Wer zuletzt beißt - Mary Janice Davidson - E-Book

Wer zuletzt beißt E-Book

Mary Janice Davidson

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Beschreibung

Betsy Taylor, Königin der Vampire, ist kaum aus den Flitterwochen zurückgekehrt, als eine Horde wilder Blutsauger in ihr Haus einfällt und ihre Fähigkeiten als Herrscherin auf eine harte Probe stellt. Kurz darauf bittet Detektiv Nick Berry sie um Hilfe bei der Aufklärung einiger schrecklicher Mordfälle, bei denen offenbar ein Vampir die Hand im Spiel hatte. Zu allem Unglück wird Betsy außerdem vom Geist ihrer unlängst verstorbenen Stiefmutter verfolgt, die nach dem Tod noch viel unausstehlicher ist als zu Lebzeiten. Und auch das Eheleben mit ihrem frisch angetrauten Gatten Eric verläuft alles andere als harmonisch. Siebter Band der Betsy-Taylor-Reihe. Mit Bonus-Story "Speed Dating auf Werwolf-Art"

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Seitenzahl: 286

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Mary Janice Davidson

WER ZULETZTBEISST

Roman

Ins Deutsche übertragen von Stefanie Zeller

Für meinen Mann,

ANMERKUNG DER AUTORIN

Diese Geschichte spielt zwei Monate nach den Ereignissen in Biss der Tod euch scheidet. Außerdem sind Cops, genauso wie Apotheker, seltsame Menschen. Sie können nichts dafür. Das gehört zu ihrem Beruf. Aber das macht sie auch irgendwie cool.

Schließlich war mir mein Vater bei diesem Buch eine große Hilfe: Er besitzt ein enzyklopädisches Wissen über Schusswaffen und Munition. Alle Fehler, die Sie möglicherweise finden, sind meine Schuld, nicht seine.

Die Königin soll über die Toten herrschen und sie sollen von ihr nehmen, wie auch sie von ihnen nimmt, und sie soll sie erkennen, wie auch die Toten sie erkennen sollen. Denn so herrscht eine Königin.

und

Die Königin wird Meere von Blut sehen und sie wird Verzweiflung sehen.

Das Buch der Toten

1

Mir war langweilig. Also überquerte ich in fünf Schritten den Teppich, kletterte auf Sinclairs Schreibtisch und küsste ihn. Mein linkes Knie stieß gegen das Telefon, das mit einem dumpfen Krachen zu Boden fiel und sich sofort mit einem nervtötenden Piepsen meldete. Mein rechtes Knie rutschte auf einem Fax aus, das Sinclair von der Bank erhalten hatte.

Überrascht, aber immer bereit für ein bisschen Sex mitten am Tag (es war zwar halb acht am Abend, aber schließlich waren wir Vampire), küsste mein Ehemann mich begeistert zurück. Durch das eben erwähnte Ausrutschen auf dem Fax prallte ich allerdings so heftig gegen ihn, dass sein Stuhl mit Wucht gegen die Wand geschleudert wurde, was zur Folge hatte, dass die Tapete einen Riss bekam. Noch mehr Arbeit für die Handwerker.

Er riss meinen Pullover (ach herrje, Kaschmir!) in der Mitte durch. Er schob meinen Rock (Ann Taylor) hoch. Er zog meinen Slip (Target) … ja, wohin eigentlich? Und auch ich zog und zerrte eifrig an seinem Anzug (der König der Vampire weigerte sich, etwas anderes alsAnzug zu tragen – so sehr ich auch auf ihn einredete), sodass die Fetzen flogen.

Hollywoodreif wischte er den Tisch frei und warf mich auf den Rücken. Sein Arm griff nach unten, aber als ich rief: „Nicht die Schuhe!“, ließ er davon ab (obwohl sein Augenrollen mir nicht entgangen war. Aber später würde noch genug Zeit sein, ihn zur Rede zu stellen).

