selbst seltsam, weil sie sich so sicher war. Es war nicht nur die Leblosigkeit, dieses willenlose Schaukeln, das sie mit dem Tod in Verbindung brachte, sondern die gleichzeitig einsetzende Erkenntnis, dass ein Überleben mit dem Gesicht im Wasser ein Ding der Unmöglichkeit war.
Trotzdem, auch Jahre später, als sie die Situation nochmals und immer wieder in Gedanken hin und her wendete, fühlte sie sich schuldig, weil sie gezögert hatte zu seiner Rettung ins Wasser zu springen. Obwohl ihr die Vernunft sagte das sei absolut sinnlos.
Langsam stand sie auf und blickte um sich. Niemand. Desgleichen, als sie sich landeinwärts drehte und ihren Blick über das Moor und die Wiesen schweifen ließ. Sie war allein. Also gab es keine Hilfe. Also musste sie welche holen. Aufseufzend stand sie auf. Was als Erstes? Schwierigkeiten, dachte sie resigniert und schwindende Aussichten auf ein Frühstück. Der Mann schaukelte hin und her. Das Wort Wasserleiche drängte sich kurz in ihre Gedanken. Sie schluckte, holte ein paar Mal tief Luft und versuchte sich auf die realen Dinge zu konzentrieren. Was tat das Meer in solchen Fällen? Hinausziehen? Hinunter? An die Küste schleudern? Es war wahrscheinlich eine Frage der Zeit, oder?
Während sie mit zitternden Knien langsam wieder hinunterstieg, überlegte sie angestrengt, was wohl mehr Sinn machte: hinüber zum Weg zu laufen, der auf die obere Straße führte oder wieder zurück? Der Weg kam zumindest an Häusern vorbei, mit der minimalen Hoffnung auf ein Telefon oder ein Auto. Sie verfluchte sich innerlich: natürlich hatte sie ihr Mobiltelefon zu Hause gelassen. Vergessen, wie so oft. Ratlos blieb sie stehen. Zur Straße, entschied sie - die Chancen, dort einem menschlichen Wesen zu begegnen, waren größer. Auch wenn es genau die falsche Entscheidung sein sollte, tröstete sie, dass sie den Umständen entsprechend recht überlegt handelte.
Mit diesen Gedanken lief sie los. Sie folgte dem Weg und gelangte nach einer Weile, die ihr unverhältnismäßig lang vorkam, an eine Brücke.
Erstaunlicherweise war erst wenig mehr als eine Stunde vergangen, seitdem sie das Cottage verlassen hatte, und äußerlich hatte sich nichts verändert. Immer noch brannte die Sonne vom Himmel, über den immer noch weiße Wolken zogen. Und immer noch strich der Wind weiterhin über das hohe Gras. Über ihr sang lauthals eine Lerche. Sie kletterte unter einigen Drehungen und Wendungen unter der Brücke hindurch, um den Stacheldraht zu umgehen, der sich abenteuerlich um Brüstung und Bogen wand. Und stand vor einem Auto. Vorsichtig ging sie heran. Natürlich, das hatte sie doch vorhin schon gesehen. Ein deutsches Kennzeichen. Erst da kam ihr der Gedanke, dass es dem Toten gehören könnte. Abgeschlossen. Es sah ganz normal aus. Und der Schlüssel steckte auch nicht innen. Ein deutscher Tourist also.
