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Beschreibung

In unserer Gegenwart stellt sich die Frage nach der Wahrheit in neuer Weise. Ob es um Klimawandel, Migration oder den Reiz von Verschwörungserzählungen geht – überall treffen wir auf unterschiedliche Wahrheitsansprüche. Bedeutend ist auch der Einfluss sozialer Medien oder die Instrumentalisierung historischer Ereignisse. Was unterscheidet Wahrheit von Realität? Wie verhält sich Wahrheit zu Wissen und Glauben? Renommierte Forscherinnen und Forscher aus den Natur- und Geisteswissenschaften setzen sich im neuen Band der Essay-Reihe der Akademie der Wissenschaften in Hamburg mit diesen komplexen Fragen auseinander. www.awhamburg.de

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Mojib Latif (Hg.)

Wert der Wahrheit

Wissenschaftliche Perspektiven

Herausgeber: Prof. Dr. Mojib Latif, für die Akademie der Wissenschaften

in Hamburg

Redaktion: Wolfgang Denzler, Akademie der Wissenschaften in Hamburg

Illustrationen: Hamed Eshrat, https://www.eshrat.de

Finanziert aus Mitteln der Freien und Hansestadt Hamburg.

Akademie der Wissenschaften in Hamburg

Edmund-Siemers-Allee 1

20146 Hamburg

Deutschland

[email protected]

https://www.awhamburg.de/essays

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © Hamed Eshrat

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN Print 978-3-451-39879-7

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83484-4

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-83479-0

Inhalt

Einleitung

Klimawandel: Fakt oder Fiktion?

Utopische Zeitreise

Digitale Zwillinge der Erde

Universelles Ergebnis verschiedener Klimamodelle

Die Wahrheit über Spargel

Ein Lebensmittel mit Herkunft

Gemüse mit Identitätskrise

Mit dem Kühltransporter durch Europa

Stabilisotopenmethode als Referenz

Metabolitenanalyse als Alternative

Von der Forschung in die Praxis

Automatisierung und Wahrheit

Automatisierung in unserer Welt

Wahrheit in unserer Welt

Ist Automatisierung wahr?

Robotik und Wahrheit

Automatisierung und Wahrheitsfindung

Die Grenzen der Automatisierung bei der Wahrheitssuche

Wenn die subjektive Wahrheit Leid verursacht

Irren ist menschlich

Wann entsteht psychisches Leid?

Was versteht man unter einer Wahnvorstellung?

Wie gut kann wahnhaftes Erleben von »normalem« Erleben abgegrenzt werden?

Wie entstehen wahnhafte Überzeugungen?

Welche Therapieansätze gibt es?

Wie findet jemand wieder zur Wahrheit zurück?

Der Reiz von ­Verschwörungstheorien

Geheim, absichtsvoll und böswillig

Bedürfnis nach Gewissheit

Bedürfnis nach Sicherheit

Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung

Bildung, Beziehungen und Teilhabe wirken Verschwörungstheorien entgegen

Gesunde Skepsis

Prävention statt Repression

Warum soziale Medien nicht das Ende der Wahrheit bedeuten

Drei Formen der Unwahrheit

Manipulierte Informationen

Verschwörungstheorien

Mangel an Verantwortung und Regulierung

Chancen für mehr Sichtbarkeit und Repräsentation

Ist es wirklich wahr? Einige Überlegungen zu Wahrheit und Postwahrheit

Lügen aus Gewohnheit

Was ist Bullshit?

Gleichgültig der Wahrheit gegenüber

Emotionen statt Fakten?

Organisierte Wissenschaftsleugnung

Für soziale Medien ist der Wahrheitsgehalt irrelevant

Objektive und »zweieine« Wahrheit im Russischen

»Istina« – wahrhaftig und wirklich

»Pravda« – rechtens und richtig

Zweieinheit von Wahrheit und Gerechtigkeit?

Auf Erden herrscht »krivda«

»Pravda« in der Literatur

Russlands »krivda« im Krieg gegen die Ukraine

Wahrheiten über ­Migration

Eine unehrliche Debatte

Der Mythos Pull-Faktor Seenotrettung

Rationales Kalkül wird überschätzt

Abschottung gefährdet gesellschaftlichen Zusammenhalt

Wahrheit und Logik

Der Wahrheitsbegriff in der formalen Logik

Logik ist nicht gleich Logik

Welche Logik ist nun die richtige?

