What if we Drown - Sarah Sprinz - E-Book
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What if we Drown E-Book

Sarah Sprinz

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Beschreibung

Sie möchte endlich nach vorne blicken. Er macht es ihr unmöglich

Ein Neuanfang - das ist Lauries sehnlichster Wunsch, als sie nach dem tragischen Tod ihres Bruders an die Westküste Kanadas zieht. Noch vor der ersten Vorlesung ihres Medizinstudiums an der University of British Columbia lernt sie Sam kennen und spürt sofort, dass er sie auf eine nie gekannte Weise versteht. Unaufhaltsam schleicht sich der attraktive Jungmediziner in ihr Herz. Bis Laurie erkennt, wie tief er in die Ereignisse der Nacht verstrickt war, die ihren Bruder das Leben kostete ...

"Für mich gleicht diese Geschichte einer Umarmung eines geliebten Menschen, der dir in schlechten Zeiten versichert, dass alles gut werden wird - emotional, einnehmend, wärmend. Ich bin absolut verzaubert." Ava Reed, Spiegel-Bestseller-Autorin

Auftakt zur bewegenden und romantischen New-Adult-Trilogie von Sarah Sprinz

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Seitenzahl: 458

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Liebe Leser*innen

Widmung

Playlist

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

– Seelenverwandt –

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

– Der Kick –

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

– Eintausend und immer –

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

– Die Höhepunkte und der Fall –

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

– Verlust –

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

– Nichts –

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

– Das Nachher und Nachher und Nachher –

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

– Hey, Austin –

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

Danke

Triggerwarnung

Die Autorin

Die Romane von Sarah Sprinz bei LYX

Impressum

Sarah Sprinz

What if we Drown

Roman

Zu diesem Buch

Dreieinhalb Jahre nach dem Tod ihres Bruders nehmen Laurie die Erinnerungen daran noch immer den Atem. Nie wieder ist sie seitdem ganz bei sich angekommen, nie wieder stand sie auf einem Kiteboard. Denn ihr gemeinsames Hobby, das einst Fühlen und Freiheit bedeutete, kommt ihr heute leichtsinnig vor. Dafür wuchs Lauries Traum, Ärztin zu werden, Menschen zu helfen. So wie auch ihr Bruder es wollte, bevor ihm die Chance dazu genommen wurde. Als Laurie die Zusage für ein Medizinstudium in Vancouver erhält, lässt sie alles hinter sich und zieht von Toronto an die Westküste Kanadas. Doch sie merkt schnell, dass sich die Vergangenheit auch am anderen Ende des Landes nicht so leicht abschütteln lässt. Noch vor ihrer ersten Vorlesung lernt sie Sam kennen. Sam, der sie ansieht und mehr sieht als die anderen. Sam, der ebenfalls Medizin studiert und ihr Tutor sein wird. Sam, der sie wieder dazu bringt, zu kiten. Und Sam, der tiefer in die Ereignisse der Nacht verstrickt ist, die ihren Bruder das Leben kostete, als Laurie ahnt.

Liebe Leser*innen,

What if we Drown enthält Elemente, die triggern können.

Deshalb findet ihr auf Seite 391 eine Triggerwarnung.

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Sarah und euer LYX Verlag

Für Steffen.

We’ll survive,

you and I.

F. Scott Fitzgerald

PLAYLIST

lovers – anna of the north

overgrown – machineheart

technicolour beat – oh wonder

ocean eyes – billie eilish

finally // beautiful stranger – halsey

line of sight (reprise) – odesza

new york – andrew belle

summer ’09 – vancouver sleep clinic

i love you – billie eilish

more – halsey

we are – kid million

out of the woods – taylor swift

big bad city – evalyn

it’s only (vip remix) – odesza

sirens – fleurie

drowning – banks

the enemy – andrew belle

white blood – oh wonder

the breach – dustin tebbutt

glow (acoustic) – robinson

you & i – rhodes

higher ground (reprise) – odesza

1. KAPITEL

»Laurie, es war die richtige Entscheidung. Vertrau mir, ich weiß es einfach.« Ambers Stimme drang blechern verzerrt durchs Handy an mein Ohr.

»Aber warum fühlt es sich dann kein bisschen richtig an?« Ich konnte mir noch so viel Mühe geben, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken, meine beste Freundin würde es auch über die drei Zeitzonen hinweg heraushören.

»Laurie, du bist gerade ans andere Ende des Landes gezogen. Es ist okay, dass du dich jetzt so fühlst.«

Ich zwang mich zu schlucken, doch der Kloß in meiner Kehle wollte nicht verschwinden.

»Und dein Koffer taucht auch wieder auf, da bin ich mir sicher. Weißt du, wie oft sie mein Gepäck schon verbummelt haben, wenn ich von Toronto zurück nach Vancouver geflogen bin? Und wenn sie ihn echt verloren haben, ersetzt dir die Airline den Inhalt.«

Mit jedem ihrer Worte stieg der Druck hinter meinen Pupillen.

Nicht heulen, Laurie. Du. Wirst. Nicht. Heulen.

Du bist stärker als diese dumme Panik.

»Aber es ist der mit seinen Sachen.«

Amber verstummte. Und dann verstand sie.

Es waren nicht nur Sachen. Es waren die wertvollsten Erinnerungen, die ich besaß, und vielleicht waren sie weg. Für immer. Genau wie er.

»Okay.« Amber räusperte sich. »Gut. Wo bist du gerade? Immer noch in diesem Taxi?«

Ich nickte, auch wenn mir klar war, dass sie es nicht sehen konnte.

»Wie weit ist es noch bis zu deiner Unterkunft?«

»Ich hab keinen blassen Schimmer! Komm ich aus Vancouver oder du?« Ich konnte nicht ruhig bleiben. Auch wenn ich wusste, dass meine beste Freundin am allerwenigsten etwas dafür konnte, dass mein Umzug schon jetzt in eine Katastrophe mündete. Der Stress und Schlafmangel der letzten Tage ließen meine Nerven zum Zerreißen dünn werden. Und Amber wusste das. Sie wusste es besser als ich selbst.

