Wetterwechsel - Mariano Barbato - E-Book

Wetterwechsel E-Book

Mariano Barbato

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Beschreibung

Deutschlands Außenpolitik sieht sich seit 1871 einem Zielkonflikt ausgesetzt: Soll sich das Land im »Windschatten der Weltpolitik« einrichten? Oder soll es »weltpolitische Verantwortung« übernehmen? Hatte noch das Kaiserreich einen verhängnisvollen »Platz an der Sonne« gesucht, so hegten die grauenvollen Erfahrungen zweier Weltkriege die deutschen Ambitionen ein und prägten eine Kultur der Zurückhaltung. Der Sturm eines Krieges sollte nie wieder von Deutschland ausgehen. Mit der deutschen Einheit und dem Ende des Kalten Kriegs lag eine Rückkehr zur weltpolitischen Rolle nahe; doch die deutsche Außenpolitik seit 1990 lässt sich besser verstehen, wenn man sie als den Versuch deutet, in den Wettbewerbsvorteil des Windschattens hineinzukommen. Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ging diese Option 2022 jedoch verloren. Mariano Barbato spannt in diesem Buch den Vorstellungsrahmen deutscher Außenpolitik in einer meteorologischen Metaphorik auf und erklärt ihre »Wetterwechsel« eindrucksvoll entlang der außenpolitischen »Morgenlagen« des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, des NS-Staats, des westdeutschen Kernstaats und des vereinten Deutschlands. Sein politikwissenschaftlicher Blick in die Geschichte zeigt, dass es stets auf den Kanzler ankommt, ob Sturm aufzieht oder Deutschland im europäischen Windschatten der Weltpolitik prosperiert. •neuer Blick auf die Geschichte der deutschen Außenpolitik seit 1871 •Analyse der deutschen Sicherheitspolitik bis zum Ukrainekrieg 2022 •Handlungsoptionen für die Bundesrepublik Deutschland im 21. Jh.

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Mariano Barbato

Wetterwechsel

Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Scholz

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Deutschlands Außenpolitik sieht sich seit 1871 einem Zielkonflikt ausgesetzt: Soll sich das Land im »Windschatten der Weltpolitik« einrichten? Oder soll es »weltpolitische Verantwortung« übernehmen? Hatte noch das Kaiserreich einen verhängnisvollen »Platz an der Sonne« gesucht, so hegten die grauenvollen Erfahrungen zweier Weltkriege die deutschen Ambitionen ein und prägten eine Kultur der Zurückhaltung. Der Sturm eines Krieges sollte nie wieder von Deutschland ausgehen. Mit der deutschen Einheit und dem Ende des Kalten Kriegs lag eine Rückkehr zur weltpolitischen Rolle nahe; doch die deutsche Außenpolitik seit 1990 lässt sich besser verstehen, wenn man sie als den Versuch deutet, in den Wettbewerbsvorteil des Windschattens hineinzukommen. Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ging diese Option 2022 jedoch verloren. Mariano Barbato spannt in diesem Buch den Vorstellungsrahmen deutscher Außenpolitik in einer meteorologischen Metaphorik auf und erklärt ihre »Wetterwechsel« eindrucksvoll entlang der außenpolitischen »Morgenlagen« des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, des NS-Staats, des westdeutschen Kernstaats und des vereinten Deutschlands. Sein politikwissenschaftlicher Blick in die Geschichte zeigt, dass es stets auf den Kanzler ankommt, ob Sturm aufzieht oder Deutschland im europäischen Windschatten der Weltpolitik prosperiert.• neuer Blick auf die Geschichte der deutschen Außenpolitik seit 1871• Analyse der deutschen Sicherheitspolitik bis zum Ukrainekrieg 2022• Handlungsoptionen für die Bundesrepublik Deutschland im 21. Jh.

Vita

Mariano Barbato ist außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Passau und Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Centrum für Religion und Moderne der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Er lehrte im Winter 2021/2022 als Una Europa Gastprofessor und im Sommer 2022 als Gastprofessor für Internationale Beziehungen am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

1.

Morgenlagen im Kanzleramt

Wetterlage

Geopolitik

Metaphern und Analogien

Coup de l’oeil und Morgenlage

Auf den Kanzler kommt es an

Orientierung

Geibels Geopolitik

Abschied von der Mitte

Das goldene Vierteljahrhundert wechselnder Windschatten

2.

Bismarck optiert für das Wetter

Berlin bleibt Berlin: Kontinuitäten seit Bismarck

Die Kontinuität der Lage

»Dem deutschen Volke«

Das Amt des Kanzlers

Der saturierte Revolutionär findet nicht ins wertkonservative Allianzmilieu

Reichsgründung: Blut, Eisen, Gleichgewicht

Drei-Kaiser-Politik

Das Kissinger Diktat: Kur im Windschatten

Krieg in Sicht oder das Spiel mit dem Feuer geht nicht auf

Das Diktat von Bad Kissingen im Sommer 1877

Der Berliner Kongress 1878: Machiavellistischer Multilateralismus

Kongokongress, Rückversicherungsvertrag und der Blick nach England

3.

Bülow verspricht den Platz an der Sonne

Die Politik der freien Hand führt zu Einkreisung

»Die Zukunft liegt auf dem Wasser«

Die Bagdad-Bahn

Prestige und Verbrechen

4.

Bethmann Hollweg führt ins Stahlgewitter

Schlafwandler oder Sozialdarwinisten?

Der Weg in den Krieg

Julikrise: Bethmann Hollweg muss Farbe bekennen

Septemberprogramm

Sozialdarwinistische Großmächte

5.

Stresemann sieht den Silberstreif am Horizont

Die Ausgangsbasis: Versailles

1923: Das Jahr der Kanzlerschaft

Auf den Außenminister kam es an

Der Silberstreif des Dawesplans

Nobelpreis für den Locarno-Vertrag

Wolken am Horizont

6.

Brüning arbeitet im Orkan

Neuorientierung im Wettersturz

Die Relativierung der Beziehung zu Frankreich

Westliche Orientierung in der Weltwirtschaftskrise

Arbeit im Auge des Orkans

Brünings ambivalentes Erbe: Austerität

7.

Hitler will den Sturm

Handlungsfähigkeit und Zielsetzung: Die Macht des Kanzlers

Äußere Ruhe, innerer Sturm: Englandfreundliche Revisionspolitik

Reichstagsbrand und »Röhm-Putsch«

Außenpolitische Triumphe und Gradwanderungen

Der Zweite Weltkrieg

Kriegsanfänge

Blitzkrieg

Hagelsturm

Der alternative Reichskanzler

8.

Adenauer ankert im Westen

Nachkriegsordnung

Souverän im Westen

Auf dem Petersberg

Der Schumanplan

Die Saarfrage

Pleven-Plan und Stalin-Note

Die Pariser Verträge

Allianz mit dem Westen

Die Römischen Verträge

Moskau, Washington, Paris

9.

Brandt verlängert das Tauwetter

Friedensnobelpreis für das Ost-Locarno

Die Verträge von Moskau, Warschau und Prag

Innerdeutsche Beziehungen statt gesamtdeutscher Fragen

Der Sturz des Kanzlers

Das Erdgasröhrengeschäft und der Ölpreisschock

10.

Schmidt trotzt frostigen Zeiten

Weltwirtschaftspolitik

Die Gruppe der sieben großen Industrienationen (G7)

Die Anfänge der europäischen Währung

Der »Deutsche Herbst«

Nachrüstung

Mächte oder Menschen

11.

Kohl sichert den Sonnenplatz

Der Auftakt zu 1989

Nachrüstung

Einheitliche Europäische Akte

Die Revolution von 1989 und die Deutsche Einheit

Kohls Zehn-Punkte-Programm vom November 1989

Der 2+4-Vertrag

Die neue Macht in der alten Mitte

Out-of-Area

Währungsunion

12.

Schröder wechselt den Windschatten

An der Seite Amerikas in weltpolitischen Stürmen

Der europäische Windschatten gilt als zu teuer

Der russische Windschatten rechnet sich

13.

Merkel simuliert Windstille

Merkels fatale Wahl am Ende von Chimerica

Die Eurokrise

Die Flüchtlingskrise

Der Brexit

Die Coronakrise

Reaktionäre Außenpolitik?

14.

Wetterprognosen

Scholz proklamiert die Zeitenwende

Die Reintegration Deutschlands in den Westen

Angriffskrieg vor der UNO-Vollversammlung

Wetterfest an der weltpolitischen Peripherie

Anmerkungen

Literatur

1.Morgenlagen im Kanzleramt

»Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter«: Mit diesem Slogan zogen die Grünen 1990 in den Wahlkampf, um sich von der thematischen Dominanz der Deutschen Einheit abzugrenzen und auf den globalen Klimawandel hinzuweisen. Außenpolitisch und metaphorisch lässt sich von Deutschland und dem Wetter aber auch gut gleichzeitig sprechen. Der Bezug zum Wetter ergibt sich durch die konstitutive Vorstellung einer auswärtigen Welt.

Die etymologischen Wurzeln des Begriffs der Politik reichen tief in die Metaphernwelt der Griechen und tradieren über die Polis ein Erbe mit ungebrochener Assoziationskraft: Die griechische Polis steht für den Stadtstaat, genauer bezieht sich der Begriff auf die Burg. Die Akropolis, Athens Burgberg, lässt ebenso wie mittelalterliche Burgen und Stadtmauern erahnen, dass ein Gegensatz zwischen innen und außen die Bürgerschaft konstituierte. Eine Politik, die nicht im befriedeten Innern bleibt, sondern hinaustreten muss, setzt sich metaphorisch folgerichtig dem Wetter und mitunter rauen klimatischen Bedingungen aus. An sie schließen sich semantische Metaphernfelder des Staatsschiffs, des Steuermanns und des Wettbewerbs an.1 Die Wetterfühligkeit erhielt sich im Territorialstaat, dessen fiktive Linien in der Landschaft mitunter und aus unterschiedlichen Motiven mit Mauern gesichert wurden. Klimawandel und Kapitalismus haben in den letzten Dekaden ein Bewusstsein von der Erde als gemeinsames Haus oder globales Dorf etabliert. Russlands Überfalls auf die Ukraine verschob 2022 die Plausibilität zurück auf die Verteidigung von staatlichen Linien und das Abgrenzen regionaler Räume, weil auch gesicherte Grenzen den Unterschied machen, ob und wie Menschen leben können.