Historische Wahrheit im Spannungsfeld von Fakten, Deutung und Mythos

Was ist Tatsache?

Zeitgeist und Wahrscheinlichkeit

Geschichtsforschung und Wahrheit

Wahrheit und Mythos

Anachronistischer Streit um Identität

Geschichtsforschung und Freiheit

Literatur und Wahrheit

Vorbemerkung

Sprache und Wahrheit – Sprache als Wahrheit?

Selbstreflexion als Wahrheitskriterium

Hierarchie von Wahrheiten?

»Wahrheit« und ­sprachliches Handeln

Sprechhandlungen

Ernsthaftigkeit sprachlichen Handelns

Konvergenzen von sprachlicher, außersprachlicher und mentaler Wirklichkeit

»Wahrheit« und die Konzentration auf Assertionen

Weitergabe von Assertionen

Sprechhandlungen mit Konvergenzen jenseits von »Wahrheit«

Sprechhandlungs-Ensembles

Semantische Perspektiven auf »Wahrheit«

Wahrheit, Wissen, Glauben: Gibt es die ­absolute Wahrheit?

Göttliche Wahrheitsansprüche

Der Weg, die Wahrheit, das Leben

An Wahrheit glauben

Wahrheit und Realität

Von alternativen Fakten zu alternativen Wahrheiten?

Die Realität und ihre Facetten

Orwell lässt grüßen

Die Wahrheit wird euch frei machen

Macht und Wahrheit

Die Eigenart religiöser Wahrheit im Verhältnis zu allgemeinen Wahrheitsansprüchen und ihren Konflikten

Wahrheit und Wissenschaft

Über das Verhältnis von Religion und Wissenschaft zur Wahrheit

Die Beitragenden

Zur Akademie der Wissenschaften in Hamburg

Einleitung

Was ist die Wahrheit wert? Die Wahrheit ist eine Banane wert. Zumindest für einen Schimpansen, der es für den Preis einer Banane mit der Wahrheit regelmäßig nicht so genau nahm und, wie die Verhaltensforscherin Jane Goodall berichtete, seine Gruppe mit dem typischen Futterruf geschickt in die Irre führte, um ungestört allein die gerade entdeckten Früchte fressen zu können. Auch andere Tierarten nutzen solche Tricks, um Artgenossen zum eigenen Vorteil zu täuschen oder ihren Nachwuchs vor Feinden zu schützen.1 Doch während die Biologie davon ausgeht, dass Tieren die Konzepte von Wahrheit und Lüge mangels abstraktem Denken, Sprachfähigkeit und Selbstreflexion nicht zugänglich sind, gilt der Mensch als sehr clever darin, von klein auf wahrheitswidrig zu kommunizieren. Beobachtungen zeigen, dass es Kindern bereits im Alter von drei Jahren erstaunlich gut gelingt, die Wahrheit nicht nur voreinander, sondern auch vor Erwachsenen zu verbergen.2

Während Kinder täuschen, um etwa ein größeres Stück vom Kuchen abzubekommen, als ihnen gerechterweise zusteht, verstoßen Erwachsene oft zu weit höheren Kosten gegen die soziale Norm der Wahrheit, also den Wert des ehrlichen Handelns und wahrhaftigen Sprechens.

Vor zehn Jahren beispielsweise wurden namhafte Autohersteller dabei erwischt, wie sie mit überwiegend illegalen technischen Manipulationen Umweltgesetze umgingen. Sie täuschten bei Emissionstests, um zu verschleiern, dass Abgasgrenzwerte im Normalbetrieb nicht eingehalten werden. Dieser sogenannte Dieselskandal führte damals zu drastischen Kurseinbrüchen an den Börsen und zur Vernichtung von Unternehmenswerten in Milliardenhöhe. Einige Verantwortliche der Konzerne mussten für ihre Unwahrhaftigkeit hohe Millionenstrafen zahlen, manche wurden zu Haftstraften verurteilt. Noch drastischer waren die Folgen der falschen Angaben über die Abgase aber für Mensch, Umwelt und Klima.