»Gut. Okay.« Ihre Stimme klang unerwartet sanft. »Setz dich richtig hin, aufrecht. Lehn den Kopf an. So. Und jetzt mach die Augen zu.« Sie schwieg einen Moment. »Du sollst die Augen zumachen!«

»Amber«, flehte ich, doch sie sprach ungerührt weiter. Was zur Hölle sollte das werden?

»Und jetzt hörst du mir gut zu. Erinnerst du dich an die Nacht vor ein paar Monaten, als du heulend in der Wohnheimtoilette saßt und meintest, du erträgst keinen weiteren Tag in Toronto?«

Der hohle Schmerz in meiner Brust machte mir das Atmen schwer. Ich presste die Lider aufeinander, doch die Tränen rannen trotzdem zwischen ihnen hervor. Natürlich erinnerte ich mich.

»Was soll der Scheiß, Am?«, krächzte ich.

»Was fühlst du, wenn du daran denkst?«

»Den Drang, das Gespräch jetzt sofort zu beenden!«

»Es ist Panik und Angst und Schmerz, richtig? Ich will, dass du dich daran erinnerst. Ich will, dass du wieder in der Situation bist und fühlst, wie absolut furchtbar es war.«

»Lass es! Das macht es nicht besser, hör einfach auf damit, ich …«

»Laurie, du bist jetzt frei.« Amber betonte jede einzelne Silbe, und sie klang so entschieden, dass ich verstummte. »Du bist jetzt in fucking Vancouver. Du hast es durchgezogen. Du hast es geschafft, okay? Ich weiß, du bist allein und übernächtigt und hast ein bisschen Heimweh und Angst vor dem, was kommt. Das ist alles erlaubt. Das ist normal. Aber wehe, du ziehst jetzt wegen dieser paar lächerlichen Kleinigkeiten ernsthaft in Betracht, alles hinzuschmeißen. Obwohl du weißt, dass du schon viel schlimmere Dinge ertragen hast.«

»Ich ziehe es nicht in Betracht«, flüsterte ich. Und das war die Wahrheit. Ich zwang mich, tief durchzuatmen. Als ich blinzelte, huschte der neugierige Blick des Taxifahrers vom Rückspiegel zurück auf die Straße. Sollte er doch denken, was er wollte. Dass ich völlig hysterisch und erbärmlich war. Schließlich lag er damit gar nicht so falsch.

»Ich verstehe, dass du Angst hast. Aber bitte glaub mir, es wird nicht so sein wie bei ihm. Das verspreche ich dir.«

»Woher willst du das wissen?« Beinahe grob wischte ich mir die Tränen von den Wangen. »Er war auch an diesem Punkt. Neues Leben, neue Uni. Endlich die Zulassung für Medizin. Und dann …« Meine Stimme versagte, bevor ich es über die Lippen brachte.

»Laurie, es war ein verdammter Unfall. Eine beschissene Verkettung unglücklicher Umstände.«

»Ja, aber es wäre vielleicht nie dazu gekommen, wenn ich einfach …«

»Stopp. Hör auf. Keine toxischen Schuldzuweisungen mehr. Das höre ich mir nicht länger an.« Ambers Worte trafen mich wie schallende Ohrfeigen. Aber sie waren nötig, damit ich wieder zur Besinnung kam. Als sie fortfuhr, war ihre Stimme weicher. »Es ist nicht deine Schuld. Du musst endlich anfangen, das zu kapieren. Es tut mir immer noch so unendlich leid. Jeden Tag, Laurie. Aber ich werde nicht zulassen, dass du deshalb dein ganzes Leben wegwirfst. Jetzt wird alles besser, wirklich. Verstehst du das?«

Stumm schüttelte ich den Kopf, während die Umgebung erneut vor meinen Augen verschwamm.

»Ob du das verstehst?«, rief sie durch das Telefon.

»Ja.« Ich schluckte. »Ich verstehe es.«

»Gut, sehr gut. Mehr verlange ich nicht von dir. Aber bitte verlier nicht das große Ganze aus dem Blick.«

Ich zwang mich, tief Luft zu holen. Ich wusste, dass Amber recht hatte. Aber um wie viel einfacher wäre es gewesen, mich jetzt der dummen Panik hinzugeben, anstatt gegen sie anzukämpfen?

»Also.« Niemand schaffte es, so bestimmt und zugleich so sanft zu klingen wie sie. Die Tausenden Kilometer, die von nun an zwischen uns lagen, wurden mir in dem Moment schmerzhaft bewusst. »Was ist das große Ganze?«

»Der Traum«, flüsterte ich, und mein Herz zog sich zusammen.

»Welcher Traum?«

»Ärztin werden«, sagte ich noch leiser.

»Und warum?«

»Um Menschenleben zu retten«, hauchte ich und presste die Lider aufeinander. Egal, wie oft ich es sagte, es wurde nicht erträglicher. Menschenleben retten. Er hatte das auch gewollt.

»Laurie, du machst diesen Scheiß nicht für ihn« sagte Amber. »Okay? Du machst das für dich. Nur für dich. Das ist wichtig, verstehst du?«

Ich nickte und stieß ein heiseres »Ja« hervor. Sie hatte ja recht, zumindest theoretisch. Praktisch gesehen war dieser Neubeginn das Einzige, was ich noch für ihn tun konnte. In seine Fußstapfen treten. Meinen Traum verwirklichen, der einmal seiner gewesen war.

»Und wenn alles zu viel wird, dann setze ich mich in den nächsten Flieger und bin schneller bei dir, als du Amber Gills ist die beste Freundin des ganzen Universums sagen kannst.«

»Daran werde ich dich erinnern, wenn du vor lauter Abgaben deinen eigenen Namen vergisst.«

Ambers Lachen war voll und klar. »Ich bitte dich. Eher vergesse ich die ganzen Abgaben als meinen Namen.«

Unwillkürlich musste ich schmunzeln.