Die Großwetterlage veränderte sich für die deutsche Außenpolitik nicht zum ersten Mal. Aber im Wechsel von Machtbalance, Interessendefinitionen und Identitätskonstruktionen blieb deutsche Außenpolitik doch immer an ihre Nachbarschaft gebunden. Die Pentarchie der Großmächte, die sich im 18. Jahrhundert herausgebildet hatte und durch den deutschen Nationalstaat im 19. Jahrhundert neuformatiert worden war, wechselte mehrmals ihr Gesicht, und die nachbarschaftliche Qualität der Interdependenzen variierte beträchtlich. Aber die Bezogenheit und die Abhängigkeit Deutschlands vom außenpolitischen Agieren Frankreichs, Russlands, Englands, später der USA, und dem Bestehen oder Fehlen mitteleuropäischer Handlungsfähigkeit, kennen seit der Reichsgründung Bismarcks trotz aller Umwälzungen keine Zäsur, nur Kontinuität. Mit der Weltpolitik des weitgehend vergessenen Kanzlers Bülow kam eine globale Dimension hinzu, deren schwankende Konjunkturen ihre Zentren in Ostasien und Vorderasien hatten und haben.

Wetterlage

»Lage, Lage, Lage«: Staaten sind große Immobilien. Die Weisheit des Hotelmoguls, dass es bei Immobilien auf die Lage ankommt, dürfte deswegen auch für die Außenpolitik nicht unerheblich sein. Die in Raum und Zeit gewachsenen Ressourcen eines Ortes stehen in Beziehung zu einer Nachbarschaft und ihrer historischen Gestaltung. Deren kontinuierliche Interaktion bildete eine politische Landschaft aus, die bestimmte Optionen befördert, andere behindert.

Die Betonung der Lage und ihrer Geschichte steht im Gegensatz zur Präferenz in der Disziplin der Internationalen Beziehungen, die Ebene der Außenpolitik einzelner Staaten von der strukturellen Gesamtschau des internationalen Staatensystems zu trennen.2 Auf der systemischen Ebene verschwinden die außenpolitischen Einzelheiten, so dass sich generalisierende Aussagen beispielsweise über die Funktionsgleichheit der um ihre Sicherheit besorgten Staaten treffen lassen. Statt »Lage, Lage, Lage« gilt dann: »a state is a state is a state.« Staaten unterscheiden sich dann nur nach ihrer militärischen oder ökonomischen Stärke. Transformationsprozesse interessieren vor allem hinsichtlich der systemischen Veränderung von der Anarchie der Staatengemeinschaft zur Weltordnung des globalen Regierens.

Im Windschatten der Globalisierung hoffte die deutsche Außenpolitik darauf, dem Paradigma des außenpolitischen Realismus mit seinen Diskussionen von Staat, Macht, Interesse entkommen und sich ganz auf ein liberales Alternativmotto »Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft« konzentrieren zu können. Der globale Kapitalismus versprach Wohlstand und Frieden in Freiheit. Gerade Deutschland hatte mit machtpolitischen Antworten auf die Verhältnisse seiner nachbarschaftlichen Lage wie mit dem Versuch, ökonomische Potentiale in militärische Stärke und Dominanz umzuwandeln, schlechte Erfahrungen gemacht. Weil deutsche Außenpolitik in Verbrechen und Versagen gemündet war, zog die Konjunktur der Global Governance in Deutschland besonders steil an. Prozesse der Globalisierung erlaubten eine radikale Kritik an den Diskursen der Außenpolitik. Weltinnenpolitik schien möglich.3

Das direkte Ausspielen ökonomischer Stärke auf den Weltmärkten entwickelte sich zum Königsweg deutscher Außenpolitik, der auch in sicherheitspolitisch heiklen Lagen als gangbar galt. Bereits die westdeutsche Ostpolitik der 1970er Jahre versprach sich einen Wandel durch Handel als Ausweg aus der Blockkonfrontation des Ost-West-Konflikts. Der Vorwurf des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, den er zu Beginn des Krieges im März 2022 in einer dramatischen Videoansprache vor dem Deutschen Bundestag gegen die deutsche Außenpolitik erhob, mit dem ewigen deutschen Mantra von »Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft« den Zement für eine neue Mauer in Europa angerührt zu haben,4 traf die deutsche Außenpolitik an einer empfindlichen Stelle. Statt Frieden und Verständigung hätte der einträgliche Gashandel mit Russland Krieg und Mauern gebracht. Das Gasgeschäft aber markierte nicht erst seit den »Nord Stream«-Ostseepipelines, sondern schon seit Willy Brandt den ökonomischen Kern der Ostpolitik. Wenn hier das Mantra von »Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft« seine Lösungsfähigkeit verlor und zum Teil des Problems wurde, könnten auch anderswo Risse im wirtschaftspolitischen Fundament der deutschen Außenpolitik entstehen.

Lassen sich die europäischen Nachbarn, allen voran Frankreich, im Rahmen der Europäischen Union kooperativ integrieren, oder wehren sie sich gegen ökonomische Dominanz Deutschlands? Vergrößert sich die Handlungsfähigkeit Mitteleuropas? Welche gemeinsame Position lässt sich gegenüber Russland als Sicherheitsbedrohung, aber auch als Energie- und Rohstofflieferant gewinnen? Funktioniert die deutsche Außenhandelspolitik im Rahmen einer globalen Weltwirtschaftsordnung noch, wenn die USA und China nicht mehr den Ausgleich suchen, sondern auf Konfrontation gehen oder gar die von den USA geschaffene machtpolitische Grundlage des Völkerrechts wegbricht? Die Frage nach der globalen Großwetterlage lässt sich nicht allein mit dem Verweis auf die deutsche Handelsbilanz beantworten. Dass im Mai 2022 nicht der übliche Überschuss erwirtschaftet wurde, sondern ein Defizit von einer Milliarde zu Buche schlug,5 deutet auf eine Verwerfung hin. Die Exporte brachen nicht ein. Doch der teure Energieimport, vor allem aus den Vereinigten Staaten, nahm signifikant zu. Die Lage verschiebt sich dynamisch.

Geopolitik

So wie die Dinge liegen, scheint die Rede von der Lage aber weniger einen geopolitisch schon erhellend durchbuchstabierten Begriff zu bieten. Schwedische, angloamerikanische und vor allem deutsche Schulen der Geopolitik haben die ortsgebundene Herangehensweise in den letzten 150 Jahren zudem in der deterministischen Überbetonung machtpolitischer Konfigurationen erheblich diskreditiert. Die kritische Geopolitikforschung sucht seit einiger Zeit einen Ausweg aus dem machtpolitischen Reduktionismus und betont die Offenheit des Raums und die Relevanz der Interaktion in ihm. Stefano Guzzini bemerkte warnend, dass geopolitische Debatten immer dann aufkommen, wenn die außenpolitische Orientierung fehlt.6

Die klassische Geopolitik trägt zwar ihre Thesen mit der Geste akribischer Wissenschaftlichkeit vor, eine taxonomische Begrifflichkeit hat sich aber eher nicht entwickelt. Klassische geopolitische Topoi wie Halford Mackinders These vom Herzland der Welt, um das in Osteuropa gerungen wird, scheint doch eher der imaginativen Welt der Metaphern anzugehören. Aber Metaphern schmücken nicht nur die Rede über Fakten aus, sie schaffen erst Vorstellungswelten, die Handlungsintentionen vorgeben und damit Motivationen für konkretes Handeln liefern. Die Metapher erschließt, strukturiert und ordnet den Raum.7 Manche Metaphern kreieren Katastrophen. Zusammen mit der bevölkerungspolitischen Metapher vom Lebensraum lieferte die Geopolitik Topoi, die dazu beitrugen, den Raum Osteuropas durch die Politik des NS-Staats und der Sowjetunion in »Bloodlands«8 zu verwandeln.

Die normative Generalkritik an der deterministischen Geopolitik und ihr Hinweis auf die Offenheit des Handelns lösen das Problem aber kaum. Außenpolitische Diskurse haben die Welt ihrer geopolitischen Metaphern nur modifiziert, nicht verlassen. Der im Ost-West-Konflikt dominante Realismus verschob die Begrifflichkeit der Geopolitik weg von geographischen Nachbarschaften und hin zum Ringen um ein globales Gleichgewicht. Die Metapher der Globalisierung eröffnete eine geoökonomische Welt von Standort, Marktzugang und emerging markets. Rohstoffzugänge blieben genauso bedeutsam wie Transportrouten. Die Welt der Metaphern schwebt nicht in den offenen Sphären des Geistes, sondern gräbt sich tief ins Erdreich der Welt.9 Die Frage der Macht ließ sich durch die Verknüpfung von Völkerrecht und Kapitalismus kaum bannen, so sehr gerade deutsche Außenpolitik mit ihrer regelbasierten Exportorientierung daraufsetzte. Als China nach dem Auseinanderbrechen von »Chimerica«10 – die Metapher für die Symbiose der USA und Chinas am Beginn des 21. Jahrhundert – unter dem alten Topos der Seidenstraße eigene Räume erschloss, kehrte die geopolitische Vorstellungswelt der Einflusssphären zügig zurück, die untergründig nie verschwunden war. Schon die Freihändler um Ludwig Erhard beargwöhnten das (west)europäische Integrationsprojekt Konrad Adenauers, weil der regionale Zusammenschluss vor allem geopolitisch, weniger außenhandelspolitisch Sinn ergab. Zwischen Europa- und Weltpolitik, Integration und Globalisierung musste sich deutsche Außenpolitik immer verorten. Das Vokabular dafür unterlag starken Konjunkturen.