Auch in der Wissenschaft könnte man den Wert der Wahrheit an den Folgen unehrlichen Verhaltens ablesen: Glaubwürdigkeit geht verloren, das Vertrauen in die Integrität ganzer Disziplinen wird erschüttert, Ressourcen werden vergeudet, und die Betroffenen verlieren Reputation und Karriere. Im Jahr 2005 behauptete ein südkoreanischer Stammzellforscher, es sei ihm gelungen, einen menschlichen Embryo durch Zellkerntransfer zu klonen und daraus Stammzellen zu gewinnen. Diese scheinbar bahnbrechende Errungenschaft in der Stammzellforschung wurde auf der Titelseite des renommierten Wissenschaftsmagazins Science verkündet, die Studie war im Kern jedoch unwahr. Eine Untersuchungskommission der Universität Seoul fand manipulierte DNA-Analysen wie auch fingierte Fotos und kam zu dem Schluss, dass die meisten wissenschaftlichen Arbeiten des Wissenschaftlers als Fälschungen zu betrachten seien.3

Ausschlaggebend für die Aufdeckung des Betrugs war damals der Hinweis eines Kollegen des Forschers an Journalisten. Die Kontrolle durch Medien und Wissenschaft hat letztlich funktioniert. Verfälschungen der Wahrheit in der Wissenschaft gab es auch davor und danach. Das hat zu strengeren Regeln und mehr Selbstkontrolle in Forschung und Lehre geführt. Studierende und junge Forschende werden stärker für Wissenschaftsethik sensibilisiert. Im Gegensatz zu Verbreitern von Verschwörungserzählungen kann die Wissenschaft Fehler eingestehen. Sie ist in der Lage, sich selbst zu korrigieren.

Aber streben Forscherinnen und Forscher überhaupt nach der absoluten Wahrheit? Verkünden sie letzte Gewissheiten? Die Wissenschaft will herausfinden, wie die Dinge in der Welt funktionieren, und sucht nach bestmöglichen Erklärungen. Die Ergebnisse, die sie findet, sind oft vorläufig, und Einsichten können sich im Laufe der Zeit ändern, wenn neue Informationen oder bessere Methoden gefunden werden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler veröffentlichen ihre Ergebnisse transparent, sie müssen überprüfbar und damit widerlegbar sein, sie sind also falsifizierbar. Nur dann können sie als wissenschaftlich gelten.

Gerade in Zeiten, in denen Debatten oft mehr von Vorurteilen oder Emotionen als von Argumenten geprägt sind, ist die Wahrheit für Wissenschaft und Gesellschaft von besonderem Wert. Für Ernst Cassirer war 1935 klar: »Ohne den Anspruch auf eine selbständige, eine objektive und autonome Wahrheit würde nicht nur die Philosophie, sondern auch jede besondere Wissenschaft, die Naturwissenschaft wie die Geisteswissenschaft, ihren Halt und ihren Sinn verlieren.« Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland emigrierte der ehemalige Hamburger Professor und warnte umso eindringlicher davor, das Ideal der Wahrheit als Träumerei und Utopie abzutun. Er rief leidenschaftlich zur Wahrung der »Unzerstörbarkeit des Geistes« auf, indem man der Diktatur ein »Aufgebot der strengen, unbestochenen, von Vorurteilen freien Forschung« entgegenstellt.4

Als Wissenschaftsakademie bekennen wir uns entschieden zum gesellschaftlichen Zusammenhalt und zur unbedingten Freiheit der Wissenschaft, insbesondere in Zeiten von Krisen und im Angesicht wachsender antidemokratischer Kräfte.

Als die Nationalsozialisten 1933 Demokratie und Freiheit in Deutschland abschafften, emigrierte auch die Philosophin Hannah Arendt. Für sie war Wahrheit »das, was der Mensch nicht ändern kann […] der Grund, auf dem wir stehen, und der Himmel, der sich über uns erstreckt«. Sie beschrieb die Wahrheit als unersetzlich, weil Gewalt und Manipulation sie zerstören, aber nichts an ihre Stelle setzen können.5

Auch der Physiker Max Planck sprach von Wissenschaft als Ausdruck »des unbeirrbaren Glaubens an eine vernünftige Weltordnung«. Doch er mahnte: »Freilich aufzwingen läßt sich dieser Glaube niemandem, ebenso wenig wie man die Wahrheit befehlen oder den Irrtum verbieten kann.«6

Vorurteile sind auch heute noch keine Sache des Verstandes. Gefühle wie Angst, Sorgen, Misstrauen kann man den Menschen nur schwer ausreden, aber man muss ihnen Wissen über Zusammenhänge und sachliche Informationen in möglichst anschaulicher und differenzierter Form anbieten.