»Nein, ich mein’s ernst, Laurie. Mom und Dad bedrängen mich eh schon dauernd, wie schön es doch wäre, wenn ich mich mal wieder in Vancouver blicken ließe. Aber dann hätte ich wenigstens einen Grund. Für dich würde ich sogar ein paar Tage auf den hervorragenden Sex mit Peter Cooper verzichten. Und glaub mir, der ist wirklich verdammt hervorragend. Beim letzten Mal hat er mich mit in sein Atelier genommen, diese artsy Künstlertypen sind der Jackpot und Staffeleien tatsächlich doch ein bisschen instabil, wenn man ungebremst dagegen …«

Ich verdrehte die Augen.

»Hat da gerade jemand gegrinst? Ganz kurz wenigstens? Komm schon, gib’s zu, Darling.«

»Du spinnst doch.«

»Ich vermisse dich auch. Ehrlich, Laurie. Aber zum Glück gibt es so wundervolle Erfindungen wie WhatsApp und Skype. Ich mein’s wirklich ernst. Wenn was ist, bin ich bei dir. Du weißt ja, dass mich das Studium nicht weniger interessieren könnte.«

»Miss?«

Ich fuhr zusammen. Dank Ambers ausschweifenden Erzählungen war mir völlig entgangen, dass das Taxi in einer ruhigen Seitenstraße angehalten hatte.

»Wir sind da.«

»Amber, wir reden später noch mal, okay? Ich bin jetzt bei meiner Unterkunft.«

»Wundervoll, mein Herz«, flötete sie. »Erzähl mir gleich, ob dein Host wirklich so scharf ist wie auf seinem Profilbild.« Sie kicherte. »See you!«

Aufgelegt.

Ich atmete einmal tief durch, während ich die Umgebung wieder wahrzunehmen begann. Gepflegte Vorgärten, üppige Kastanien, die die gepflasterte Carnarvon Street säumten.

Die Tränen verklebten noch meine Wimpern, aber Amber hatte recht. Ich war nun hier, und nichts hatte ich so sehr gewollt wie diesen Neuanfang. Reset. All das verfluchte Unglück hinter mir lassen.Im Grunde war es simpel. Am absoluten Tiefpunkt angelangt, gab es nur noch zwei Möglichkeiten. Entweder man verharrte dort oder es würde wieder aufwärtsgehen. Und Letzteres war es, wofür ich stumm betete.

2. KAPITEL

Wen interessierte es, ob mein Gastgeber scharf war oder nicht? Ich hatte auf seinem Foto den Hoodie mit dem Logo der University of British Columbia gesehen und das Zimmer sofort bei Airbnb angefragt. Für die erste Zeit bei einem künftigen Kommilitonen zu wohnen schien mir nicht die dümmste Idee zu sein. Insbesondere nicht angesichts der ernüchternden Lage auf dem Wohnungsmarkt, der kaum etwas Bezahlbares hergab. Vielleicht hatte der Kerl ja einen Tipp für mich, wo ich nach den ersten zehn Tagen in seiner WG wohnen könnte. Aus dem Wohnheimplatz auf dem Campus ganz im Westen der Stadt war leider nichts geworden. Blieben also nur noch eine private WG oder ein Einzimmerapartment. Wenn ich ehrlich war, hatte ich nach den drei Jahren im Studentenwohnheim der University of Toronto während meines Bachelors in Sozialwissenschaften gegen ein wenig mehr Privatsphäre nichts einzuwenden. Andererseits würde es mir in dieser neuen Situation vermutlich ganz guttun, Menschen um mich zu haben.

Das Taxi brauste davon. Vor mir ragte die hellgraue Holzfassade eines typisch kanadischen Einfamilienhauses in den violett verfärbten Abendhimmel. Dunkelgrüne Hecken schützten den schmalen Vorgarten vor neugierigen Blicken. Das schmiedeeiserne Tor war nur angelehnt, sodass ich mein Gepäck mit vollem Körpereinsatz bis vor die breite Eingangstreppe aus dunklem Holz hievte. Wenn ich mich nicht irrte, lag mein Zimmer auch noch im Obergeschoss … Das würde spaßig werden.

Ich unterdrückte ein Seufzen und stieg die wenigen Stufen hinauf. Die anthrazitfarbenen Fensterrahmen passten zum dunkel gedeckten Dach, das sich über mehrere Giebel und verspielte Vorsprünge erhob. Efeuranken schlängelten sich an den Holzpfeilern der kleinen Veranda empor. Vor der Haustür entdeckte ich ein Paar dreckige Wanderschuhe und kleinere, knöchelhohe dunkelblaue Gummistiefel.

Ich musste lächeln, während ich läutete. MacKenzie/Sorichetti stand auf dem kleinen Schild neben der Türklingel. Hinter den beiden Namen schien ein weiterer gestanden zu haben, der mit dicken schwarzen Strichen überkritzelt worden war.

Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, wurde ein Flügel der Tür vor mir aufgerissen. Doch statt in ein fremdes Gesicht blickte ich auf den breiten Rücken eines Mannes, der sich zu Boden bückte.

»Oh nein, Kitsilano, hiergeblieben!« Das schwarz-rot karierte Flanellhemd spannte sich leicht über seinen Schultern, als er nach dem dunkelgrauen Etwas griff, das da zwischen seinen Beinen gen Freiheit drängte. »So siehst du aus … Du kannst doch nicht schon wieder abhauen.«

Der Unbekannte richtete sich auf. Dunkle Locken fielen ihm in die Stirn, und seine Mundwinkel hoben sich, als er mich nun ansah, während er ein Kätzchen gegen seine Brust gedrückt hielt.

»Ah, du musst Laurence sein«, vermutete er, legte sich die Katze über die Schulter und streckte mir die frei gewordene Hand entgegen. »Entschuldige, wir haben gerade ein ausführliches Zecken-entfern-Date. Nicht wahr, Kits?«

»Oh, verstehe.« Ich schüttelte seine Hand, woraufhin er seinen Griff von der Katze löste. Kurz balancierte sie auf seiner Schulter, ehe sie in einem eleganten Bogen und völlig lautlos hinter ihm auf den Boden sprang. Nur um keine zwei Sekunden später an unseren Beinen vorbei in den Vorgarten zu verschwinden.