Metaphern und Analogien

Die sozialwissenschaftliche Außenpolitikforschung betritt das Feld der Metaphern und historischen Analogien eher zögerlich.11 Gerade für das Verständnis des Wandels scheint die Konzentration auf sprachliche und kognitive Schemata weniger ergiebig als die Analyse von Entscheidungsprozessen oder von Diskursen.12 Dabei separiert der sozialwissenschaftliche Wunsch nach methodischer Kontrolle die Ansätze und überlässt die Analyse der breit gefächerten Interaktion der Entscheidungsträger, in der Sprache, Raum und Zeit eine Einheit bilden, den Historikern. Die in der älteren bundesrepublikanischen Außenpolitikforschung gepflegte Synthese von Politik- und Geschichtswissenschaft hat aber immer noch ihre politikwissenschaftliche Berechtigung.

Der Blick auf Metaphern und Analogien eröffnet ein historisches Panorama deutscher Außenpolitik. An die Stelle methodischer Kontrolle tritt die Plausibilität der narrativen Argumentation. In der Zeit nach der Theorie und vor Big Data13 könnte ein Spalt für den Blick auf die historische Praxis liegen. Solange die Entscheidungen nicht gänzlich der Künstlichen Intelligenz überlassen werden, muss menschliches Handeln Orientierung finden; wenn man weiß, in welcher Richtung Osten ist, ergibt sich der Rest.

Kann man am Sonnenstand die Außenpolitik deuten? Die Metapher vom Westen und die Hartnäckigkeit, die Welt in Ost-West- und Nord-Süd-Konflikte aufzuteilen, erlauben dafür gewisse Anhaltspunkte. Ein Ausgangspunkt für das Verständnis von Außenpolitik als historisch gewachsene Praxis, deren Ort gleichbleibt, deren Herausforderungen mit der Zeit sich aber fortwährend ändern, lässt sich besser erfassen, wenn die Rede von der Lage als konstitutive oder absolute Metapher im Sinne Hans Blumenbergs14 verstanden wird. Die Metapher der Lage stellt die Handelnden in einen perspektivischen Beziehungsraum, der erinnernd und antizipierend überblickt werden muss. In der Metapher der Lage verbinden sich Ort, Zeit und Handlungsoptionen, sie lässt sich aber nicht in das Beziehungsfeld von Zeit, Ort und Handlung auflösen.

Blumenberg spricht von absoluten Metaphern, wenn ihre Auflösbarkeit in Begriffe das Ziel des Verständnisses der Metapher verfehlt. In der absoluten Metapher ist ein historischer Anfang der Wirklichkeit gesetzt, der sich nicht in seine Komponenten auflösen lässt, sondern Deutungsperspektiven vorgibt. Die Lage ist keine naturwissenschaftliche Größe aus einer biogeologischen Synthese, sondern die absolute Metapher der internationalen Beziehungen. Es geht immer um die Lage eines Landes zu anderen Akteuren. Die Außenpolitik des Territorialstaats bildet den Ausganspunkt. Aber der konstitutiven Rolle der Lage tut es keinen Abbruch, wenn andere Akteure auftreten oder die Firmen, ihr Interfirmenhandel oder der Weltmarkt und die Weltmarktführer Lageeinschätzungen generieren. Jedes strategische Handeln will wissen, wie die Lage ist. Hinter die Frage nach der Lage kann Außenpolitik nicht zurück. In diesem Sinne konstituiert die absolute Metapher der Lage die internationalen Beziehungen als außenpolitisches Handeln.

Die Metaphernforschung hat auf das Framing von Vorstellungswelten und Diskursen hingewiesen, in der eine bestimmte Politik sinnvoller, folgerichtiger, schlicht natürlicher erscheint als eine andere.15 Die Außenpolitikforschung trug bereits ein ganzes Arsenal an Vokabeln diskursanalytisch zusammen.16 Selbst brute facts wie ein Bombenabwurf bedürfen eines politischen Sprachspiels für ihre Einordnung. Dieses Sprachspiel ist das der Lage. Wenn der Abwurf in keiner Lageanalyse vorkommt, vermindert das nicht seinen Schrecken für den Landstrich und seine Bewohner, aber er ist politisch bedeutungslos. Anders als es der postmoderne Dekonstruktivismus plakativ formulierte gibt es eine Welt außerhalb des Textes. Die Lageanalyse verwandelt die Welt in Text und Kommunikation.

Die Sprachspiel der Außenpolitik besitzt nicht unbedingt die Leichtigkeit des Seins und den Charme offener Wandlungsfähigkeit, wie es der Konstruktivismus in den internationalen Beziehungen gelegentlich zu suggerieren schien, wenn die Anarchie als staatengemacht beschrieben wurde.17 Wittgenstein, dekorierter Kriegsteilnehmer, der in den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs die Grundlagen seiner Sprachphilosophie entwickelte,18 schwebte nicht in einer postmodernen Offenheit beliebiger Sprachspiele, die sich von der tiefverwurzelten Realität sozialer Interaktionen und materieller Kausalitäten emanzipiert haben. Nach dem Krieg arbeitete Wittgenstein als detailbesessener Architekt, der noch sein Spätwerk mit dem materiegesättigten Sprachspiel der Bauleute A und B eröffnete. Ein sprachphilosophisch orientierter Konstruktivismus, der sich auf Wittgenstein bezieht, und sein Fokus auf der Sprache müssen der Politikwissenschaft nicht die Bodenhaftung nehmen und Sprache auf Diskurse reduzieren. Eine sprachpragmatische Wende des Konstruktivismus hat dazu schon die Grundlagen gelegt.19 Wittgenstein forderte in einem zentralen Paragraphen seiner Philosophischen Untersuchungen: »denk nicht, sondern schau!«20

Coup de l’oeil und Morgenlage

Paradigmatisch erfasst der Feldherr mit einem Wimpernschlag die Lage am Morgen vor der Schlacht. Im Blick auf den Raum antizipiert er den Ablauf der Zeit und die eigenen Fähigkeiten, darin gestaltend einzugreifen. Die Strategen feiern den coup de l’oeil des genialen Generals, dessen organische Augen durch die Landschaft gleiten, um in der Plötzlichkeit eines Augenblicks das innere Auge die Lage erkennen zu lassen: theatre of war. Ausgehend von Claude-Nicolas Ledoux erkundete Horst Bredekamp die Tradition des coup de l’oeil und betont die Nähe von Kunst, Krieg und Herrschaft. Die drei Felder verbindet das visuelle Ideal der intuitiven Plötzlichkeit, mit der sich der szenische Handlungsraum dem Auge auftut und ein augenblickliches Erfassen der Lage erlaubt. Carl von Clausewitz stellt in seiner Abhandlung über den Krieg21 die intuitive Gesamtschau ins Zentrum strategischer Analysefähigkeit. »Das Ungeheure seiner Schrift«, so Bredekamp über Clausewitz, »liegt in der Verneinung der Annahme, dass militärische Aktionen im Sinne mechanischer Gesetze planbar seien. Clausewitz zufolge entscheiden nicht Geometrie und Mechanik über Feldzüge und Schlachten, sondern die Befähigung des Geistes, dem Unvorhersehbaren standzuhalten und auf unwegsames Gelände, überraschende Feindstärken und Wetterunbilden so schnell wie treffend zu reagieren.«22 Nur so besteht der Feldherr die Kontingenz der Friktionen, die kein Quantencomputer berechnen kann.

Wenn sich die blitzartige Erkenntnis auch nicht berechnen lässt, dann steht die Kunst des Erkennens doch in der Kommunikation mit anderen Handelnden, und das nicht nur im Sinne der Befehlsgewalt. Die Morgenlage bindet den intuitiven Genius des sehenden Generals an das Gespräch seiner Offiziere. Die Erkenntnis des coup de l’oeil muss mitteilbar sein, Nachfragen erlauben, sich korrigieren lassen. Die Lernbarkeit des genialen Blicks liegt nicht nur in der praktischen Übung, sondern auch in der kommunikativen Reflexion über die vergangene Schlacht. Die Kontingenz des Augenblicks bleibt eingewoben in das Netz aus erinnerter Vergangenheit und deliberativ erwogener Zukunft.

Die Morgenlage enthält eine Aura, die sich begrifflich nicht auf eine Besprechung reduzieren lässt. Sie bliebt zumindest insoweit in der Nähe einer absoluten Metapher, als im Zusatz des Morgens nicht nur eine Zeitangabe mitgeliefert wird, sondern die Chance der Kontinuität des Chronos, aber auch die des Neuanfangs des Kairos mitschwingt. Das gilt besonders, wenn die Morgenlage nicht dem einen Gefecht vorausgeht, sondern zur Institution der Außenpolitik wird. Der aus dem Feldlager entlehnte Begriff der Morgenlage markiert einen auch in den postheroischen Kanzlerschaften noch aktuellen, geotemporären Zustand arkanen Beratens und Entscheidens. Wenn im Kanzleramt die Morgenlage beginnt, fasst der Kanzler das Weltgeschehen ins Auge. In der Wiederholung dieses Augenblicks versucht Außenpolitik sich aus der Kontinuität ihrer Beobachtung heraus an ihrem Ort im Wechsel der Zeiten zu behaupten – sehend zu handeln.