Er drängte und drückte und glitt in mich. Es tat ein bisschen weh, weil ich normalerweise mehr als sechzehn Sekunden Vorspiel benötige, aber es fühlte sich auch verdammt gut an. Ich schlang die Beine um seine Hüften, sodass ich meine paillettenbesetzten Leopardenpumps bewundern konnte (fragen Sie mich gar nicht erst, was sie gekostet haben). Dann grinste ich zu ihm hoch und er lächelte zurück, die dunklen Augen schmal vor Lust. Es war ein tolles Gefühl, frisch verheiratet zu sein. Und ich hatte schon fast alle Dankesbriefe geschrieben!

Ich ließ den Kopf zurückfallen, genoss es, Sinclair zu fühlen, zu riechen, seine Hände auf mir zu spüren, seinen Schwanz, der mich ausfüllte, seinen Mund in meinem Nacken, küssend, leckend. Dann biss er zu.

Und meine Stiefmutter sagte: „Das ist alles deine Schuld, Betsy, und ich gehe nirgendwohin, bevor du es nicht wieder in Ordnung gebracht hast.“

Worauf ich antwortete: „Aaaaaaahhh! Aaaaahhhhh! AAAAAAAAHHHHHH!“

Sinclair zuckte zurück, als wenn ich mich in Sonnenschein verwandelt hätte, und sprach zum ersten Mal, seitdem ich in sein Büro gerauscht war. „Elizabeth, was ist? Tu ich dir weh?“

„Aaaaaaaaaaaaaaaaahhhhhhhhh!“

Aus meiner Perspektive betrachtet, stand meine tote Stiefmutter auf dem Kopf, was die ganze Situation keineswegs angenehmer machte, denn ein Stirnrunzeln sieht so noch furchterregender aus.

„Du hast Verantwortung zu tragen, da kannst du machen, was du willst. Denk nicht, das wüsste ich nicht.“ Sie schüttelte den Kopf und wie schon im Leben bewegte sich auch im Tode ihre ananasgelbe Betonfrisur keinen Millimeter. Sie trug einen fuchsiafarbenen Rock, eine tief ausgeschnittene, himmelblaue Bluse, schwarze Nylonstrümpfe und fuchsiafarbene Pumps. Und natürlich viel zu viel Make-up. Bei ihrem Anblick begannen mir die Augen zu brennen. „Mach dich also lieber an die Arbeit.“

Sinclair zog sich zurück und begann mich wild abzutasten. „Wo tut es weh?“

„Ant! Ant!“

„Du … wie bitte?“

Bevor ich mich erklären konnte (wo sollte ich nur anfangen?), hörte ich donnernde Schritte und dann stieß Marc gegen die geschlossene Bürotür. Sein Duft war unverwechselbar – Desinfektionsmittel und getrocknetes Blut.

Ich hörte, wie er zurücktrat und nach der Klinke griff. Dann stand er im Türrahmen. „Betsy, bist du … Oh, mein Gott!“ Er wurde so schnell rot, dass ich befürchtete, er würde einen Herzanfall bekommen. „Tut mir leid, herrje, ich dachte, das wäre ein schlechtes Aaaaahhhh und nicht ein Sex-Aaaaaaahhhhh.“

Wieder hörte ich Schritte und dann sagte meine beste Freundin Jessica: „Was ist los? Geht es ihr gut?“ Dünn und klein, wie sie war, war sie hinter Marc nicht zu sehen.

„Ant ist hier!“, jaulte ich, während Sinclair die Fetzen seines Anzugs aufsammelte, mich vom Schreibtisch klaubte und hinter seinen Rücken schob. Ich weiß nicht, warum er sich die Mühe machte. Marc war nicht nur schwul, sondern auch Arzt und scherte sich herzlich wenig darum, ob ich nackt war. Und Jessica hatte mich ungefähr eine Million Mal nackt gesehen.

„Deine Stiefmutter ist hier, in diesem Raum?“ Ich konnte sie immer noch nicht sehen, aber Jessicas Ton gab exakt den Schrecken wieder, den ich bei der Aussicht empfand, von meiner Stiefmutter heimgesucht zu werden.