»Na ja, dann halt morgen«, meinte er leichthin, ehe er mich anlächelte. »Komm rein. Hattest du eine gute Reise?« Mein Gastgeber trat einen Schritt zur Seite und warf einen kritischen Blick auf meine Koffer am Fuß der Treppe. »Willst du hier dauerhaft einziehen, oder ist das da tatsächlich dein Gepäck für einen zehntägigen Aufenthalt?« Er lachte dabei, kleine Fältchen gruben sich rund um seine funkelnden Augen und nahmen seinen Worten die Schärfe. Unwillkürlich stimmte ich in sein Lachen ein.

»Tatsächlich plane ich, etwas länger zu bleiben. Ich komme aus Toronto und ziehe gerade hierher.«

»Ach so. Das erklärt’s!«

»Ignorier ihn einfach.« Eine zarte Stimme ertönte hinter dem jungen Mann. Sie gehörte zu einem Mädchen in meinem Alter, das nun neben ihn trat und mich anlächelte. Ihre blauen Augen leuchteten und bildeten einen erstaunlichen Kontrast zu ihren dunklen Haaren, die ihr fein geschnittenes Gesicht als kinnlanger Bob rahmten. Auch sie reichte mir die Hand. Entgegen meiner Erwartung war ihr Händedruck bemerkenswert kräftig. »Ich bin Hope, die zweite Mitbewohnerin. Schön, dass du da bist.«

»Laurie. Freut mich«, erwiderte ich und spürte, wie die Anspannung der letzten Stunden langsam von mir abfiel.

Hope wandte sich an ihren Mitbewohner und stieß ihn leicht an. »Wie wär’s, wenn du dich vielleicht auch mal vorstellst?«

Er lachte. »Oh, ähm, ja, stimmt. Ich bin Emmett.«

»So, und jetzt komm rein.« Hope griff nach meiner Hand, und ich sah zu meinen Sachen.

»Ich hole noch eben mein Gepäck.«

»Warte, wir helfen dir.« Emmett trat bereits an mir vorbei.

»Oh, das ist wirklich nicht …«

»Doch, doch. Außerdem geht es zu dritt schneller.« Hope schenkte mir ein Lächeln, dann folgte sie Emmett und mir in ihren Birkenstocks und den grünen Socken die Treppe hinab. In ihre ausgewaschenen Mom-Jeans hatte sie ein weißes T-Shirt gesteckt, über dem sie ein dunkles Trägershirt trug. Emmett ging barfuß die Stufen hinunter. Seine schwarzen Jeans waren mit Katzenhaaren übersät und klebten geradezu an seinen langen Beinen. Nun schob er die Ärmel seines karierten Hemds bis zu den Ellbogen hoch, als bereitete er sich darauf vor, einen ganzen Waldabschnitt zu fällen. In Anbetracht meiner Berge an Gepäck wäre das vermutlich nur unbedeutend anstrengender gewesen. Emmett rückte seine runde Nerdbrille zurecht und griff nach einem der Koffer. Er stöhnte übertrieben laut auf, als er ihn anhob.

»Um Gottes willen, hast du den ganzen CN Tower eingepackt?«

Die Hitze stieg mir in die Wangen. Tatsächlich hatte ich die erlaubten dreiundzwanzig Kilogramm pro Gepäckstück bis aufs Äußerste ausgereizt. Nun kam es mir fast lächerlich vor, wie viel ich besaß, dass es drei Menschen brauchte, um meine Koffer ins Haus zu schaffen.

»Stell dich nicht so an«, wies Hope ihren Mitbewohner zurecht, doch auch ihre Stimme klang gepresst, während sie mir mit dem zweiten Koffer half.

»Wie um alles in der Welt hast du das überhaupt allein hierher transportiert?«

»Gepäckwagen am Flughafen und überzeugendes Trinkgeld für den Taxifahrer.« Ich keuchte.

»Na, hoffentlich hast du auch ein überzeugendes Trinkgeld für uns.«

»Emmett!« Hope schüttelte den Kopf. »Sei nicht so.«

»Ein Obstkorb täte es auch.« Er lachte leise.

»Soll ich die Schuhe ausziehen?«, fragte ich aus einem Reflex antrainierter Höflichkeit, sobald ich wieder auf der Veranda angekommen war.

Hope stieß die Luft aus. »Ach Unsinn. Fühl dich ganz wie zu Hause.«

»Ja, Hope putzt dir dann liebend gern hinterher.« Emmett funkelte sie an.

»Hey, ich habe erst letzten Sonntag gewischt!«

»Nachdem du euren halben Bauernhof im Flur verteilt hast, war das auch mehr als nötig. Nächstes Mal bleiben deine Stallschuhe draußen.«

»Was soll das? Farmkind-Shaming ist nicht okay.« Hope grinste. Dann wandte sie sich mir zu. »Meine Familie hat einen Hof, draußen auf dem Land. Ich bin oft am Wochenende dort, um ihnen zu helfen.«

»Das ist ja cool.«

»Ja, total …«, grummelte Emmett, doch seine Mundwinkel zuckten. »Sie versucht mich immer noch zu überreden, Hühner im Garten zu halten.«

»Das wäre doch mega! Und ein richtiger Game Changer für unser Airbnb-Inserat. Stell dir vor, wir könnten den Leuten dann unsere eigenen frischen Eier anbieten.« Hope kicherte. »Laurie, du hättest sicher keine Sekunde gezögert, wenn das mit im Angebot gestanden hätte, nicht wahr?«

»Ich habe auch so keine Sekunde gezögert.«

Emmett lachte. »Du weißt genau, was Hope hören will.«

»Das heißt, du bist Team Hühner, richtig?«, sagte Hope zu mir und wandte sich wieder an Emmett. »Vielleicht bringe ich nächsten Sonntag einfach ein paar von zu Hause mit.«

»Ja, großartig. Ich weiß jetzt schon, wer sich dann um sie kümmern darf, wenn du jedes Wochenende abhaust.«

Ich musste lächeln. Während die beiden sich weiter einen verbalen Schlagabtausch lieferten, streifte ich meine Sneakers ab. Ein Zuhause war erst ein Zuhause, wenn man es auf Socken betrat.