Auf den Kanzler kommt es an

Außenpolitik und ihre oft strittige Bewertung wachsen im Ineinander von Sprache und Praxis. Außenpolitik lässt sich deshalb schwer normativ einfordern oder auf eine Tiefengrammatik zurückführen. Eher lässt sich Außenpolitik über eine historische Erzählung darstellen, in der Akteure auftreten, die Ideen und Interessen zu wechselnden Leitbildern verbinden, um damit in den Interdependenzen ihrer Nachbarschaft agieren zu können. Damit stellt sich die Frage nach einer Erzählstruktur. Sozioökonomische Interessen einer industrie- und finanzkapitalistisch verzahnten Welt und ihre spezifischen innenpolitischen Konstellationen von Massen und Eliten ermöglichen und beschränken den Handlungsradius der Akteure. Kontinuität und Wandel von Weltanschauungen wirken ihrerseits. Das Genre einer Erzählung bedarf jedoch der handelnden Person. Im Mittelpunkt muss nicht der gewaltige Held stehen, aber doch eine Figur, in der sich Stränge bündeln, weil ihr Handeln für den Fortgang der Geschichte den Ausschlag gibt. In der Erzählung deutscher Außenpolitik nimmt der Kanzler eine Schlüsselrolle ein: in Erfolgen, Fehlern, Versäumnissen und Verbrechen, aber auch in Glücksfällen der Geschichte. Das Urteil über die Kanzler spricht auch ein Urteil über deutsche Außenpolitik.23

Lässt sich dieses narrative Bedürfnis an der Rolle des Bundeskanzlers in politikwissenschaftlicher Perspektive rechtfertigen? Die Sprache des Völkerrechts benennt den Staat als Völkerrechtssubjekt und schreibt ihm damit den Status einer juristischen Person zu, die handeln und zum Objekt von Handlungen anderer Akteure werden kann. Die Disziplin der Internationalen Beziehungen folgt umstandslos dieser völkerrechtlichen Perspektive. Die Frage nach den außenpolitischen Akteuren lässt sich damit zunächst sehr einfach beantworten: Es sind die Staaten.

Die Außenpolitikforschung öffnet hingegen die black box des Staates. Klassisch und programmatisch hieß es: der Staat, das sind seine Entscheidungsträger.24 Mit der Frage nach den Entscheidungsträgern geht ein Perspektivenwechsel vom Völkerrecht zum Staatsrecht einher.

In der Bundesrepublik ist grundsätzlich der Bund zuständig für die Außenpolitik, auch wenn gerade im Hinblick auf die Eingriffstiefe des europäischen Integrationsprozesses das Grundgesetz den Ländern Mitwirkungsrechte zubilligt. Für die internationale Politik gilt allerdings die Zuständigkeit des Bundes. Das Grundgesetz hält im Artikel 32 fest: »Die Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten ist Sache des Bundes.«

Mit der Zuständigkeit des Bundes rückt die Bundesregierung in den Mittelpunkt. Allerdings darf der Bundespräsident nicht ganz übersehen werden. Er vertritt die Bundesrepublik nach außen und schließt mit seiner Unterschrift völkerrechtliche Verträge ab. Zudem verläuft der formelle Verkehr der Diplomanten über ihn. Die Rolle des Bundespräsidenten als Staatsoberhaupt bleibt aber auch in den auswärtigen Beziehungen, wie aus der Innenpolitik bekannt, eine formale. Die Richtlinien der Politik, der Code des Grundgesetzes für die Macht, zu entscheiden, worum es gehen soll, bestimmt auch in den auswärtigen Beziehungen der Bundeskanzler allein. Die Bundesminister sind als Herren ihres Ressorts der Richtlinienkompetenz unterworfen und haben sich im Streitfall der Entscheidung des Bundeskanzlers unterzuordnen. Der Bundeskanzler kann dementsprechend den Bundesaußenminister auf die Richtlinien der Außenpolitik festlegen. Die Kanzler setzten »nahtlos die seit 1870 bestehende Tradition fort […], wonach das Kanzleramt mit der Konzeption, das Auswärtige Amt hingegen mit der Umsetzung deutscher Außenpolitik befasst war«.25 Das Grundgesetz formuliert dies allgemein in Artikel 65:

»Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung. Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet die Bundesregierung.«

Die vom Verfassungsgeber antizipierten Meinungsverschiedenheiten werden in der Formulierung des Grundgesetzes auf die Bundesregierung zurückbezogen und nicht auf den Kanzler zugespitzt, auch wenn die Bundesregierung und ihr Kabinettsprinzip dem Kanzler durch die Richtlinienkompetenz unterstellt werden. Damit kalkuliert das Grundgesetz die Machtarithmetik von Koalitionsregierungen ein und reflektiert auf die politikwissenschaftliche und geschichtswissenschaftliche Frage nach den Wechselspielen der Macht. Mächtige Minister können als Vertreter ihrer Partei dem Ressortprinzip eine Machtkomponente hinzufügen. Die Macht der Minister aus den Reihen der Koalitionspartner hängt an der parlamentarischen Mehrheit. Der Bundeskanzler besitzt zwar die Richtlinienkompetenz, aber sein Amt steht nicht in eigener Machtvollkommenheit für eine Legislaturperiode in Stein gemeißelt. Er ist nicht direkt vom Volk gewählt, sondern hängt an einer parlamentarischen Mehrheit, die er auch während einer Legislaturperiode verlieren kann. Allerdings sorgten die Mütter und Väter des Grundgesetzes mit dem konstruktiven Misstrauensvotum dafür, dass eine solche Abwahl mit der Neuwahl eines anderen Kanzlers verbunden werden musste. Aus der deutschen Geschichte hatte die junge Bundesrepublik die Lehre gezogen, das monarchische Prinzip der Kontinuität von Führung – der König ist tot, es lebe der König – mit der alleinigen Verantwortlichkeit gegenüber dem Parlament zu verbinden. Die Monarchie hatte sich im Ersten Weltkrieg diskreditiert. Die Weimarer Republik war institutionell an der Übermacht von Parlament und Präsident gescheitert. Das Amt des Kanzlers, zuerst zu sehr vom Kaiser, am Anfang von Weimar zu sehr vom Parlament und am Ende zu sehr vom Präsidenten abhängig, schien es wert, gestärkt zu werden, selbst gegenüber dem Parlament. Sogar die sogenannte Führerdemokratie Hitlers, die das Amt des Kanzlers als Ausgangspunkt der »Machtergreifung« genommen hatte und besetzt hielt, konnte den Nimbus des Kanzleramts als getreuer Sachwalter des Staates nicht zerstören. Die Metaphorik der Kanzlei, die das Kanzleramt in die apolitische Harmlosigkeit effizienter Verwaltung verschiebt, hält sich konstant im Diskurs stabiler Regierungsführung.

Historisch wirkungsmächtig wird die Figur des Kanzlers für außenpolitisches Handeln, als der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck in den Transformationen der Reichsgründung zuerst das Amt des Bundes- und dann das des Reichskanzlers übernimmt. Trotz allen verfassungsrechtlichen Wandels steht der Bundeskanzler des Grundgesetzes in der Traditionslinie Bismarcks, der den Kanzler des neugegründeten Reiches an die administrative Spitze des Netzwerkes aus föderaler Verwaltung nach innen und Vertretung nach außen setzte. Dieser Erfolg schuf einen Nimbus, der das Amt in seinen Schwierigkeiten beschützte. Statt durch historisches Scheitern beschädigt zu werden, schnitt das Amt des Kanzlers das institutionelle Design des Staates auf sich zu.

Den Bruch mit der deutschen Tradition des Regierens, den die DDR unternahm, zeigt sich auch mit dem Verzicht auf ein Kanzleramt und der Rückkehr zur Position des Ministerpräsidenten. Dieser Versuch blieb Episode. Als eine solche kanzlerlose Episode, die einen sozialistischen Bruch der deutschen Kontinuitätslinie für sich in Anspruch nahm, findet die Außenpolitik der DDR hier auch keinen Niederschlag. Ihre Analyse bedarf eines eigenen Ansatzes.26 Der »Kanzler der Einheit«, Helmut Kohl, organisierte die Wiedervereinigung als Beitritt zur Kanzlerdemokratie des Grundgesetzes, ohne dass Kontinuitätslinien der DDR ins außenpolitische Repertoire des Kanzleramts integriert wurden. »Von der Außenpolitik der DDR ist so gut wie nichts geblieben.«27

Kontinuität und Entfaltung der Kanzlermacht in den Morgenlagen des Entscheidens erheben den Kanzler nicht in die Aura des Nebulösen. Vielmehr prädestiniert ihn seine Position in der Hierarchie staatlicher Institutionen dazu, dass Fäden der Netzwerke bei ihm zusammenlaufen. Nicht jeder Kanzler brachte es dabei zur Meisterschaft. Aber in der Institution des Kanzlers handelten immer die konkreten Personen, die das Amt innehatten. In der Hierarchie und den Netzwerken außenpolitischen Handeln verdichten sich die materiellen und ideellen Stränge der Strukturen im Kanzleramt. Wer auf den Kanzler schaut, erkennt häufig mehr als mit einer anderen Blickrichtung.

Orientierung

»Und es mag am deutschen Wesen/einmal noch die Welt genesen«: Mit diesen bekannten und berüchtigten Zeilen endete das Gedicht »Deutschlands Beruf« von Emanuel Geibel aus dem Jahr 1861. Ob Geibel die Deutschen direkt zum Größenwahn der Weltherrschaft aufrief oder nur die zehn Jahre später von Bismarck erzwungene Einheit propagierte, muss (hier) nicht entschieden werden. Seine Zeile »Wird im Völkerrath vor allen Deutscher Spruch aufs neu erschallen« klang selbstbewusst, könnte aber auch den zwanglosen Zwang des besseren Arguments meinen, für den Deutschland in der Weltöffentlichkeit immer noch gerne stehen würde. Jedenfalls verfiel Geibel bereits nach dem Ersten Weltkrieg, noch stärker nach dem Zweiten Weltkrieg, wegen dieser abschließenden Gedichtzeile weitgehend der damnatio memoriae als Künstler; auch wenn noch lange der größte Erfolg seiner vielen vertonten Gedichte gesungen wurde: »Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus.« Zu Lebzeiten trugen auch seine nationale Lyrik, sein Eintreten für eine kleindeutsche Lösung und seine Oden an die preußische Führung des Reiches zu seiner ungeheuren Popularität bei der Masse des bürgerlichen Publikums wie bei der adeligen Elite bei. Der bestens vernetzte Dichter repräsentierte den Diskurs der kleindeutschen Öffentlichkeit vor und nach der Reichsgründung.28 Das Gedicht, das seinen posthumen Untergang als Künstler verursachte, bietet einen Einstieg in die mentale Karte der Lage deutscher Außenpolitik und das deutsche Ringen mit seinem Selbstverständnis als europäischer Großmacht.