„Wo soll ich denn sonst sein?“, fragte Ant, die verstorbene Antonia Taylor, seelenruhig. Sie klopfte mit ihrem billig beschuhten Fuß auf den Boden und knabberte an ihrer Unterlippe. „Aber mich würde interessieren, wo dein Vater ist.“

„Genau, das hat mir jetzt zu meinem Glück noch gefehlt.“ Ich schäumte vor Wut. „Dass mein Vater hier auftaucht.“

2

Nachdem Marc überlegt hatte, dass eine Valium-Infusion bei einem Vampir wohl nicht wirken würde, brachte er mir stattdessen einen starken Drink. Ich fragte mich, ob er überhaupt eine Vene hätte anzapfen können. Schließlich war ich seit über einem Jahr tot. Würde eine intravenöse Injektion funktionieren? Eines Tages würde ich über all diese Fragen einmal ernsthaft nachdenken müssen. Eines Tages, wenn ich einmal nicht von Geistern oder Serienkillern belästigt wurde und mich nicht mit Hochzeitsvorbereitungen, eigenbrötlerischen Werwölfen, mysteriösen Vampiren, die bei mir zu Hause hereinplatzten, und Windelwechseln herumschlagen musste.

Es war süß von Marc, mir einen Gin Tonic zu servieren (ich hasste diesen Drink, aber das wusste er nicht), doch durcheinander, wie ich war, stürzte ich ihn so schnell hinunter, dass er mir auch Farbverdünner hätte anbieten können.

„Ist sie immer noch da?“, flüsterte er.

„Natürlich bin ich noch da“, blaffte meine tote Stiefmutter. „Ich habe doch gesagt, ich gehe nirgendwohin.“

„Ich bin die Einzige, die dich hören kann!“, kreischte ich. „Also halt einfach den Mund.“

„Bring ihr noch einen Drink“, murmelte Sinclair. Wir befanden uns immer noch in seinem Büro, aber Jessica hatte uns freundlicherweise Bademäntel gebracht, damit wir unsere in Fetzen gerissene Kleidung bedecken konnten.

„Ich brauche keinen Alkohol, ich muss Ihr-wisst-schon-Wen loswerden.“

„Sehr lustig“, meckerte Ant.

Sie und mein Vater waren vor zwei Monaten bei einem schaurig-dummen Autounfall ums Leben gekommen. Wo sie seit ihrem Tod gewesen war und warum sie gerade jetzt auftauchte, war mir ein Rätsel. Leider war mir so vieles von dem, was mein Status als Königin der Vampire mit sich brachte, rätselhaft! Und wenn es nach mir ging, konnte das auch so bleiben.

Aber dieses Rätsel würde ich knacken müssen, denn Geister lösten sich nicht einfach in Luft auf, es sei denn, ich löste ihr kleines Problem für sie.

Und wo war eigentlich mein Vater? Ich seufzte. Konfliktscheu im Tod wie im Leben.

„Was willst du?“

„Das habe ich dir bereits gesagt. Ich will, dass du es wieder in Ordnung bringst.“

„Dass ich was wieder in Ordnung bringe?“

„Du weißt schon was.“

„Das ist so abgefahren“, flüsterte Marc Jessica zu und vergaß dabei wie immer, wie gut Vampire hören konnten. „Sie unterhält sich mit dem Stuhl.“

„Das tut sie nicht. Still jetzt, ich kann nichts hören.“

„Ich weiß gar nichts“, sagte ich zu dem Stuhl … äh, Ant. „Wirklich nicht. Bitte sag es mir.“

„Hör auf, Spielchen zu spielen.“

„Das tue ich nicht!“ Fast hätte ich geschrien. Dann spürte ich, wie Sinclair mir beruhigend seine Hände auf die Schultern legte, und lehnte mich an ihn. Als wenn unsere Flitterwochen mit den toten Kindern und Jessica und ihrem Freund, die uns mit einem Überraschungsbesuch beglückt hatten, nicht schon schlimm genug gewesen wären. Dies hier war hundertmal schlimmer.

„Wenn du mir einfach …“, begann ich gerade, als die Bürotür aufgestoßen wurde und beinahe Marc getroffen hätte, der aufschrie und gerade noch rechtzeitig zur Seite springen konnte.

Ein blutiges, stinkendes Ding stand im Türrahmen und schoss dann auf mich zu wie ein Zwerg in einem Märchen. Da ich immer noch ein wenig mit Ants plötzlichem Erscheinen beschäftigt war, waren meine Reflexe nicht in exzellenter Verfassung. Ich verpasste dem Ding – es war ein Mann, ein großer, bäriger, torkelnder Mann – eine Ohrfeige, so feste, dass er durch das halbe Zimmer flog. Er schlug so hart auf den Teppich auf, dass die Knöpfe von seinem Hemd platzten, das ohnehin aussah, als gehörte es in den Müll.