Sie hatte vielleicht fünfhundert Meter Richtung Straße zurückgelegt, als das graue Haus in ihr Blickfeld geriet. Es passte sich in seiner Farbe so perfekt in die Landschaft ein, dass sich seine Umrisse in der Ebene aufzulösen schienen: es war ihr vollkommen entgangen. An die Häuser weiter oben konnte sie sich gut erinnern. Hatten nicht Freunde von Gisela letztes Jahr dort eine dieser verlassenen Farmen gekauft? Aber dieses hier? Nichtsdestotrotz hob sein Anblick ihre Laune beträchtlich, ließ ihr Herz erwartungsvoll höher klopfen - denn, es lag Wäsche auf der Hecke! Es handelte sich also nicht, wie viele andere auf der Insel, um ein Ferienhaus und war nicht nur während der Saison, sondern dauernd bewohnt! Die Aussicht auf ein Telefon, wie auf einen Schluck Tee, der ihr möglicherweise angeboten werden könnte, beflügelte sie, und so jagte sie geradezu auf das Haus zu. Bewohnt war es vielleicht schon… Deprimiert musterte sie beim Näherkommen das heruntergekommene Anwesen. Es sah weder nach Tee und schon gar nicht nach modernen Kommunikationsmitteln aus.
Das Tor in der Hecke war aus der verrosteten Verankerung gebrochen und lehnte, nur vom eigenen Trotz gehalten, an dem mit Löchern und Rissen übersäten Betonpfeiler. Die Hecke selbst, überwuchert von Efeu und Geißblatt, war wohl seit Jahren nicht mehr geschnitten worden. Brennnesseln hatten einen Teil des Vorgartens erobert, während das restliche Gras kniehoch gewachsen war.
Auch das Haus selbst machte keinen einladenden Eindruck. Tür und Fenster waren verschlossen, halb zugezogene Vorhänge verhinderten einen Blick ins Innere.
Telefonieren konnte sie abschreiben. Resigniert betrat sie den Vorgarten und hatte gerade die Hand gehoben um an die Tür zu klopfen, ein lautes „Hello, somebody in?" rufend, als unvermutet hinter der Hausecke ein ebenso lautes „Hello" ertönte. Da sie niemanden erwartet hatte, blieb sie vor Schreck abrupt stehen. Eine alte Frau kam langsam hinter dem Haus hervor. Sie bot auf den ersten Anblick einen seltsamen Anblick: Alter und Krankheit hatten ihren Körper zusammengezogen und gekrümmt und sie stützte sich schwer auf einen Stock. Sie hatte ein schwarzes Umschlagtuch so über die Schultern gezogen, dass sie, wie aus der Zeit gefallen, den Abbildungen irischer Frauen der Jahrhundertwende in einem Geschichtsbuch glich. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Die Achtzig mochten nicht mehr fern oder sogar überschritten sein, denn ihr Gesicht war von vielen Falten durchzogen. Daraus blickten sie zwei ebenso blaue wie wache Augen an. „Hello, how are you", gab Judith wohlerzogen zurück und fügte ein uninspiriertes „Nice day today" hinzu, um Zeit zu gewinnen und ihrer Verblüffung Herr zu werden.
„Yes, yes, not too bad", erwiderte ihr Gegenüber schließlich nach einer genauen und ausführlichen Musterung und nickte ihr zu.
„I don´t want to disturb you", begann Judith daher mit neuem Mut, „but something happened…“
Verzweifelt suchte sie nach dem richtigen Wort. Was zum Teufel hieß Wasserleiche auf Englisch?
Die alte Frau sah sie weiterhin an. Dann kam sie offensichtlich zu einem Entschluss: „Come in. You look like you should have a rest." Dankend folgte ihr Judith, nur zu froh über die Einladung.
Soweit sie überhaupt nach der Helligkeit draußen im Inneren des Hauses etwas erkennen konnte, war das Haus noch ganz im traditionellen Stil eingerichtet. Sie traten direkt in die Küche, die den größten Teil des Erdgeschosses einnahm. Dem Eingang gegenüber führte eine gerade Holztreppe ins Obergeschoss, rechts war eine Tür zu sehen. Links an der Stirnseite stand ein alter weiß emaillierter Herd, ein range, unter dem Fenster die im Farmhaus übliche Holzbank mit Tisch und zwei Stühlen und an der gegenüber liegenden Wand ein schöner alter dresser, ein offener Küchenschrank. Neben der Treppe befand sich ein Waschbecken. Immerhin hat sie fließendes Wasser, dachte Judith, selbst in der heutigen Zeit nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit hier draußen. Überraschend fand sie nur das kleine Bücherregal neben der Sitzbank, das fast überlief von Büchern. Und zwar nicht, soweit sie das feststellen konnte, von Taschenbüchern, sondern von richtig teuer aussehenden gebundenen Ausgaben.