»Also, Laurie, was führt dich her? Fängst du an der UBC an?«

Ich nickte, während Emmett die Tür hinter mir schloss. »Ja, mit Medizin.«

»Oh, wow!« Emmett wirkte nicht minder beeindruckt als ungefähr jeder, dem ich bislang meine Pläne verraten hatte. Auch Hope sah mich voller Bewunderung an. Eine Bewunderung, die ich nicht verdiente, schließlich stand ich ganz am Anfang meiner Ausbildung und hatte keinen blassen Schimmer, ob ich das Studium überhaupt bewältigen würde. Und ob es wirklich das war, was ich wollte.

»Ist es tatsächlich so hart, einen Studienplatz zu bekommen?«

»Einfach war es nicht.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe erst meinen Undergrad-Abschluss in Toronto gemacht und mich nebenbei auf die Zulassungstests und Auswahlgespräche vorbereitet.«

»Heftig«, murmelte Hope.

»Und ich dachte, Architektur wäre hart«, meinte Emmett.

»Machst du das?«, fragte ich ihn.

Er nickte, und ein stolzes Funkeln trat in seine dunklen Augen. »Es ist stressig, aber ich liebe es mehr als alles andere.«

Unwillkürlich musste ich lächeln. Nichts war inspirierender, als Menschen über etwas sprechen zu hören, das sie begeisterte. Sie waren dann schöner. Leuchtende Augen, lebhafte Gesten. Wie Austin, wenn er über seinen großen Traum gesprochen hatte.

»Kurz vor den Projektabgaben kriegt man ihn tagelang nicht mehr zu Gesicht.« Hope grinste, und ich war ihr dankbar, dass sie mich davor bewahrte, in meiner Gedankenspirale zu versinken.

»Studierst du auch?«

Sie nickte. »Ja, Kreatives Schreiben und im Nebenfach Botanik.«

»Das ist … eine interessante Kombination.«

»Ich liebe Pflanzen und Geschichten«, erklärte sie. »Aber gut, du bist sicher erledigt von der langen Reise. Magst du was trinken? Emmett bringt dir bestimmt deine Sachen aufs Zimmer. Nicht wahr, Em?« Hope blitzte auffordernd in seine Richtung.

»Oh ja, das macht Emmett gern«, säuselte er und duckte sich unter dem kleinen Boxer weg, den Hope ihm gegen den Oberarm verpassen wollte. »Aber vielleicht zeig ich Laurie lieber erst ihr Zimmer«, erklärte er, und noch bevor ich mich überhaupt richtig umsehen konnte, spürte ich seine flache Hand zwischen meinen Schulterblättern. Emmett schob mich zu einer Treppe, die links von uns um eine Ecke nach oben führte. »Nicht dass sie gar nicht erst einziehen will und ich dann schon alles hochgeschleppt habe …«

Ich sah noch, wie Hope mit den Augen rollte und hinter einem frei stehenden Tresen in die offene Küche verschwand. Bereits am Fuße der mit weichem elfenbeinfarbenem Teppich belegten Treppe begann Emmett seine Hausführung.

»Also, dein Zimmer ist im Obergeschoss, genauso wie das von Hope. Ein ganzes Stockwerk nur für euch. Fantastisch, nicht wahr? Ich armer Schlucker dagegen habe hier im Haus nichts zu sagen und muss mit den Waschbären unten im Keller wohnen.«

Ich grinste. »Waschbären habt ihr also, aber bei Hühnern stellst du dich quer?«

»Emmett, ich bitte dich.« Hopes Stimme drang aus der Küche zu uns. »Dein Zimmer ist so groß wie unsere beiden zusammen, und außerdem hast du direkten Zugang zum Garten.«

»Na gut, stimmt schon, ich kann mich nicht beklagen«, meinte Emmett vergnügt. »Wo war ich stehen geblieben?« Er tippte sich kurz mit der Spitze seines Zeigefingers gegen die Nase und sah sich um. »Also, das Leben spielt sich hauptsächlich hier unten ab. Wir sind keine reine Zweck-WG, wie du vielleicht schon bemerkt hast. Wir können uns auch ganz gut leiden.«

»Na ja …«, rief Hope von irgendwoher.

Emmett lachte. »Nein, echt, wir kochen oft zusammen oder sitzen bei einem Glas Wein hier unten. Gern auch zu dritt, wenn du magst.«

»Aber wenn du lieber deine Ruhe haben möchtest und etwas Privatsphäre bevorzugst, ist das natürlich auch völlig in Ordnung«, hörte ich Hope sagen. »Nicht wahr, Emmett?«

»Absolut.« Er wies mit einer ausladenden Geste um sich. »Also, hier ist unser Wohnzimmer, die Küche steht dir offen, und du kannst natürlich jederzeit auf die Veranda oder in den Garten.«

Ich brachte nur ein Nicken zustande. Der Anblick hatte mich völlig eingenommen. Durch die großen Fensterfronten des lichtdurchfluteten Raums bot sich eine einmalige Aussicht. Über die tiefer liegenden Hausdächer hinweg konnte ich bis zur Skyline von Vancouver sehen. Umrahmt von den dunkelblauen Ausläufern des Pazifiks, lag sie golden angestrahlt vor einer Reihe wilder Berggipfel. Die Großstadt inmitten einer Kulisse aus Bergen und Meer raubte mir für einen Moment den Atem.

»Wow«, murmelte ich, und zum ersten Mal seit meiner Ankunft war auch Emmett beinahe andächtig still. »Was für eine Aussicht.«

»In diesem Viertel hast du einen der besten Blicke auf die Stadt.«

»Es ist unfassbar schön«, meinte ich. Dann lenkte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf das Innere des Hauses. Ein dunkelgraues Sofa stand zu unserer Linken vor der Glasfront, die Zugang auf die breite Veranda bot. Mein Blick wanderte zu einem großen Holztisch mit zusammengewürfelten Stühlen vor dem Tresen, der die offene Küche vom Rest des Raumes trennte. Der Kühlschrank war gigantisch. Von einer so großzügigen Küche hatte ich im Wohnheim nur träumen können. Mein Blick streifte Hope, die gerade in Windeseile benutzte Teller und Gläser in den Geschirrspüler räumte, so als wollte sie verhindern, dass ich das Chaos bemerkte.