Wie der Blitz war er wieder auf den Beinen und sein wilder Blick wanderte von Sinclair zu mir und wieder zurück. Und irgendwie … kam er mir bekannt vor. Aber ich konnte nicht sagen, woher.

Als Sinclair und ich gleichzeitig auf ihn zugingen, wich er zurück, fuhr herum und machte einen Kopfsprung aus dem Fenster des zweiten Stocks.

„Was, zum Teufel …?“, sagte ich, als die Tür wieder aufgestoßen wurde. Ich griff mir ans Herz. Viele dieser plötzlichen Überraschungen würde mein Stoffwechsel nicht mehr vertragen.

Garrett, das Biest, formerly known as George, stand in der Tür und schnappte angestrengt nach Luft. Da er über siebzig Jahre alt war und nicht atmen musste, wusste ich sofort, dass etwas nicht in Ordnung war.

Was war denn nun schon wieder los?

„Sie sind wach“, keuchte er. „Und sie wollen Euch töten.“

„Wer?“,fragtenSinclair,Jessica,Marcundichwieauseinem Munde. Schließlich traf diese Aussage auf praktisch jeden zu. Die Typen von Green Mill, die die Pizza lieferten. Andere Vampire. Ants Leseclub. Werwölfe. Zombies. Und natürlich der ungeladene Gast, der eben aus dem Fenster gesprungen war. So viele Feinde, so wenig …

„Die anderen Biester. Ich habe sie mit meinem Blut genährt und sie sind wütend.“

„Du hast was und sie sind was?“ Ich war entsetzt.

Garrett wich meinem Blick aus – was nie ein gutes Zeichen war. „Sie sind … sind irgendwie aufgewacht und jetzt wollen sie Euch töten.“

„Das liegt an deinem Lebensstil“, sagte Ant selbstgefällig. „Ist doch klar, dass so etwas passiert.“

„Oh, sei still!“, bellte ich. Ich packte meinen Kopf mit beiden Händen. Welches Problem sollte ich nur als Erstes angehen? „Hättest du nicht einfach morgen hier auftauchen können? Oder gestern?“

Sinclair erinnerte mich daran, dass er der König der Vampire war, als er sagte: „Setz dich und erzähl uns alles. Die Königin wurde angegriffen und jetzt kommst du und erzählst uns, dass man sie ermorden will.“ Bamm. Entscheidung gefällt. Als Erstes würden wir uns mit Garrett befassen.

Ätsch, tote Stiefmutter.

3

Vor dem kommenden Winter fürchtete ich mich jetzt schon. Mir war ohnehin immer kalt, selbst am heißesten Tag im Juli. Der November würde richtig schlimm werden. Alles, was ich wollte, war, mich an mein Leben als verheiratete Frau gewöhnen, das Haus einrichten (na ja, eigentlich war das Haus seit mehr als einem Jahr eingerichtet, dank Jessica und ihrer Kohle, aber ich war immer noch auf der Suche nach den perfekten Plätzen für unsere Hochzeitsgeschenke), die letzten Dankesbriefe schreiben (langweilig) und mich ganz Baby Jon widmen, meinem Halbbruder und Mündel (weil ja, wie Sie sich erinnern werden, mein Vater und Ant tot waren).

Ja, ja. Alles war ganz normal. Ich war frisch verheiratet und ohne mein Zutun Mutter geworden. Daran war schließlich nichts falsch. Alles lief ganz normal. Ja, genauso war es.