Als Akademie der Wissenschaften in Hamburg folgen wir dem Auftrag, wissenschaftliche Erkenntnisse in die Gesellschaft zu vermitteln, Expertenwissen für das Alltagsverständnis anschlussfähig zu machen, Erkenntnisse mit der Öffentlichkeit kritisch zu diskutieren und Diskussions- und Reflexionsräume jenseits der oft engen Rahmenbedingungen des akademischen Berufsalltags und unabhängig von politischen Vorgaben zu schaffen. Renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem norddeutschen Raum bilden die Mitgliedschaft der Akademie.

Unsere Mitglieder führen in diesem Band die Reihe der Akademie-Essays fort, in denen sie sich in ihren Texten aus verschiedenen Disziplinen gesellschaftlich relevanten Themen widmen. In den folgenden sechzehn Essays nähern wir uns der Frage nach dem Wert und Wesen der Wahrheit aus verschiedenen Richtungen.

Die gesammelten, bisher erschienenen Essays stehen Ihnen unter dieser Adresse kostenlos als Open-Access-Publikationen zur Verfügung: https://www.awhamburg.de/essays

Eine anregende und erkenntnisreiche Lektüre wünscht Ihnen

Prof. Dr. Mojib Latif

Präsident der Akademie der Wissenschaften in Hamburg

1 Riechelmann, Cord. 2017. Können Tiere lügen? Kursbuch 53: 81–94. https://doi.org/10.5771/0023-5652-2017-189-81.

2 Gongola, Jennifer, Nicholas Scurich, and Jodi A. Quas. 2017. Detecting deception in children: A meta-analysis. Law and Human Behavior 41: 44–54. https://doi.org/10.1037/lhb0000211.

3 Seoul National University Investigation Committee. 2006. Summary of the Final Report on Professor Woo Suk Hwang’s Research Allegations by Seoul National University Investigation Committee – News – SNU NOW. Seoul National University. January.

4 Cassirer, Ernst, John Michael Krois, Christian Möckel, and Ernst Cassirer. 2008. Zu Philosophie und Politik: mit Beilagen. Nachgelassene Manuskripte und Texte / Ernst Cassirer Bd. 9. Hamburg: Meiner.

5 Arendt, Hannah. 2017. Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays. München: Piper ebooks.

6 Planck, Max. 1958. Vorträge und Reden: Aus Anlass seines 100. Geburtstages (23. April 1958). Edited by Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. De Gruyter. https://doi.org/10.1515/9783112311622.

Klimawandel: Fakt oder Fiktion?

Von Mojib Latif

Klimawandel: Fakt oder Fiktion?

Von Mojib Latif

Der Klimawandel wird durch den Menschen verursacht, das ist wissenschaftlicher Konsens. Absolute Wahrheit gibt es in der Wissenschaft jedoch nicht. Existiert also ein unumstößlicher Beweis dafür, dass der Klimawandel Folge menschlicher Aktivitäten ist?

Der Begriff Wahrheit spielt auch bei der Diskussion um den Klimawandel eine Rolle, wobei mit Klimawandel die globale Erwärmung seit Beginn der Industrialisierung gemeint ist. Die Wissenschaft ist sich einig: Die Erwärmung ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen.1 Angesichts der eingängigen Argumente sogenannter Klimaskeptiker, die einen nennenswerten menschlichen Einfluss auf das Klima bestreiten, zweifeln nicht wenige Bürgerinnen und Bürger trotz der überwältigenden wissenschaftlichen Evidenz an den Ergebnissen der Klimaforschung.

Eines der gewichtigsten »Argumente« der Skeptischen lautet, dass es keinen Beweis dafür gebe, dass der Mensch das Klima verändert. Die menschliche (anthropogene) Klimabeeinflussung sei nur eine Theorie, eine von vielen. Des Öfteren vergleichen sie die Klimaforschung mit einer Religion und versuchen, der Forschung die wissenschaftliche Seriosität abzusprechen. Greifen wir das Argument des mangelnden Beweises auf und fragen, wie denn eigentlich der unumstößliche Beweis für die anthropogene Klimabeeinflussung aussehen könnte. Wie ist zweifelsfrei nachzuweisen, dass es der Mensch ist, der die Erderwärmung verursacht hat?