Rasch folgte ich Emmett die Treppe hinauf.

»Hier rechts ist Hopes Zimmer«, erklärte er und wies zu einer offen stehenden Tür, durch die ich einen kurzen Blick in ihr Reich erhaschte. Es glich einem urbanen Dschungel. Selten hatte ich so viele sattgrüne Palmen und andere Zimmerpflanzen auf einem Fleck gesehen. Hopes Nebenfach wunderte mich nicht länger. Zwischen all den Pflanzen entdeckte ich helle Möbel, ein Bett mit Dutzenden Kissen und ein wandfüllendes Regal voller Bücher, die akkurat nach den Farben des Regenbogens sortiert waren. »Und das hier ist dein Zimmer.«

Ich folgte Emmett zu der Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs. Wir traten in einen Raum, dessen Wände zu einem Großteil aus Fenstern bestanden. Perplex blieb ich stehen. Zwar hatte ich online Fotos von dem Zimmer gesehen, doch auf denen hatten die cremefarbenen Vorhänge die Aussicht über die Stadt größtenteils verdeckt. Ein Stockwerk höher als eben im Wohnzimmer, bot sich ein noch besserer Blick über die idyllisch gelegenen Vororte bis nach Downtown. Es war … einfach wunderschön.

»Wir vermieten das Zimmer erst seit Kurzem«, riss mich Emmetts Stimme aus meiner stillen Bewunderung. Ich nickte und zwang mich, ihm zuzuhören. Es fiel mir denkbar schwer. »Wir waren eine Dreier-WG, aber jetzt steht das Zimmer leer und wir hatten noch keine Zeit, es besonders einzurichten. Es müsste aber eigentlich alles da sein, was man zum Überleben braucht. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass die Möblierung noch etwas spartanisch ist.«

Ich hätte nicht gewusst, was ich hier vermissen sollte. An einer Seite des Raums stand ein breites Bett, ihm gegenüber ein einfacher Schreibtisch aus hellem Holz mit passendem Korbstuhl und daneben ein leeres Regal. Entlang der gesamten Stirnseite erstreckte sich ein schmaler Balkon, der mit einem winzigen Klapptisch samt Stühlen möbliert war.

»Das Bad und der Einbauschrank sind hier.« Emmett deutete um eine Ecke.

»Ich liebe es«, entfuhr es mir, und Emmett lachte.

»Wie schön, dass deine Ansprüche nicht sonderlich hoch sind.«

»Ich bitte dich …« Mit einem Arm machte ich eine ausholende Bewegung. »Wird man für diese Aussicht blind, wenn man nur lange genug hier lebt?«

»Nein, da kann ich dich beruhigen, definitiv nicht.« Emmett sah nun ebenfalls nach draußen, und etwas Nachdenkliches trat in seinen Blick. »Aber du würdest dich wundern, was manchen Gästen so einfällt. Wo ist der Föhn? Warum gibt es keinen Safe? Die Vorhänge dunkeln den Raum nicht ausreichend ab. Und überhaupt, sind die Bettlaken auch wirklich frisch gewaschen?«

»Du meine Güte.« Ich musste grinsen. »Nein, wirklich, es ist ein wahr gewordener Traum.«

»Perfekt.« Emmett strahlte. »Dann lass uns deine Sachen holen.«

Bevor ich auch nur die Chance hatte zu antworten, hatte er sich schon umgedreht. Ich warf meinen Rucksack aufs Bett, ehe ich ihm folgte.

Wenig später hatten wir das Gepäck in mein Zimmer gebracht, und eine seltsame Melancholie überfiel mich, als mir bewusst wurde, dass das gerade wirklich der Beginn meines neuen Lebens war. Hope und Emmett reagierten verständnisvoll, als ich mich kurz darauf in mein Zimmer zurückzog. Ich musste dringend duschen und dann den Schlaf der letzten Nacht nachholen, in der ich vor lauter Aufregung kaum ein Auge zugetan hatte.

»Du weißt ja«, sagte Emmett noch, während ich nach oben ging, »der erste Traum in einer neuen Wohnung geht in Erfüllung.«

»Ach ja?«

»Absolut. Hope, weißt du noch, wie ich in meiner ersten Nacht hier geträumt habe, dass alle um mein preisgekröntes Modell für den Pritzker-Preis herumstehen?«

»Dafür bräuchtest du erst mal ein Modell für den Pritzker-Preis«, gab Hope ungerührt zurück.

»Ja, warte ab. Spätestens nächstes Semester …«

Ich unterdrückte ein Grinsen, und Hope bedeutete mir mit einer raschen Handbewegung, dass ich nun besser meine Chance ergriff und zusah, dass ich wegkam. Während Emmett aufgeregt gestikulierend an der Theke lehnte, huschte ich hinauf.

Meine besockten Füße versanken im weichen Teppich. Hatte ich nur deshalb das Gefühl, wie auf Watte zu gehen, oder lag es an meiner Müdigkeit? Emmetts Stimme wurde leiser, die Stille in meinem Kopf lauter, sobald ich durch die Tür in mein Zimmer trat.

Die Koffer standen neben dem Bett, aber ich konnte mich nicht dazu aufraffen, jetzt noch auszupacken. Mit einem leisen Seufzen fiel ich auf die Matratze.

Unfassbar, dass ich gestern um diese Zeit noch mit Amber auf dem Fußboden des Wohnheimzimmers gesessen und meinen ganzen Besitz hektisch und planlos in die Koffer gestopft hatte. Dieser Schritt in ein neues Leben war das Beängstigendste, was ich seit Langem getan hatte. Bis zuletzt ertrug ich die bevorstehende Veränderung nur, indem ich jeden Gedanken daran verdrängte. Damit war jetzt Schluss. Ich würde wieder im Hier und Jetzt leben, nicht länger im Was-wäre-wenn.

Vor sieben Stunden war ich in dieses Flugzeug auf dem Weg ins Ungewisse gestiegen.