„… fühlte mich verantwortlich“, plapperte Garrett gerade. Daran hatte ich mich immer noch nicht gewöhnt. Er hatte sich von einem sabbernden Biest zu einem einsilbigen Freund (der Liebhaber von Antonia, der Werwölfin … aber dazu später mehr) und schließlich zu einem wortreichen und -gewandten, alten Vampir entwickelt. Obwohl er aussah, als sei er dreiundzwanzig. Doch wir wussten es besser. „Also habe ich damit angefangen, sie zu besuchen. Es schien mir nicht richtig, dass ich wieder war wie vorher und sie immer noch … na ja, Ihr wisst schon.“

WohlkaumderrichtigeZeitpunkt,dassihnseinneugewonnenerWortschatzimStichließ!Aberwirwussten,wasersagenwollte.DeralteKönig –der,denichgetötethatte,umKöniginzuwerden –hattesichdamitvergnügt,neugeboreneVampirezuquälen,indemersieaushungerte.NacheinigenMonatenwurdensieverrückt.Schlimmeralsverrückt –siewurdenzuwildenTieren,dienichtsmehrmitmenschlichenWesengemeinhaben.Siewarengefährliche,tollwütigeWölfe,dieJackWolfskintrugen.

Sinclair und seine Allround-Assistentin Tina hatten mich immer wieder gebeten, den Biestern einen Pflock durch das Herz zu treiben. Aber das konnte ich nicht. Genauso gut hätte ich Hundewelpen zertreten können. Blutdurstige, wilde, gefährliche Hundewelpen, aber trotzdem immer noch Welpen. Hatte ich diese Welpen zu dem gemacht, was sie waren? Nein. War es die Schuld der Welpen? Auch nicht. Sollte ich etwa unschuldige Welpen töten – schlimmer noch, befehlen, sie zu töten, damit ich mir nicht die Hände schmutzig machte –, egal, wie viele Eimer Blut sie am Tag tranken?

Nein.

Und jetzt wollten diese Welpen mir mein weiches menschliches Herz aus dem Leib reißen. Eigentlich hatte ich genug Zeit gehabt, die Grundregel der Untoten zu lernen: Auch knuddelige Untote sind untot.

„Wie kommt es, dass bisher niemand versucht hat, ihnen sein eigenes Blut zu geben?“, fragte Marc. „Warum immer nur Eimer voll Tierblut?“

„Sie sind zu gefährlich, als dass man ihnen erlauben könnte zu jagen. Sie würden alles, was sie aufspüren, töten.“

„Oje.“

„Ich fürchte, wir haben keine Zeit für eine Debatte.“ Garrett war sichtlich nervös. „Debatte“, das war gut. Junge, der Mann war wirklich clever! Lernte neue Wörter in null Komma nichts. Wenn man bedachte, dass er vor sechs Monaten kaum eine linke Masche zustande brachte, geschweige denn stricken konnte.

„Aber Garrett hat sie mit seinem Blut genährt. ‚Lebendiges‘ Blut, sozusagen. Warum hat das niemand vor ihm versucht?“

„Niemand will ihnen zu nahe kommen“, sagte Sinclair und zog die Mundwinkel nach unten. „Ist nicht persönlich gemeint, Garrett.“

„Das weiß ich, mein König“, sagte dieser steif, ohne meinen Mann anzusehen.

Und so war es auch. Die Biester waren die Unberührbaren, die Unreinen. In einer Gesellschaft aus Nicht-Menschlichen, aus Monstern, standen sie noch immer eine Stufe tiefer als die anderen. Ein guter Trick, wenn man es recht bedachte.

Ich schlug mir mit der Hand gegen die Stirn. „Ich wusste doch, dass ich den Typen kannte! Ist er eines der Biester? Himmel, er ist wirklich entkommen?“

„Hat jemand ein Fenster zerbrochen?“ Tina betrat das Büro, im Arm einen Stapel Papiere, die wahrscheinlich alle auf Sinclairs Unterschrift warteten.

Inoffiziell war mein Ehemann der König der Vampire, offiziell besaß er mehrere Unternehmen, Grundstücke und Bürogebäude und war lächerlich reich. Und alles gehörte, nach dem Gesetz von Minnesota, nun zur Hälfte mir. Glaubte ich zumindest. Oder … Moment. Waren wir eine Gütergemeinschaft oder …? Ich hatte alles, was mit der Scheidung meiner Eltern zu tun hatte, erfolgreich verdrängt.

