Wert des Lebens - Michel de Montaigne - E-Book

Wert des Lebens E-Book

Michel De Montaigne

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Beschreibung

»Montaignes Essais sollten nicht anders gelesen werden, als sie geschrieben wurden: auf eine freie, spielerisch schweifende Art. Spaziergänge des Denkens verlangen auch nach Spaziergängen des Lesens. So kann man die Essais beliebig aufschlagen, kann ohne schlechtes Gewissen in ihnen querlesen; egal wie, nach wenigen Seiten ist man in die suggestive Nähe des Autors gezogen und gleichzeitig ins Zentrum eigener Nachdenklichkeit« (Gerhard Staguhn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung). ­ Für alle, die ihren Spaziergang des Montaigne-Lesens beim Spazierengehen unternehmen wollen, bietet sich dieses kleine Taschenbuch für die Westentasche ideal an.

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Seitenzahl: 70

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Michel de Montaigne

Wert des Lebens

Aus den Essais

Aus dem Französischen von Hanno Helbling

Diogenes

Der Autor an den Leser

Dies ist ein aufrichtiges Buch.

Es kündigt dir zum Eingang schon an, dass ich damit keine andere als eine private und persönliche Absicht verfolgt habe; es war nicht mein Bestreben, dir zu dienen oder mir Ruhm zu verschaffen: Zu solchem Beginnen reichen meine Kräfte nicht aus.

Ich wollte es meinen Verwandten und Freunden zu Gefallen tun: Wenn sie mich werden verloren haben (was recht bald schon sein muss), können sie darin einige Züge meiner Lebensart und Gemütsart wiederfinden und umso vollständiger und lebendiger ihre Kenntnis von meiner Person bewahren. Wäre es mir um den Beifall der Öffentlichkeit zu tun gewesen, ich hätte mich mit entliehenen Vorzügen geschmückt oder mich von meiner besten Seite gezeigt. Ich will aber, dass man mich hier in meiner natürlichen, schlichten, gewöhnlichen Art sieht, ohne Kunst und ohne Anstrengung; denn ich male mich selbst.

Meine Fehler, meine Unvollkommenheiten, mein innerstes Wesen wird man abgebildet finden, soweit es die Schicklichkeit irgend erlaubt. Hätte ich in einer jener Nationen gelebt, die noch, wie es heißt, die sanfte Freiheit der ersten Naturgesetze genießen, ich hätte mich gerne völlig und nackt gemalt.

So bin ich, mein Leser, selber der Gegenstand meines Buches: Es gibt keinen Grund, weshalb du deine Muße auf ein so eitles und nichtiges Thema wenden solltest.

Mit Gott denn; Montaigne, den I. März 1580

Gedanken über den Tod

Das Ziel unseres Lebenslaufs ist der Tod; auf ihn müssen wir unseren Blick notwendigerweise richten. Wenn er uns schreckt, wie können wir dann einen Schritt tun, ohne zu schaudern? Das gemeine Volk hilft sich damit, dass es nicht an ihn denkt. Woher aber nimmt es die Dummheit und Roheit für solche Verblendung?

[…]

Welche Torheit, sich auf diese Art durchzuhelfen. Die Menschen gehen, kommen, laufen, tanzen; vom Tod haben sie nichts gehört. Das ist alles recht schön; aber wenn er dann kommt, ob zu ihnen, ob zu ihren Frauen, Kindern und Freunden, unerwartet, am hellen Tag, welche Qual, welch Geschrei, welche Wut! Und welche Verzweif‌lung ergreift sie! Hat man je schon etwas so Ausgewechseltes, Bedrücktes und Verwirrtes gesehen? Wir müssen uns früher darauf gefasst machen; dieses viehisch unbekümmerte Wesen, dürf‌te es sich in dem Kopf eines verständigen Mannes einnisten, was mich völlig unmöglich dünkt, wir können es uns nicht leisten. Wenn es ein Feind wäre, dem man ausweichen kann, würde ich raten, Zuflucht bei der Feigheit zu nehmen; doch da dies nicht angeht, da er euch doch erwischt, ob ihr feig seid und flüchtet oder euch haltet wie ein redlicher Mann, und da euch kein Harnisch schützt, so lasst uns lernen, in festem Stand den Kampf mit ihm aufzunehmen.

[…]

Mehr noch: Ich weiß aus Erfahrung, dass die Natur uns selbst beisteht und uns Mut verleiht. Ist es ein rascher, gewaltsamer Tod, so haben wir keine Zeit, ihn zu fürchten; ist er von anderer Art, so bemerke ich, dass ich in eben dem Maße, wie ich auf seine Annäherungen und auf die Krankheit eingehe, ganz unwillkürlich und von selbst das Leben ein wenig geringer schätze. Es macht mir weit mehr zu schaffen, die Entscheidung für den Tod zu verdauen, wenn ich bei voller Kraft und Gesundheit als wenn ich krank bin: zumal ich da nicht mehr so sehr an den Annehmlichkeiten des Lebens hänge, weil ich mich ihres Genusses und der Freude an ihnen zu entwöhnen beginne; so erblicke ich den Tod mit viel geringerem Schrecken. Und dies lässt mich hoffen, dass ich, je weiter ich mich von jenem entferne und diesem mich nähere, umso leichter auf den Tausch werde eingehen können.