Geibels Geopolitik

Die geopolitische Orientierung Geibels macht drei Hauptgegner Deutschlands aus. Die staatliche Einheit Deutschlands würde sie entmachten:

»Dann nicht mehr zum Weltgesetze

Wird die Laun’ am Seinestrom,

Dann vergeblich seine Netze

Wirft der Fischer aus in Rom,

Länger nicht mit seinen Horden

Schreckt uns der Koloß im Norden.«

Das liberale Paris und das katholische Rom gaben die ideologischen Feinde Berlins ab. Machtpolitisch drohte Russland. Geibels Prognose bewahrheitete sich nur teilweise.

Die Nationalstaatsgründung durch Bismarck beendete tatsächlich die französische Vormachtstellung in Europa, die von Ludwig XIV. bis Napoleon III. bestanden hatte. Dem hegemonialen Höhepunkt Frankreichs über Europa unter Napoleon Bonaparte war nach dessen Niederlage nur eine kurze Zäsur des Niedergangs gefolgt. Die deutsche Kleinstaaterei sicherte dem französischen Zentralstaat einen östlichen Hinterhof, von dem keine Bedrohung ausging, sondern der vielmehr einen Projektionsraum für französischen Einfluss abgab. Die preußische Expansion änderte diese Situation langsam, bis Bismarcks Reichsgründung sie 1871 schlagartig in ihr Gegenteil verkehrte. Frankreich sah sich seitdem einer deutschen Großmacht gegenüber, deren Angriffen in zwei Weltkriegen die Nation ohne Hilfe von außen nicht gewachsen gewesen war. Dem westdeutschen Kernstaat konnten Robert Schuman und Charles de Gaulles nach 1945 ihre gegensätzlichen Europavorstellungen leichter anbieten. Seit der deutschen Wiedervereinigung von 1990 wuchs trotz gemeinsamer Bemühungen um Ausgleich die deutsche Vormacht so sehr an, dass in Frankreich ein antideutscher Chauvinismus wieder zu einer erstzunehmenden Kraft aufstieg, die anders als 2017 und 2022 Präsidentschaftswahlen in Zukunft einmal auch gewinnen könnte. Um eine französische Wende gegen Deutschland zu vermeiden, wird es der deutschen Außenpolitik nicht erspart bleiben, stärker auf die gute Laune an der Seine zu achten, als dies in der letzten Dekade der Fall war, in der dem französischen Werben um ein gemeinsames Europa die kalte Schulter gezeigt wurde.

Auf den römischen Papst, den Fischer in Rom aus Geibels Gedicht, hatte die Reichsgründung ganz unmittelbare Auswirkungen. Napoleon III. musste die französischen Schutztruppen aus dem Vatikan abziehen, was den italienischen Freischärlern die Einnahme des päpstlichen Roms erlaubte und das Ende des Kirchenstaats zugunsten der italienischen Staatsgründung besiegelte. Der ultramontane Einfluss des Papstes auf die deutschen Katholiken stieg dadurch aber eher an, da der päpstliche »Gefangene im Vatikan« erfolgreich auf die Mobilisierung der Massen für den Erhalt seiner öffentlichen und politischen Rolle setzte. Schon im Kaiserreich bewegte sich das katholische Zentrum am Ende des Kulturkampfes vom Rand in die Mitte des politischen Systems, bevor es in der Weimarer Republik zu einer der staatstragenden Parteien wurde. Nach der Marginalisierung im NS-Staat, dessen Führungsriege nicht unerheblich von katholischen Apostaten besetzt war, übernahm der politische Katholizismus in der ökumenischen Variante der Unionsparteien beim Aufbau der Bundesrepublik Deutschland wieder eine Führungsrolle. Während das Zentrum im Weimarer Revisionismus eher auf ein Widererstarken der deutschen Großmachtrolle hinarbeitete, inklusive einer Schaukelpolitik zu Russland, setzten die Unionsparteien ganz auf die Integration in den Westen und überließen außenpolitisch den Sozialdemokraten die nationale Position, inklusive der russlandfreundlichen Ostpolitik. Der Schulterschluss der deutschen Katholiken mit dem liberalen Westen spiegelte auch die päpstliche Reorientierung seit dem Pontifikat Pius XII. wider, mit der das Papsttum auf Partnerschaft mit dem alten liberalen Gegner gegen die kommunistische Herausforderung setzte. Nach der Deutschen Einheit, die der katholische Kanzler Helmut Kohl eingebettet in eine abendländische Vision von Europa und die Vorarbeit des polnischen Papstes Johannes Paul II. erreichte, setzten sich nicht nur in der Union protestantische, sondern auch gesellschaftlich säkulare Kräfte so stark durch, dass selbst ein deutscher Papst keinen Einfluss mehr ausüben konnte. Die Rede Benedikts XVI. vor dem Deutschen Bundestag 2011 markierte einen vorläufigen Schlusspunkt hinter die Geschichte des politischen Katholizismus in Deutschland. Der Fischer aus Rom warf schließlich tatsächlich vergeblich seine Netze aus. Mit der Ausnahme des Ersten Weltkriegs blieb Rom aber als Hauptstadt Italiens in einer wechselvollen Geschichte deutscher Bündnispartner.

Gänzlich falsch lag Geibel in seiner Einschätzung der Auswirkungen der Reichsgründung auf die Rolle Russlands, das durchgehend in der Lage war, Deutschland zu bedrohen.29 Zwar konnte das Kaiserreich im Ersten Weltkrieg die russische »Dampfwalze« zerschlagen und der sowjetischen Revolutionsregierung den Diktatfrieden von Brest-Litowsk aufzuzwingen, doch damit verlagerte sich nur die Hauptstadt vom westlichen St. Petersburg – kurzzeitig Leningrad – ins östlicher gelegene Moskau. Mit der Zerschlagung des Zarenreichs und dem Untergang der Donaumonarchie im Ersten Weltkrieg eröffnete sich ein neuer mitteleuropäischer Raum unabhängiger Nationen. Dem NS-Staat misslang dessen Unterwerfung, aber Stalin erreichte, was die panslawistischen Ideologen des Zarenreichs seit dem 19. Jahrhundert angestrebt hatten: die Integration aller Slawen unter großrussischer Führung, einschließlich aller alten slawischen Siedlungsgebiete bis in die Mark Brandenburg. Die russische Expansion reduzierte Deutschland auf den westdeutschen Kernstaat und den Vasallenstaat der DDR. Ein knappes halbes Jahrhundert lang schreckten zuerst eine konventionelle Übermacht, dann die atomare Bedrohung die Deutschen. Die Deutsche Einheit resultierte aus der Implosion der russischen Überdehnung, die auch Mitteleuropa freigab.

Aus großrussischer Sicht ist der Zusammenbruch der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Putin intensivierte seine Arbeit an deren Revision mit dem Überfall auf die Ukraine. Großrussische oder panslawistische Ideologien reichen Russland aber heute nicht mehr aus, um die eigene Großmachtrolle in einer globalisierten Welt auszufüllen. Eurasien von Lissabon bis Wladiwostok liefert den geopolitischen Rahmen für russische Ambitionen. Die großrussischen Ambitionen könnten in der Niederlage gegen die Ukraine den Panslawismus abstreifen und eine Schubumkehr nach Osten erfahren. Das Verhältnis von Moskowitern und Sibiriern müsste sich neu sortieren. Russland wäre dann immer noch ein sibirischer Koloss, aber kein Schrecken mehr für Deutschland und Mittel- und Osteuropa. Deutschland könnte wieder an seinen ostpolitischen Traum anknüpfen, Wohlstand und Frieden durch die deutsch-russische Ausbeutung der sibirischen Ressourcen zu sichern, unter einem neuen Verhältnis zu Mitteleuropäern und Sibiriern. Dass dafür die »Zerschlagung« der russischen »Dampfwalze« die Voraussetzung ist, erzeugt ein massives praktisches wie mentales Problem für die deutsche Außenpolitik.

Ob sich die eurasische oder die sibirische Variante durchsetzt, hängt aber weniger an der deutschen Lern- und Führungsbereitschaft, sondern an der Macht, auf der nach Geibel Deutschlands Staatsgründung keinen Einfluss hat: Großbritannien, später die USA. Während Geibel dichtete, eroberte und sicherte London kontinuierlich gegen Paris und Moskau seine maritime Weltmachtstellung. Erst langsam setzte sich in London die Sichtweise durch, dass Berlin die eigentliche Herausforderung der eigenen Weltmachtstellung darstellen könnte. In zwei Weltkriegen stellte sich London deswegen gegen Berlin und musste in dieser Überanstrengung schon im Ersten Weltkrieg anfänglich, im Zweiten Weltkrieg dann endgültig sein Imperium auf- und die Weltmachtrolle an die USA abgeben. Die Integration Deutschlands in das informelle angelsächsische Imperium begann schon während der Weimarer Republik, allerdings mit der deutschen Ambition, darin die Rolle einer eigenständigen Großmacht zu spielen. Hitler knüpfte daran an, als er London die Aufteilung der Welt vorschlug. Nach dem Untergang deutscher und japanischer Weltmachtillusionen in den Niederlagen des Zweiten Weltkriegs standen nicht mehr London und Washington gegen Berlin und Tokio, sondern Washington sah sich mit Moskau und schließlich Peking konfrontiert. Der westeuropäische Kernstaat und Japan hatten sich Washington angeschlossen.