Ich hatte nichts mehr zu verlieren gehabt.

3. KAPITEL

Dunkelheit, Licht, es war von gleißender Helligkeit. Die Stimmen lachten, ausgelassen und grölend. Fröhliche Gesichter verwandelten sich in hässliche Fratzen, die mich verhöhnten. Glas traf auf Glas, die Nacht erzitterte klirrend und rief mir zu, ich solle besser das Weite suchen. Und das so schnell ich konnte.

Irgendwo zwischen all den Betrunkenen musste er sein. Diesmal musste ich es schaffen. Rechtzeitig, nur dieses eine Mal …

Ich rannte durch die beißende Kälte, rempelte gegen taumelnde Körper, entschuldigte mich, nur um im gleichen Atemzug zu fragen, ob ihn jemand gesehen habe. Austin. Austin war sein Name, einen Kopf größer, vier Jahre älter als ich. Blaue Augen, dunkelblonde Haare. Doch keiner hatte ihn gesehen. Niemand. Nie wusste jemand etwas, und ich lief weiter. Schrie seinen Namen in die Nacht, er musste hier sein, irgendwo, und wenn ich ihn nicht fand, dann war es zu spät. Dann war alles verloren, schon wieder, für immer. Mein Herz raste, Übelkeit stieg in mir hoch. Ich schmeckte die Galle bereits auf der Zunge. Sie vermischte sich mit seinem Namen. Austin …

Die Stimmen um mich herum wurden panisch, Hektik lag in der Luft. Schreie, ich hörte sie entfernt, wurde von ihnen angezogen wie eine Motte von den diesigen Lichtkegeln, die ihre Handylampen suchend auf die schneebedeckten Wiesen des Campus warfen. Sie standen da, zu Dutzenden, schwankend, hielten sich aneinander fest. Niemand tat etwas.

Die Beine drohten mir zu versagen. Die Panik schnitt jegliche Verbindung zu meinen Gefühlen ab. Es war wohl besser so.

Meine Schulter stieß schmerzhaft gegen die Hausecke. Ich blieb stehen, so abrupt, dass ich mich kaum aufrecht halten konnte. Handylichter, kalt und hart, sie zuckten über den Körper, der am Boden lag. Kopf zur Wand. Reglos.

Jemand schrie. Und wie jedes Mal war ich es. Wie jedes verdammte Mal

war

ich

zu

spät.

Nein …

Nein, nicht schon wieder. Herrgott, bitte nicht.

Ich fuhr aus dem Schlaf und rang nach Atem. Himmel …

Das Herz raste in meiner Brust, schlug mir gegen die Rippen wie ein wild gewordenes Tier. Als wollte es endlich entkommen. Doch die Gitterstäbe gaben nicht nach.

Tränen stiegen mir in die Augen, ohne dass ich es verhindern konnte. Zitternd stützte ich mich auf den Ellbogen, versank in einem der Kissen. Mit den Fingerspitzen fuhr ich mir über die feuchte Stirn. Schweißtropfen liefen mir über die Schläfen, verfingen sich in meinen Wimpern und brannten in den Augen. Vielleicht waren es auch die Tränen. Hektisch schnappte ich nach Luft.

Okay, Laurie. Es war nur ein Traum. Ein dummer, bescheuerter Traum. Der gleiche wie immer. Wir kennen es doch. Es hat nichts zu bedeuten. Es war nicht real. Das war nur meine Fantasie, die mir einen Streich gespielt hat. Mein unfähiges Gehirn. Wie immer, wenn neue Eindrücke auf mich einstürzten, mich ablenkten, krochen die schmerzhaften Erinnerungen aus allen Ecken. Dort, wo ich nur spekulieren, nur mutmaßen konnte, produzierte mein Kopf die grausamsten Bilder. Sie weckten Gefühle, so beißend und echt, wie ich sie schon lang nicht mehr gespürt hatte. Als wollten sie mir sagen: Hey, ich bin noch da. Du kannst fortgehen, so weit du willst. Ans andere Ende des Landes. Bis an einen anderen Ozean. Ich werde dich dort finden. Ich werde dich immer finden. Dachtest du wirklich, es wäre so leicht?

Ich presste die Lider aufeinander. Zur Hölle … Meine Augen brannten wie Feuer, doch ich wollte nicht weinen. Nicht wegen eines dummen Traumes, der nicht von Bedeutung war. Nicht wegen dieses Horrors, der Jahre zurücklag. Ich durfte den Emotionen keinen Raum geben. Sie würden ihn nicht zurückbringen. Gegen sie anatmen, sie dorthin verbannen, wo sie hergekommen waren. Aus dieser dunklen, kleinen Ecke meines Gehirns, die ich beinahe vergessen hatte. Beinahe … Die ich irgendwann vielleicht ganz vergessen würde.

Ich vergrub das Gesicht in einem der Kissen. Die Decke klebte an mir, doch allmählich wich die Hitze aus meinem Körper. Zurück blieb nichts als Leere.

Seit Wochen hatte ich nicht mehr davon geträumt, und ein naiver Teil meines Verstandes hatte Hoffnung geschöpft. Hoffnung, dass ich es geschafft hatte. Dass das Schlimmste vorüber war. Dass drei Jahre und sechs Monate ausreichten, um es zu verarbeiten. Als ich den Kopf wandte und die Augen wieder aufschlug, verschwamm die Welt um mich herum. Sie reichten nicht aus.

Eine Zeit lang lag ich nur da. Zwang mich, gleichmäßig zu atmen, auf meinen Herzschlag zu achten. Darauf, wie er sich beruhigte und endlich langsamer wurde. Drei Jahre und sechs Monate reichten nicht aus, um ein schreckliches Erlebnis zu vergessen, aber sie reichten, um sich daran zu gewöhnen. An die Panik und Furcht, die in den unpassendsten Momenten in mir heraufkroch und mich in die Knie zwang. Inzwischen blieb ich stehen. Zumindest meistens. So schlimm wie eben war es lange nicht mehr gewesen. Und das war gut. Das war ein Fortschritt. Das war es doch, nicht wahr?