Gerade so, wie ich bei andern Gelegenheiten bestätigt fand, was Cäsar gesagt hat: dass uns die Dinge oftmals von weitem größer erscheinen als aus der Nähe, so eben habe ich festgestellt, dass mir vor den Krankheiten viel mehr graute, wenn ich gesund war, als wenn ich sie spürte. Solange ich munter, rüstig und vergnügt bin, will mir jener andere Zustand so ungleich dem jetzigen erscheinen, dass ich in meiner Einbildung das Unangenehme um die Hälfte vergrößere und es mir schwerer vorstelle, als wenn ich es auf dem Hals habe; ich hoffe, dass es mir mit dem Tod nicht anders ergehen werde.

[…]

Man soll nichts beginnen, was lange Zeit währen wird, oder man darf nicht sein Herz daran hängen, es vollendet zu sehen. Wir sind geboren, um tätig zu sein. Ich meine, wir sollen nur immerzu tätig sein; der Tod soll mich antreffen, wie ich meinen Kohl pflanze, unbesorgt um seinetwillen und erst recht um meinen unfertigen Garten.

Von der Gewohnheit

Die Gesetze des Gewissens, von denen wir meinen, sie stammten aus der Natur, sind Kinder der Gewohnheit. Ein jeder hält für sich die Auf‌fassungen und die Sitten hoch, die um ihn her gebilligt und als gültig anerkannt werden; er kann sich ihnen nicht ohne Gewissensbisse entziehen, sich ihnen nicht ohne Beifall fügen.

[…] Die hauptsächliche Wirkung ihrer Macht besteht jedoch darin, uns dergestalt zu ergreifen und einzunehmen, dass wir kaum noch die Kraft haben, uns ihnen zu entziehen und in uns selber zurückzukehren, um das Für und das Wider ihrer Weisungen zu bedenken. Da wir sie nämlich mit unserer Muttermilch einsaugen und sich das Antlitz der Welt uns zuerst in diesem Aussehen darstellt, scheinen wir dazu geboren zu sein, dieser Bahn zu folgen. Und die gewöhnlichen Vorstellungen, die wir um uns anerkannt und mit dem Samen unserer Väter in uns eingepflanzt finden, dünken uns allgemein und natürlich.

Daher glaubt man von dem, was nicht im Rahmen der Gewohnheit ist, es sei auch nicht im Rahmen der Vernunft; Gott weiß, wie sehr gerade dies zumeist der Vernunft widerspricht! […] Man nimmt aber den Rat und die Lehre der Wahrheit an, als gälten sie nicht einem selbst, sondern nur dem gewöhnlichen Volk; und statt sie dem eigenen Lebenswandel aufzuprägen, prägt man sie törichter- und unnützerweise seinem Gedächtnis ein.

Was aber die Herrschaft der Gewohnheit betrifft, so halten die Völker, die zur Freiheit und zur Selbstregierung erwachsen sind, jede andere Staatsform für ungeheuerlich und widernatürlich. Diejenigen, die sich der Monarchie unterziehen, halten es ebenso; und welch einfache Veränderung ihnen das Glück auch anbietet, sie haben selbst dann, wenn sie sich mit der größten Mühe eines lästigen Gebieters entledigt haben, nichts Eiligeres zu tun, als mit ebensolcher Mühe einen anderen einzusetzen, weil sie sich nicht entschließen können, das Regiment zu hassen. Dank der Vermittlung der Gewohnheit ist ein jeder mit dem Ort zufrieden, an den die Natur ihn gesetzt hat; und die Wilden in Schottland bekümmern sich so wenig um die Touraine wie die Skythen um Thessalien.

[…]

Die Gewohnheit entzieht unserem Blick das wahre Antlitz der Dinge.

[…] Wer aber versucht, sich des mächtigen Vorurteils der Gewohnheit zu entledigen, der wird manches finden, das durch unangefochtenen Beschluss angenommen worden und durch nichts weiter gestützt ist als durch den Silberbart und die Runzeln des Brauchs; reißt er die Maske ab, bezieht er die Dinge auf die Wahrheit und auf die Vernunft, so wird er sein Urteil umgestoßen und gleichzeitig auf festeren Grund gestellt finden.

[…]

Diese Betrachtungen bringen keinen verständigen Mann davon ab, sich gemeiner Lebensweise zu fügen. Vielmehr scheint mir umgekehrt, dass jede ausgefallene und eigentümliche Auf‌führung eher von Narrheit oder von ehrgeiziger Ziererei herrührt als von wahrer Vernunft, und dass der Weise zwar seine Seele aus dem Gedränge in sich selber zurückziehen und ihr die Freiheit und Vollmacht des Urteils über die Dinge erhalten, äußerlich aber den eingebürgerten Formen sich fügen soll. Unsere Gedanken gehen die Gesellschaft, das öffentliche Wesen nichts an; aber das Übrige, unsere Handlungen, unsere Arbeit, unsere Güter und unser Leben, sollen wir in ihren Dienst stellen und gemeiner Auf‌fassung überantworten: so wie der gute und große Sokrates sich geweigert hat, durch Ungehorsam gegen die Obrigkeit, und eine höchst ungerechte Obrigkeit, sein Leben zu retten. Denn dies ist die Regel aller Regeln und das allgemeinste Gesetz, dass ein jeder die Gesetze des Ortes einhalte, an dem er ist.

Von der Erziehung