Berlin glaubte im goldenen Vierteljahrhundert der Globalisierung von 1989 bis 2014 über Moskau und Peking zumindest eine ökonomische Großmachtrolle auch auf Kosten der USA erreichen zu können. Die Warnsignale der Präsidentschaft Trumps und des Brexits drangen genauso langsam in das Bewusstsein deutscher Außenpolitik vor wie die AUKUS-Allianz, in der sich die USA, Großbritannien und Australien gegen China zusammenschlossen. Mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine steht nicht nur der russische Großmachtstatus im chinesisch-amerikanischen Antagonismus zur Disposition, sondern auch die Balance im amerikanisch-chinesischen Verhältnis. Auch wenn Russland eigenständig gegen eine sich verteidigende Ukraine agiert, ist dieser Konflikt auch ein erster Stellvertreterkrieg des amerikanisch-chinesischen Gegensatzes, der auf europäischem und nicht auf asiatischem Boden ausgetragen wird: »Putins Krieg ist auch ein wenig Xis Krieg.«30 Im Falle eines Wirtschaftskriegs mit China stellt im Vergleich zu Russland nicht nur der Gassektor eine Achillesferse für Deutschland dar, sondern das gesamte deutsche Geschäftsmodell innerhalb der Globalisierung steht zur Disposition.

Mit Blick auf Taiwan als zentraler Standort der globalen Mikrochip-Industrie lässt die Investitionsentscheidung des US-Konzerns Intel von 2022, Chipfabriken im Großraum Magdeburg zu errichten, die amerikanische Bereitschaft erkennen, Risiken zu diversifizieren und auch angesichts der russischen Bedrohung auf Deutschland zu setzen. Die amerikanische Konzentration auf die chinesische Herausforderung bedingt keinen Rückzug aus Europa. Doch gerade Deutschland muss sich überlegen, ob und welche Rolle es im westlichen Bündnis spielen möchte, die sich nachhaltig mit amerikanischen Interessen decken muss.

Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts hat sich der atomare Schirm über Deutschland linksrheinisch verflüchtigt. Dort, wo nicht nur die meisten Basen der US-Streitkräfte massiert sind, sondern auch das Drehkreuz Ramstein liegt, verwahren die USA auch ihre Nuklearwaffen auf deutschem Boden. Ebenfalls linksrheinisch stationiert sind die amerikanischen Atombomben bei den Niederländern, gleich hinter der Brücke von Arnheim; Belgien liegt ohnehin linksrheinisch. Die gute Nachricht wäre, dass anders als in den 1980er Jahren ein Krieg Ost gegen West in Europa Deutschland nicht umgehend in eine atomare Wüste verwandeln muss – solange er konventionell ausschließlich rechtsrheinisch geführt wird. Das wäre dann auch die schlechte Nachricht. Ein konventioneller Krieg in der Mitte Europas ist nicht nur in Kiew, sondern bis Koblenz möglich. Darauf hat Deutschland kaum eine Antwort, außer den Verteidigungswillen der Ukraine und der Mitteleuropäer.

Abschied von der Mitte

Unvermeidlich beginnt Geibels Gedicht mit einer Wettermetapher: »Soll’s denn ewig von Gewittern/Am umwölkten Himmel brau’n?« Geibel kommt dann schnell zum deutschen Lösungsansatz der Gewitterlage am Wolkenhimmel. In der Mitte Europas sollte es wieder eine Macht, ein Reich und einen Kaiser geben. »Gebt ihr [der Welt] ihren Kern zurück!/Macht Europas Herz gesund/Und das Heil ist euch gefunden«. 1861 konnte Europas Mitte noch umstandslos mit der Welt gleichgesetzt werden. Erst 1884 legte in Washington die Internationale Meridian-Konferenz den Nullmeridian auf den Londoner Vorort Greenwich fest. Immerhin setzte sich aus deutscher Sicht die Berliner Eisenbahnzeit ab 1893 über den Görlitzer Längengrad als Mitteleuropäische Zeit durch. Das Bismarckreich war die Macht in der Mitte und ist es geblieben.31 Die Ausdehnung seiner Zeitzone nach Westen dürfte zu den wenigen stillen normsetzenden Erfolgen gehören, die sich kontinuierlich entwickelten. Die deutsche Befindlichkeit, sich selbst als Herz der Welt zu empfinden, überdauerte bei manchen aber auch jenseits solcher bescheidener Normsetzung Katastrophen und Verbrechen der Weltkriege. Die Kritik des ehemaligen Reichskanzlers des Zentrums, Heinrich Brüning, am Westkurs des christdemokratischen Bundeskanzler Konrad Adenauer speiste sich aus der ungebrochenen Überzeugung, Deutschland wäre »das Herz der Welt«32 und müsse dementsprechend eigenständig schlagen.

In der politischen Geographie Geibels und der von ihm gespiegelten Bewusstseinslage deutscher Außenpolitik existierte eine Mitte der Welt mit Deutschland als ihrem Kern. Russland lag noch im Norden, was geographisch die Lage tatsächlich heute noch besser trifft als damals. Moskau teilt den Breitengrad mit Dänemark und Schottland, und der überwiegende Teil der Landfläche der Russländischen Föderation liegt heute nördlich davon. Nach der metaphorischen Mitte kamen der Westen und der Osten als absolute Metaphern deutscher Geopolitik nachrangig hinzu. Auf ihrer Grundlage werden bis heute die außenpolitischen Programme verhandelt. Von Geibel nicht antizipiert entstand mit der geforderten Reichsgründung eine neue Lage, in der die Mitte von Westen und Osten, je nach Sichtweise, bedrängt oder eingehegt wurde.

Henning Ottmann räsonierte in seinem gewaltigen Werk zur Geschichte des politischen Denkens auch über die Mittellage und ihre weltpolitischen Ambitionen und knüpfte dabei an die bekannte Einschätzung Henry Kissingers an, Deutschland sei zu groß für Europa, zu klein aber für die Welt:

»Aber war die Lage Deutschlands in der Mitte Europas nicht eine Grundvoraussetzung seiner Politik? Das Reich war auf der einen Seite die größte Macht auf dem Kontinent; es war zu groß, als daß man es (wie die Schweiz) im Windschatten der Geschichte hätte ruhen lassen können. Es war auf der anderen Seite aber nie mächtig genug, den Kontinent zu dominieren. Ein machtpolitisches Dilemma, das einiges von der deutschen Geschichte erklärt. […] Die zaghaften Versuche des Zweiten Deutschen Reiches, einen ›Platz an der Sonne‹ zu ergattern, lassen sich in der Größenordnung kolonialer Ambitionen mit denen der Westmächte überhaupt nicht vergleichen.«33

Das Rätsel der deutschen Geschichte und ihrer machtpolitischen Dilemmata könnte aber auch an den Ambitionen einer imaginierten Mitte liegen, die an ihrer »halbhegemonialen« Lage in Europa (Ludwig Dehio) und ihren »zaghaften« (Henning Ottmann) überseeischen Versuchen litt. Die Mitte scheint schlicht das Faktum einer solitären Kontinentallage zu beschreiben. Aber diese Mittellage besteht nicht aufgrund natürlicher Gegebenheiten, sondern entstand in der historischen Interaktion,34 die zum Trauma des Zwei-Fronten-Kriegs und dann zur deutschen Teilung führte. Ähnlich wie im Falle Chinas liegt die Metaphorik der geopolitischen Mitte nicht als geographisches Faktum vor, sondern entsteht in der sozialen Interaktion. Mit der Metapher der Mitte geht ein programmatischer Anspruch einher, die verantwortlich Ordnungsvorstellungen an Peripherien projizieren muss. Aus der metaphorischen Mitte heraus eröffnet sich die Legitimität eines geopolitischen Machtraums. Was Deutschland im Kleineuropa der EU nur ein Stück weit gelang, ging das riesige chinesische Reich der Mitte zeitgleich tatsächlich weltpolitisch an.

Das Kaiserreich litt an der Mittellage, weil die metaphorischen Vorstellungen der Geopolitik von der Mitte Europas und dem Kern der Welt die Beherrschung Europas und eine Weltmachtposition nahelegten, die politische Geographie eine reale Expansion aber verwehrte. Die Expansion war nur dem Auswanderer im Wilden Westen und im Fernen Osten gegeben, den Angst- und Sehnsuchtsräumen der Mitte. Solange sich die deutsche Außenpolitik vor der Vision der Mitte nicht löst, wird sie ihre erfolglosen Versuche, am deutschen Wesen Europa und die Welt genesen zu lassen, nicht aufgeben. Doch die Katastrophen und Verbrechen der deutschen Geopolitik haben die Versuche seit 1945 zumindest pazifiziert und bescheidener von der geopolitischen in eine geoökonomische Sphäre verlegt.

Ottmann bietet indirekt in seinen Ausführungen die Schweiz als Alternativmodell an. Augenscheinlich unterscheidet sich ihre geographische Lage auf dem europäischen Kontinent nicht signifikant von der Position Deutschlands. Allerdings sei Deutschland zu groß, um es im »Windschatten« ruhen zu lassen. Die Optionen des 21. Jahrhunderts haben sich demgegenüber dahingehend verschoben, dass sich die europäische Mittellage mit dem Ende des Eurozentrismus und der Marginalisierung Europas in der Globalisierung relativiert und darüber die Träume vom Platz an der Sonne in der kleinen Münze vom Windschatten nach Schweizer Vorbild nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa realisiert werden könnten. Der Wunschtraum vom »Ruhen im Windschatten der Geschichte« könnte sich als das bescheidene Resignationsideal für Europa erweisen, das eingesehen hat, das die Geschichte nicht endet, sondern nur anderswo weitergeht.