Utopische Zeitreise

Dazu ein Gedankenexperiment. Um den unumstößlichen Beweis zu erbringen, würden wir mit einer Zeitmaschine in die vorindustrielle Zeit zurückreisen, sagen wir in das Jahr 1850. Und dann würden wir die Weltentwicklung noch einmal starten, ohne dass die Menschen Treibhausgase wie Kohlendioxid (CO2) in die Luft bliesen. In so einer Welt würde die Menschheit etwa auf die Verbrennung der fossilen Brennstoffe Kohle, Erdöl und Erdgas zur Energieerzeugung verzichten. In dieser Welt fänden nur die erneuerbaren Energien wie Sonnen- und Windenergie, Wasserkraft, Erdwärme oder Gezeiten- und Wellenenergie Verwendung. Auch der Verkehr würde keine Emissionen verursachen. Es gäbe zum Beispiel keine Autos mit Benzinmotoren. Und auch die Landwirtschaft käme ohne den Ausstoß von Treibhausgasen wie Methan (CH4) oder Lachgas (N2O) aus. Durch den Vergleich der realen mit der zweiten Weltentwicklung bekämen wir die Antwort auf die Frage, welchen Anteil der Mensch an der Klimaentwicklung seit Beginn der Industrialisierung besitzt.

Digitale Zwillinge der Erde

Zeitreisen und ein Neustart der Menschheitsgeschichte bieten faszinierende Szenarien für Romane und Filme. In unserer nüchternen Realität können sich Klimaforschende immerhin ein Abbild der Erde im Computer erschaffen und das irdische Klima samt Neustart simulieren. Denn das Klima unterliegt den Gesetzen der Physik. Die Gesetze sind bekannt und können in Form von mathematischen Gleichungen ausgedrückt werden. Zwar kennen wir die exakte Lösung der Gleichungen nicht, die numerische Mathematik ermöglicht es uns aber, die Gleichungen auf Computern näherungsweise zu lösen. Die Realisierung der das Klima bestimmenden mathematischen Gleichungen auf einem Computer bezeichnet man als Klimamodell. Es handelt sich bei den Klimamodellen um eine Art digitalen Zwilling der Erde.

In übertragenem Sinne haben wir eine Erde im Reagenzglas vor uns, mit der wir experimentieren können. Wir können den Einfluss steigender atmosphärischer Treibhausgaskonzentrationen studieren. Oder die Sonnenstrahlung verändern, wie es im Laufe von Jahrzehnten und Jahrhunderten und über noch längere Zeiträume geschieht. Wir können studieren, welche Auswirkungen Vulkanausbrüche auf das Klima haben. Die Modelle simulieren auch Veränderungen, die man als interne Klimaschwankungen bezeichnet. Selbst wenn sich die Zusammensetzung der Atmosphäre nicht ändert, die Sonne gleich stark scheint und keine Vulkane ausbrechen, schwankt das Klima. Die Charakteristika der simulierten internen Schwankungen sind von denen der beobachteten Schwankungen kaum zu unterscheiden.

Universelles Ergebnis verschiedener Klimamodelle

Mit den Klimamodellen können wir das tun, was wir in dem obigen Gedankenexperiment der Zeitreise durchgespielt haben. In einer ersten Simulation werden die Modelle nur mit den natürlichen Einflüssen gerechnet, menschliche Aktivitäten werden ignoriert. Die Simulation zeigt im Ergebnis keinen langfristigen Anstieg der global gemittelten Erdoberflächentemperatur. In einer zweiten Simulation finden sowohl die natürlichen als auch die anthropogenen Einflüsse wie der Anstieg des atmosphärischen CO2-Gehalts Berücksichtigung. Die global gemittelte Temperatur steigt in dieser zweiten Simulation in Übereinstimmung mit den Beobachtungen an. Dabei handelt es sich um ein universelles Ergebnis in dem Sinne, dass die Resultate der verschiedenen Klimamodelle, die weltweit betrieben werden, qualitativ übereinstimmen. Außerdem simulieren die Modelle das räumliche Muster der beobachteten Temperaturveränderungen nur dann, wenn die anthropogenen Antriebe mit einbezogen werden. Für die Identifizierung und Quantifizierung des menschlichen Klimaeinflusses haben zwei Klimawissenschaftler 2021 den Physik-Nobelpreis verliehen bekommen: Klaus Hasselmann und Syukuro Manabe.