„Garrett hat die Biester wieder zum Leben erweckt wie so ein düsterer Frankenstein aus den zwanziger Jahren und jetzt haben sie sich vorgenommen, Betsy zu töten“, sagte Marc, ohne Luft zu holen, und sah so aus, als sei er stolz darauf, mehrere Worte hintereinanderreihen zu können, ohne in Ohnmacht zu fallen. Musste er denn ausgerechnet heute keinen Dienst in der Notaufnahme haben? Heute Abend würden wir ihn nicht mehr abschütteln können. Normalerweise hielten wir die noch atmenden Mitbewohner aus Vampir-Angelegenheiten heraus, nicht zuletzt zu ihrer eigenen Sicherheit.

„Siehabenwas?Weristhier,umwaszutun?“TinasKinnladeklappteherunter,PapiereflattertenzuBoden.SiesahauswieeinePuppe,mitihremhüftlangenblondenHaarunddenriesigenKulleraugen.InknielangenHemdblusenkleidernundmiteinerBrilleausFensterglas(dasiekeineSehhilfebenötigte)sahsiezumAnbeißenaus.Geradejetzttrugsiebeides,inMarineblauundSchildpatt.„Warumstehtihrhieralleherum?Warum …?“

„Und Ant hat angefangen zu spuken.“

„Ich habe mich schon gewundert, wann du dich an mich erinnern würdest“, sagte die unerträgliche Frau.

„Hast du daran gedacht, Tampons mitzubringen?“, fragte Jessica und jetzt war es an den Männern im Raum, beunruhigt auszusehen. Allerdings – für wen? Ich brauchte sie ganz sicher nicht mehr und ergo Tina auch nicht. Jessicas Zyklus war seit ihrer Krebserkrankung komplett durcheinander. Brauchte Antonia – oder irgendeine andere Werwölfin – Tampons? Der Geist auf jeden Fall ganz sicher nicht.

Und was sagte das über mein Leben aus, dass ich (schon wieder) mit zwei Frauen zusammenlebte, die Antonia hießen? Die meisten Leute lernten in ihrem ganzen Leben keine Antonia kennen. Als eine von ihnen starb, hatte ich gedacht, ich sei nun endlich frei. Wirklich, ich hatte gedacht …

„Majestät, hört Ihr zu?“

„Hä? Warum?“

Sinclair lachte laut auf, während Tina mit ihrem winzigen Fuß aufstampfte. „Wütende Vampire sind auf dem Weg hierher, um Euch zu töten.“

„Es ist schwer, sich darüber aufzuregen“, sagte ich ehrlich und mein Ehemann unterdrückte ein weiteres Lachen, „wenn Ant mir über die Schulter schaut. Sozusagen. Und es ist ja nicht das erste Mal, dass uns unwillkommene Gäste die Ehre geben.“ Ich wandte mich an Jessica. „Erinnerst du dich an die Abschlussparty 1996?“

Sie erschauderte. „Ich dachte, du würdest den Whisky nie mehr aus den Vorhängen herausbekommen.“

„Aber ich nehme an, wir müssen nur …“

Bum! Ka-Bum! BUM! BUM! BUM!

„Was zum …?“, fragte Jessica erstaunt.

„Das werden die Horden der gefräßigen Untoten sein, die gegen die Haustür treten“, sagte Tina, ließ den Rest der Papiere fallen und putzte ihre Brille. Ich wartete darauf, dass sie herumwirbelte wie Wonder Woman (Wonder Vamp!), aber sie sah eher so aus, als sei sie alarmiert und fluchtbereit.

Sinclair seufzte. Sein Blick sagte, dass ihm übel mitgespielt wurde. Aber Männer, die beim Sex unterbrochen wurden, neigen dazu, diesen Blick aufzusetzen. „Was sollen wir tun: flüchten oder kämpfen?“

Tina warf Jessica einen Blick zu. Die starrte böse zurück. „Äh, flüchten, denke ich. Zumindest, bis wir mehr über unsere Angreifer wissen.“

„Meinetwegen müsst ihr nicht abhauen“, behauptete Jessica. Aber natürlich entschieden wir uns genau deswegen dafür, zu flüchten und nicht zu kämpfen. Wir konnten nicht Jessicas und Marcs Leben riskieren, bevor wir keine genauere Einschätzung der Lage hatten. „Das meine ich ernst.“

Sinclair ignorierte sie. „Nun gut. Nehmen wir den Tunnel.“

Tunnel? Wir sollten einen Tunnel nehmen? Wir hatten den König, die Königin, Tina, ein ehemaliges Biest – die Chancen standen gut für uns, dachte ich. Aber Tina hatte recht – auf der anderen Seite mussten wir auf zwei Menschen aufpassen.