Das Schweizer Modell funktioniert aber auch nur durch die eigene Wehrhaftigkeit und die Einbettung in einen von anderen bereitgestellten Windschatten. Denn der Wettbewerbsvorteil des Windschattens hängt immer davon ab, dass andere im Wind stehen und ihn abfangen. Auch im deutsch-französischem Tandem kann sich das Kleineuropa der EU nicht zu einer eigenen Macht emporarbeiten, um selbst seiner Nachbarschaft Windschatten zu spenden. Die Nachbarschaftspolitik der EU ist zumindest sowohl am Mittelmeer wie in Osteuropa unter der außenpolitischen Führung Frankreichs und Deutschlands desaströs gescheitert. Deutschland und Frankreich scheinen nicht die Kraft zu haben, Europa außenpolitisch zu einen. Die Führungsrolle, die Polen seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine in Europa übernommen hat, und das Angebot einer EU-Mitgliedschaft an die Ukraine deutet einen neuen Machtfaktor an. Die Mitte Europas liegt ostwärts.35

Anders als in den vergangenen Mitteleuropakonzeptionen Deutschlands ergibt sich daraus aber kein Raum der Machtprojektion, sondern ein eigenes Machtzentrum. Wenn es der Ukraine gelingt, ihre Eigenständigkeit zu verteidigen, gewinnt der mitteleuropäische Raum zwischen Ostsee, Schwarzem Meer und Mittelmeer einen potentiell starken Partner. Dies könnte zu einer innereuropäischen Machtverschiebung führen, die Frankreich und Deutschland entlasten und die Stabilisierung Europas im Sinne einer befriedeten Schweiz vorantreiben könnte. Denn einer europäischen Mitte mit Deutschland im Westen fehlt die weltpolitisch anstrengende Ambition. Aus einer solchen Machtverschiebung erwächst kein nach außen gerichtetes Machtpotential. Europa wäre weiter nicht in der Lage, Windschatten für andere zu spenden, sondern muss ihn selbst suche. Aber die Bereitschaft, den eigenen Wehrbeitrag zum Abfangen von Winden zu leisten, würde sich mit einer neuen Mitte Europas erhöhen.

In der derzeitigen Weltlage gibt es nur zwei Mächte, deren Autorität und Macht den Windschatten einer Ordnung spenden können: der Westen und der Osten, die USA und China, nachrangig Russland. Selbst unter den Bedingungen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine hat sich Deutschland noch nicht eindeutig dafür entschieden, auf die wechselnden Windschattengewinne des vergangenen goldenen Vierteljahrhunderts zu verzichten.

Das goldene Vierteljahrhundert wechselnder Windschatten

Das Schweizer Windschattenmodell rückte in den letzten Jahren einseitig und eher unter der Hand in die Position der Leitmetapher deutscher Außenpolitik. Mit der deutschen Wiedervereinigung kam im außenpolitischen Diskus die gegenteilige Metapher auf, Deutschland müsse aus dem Windschatten anderer Führungsmächte heraustreten, weltpolitische Verantwortung übernehmen und auf die Weltbühne zurückkehren.36 Statt deutsche Außenpolitik zwischen »Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung«37 zu verorten, fand die »Selbstentfesselung«38 deutscher Außenpolitik Gefallen. Deutschland stellte unter der Überschrift neuer weltpolitischer Verantwortung die Bundeswehr zur Verfügung für multilaterale Einsätze mit oder ohne UNO-Mandat – von Sanitätern in Kambodscha über Tornados im Kosovokrieg bis hin zum fast zwanzig Jahre währenden Militäreinsatz in Afghanistan.

Allerdings kam die Bundeswehr dafür mit weniger als 200.000 Mann aus, während sie im Kalten Krieg mit 500.000 Mann und einer Million Reservisten die konventionelle Hauptmacht der NATO in Europa stellte, verstärkt durch die Truppen der Bündnispartner auf ihrem Gebiet. Eigenständig Verantwortung übernahm Deutschland bei diesen bündnispolitisch eingeforderten und eingebetteten Unternehmungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts allerdings nicht. Wenn es Ansätze für Entscheidungen in eigener Verantwortung gab, dann gerade im Entzug militärischer Unterstützung. Bundeskanzler Schröder verweigerte den USA die Gefolgschaft in den Irakkrieg. Bundeskanzlerin Angela Merkel stellte sich gegen Frankreichs Intervention in Libyen. Die Zivilmachttradition der Bonner Republik39 wurde erst in der Berliner Republik richtig lebendig, weil eine Friedensdividende durch massive Abrüstung vereinnahmt werden konnte.40

Es blieb somit eher bei einer Forderung, aus dem Windschatten herauszutreten und Verantwortung zu übernehmen,41 als dass ein solcher Schritt tatsächlich getan worden wäre. Das Vierteljahrhundert zwischen 1989 und 2014 lässt sich vielleicht sogar besser verstehen, wenn man die deutsche Außenpolitik dieses Zeitraums trotz gegenläufiger Rhetorik als den Versuch deutet, gerade erst in den Windschatten hineinzukommen, und zwar in die wechselnden Windschatten der Mächte, die in den verschiedenen Feldern deutscher Außen- und Außenwirtschaftspolitik Windschattengewinne versprachen.

Anders als behauptet lagen Deutschland wie Europa während des Kalten Kriegs alles andere als im Windschatten der Weltpolitik, sondern gespalten in Ost und West im Zentrum eines potentiell atomaren Sturms. Die Erfahrungen des Untergangs in den Stürmen der Weltkriege begrenzten die Ambitionen deutscher Außenpolitik auf Erfolge in der Weltwirtschaft und beförderten eine außenpolitische Kultur der Zurückhaltung auch nach der Deutschen Einheit. Das eigene weltpolitische Gewicht vorsichtig einschätzend, schien die Ruhe des Windschattens im Zentrum der diplomatischen Bemühungen zu stehen. Statt selbst Konflikte auszutragen, wurden multilaterale Konstellationen angestrebt, die weltpolitische Winde abfangen. Eingebettet in solche Arrangements ließ sich seit der Wiederbewaffnung in der frühen Bundesrepublik der Nachkriegszeit der eigene Sicherheitsbeitrag nicht gänzlich einsparen. Aber das stetige Halten im westlichen Windschatten sicherte dem westdeutschen Kernstaat doch – und zu akzeptablen Kosten – Wohlstand in Frieden und Freiheit. Unter den Bedingungen einer globalen Pax Americana nach 1989 ließ sich der Unkostenbeitrag weiter senken. Das stetige Unterlaufen des vereinbarten Ziels der NATO-Staaten, zwei Prozent des Bruttosozialprodukts in den Wehretat zu stecken, lässt sich leicht in diese Strategie einer sparsamen Handelsmacht einordnen.

Spätestens seit dem hybriden Krieg Russlands gegen die Ukraine 2014 und dem Ausgreifen chinesischer Weltmachtambitionen über die neue Seidenstraße war die goldene Zeit wechselnder Windschattengewinne vorüber. Das wollte die deutsche Außenpolitik aber eher nicht wahrhaben. Trumps polternde Mahnungen, nicht auf Kosten der USA zu prosperieren, ließen sich leicht abtun. Noch im Koalitionsvertrag von 2021 der Regierung Scholz fand sich ein Zwei-Prozent-Ziel nur beim Flächenausweis für den Ausbau der Windkraft. Die deutsche Handelsmacht investierte geschäftstüchtig nur so viel in bündnispolitische Solidarität, wie unbedingt nötig war, um den Vorwurf des Trittbrettfahrens abwehren zu können, und setzte ansonsten ihren Wehrbeitrag auf die ins Feld der Sicherheitspolitik verschobene Transformation der Energiewirtschaft. Im Übergang in die klimaneutrale Geopolitik galt russisches Gas als Königsweg.

Ein solcher, fast übermütiger Erfolg einer diversifizierten Windschattenpolitik schien 1990 nicht ausgemacht. Bundeskanzler Helmut Kohl gewann mit der Wiedervereinigung das Bismarckreich zwar in einer begrenzten Form, aber mit dem alten prekären Potential außenpolitischer Machtkonstellationen zurück. Die kleindeutsche Lösung von 1870/71 kehrte zwar 1990 im Gegensatz zu damals in Übereinstimmung mit den Nachbarn wieder, sie schien nach den ersten Herausforderungen der Finanzierung der Einheit aber doch mit einer hinreichenden ökonomischen Machtbasis ausgestattet, um auch Besorgnis hinsichtlich ihrer außenpolitischen Optionen auszulösen. Die Rückkehr weltpolitischer Ambitionen lag nicht fern, oder, anders formuliert, die neue Machtbasis nötigte Deutschland weltpolitische Verantwortung ab. Am Ende der Ära Kohl kritisierte Ingo Peters eine Tendenz in der Außenpolitikanalyse, die Deutschland zuerst als »Scheinzwerg« und dann als »Scheinriese« verkannt hatte.42

Insofern die Rede vom »Heraustreten aus dem Windschatten« nicht zur rhetorischen Vernebelung frugaler Zurückhaltung gehört, lässt sie sich als vorsichtig formulierte Forderung verstehen, die eine verantwortungspolitisch abgefederte und dementsprechend defensive Annäherung an eigenständige Ambitionen in der Weltpolitik anvisierte. Ein Heraustreten aus dem Windschatten des Westens, den Bundeskanzler Adenauer für den westlichen Kernstaat mit Mühe erreicht hatte, ließ sich aber kaum offensiv anstreben, sondern konnte nur im Zuge einer Verantwortungsrhetorik erprobt werden. Die weltpolitischen Ambitionen des Kaiserreichs, einen ökonomischen Sonnenplatz in der globalen Ökonomie des Kapitalismus zu erreichen, kamen unbedarft zurück.

Eine prägende Analyse zur neuen deutschen Außenpolitik, die zu Beginn der 1990er Jahre vorgelegt wurde, wies die Kontinuität zum Bismarckreich lieber als eine »Gespensterdebatte« des 19. Jahrhunderts zurück.43 Die neue weltpolitische Verantwortung der Berliner Republik sollte nichts mit den Weltmachtambitionen des Kaiserreichs zu tun haben. In der Tat wurde schlagend argumentiert, dass ein atomwaffenfreies Deutschland mit einem letztlich wenig dominanten Anteil an der Weltwirtschaft kaum mit dem kraftstrotzenden Kaiserreich der industriellen Revolution verglichen werden könne. Dennoch gewann Deutschland in dieser Analyse mit der Deutschen Einheit an Entscheidungsmacht. Die neue deutsche Macht resultierte aus der intersubjektiven Zuschreibung einer neuen Bewegungsfreiheit.