Wahrheit und Wissenschaft

Es ist wichtig, zwischen dem alltäglichen Verständnis von Wahrheit und einem wissenschaftlichen Verständnis zu unterscheiden: Die Wissenschaft strebt nicht nach absoluter Wahrheit, sondern nach den jeweils bestmöglichen Erklärungen auf Basis des gegenwärtigen Wissens, die aber prinzipiell falsifizierbar bleiben. Aussagen sind falsifizierbar, wenn sie sich empirisch überprüfen und gegebenenfalls widerlegen lassen.

Die Wissenschaft arbeitet mit Theorien und Hypothesen, die fortwährend durch Experimente und Beobachtungen überprüft, korrigiert oder verworfen werden. Ziel ist es, Annahmen zu verbessern oder durch empirisch besser fundierte zu ersetzen. Die Wissenschaft ist ein dynamischer Prozess, der auf immer neuen Erkenntnisgewinn, auf bessere Erklärungen der Welt abzielt. Forschungsmethoden werden kontinuierlich weiterentwickelt und verfeinert. Eine absolute Wahrheit als letztgültiger Stand des Wissens kann jedoch nie erreicht werden.

Es verbleibt jedoch eine geringe Unsicherheit, unter anderem, weil es perfekte Modelle nicht geben kann. So besteht, wie bei jeder wissenschaftlichen Erkenntnis, das theoretische Rest­risiko, dass sich die Klimaforschung irrt. Allerdings ist dieses Risiko im Vergleich zu den katastrophalen Folgen, die eintreten würden, wenn die Klimaforschung recht hat und wir nichts unternehmen, um den Klimawandel zu bekämpfen, verschwindend gering. Der Begriff Wahrheit ist deswegen nicht angemessen, wenn wir über die Ursache der globalen Erwärmung diskutieren. Der Weltklimarat schreibt 2023 in seinem Synthesebericht: »Menschliche Aktivitäten haben eindeutig die globale Erwärmung verursacht, vor allem durch die Emission von Treibhausgasen«, und versieht diese Aussage mit dem Zusatz »hohes Vertrauen«.2

1 NASA’s Jet Propulsion Laboratory/California Institute of Technology (2023): Scientific Consensus: Earth’s Climate is Warming. Climate Change: Vital Signs of the Planet. Text abrufbar unter: https://climate.nasa.gov/scientific-consensus (Zugriff am 3.4.2023).

2 Deutsche IPCC-Koordinierungsstelle (Hrsg.) (2023): Synthesebericht zum Sechsten IPCC-Sachstandsbericht (AR6). Text abrufbar unter: https://www.de-ipcc.de/media/content/Hauptaussagen_AR6-SYR.pdf (Zugriff am 3.4.2023).

Die Wahrheit über Spargel

Von Marina Creydt

Die Wahrheit über Spargel

Von Marina Creydt

Bei Spargel, dem »weißen Gold«, spielt das Anbaugebiet eine große Rolle. Mit falschen Herkunftsangaben kann er bis zum fünf­fachen Preis verkauft werden. Die Untersuchung von Stoffwechselprodukten kann die wahren geografischen Ursprünge aufdecken.

Ein Lebensmittel mit Herkunft

Die Deutschen lieben ihren weißen Spargel. Seine geografische Herkunft hat einen maßgeblichen Einfluss auf den Preis. Aus diesem Grund kann es für Lebensmittelfälscher äußerst profitabel sein, die Herkunftsangabe zu manipulieren. Allerdings kann durch die Analyse von Metaboliten (Stoffwechselprodukten wie Lipiden, Zucker oder Aminosäuren) ein chemischer Fingerabdruck erstellt werden, der dabei hilft, solche Täuschungen aufzudecken.