Tina geleitete uns zu einer der vielen Türen, die hinunter zum Keller führten, und ich beeilte mich, um mit ihr Schritt zu halten. „Wie bitte? Wir haben einen Tunnel?“

„Betsy, komm schon!“ Marc packte mich am Ellbogen und riss mich weiter, sodass ich fast die Stufen hinuntergestürzt wäre.

„Ihr geht auf keinen Fall ohne mich“, sagte Ant triumphierend und marschierte (marschierte? Konnte sie denn nicht schweben?) hinter mir her, gerade als die Tür sich schloss und uns undurchdringliche Dunkelheit umgab.

4

Na ja. Vielleicht nicht undurchdringlich. Ich konnte gut sehen, genauso wie Garrett, Tina und Sinclair. Aber das Stöhnen und Wimmern vor uns auf der Treppe ließ darauf schließen, dass die Menschen größere Probleme hatten, sich in der Dunkelheit vorwärtszubewegen.

„Hör auf zu flennen, Marc Spangler, oder ich reiße dir die Eier ab“, zischte Jessica. Wenn sie Angst hatte, wurde sie wütend. Sie hätten sie erleben sollen, als sie fälschlicherweise positiv auf Tripper getestet worden war. Danach hatten wir tagelang neues Geschirr gekauft.

„Ich kann nichts sehen, verdammte Scheiße“, knurrte er zurück. Plötzlich herrschte Stille, dann war zu hören – ich weiß, es hört sich komisch an, aber ich konnte das Geräusch tatsächlich wahrnehmen –, wie jemand mit den Armen ruderte, anschließend ein Poltern, gefolgt von Stöhnen.

„Bei lebendigem Leib von den Biestern gefressen zu werden kann nicht schlimmer sein als das hier“, ächzte Marc vom Boden aus. Autsch. Er musste die letzten zehn Stufen hinuntergestürzt sein. Auf Zement.

„Sei vorsichtig“, sagte Tina.

„Danke. Wenigstens einer, der sich Sorgen macht.“

„Du hättest dir bei dem Sturz den Knöchel brechen und unsere Flucht behindern können.“

„Ich hasse Vampire“, gab er gereizt zurück. „Wirklich wahr. Ich hasse sie.“

Ich drängte mich an Jessica vorbei, ging zu Marc und half ihm auf. „Das ist ja so romantisch“, gurrte er und trat sanft mit seinem nicht gebrochenen Fuß nach mir.

„Sei still oder ich verfüttere dich an die Biester.“

„Warum sind wir eigentlich in den Keller gegangen?“, wollte Jessica wissen.

„Und warum haben wir kein Licht angemacht?“, fragte ich.

„Tina, nimm Jessicas Hand. Elizabeth, trag du Marc.“ Sinclair stöhnte leise in der Dunkelheit, als könnte er selbst nicht glauben, was er gerade gesagt hatte. „Alle anderen folgen mir.“

Es dauerte eine Ewigkeit. Der Keller war so lang wie das Haus, ein Herrenhaus auf der Summit Avenue. Und wir mussten durch unbekannte Räume laufen und um einige Tische und Stühle herumgehen – ich konnte an einer Hand abzählen, wie oft ich seit unserem Einzug hier unten gewesen war. Ich hatte mich hier nie wohl gefühlt, noch nicht einmal, als Garrett hier unten lebte, Decken strickte und Häkeln lernte.

Unser Vorankommen wurde durch die gelegentlichen Schreie, wenn Jessica sich den Zeh oder Ellbogen stieß, nicht gerade erleichtert. Marc kuschelte sich nur tiefer in meine Arme (lächerlich, er hatte dreißig Pfund mehr Muskeln als ich vorzuweisen) und wartete geduldig, dass ich ihn in Sicherheit brachte.

Mein Leben ist kein Zuckerschlecken, seitdem ich gestorben bin, dachte ich.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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