»Deutschland steht im Zentrum der Veränderungen, weil diesem Staat und der durch die Vereinigung geänderten Gesellschaft im Kontext der internationalen politischen Verschiebungen mehr Entscheidungsalternativen zugewiesen werden als anderen Staaten. Dabei ist zweitrangig, ob dies der tatsächlichen Lage entspricht, ob sich in Deutschland andere Mehrheiten finden, ob die Umlenkung von Handelsströmen und Investitionsvorhaben so leicht durchzuführen ist. Wichtig ist, daß dies so gesehen wird. Die internationale Stellung Deutschlands wird allein schon dadurch machtvoller, daß andere Staaten diesem Staat mehr an Entscheidungsalternativen zuschreiben als sich selbst.«44

Es scheint demnach so, dass nach dem Erwachen aus dem Albtraum von manifester Teilung und drohendem Atomkrieg sich die Fesseln des deutschen Gullivers in den Augen der interessierten Beobachter lösten, die vielleicht nicht in der Realität, aber doch in der Selbstwahrnehmung in Gefahr schwebten, die Rolle der Liliputaner einnehmen zu müssen, und gespannt darauf warteten, was der ökonomische Gigant tun würde. In der Tat machte sich Gulliver umsichtig und emsig ans Werk, im Windschatten der europäischen Integration in die Rolle der europäischen »Zentralmacht«, der »Macht in der Mitte«,45 wieder hineinzuwachsen. Deutschland hörte dabei ungewohnte Klänge seiner Nachbarn, es solle Führungsmacht werden. Den locus classicus für diesen Diskurs lieferte der polnische Außenminister Radosław Sikorski 2011 in seiner Rede bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik: »Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit.«46 Daraus ergab sich aber für Deutschland kein neuer Handlungsspielraum. Gefordert wurde im Vertrauen auf die Zähmung und Zivilisierung des deutschen Machtpotentials seine vollständige Integration in den Ausbau des westlichen Windschattens für Europas unter Verzicht auf andere Windschattenoptionen und das kaufmännische Berechnen eigener Interessen. Niemand, am allerwenigsten Polen und die Mitteleuropäer, möchten am deutschen Wesen genesen oder sich dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments für eine friedlichere Welt beugen. Es ging um die Reintegration Deutschlands in einen abwehrbereiten Westen unter vollständigem Verzicht auf eigene Weltmachtambitionen. Eine ältere friderizianische Position könnte die Frage der Führung erhellen: In Preußen galt der Dienst am Staat als Definition der Führung des Fürsten. Wenn heute deutsche Führung eingefordert wird, dann als Dienst an Europa und den Nachbarn.

Die deutsche Außenpolitik sah das spätestens seit der zweiten Phase der Ära Schröder anders. Die eingeforderte Art von Führung entsprach nicht ihrer Definition deutscher Interessen. Das Heraustreten aus dem Windschatten und die Übernahme von Führungsverantwortung zielten auf eine ökonomische Vorreiterrolle auf dem Weltmarkt der Globalisierung. Sicherheitspolitisch sollte weiter der westliche Windschatten genutzt werden, und Deutschland trug auch bis in die Berge Afghanistans seinen begrenzten Teil zur bündnispolitischen Solidarität bei. Doch die eigentliche Leistung deutscher Außenpolitik spielte sich auf dem Feld der Außenwirtschaftspolitik ab. Aber auch dort galt die amerikanische Rückversicherung als Grundlage des Agierens. Die Finanzkrise von 2008 überlebte auch Deutschland dank der Kreditlinien der amerikanischen Notenbank, die es für die europäischen Partner, nicht aber für China gab. Doch sowohl im Management der europäischen Schuldenkrise wie in der Verzahnung mit russischen Rohstoffen und chinesischer Produktion verfolgte Deutschland weiterreichende Ziele einer ökonomischen Großmacht, die eigene Interessen jenseits des Westens und seiner amerikanischen Führungsmacht und der europäischen Partner anstrebte. Hier knüpfte die Berliner Republik an ältere Traditionen Bismarcks und Bülows an. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und der heraufziehende Konflikt zwischen den USA und China markieren eine Zäsur, die eine historisch unterfütterte »Trendwende«47 deutscher Außenpolitik angezeigt erscheinen lässt. Seit Bismarck spielte die deutsche Außenpolitik desaströse und erfolgreiche Varianten des Wetterwechsels durch. Aus der Geschichte lernen, heißt nicht, vergangene Erfolge zu kopieren versuchen. Aber der Verzicht auf die Reflexion der Vergangenheit verschüttet die Quelle neuer Erfolge. Zumindest sah das einer der erfolgreichsten Kanzler so:

»Außenpolitik kann man nicht ohne Kenntnis der Vergangenheit betreiben. Man muss Wissen haben und man muss Erfahrung haben. Genau wie im menschlichen Leben steht hier ein Stein auf dem anderen. Man muß die Entwicklung seines eigenen Landes und die der anderen Staaten zumindest in ihren großen Zügen kennen. Man muß Entwicklungstendenzen studieren, wenn man eine erfolgreiche Politik machen will.«48

Die folgenden Seiten möchten es erleichtern, dem Rat Konrad Adenauers zu folgen. In zwölf außenpolitischen Kanzlerporträts lassen sich Entwicklungen und Entwicklungstendenzen aus 150 Jahren deutscher Außenpolitik studieren und reflektieren. Die Zielsetzung liegt in der vorsichtigen Prognosefähigkeit, die sich aus der Kenntnis von Adenauers »Tendenzen« ergibt. Tendenzen determinieren nicht, aber sie geben doch Anhaltspunkte dafür, was plausibel und was unplausibel sein könnte.

2.Bismarck optiert für das Wetter

Haben oder Sein schließen sich als Existenzformen nicht unbedingt aus. Außenpolitisch kann sich das Haben als machtpolitisches Selbstverständnis an ein bestimmtes Sein der internationalen Politik koppeln. Arnold Wolfers schlug dafür die Unterscheidung zwischen außenpolitischen Zielen des Habens (possession goals) und außenpolitischen Zielen des Seins (milieu goals) vor.49 Damit ein Staat bestimmte Ziele des Habens erreichen kann, muss er für ein bestimmtes Umfeld internationalen Seins sorgen. Manchmal gerät die Unterscheidung von eigener Existenzform als Machtstaat des Habens und dem Sein der internationalen Umwelt in ein dynamisches Verhältnis – so bei Bismarck vor der Reichsgründung.

Bismarcks Außenpolitik zielte grundlegend auf den machtpolitischen Ausbau Preußens als Großmacht, um die konservative Sozialordnung des preußischen Agrarstaats auch unter den Bedingungen von Modernisierung und Industrialisierung zu sichern. Bismarck war ein ostelbischer Junker, dem während seiner Zeit als Kanzler auch die Verbesserung seiner privaten Vermögenslage und die Vermehrung seiner Ländereien gelang. Um diese preußische Existenzform zu sichern und auszubauen, musste nach Lage der Dinge in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Preußen den deutschen Nationalstaat gründen. Es reichte nicht mehr aus, ein vorteilhaftes Milieu im Deutschen Bund und im Gleichgewicht der europäischen Großmächte England, Russland, Frankreich, Österreich und Preußen zu pflegen. Aus Preußen musste Deutschland werden. Deswegen wollte Bismarck ein Deutsches Reich und darin die Arrondierung preußischer Gebiete und Macht haben. Sobald die Reichsgründung geglückt war, mussten die Stabilität und der Bestand des Reichs gesichert werden.

Für seine Ziele des Habens benötigte Bismarck eine vorteilhafte Lage des internationalen Umfelds und hatte dementsprechende Ziele des Seins im Sinn. Bei aller Flexibilität, die Bismarck für unerlässlich im relativen Geschäft der Politik hielt, und trotz seiner konservativen Grundhaltung und bündnispolitischen Vorlieben blieb er bei einer sehr speziellen Variante der des Milieu-Managements. Als Milieuinstrument diente ihm ein machiavellistischer Multilateralismus mit einem auf Dauer gestellten Krisenmanagement, dessen Vertragswerke nicht auf einen stabilen Ausgleich setzten, sondern Spannungen offen und in der Balance hielten. Die Pflege der europäischen Dauerkrise als Milieuziel ermöglichte zuerst die Reichsgründung und garantierte dem saturierten Reich seine machtpolitische Existenz und damit die Macht Preußens. Solange es Bismarck gelang, die Ziele des Habens der anderen Großmächte auf den Balkan oder in den Kolonien in einer konfliktreichen Balance zu halten, war der eigene Bestand als saturierter Machtstaat in der Mitte Europas für ihn gesichert. Seinen Nachfolgern hinterließ er mit diesem Ansatz ein prekäres Erbe.

Schon sehr früh in seiner außenpolitischen Karriere, kurz nach dem Krimkrieg (1853–1856), erkannte Bismarck den Vorteil eines solchen Milieuziels für sein preußisches Ziel des Habens. Für das Milieuziel der Dauerkrise wählte er die Metapher des Wetters: »Die großen Krisen bilden das Wetter, welches Preußens Wachstum fördert, indem sie furchtlos, vielleicht auch sehr rücksichtlos von uns benutzt werden.«50 Dieses gedeihliche Krisenwetter für das Wachstum Preußens war Bismarck aber nicht nur gewillt zu nutzen, spätestens mit dem Kissinger Diktat von 1877 machte er die Pflege des Wetters und der Wetterecken zur Hauptaufgabe seiner Außenpolitik.51

Der »weiße Revolutionär«52 Bismarck wäre kein konservativer Staatsmann gewesen, wenn er diesen machiavellistischen Ansatz ohne Not gewählt hätte. Als aus dem geschickten Ausnutzen mitunter selbstfabrizierter Krisen nach und nach die Schritte für die Reichsgründung getan waren, wäre dem konservativen Preußen ein stabiles Arrangement mit Russland und Österreich in der Tradition der Heiligen Allianz am liebsten gewesen. Doch Bismarck musste feststellen, dass die Wetter über Europa anhielten und insbesondere ein stabiles konservatives Drei-Kaiser-Bündnis illusorisch war, weil sich immer wieder eine »Wetterfront über dem Balkan zusammengebraut [hatte], deren Gewitterwolken schon bald Europas Himmel verdunkelten«.53