»Essbares Elfenbein«, »königliches Gemüse« oder »weißes Gold« – keine andere Gemüseart in Deutschland wird wohl so sehr geschätzt wie weißer Spargel. Dabei ist der reinweiße Spargel ein überwiegend deutsches Phänomen. In den meisten anderen Teilen der Welt wird die grüne Variante bevorzugt, die deutlich leichter kultiviert werden kann. Auf rund 22 000 Hektar werden die begehrten weißen Stangen in der Bundesrepublik angebaut. Somit bildet Spargel als Spitzenreiter im deutschen Gemüseanbau einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor.

Gemüse mit Identitätskrise

Die Herkunftsangaben von Spargel sind leicht zu manipulieren: Etiketten können umgeschrieben oder ausländische Produkte direkt als »deutscher Spargel« auf den Märkten verkauft werden. Auf diese Weise lässt sich das Vier- bis Fünf­fache des ursprünglichen Wertes erzielen. Gleichzeitig werden sowohl die ehrlichen Spargelbauern als auch die Verbraucher getäuscht. Insbesondere durch die vermehrte Aufmerksamkeit für Herkunftsangaben bei den Verbrauchern wird der Ausspruch »Regional ist das neue Bio« für viele zunehmend wichtig. Die Motivation reicht vom einzigartigen Geschmack über kürzere, klimafreundlichere Transportwege bis hin zur Unterstützung der heimischen Wirtschaft. Daher sind viele Verbraucher bereit, für lokale Produkte einen höheren Preis zu zahlen. Der Preisunterschied resultiert hauptsächlich aus den verschiedenen wirtschaftlichen und klimatischen Bedingungen in den Anbauländern.

Insgesamt kultivieren in Deutschland 1630 überwiegend kleine und mittelständische Betriebe das Gemüse. Der Großteil von ihnen ist in Spargelhochburgen wie Nienburg, Beelitz, Schrobenhausen oder Walbeck ansässig. Dort sind die Böden meist weich und sandig, sodass die Sprossachsen gerade wachsen können. In diesen Regionen beginnt jedes Jahr ab April bis zum 24. Juni, dem Johannistag, eine intensive Geschäftigkeit. Erntehelfer und Touristen werden in Bussen herbeigebracht. Überall sind die schwarzen und weißen glitzernden Folien zu sehen, unter denen der Spargel aufwendig angebaut wird.

Mit dem Kühltransporter durch Europa

Und wir – ein dreiköpfiges Team der Hamburg School of Food Science an der Universität Hamburg – sind mittendrin. Das Ziel unseres Vorhabens besteht darin, eine analytische Methode zu entwickeln, mit der die geografische Herkunft von Spargel nachgewiesen werden kann. Eineinhalb Wochen fahren wir deshalb mit einem kleinen Kühltransporter quer durch Deutschland, Polen und die Niederlande von Spargelhof zu Spargelhof, um Proben für unser gemeinsames Forschungsprojekt zu nehmen. Durch die direkte Probenahme vor Ort können wir sicherstellen, dass wir wirklich authentisches und unverfälschtes Probenmaterial erhalten.

Die meisten der 40 Spargelanbauer in Deutschland kennen uns bereits aus den Vorjahren und sind auf unseren Besuch vorbereitet. Von jedem Anbauer erhalten wir mindestens drei Kilo Spargel in verschiedenen Sorten sowie ein ausgefülltes Metadatenblatt. Dieses Blatt enthält Informationen über die Bodenzusammensetzung und die Anbaumethoden. Fast alle Anbauer berichten uns – häufig aufgrund eigener Erfahrungen –, dass mehr »deutscher« Spargel verkauft als produziert wird. Dementsprechend werden wir von der Spargelbranche massiv unterstützt.

Während einer Ernteperiode legen wir mit unserem Kühltransporter insgesamt ungefähr 5000 Kilometer zurück. Zusätzliche Proben erhalten wir von Importeuren aus Spanien, Griechenland und Peru. Aufgrund der großen Entfernung ist es nicht möglich, diese Spargelproben persönlich abzuholen. Das Risiko, dass beispielsweise eine deutsche Probe als griechischer Spargel deklariert wird, ist vergleichsweise gering. Es wäre für die Fälscher nicht profitabel, da sie keinen finanziellen Gewinn daraus erzielen könnten.

Stabilisotopenmethode als Referenz