„Setzen Sie sich“, wiederholte ihre Gastgeberin, „möchten Sie eine Tasse Tee?“ Ohne die Antwort abzuwarten, nahm sie den Wasserkessel zur Hand.
Trotz ihres Alters und ihrer Behinderung bewegte sie sich geschickt, setzte Wasser auf, holte eine große Blechbüchse mit dem Tee hervor, und stellte zwei Tassen und eine Zuckerdose auf den Tisch.
„Sorry", es war vielleicht ein wenig zu spät um sich zu entschuldigen, "ich wollte Sie wirklich nicht stören“, sagte Judith lahm.
Die alte Frau schüttelte den Kopf. „Erst einmal Tee“, befahl sie.
In diesem Moment fing Judiths Magen lauthals an zu knurren. Sie fühlte, wie sich ihr Gesicht schamvoll mit Röte überzog, doch ihre Gastgeberin lachte nur und holte aus den Tiefen des Schrankes eine Dose mit Keksen hervor. „Nehmen Sie“, sagte sie immer noch lachend. Erleichtert griff Judith zu, wobei ihr einfiel, dass sie sich noch gar nicht vorgestellt hatte.
Und so sagte sie in schönstem Englisch, wenn auch leicht behindert durch den Keks in ihrem Mund: „Oh, sorry! May I introduce myself? Judith Richter from Frankfurt, Germany“.
"Welcome to the island! My name is Hannah." Hannah also. Ihren Nachnamen nannte sie nicht.
Erneut nahm Judith Anlauf. Und erzählte, unzusammenhängend und nicht ganz in der richtigen Reihenfolge, von dem Spaziergang, der Entdeckung im Wasser und ihrer Entscheidung die Straße zu nehmen. „Jetzt bin ich auf dem Weg Hilfe zu holen", schloss sie und lächelte entschuldigend, als ihr Blick auf die Tasse Tee fiel, die Hannah vor sie hingestellt hatte. Diese hatte sie während ihrer Erzählung aufmerksam beobachtet.
„In Ordnung", sagte sie, „holen wir Hilfe. Lassen Sie sich noch ein wenig Zeit. Sie sehen so aus, als hätten Sie einen kleinen Schock erlitten.“
Judith schüttelte den Kopf, merkte dabei im gleichen Moment, wie ihr die Tränen in die Augen schossen und sie ein Schluchzen im Hals würgte. Sie fingerte nach einem Taschentuch und schnäuzte sich resolut.
Hannah schnalzte leicht mit der Zunge. „Es geschieht einfach zu oft in der letzten Zeit! Die Klippen dort hinten sind gefährlich. Das Meer ist unberechenbar, und die Leute werden immer leichtsinniger. Der letzte Unfall war im März!“ Sie schüttelte ihren Kopf. „Na, da müssen wir wohl die Garda benachrichtigen." Sie humpelte zu dem Bücherregal hinüber und griff nach einem Handy.
Judith kam sich beschränkt und altmodisch vor. „Können Sie nicht…?" „Natürlich", sagte Hannah und tippte eine Nummer ein.
„Hallo, John", hörte Judith noch, dann drehte Hannah ihr den Rücken zu und sprach schnell und leise weiter. Als sie geendet hatte, drehte sie sich wieder zurück: „Er benachrichtigt die Küstenwache und kommt dann hier vorbei. Also können Sie ruhig noch eine Tasse trinken. Sie wohnen doch dort hinten an der Straße, nicht wahr?" fuhr sie fort. Fast hätte sich Judith verschluckt. Sie bejahte die Frage hüstelnd. Woher wusste ihre Gastgeberin das? Da fiel ihr Blick auf den im Fenster stehenden Feldstecher.