Ich schluckte eine seltsame Mischung aus Spucke und Tränen. Mit steifen Gliedern richtete ich mich auf. Noch immer fühlte ich mich wie benebelt, als säße ich unter einer Glocke aus milchigem Glas. Ich atmete und hatte das Gefühl, der Sauerstoff wurde weniger. Ich sollte ein Fenster öffnen.

Mit etwas Anstrengung befreite ich mich von der Decke, und erst als ich zur Bettkante rutschte, nahm ich meine Umgebung wieder richtig wahr. Meine nackten Füße versanken im Teppich, und ich fühlte mich auf der Stelle ruhiger.

Der Flug, Vancouver, das Haus, Emmett und Hope … Alles kehrte in diesen Sekunden zurück. Meine Knie waren noch weich, doch sie trugen mich, als ich den Raum mit wenigen Schritten durchquerte. Die Vorhänge hielten das Tageslicht nur notdürftig ab, und als ich sie zur Seite schob, strahlte mir eine orangerote Sonne entgegen. Wie in Trance fasste ich nach dem Griff der Balkontür, löste die Sicherung und schob die Tür auf. Stille empfing mich, Morgenluft, so frisch und klar, dass ich automatisch tief einatmete. Die kalten Holzdielen unter meinen nackten Füßen fühlten sich feucht an. In meinen Pyjama-Shorts und dem leichten Top fröstelte ich, doch es spielte keine Rolle. Es war gut. Ich fühlte es und das war alles, was zählte. Ich war am Leben. Ich stand hier und atmete die salzige Luft, spürte den leichten Wind, der vom Meer herzog, hörte die Möwen kreischen, die Blätter der Bäume rascheln. Kilometerweit entfernt erhoben sich die Bergspitzen in den blassblauen Himmel, wurden goldgelb angestrahlt, als wollte die Sonne sie an diesem Morgen ganz besonders für mich in Szene setzen.

Das war der erste Morgen meines neuen Lebens. Der erste Morgen in Freiheit. Denn ich war frei. Ich war hier, und ich würde es leben. Dieses Leben, das mir zustand.

Und dann würde ich ihm davon erzählen. Jeden Abend, jeden verdammten Tag. So lange, bis er alles erfahren, alles miterlebt hatte. Ich war es ihm verflucht noch mal schuldig.

*

Ich hörte die vertrauten Klänge bereits, während ich die Stufen hinunter ins Wohnzimmer ging. Mit jedem Schritt, den ich näher kam, wich meine innere Unruhe einer vorsichtigen Gelassenheit. Ich bemerkte, dass ich lächelte. Offenbar teilten wir den gleichen Musikgeschmack.

Abwesend sang Hope den Songtext mit, der mir sofort bekannt vorkam. Lovers von Anna of the North drang aus der Bluetoothbox auf der Küchentheke, vermischte sich mit dem Brutzeln in der Pfanne und dem betörenden Duft von gebratenen Eiern und Speck. Hope trug ausgeleierte Sportshorts und einen dünnen Sweater, auf dessen Rücken Daten einer alten Konzerttour von 2014 gedruckt waren. Sie bewegte sich zur Musik, und es war deutlich zu sehen, dass sie den Song absolut fühlte. Ich wollte ihr zuwinken oder mich irgendwie anders bemerkbar machen, doch als sie sich in meine Richtung drehte und zur Küchentheke tänzelte, hielt sie die Augen geschlossen.

Zaghaft kam ich einen Schritt näher, und als hätte sie meine Anwesenheit gespürt, riss Hope im gleichen Moment die Augen auf.

»Oh Gott, hast du mich erschreckt!« Sie erblasste, nur um einen Atemzug später zu erröten. Fahrig tastete sie nach ihrem Handy, das vor uns auf der dunklen Arbeitsplatte lag, um die Musik etwas leiser zu machen. »Entschuldige, ich hab dich gar nicht gehört.«

»Kein Wunder, bei diesem Song«, sagte ich lachend. »Ich hatte sofort Peter Kavinskys nackten Oberkörper vor Augen. Nachts, im Hot Tub.«

»Oh, du kennst den Film?« Hope strahlte mich an. »To All the Boys I’ve Loved Before war mein absolutes Jahreshighlight.«

»Was für eine Frage. Noah Centineo ist nicht nur das Jahreshighlight, er ist das Highlight für die nächsten zwanzig Jahre.«

»Ich liebe diesen Typen.« Hope seufzte hingebungsvoll. »Seine Hände … Und diese Augen. Mein Gott, ich muss aufhören, von einem Celebrity Crush zum nächsten zu leben. Das ist echt nicht gesund. Oh …« Sie brach ab. Als sie zum Herd hechtete, stieg auch mir der leicht verbrannte Geruch in die Nase.

»Ach Mist.« Sie hielt die Pfanne mit den angekokelten Spiegeleiern und Baconstreifen hoch.

»Ich würde sagen, daran ist nur Noah schuld.«

»Und wie er das ist.« Nach einem prüfenden Blick zuckte sie mit den Schultern. »Kann man schon noch essen.« Hope sah vom Eierkarton auf der Theke zu mir. »Willst du auch welche?«

Ich zögerte. »Danke, das ist lieb von dir … aber ich kann mir auch irgendwo was besorgen.«

»Ach komm, ich bitte dich.« Hope nahm zwei Eier aus der Packung. »Kein Grund für falsche Höflichkeit. Oder bist du Veganerin?«

»Nein, das nicht«, brachte ich heraus, »aber ich will nicht, dass ihr mein Essen bezahlt.«

»Mach dir darum mal keine Gedanken.« Hope schlug die Eier in die Pfanne, wo sie zischend aufs Teflon trafen. Das klare Eiweiß begann sofort zu stocken. »Wir nehmen mit dem Airbnb-Zimmer genug ein, da kommt es auf die paar Cents wirklich nicht an.«

»Scheint eine komfortable Einnahmequelle zu sein«, vermutete ich und sah mich um, ob ich Hope bei etwas behilflich sein konnte. Ich versuchte mich an der Kaffeemaschine, die so aussah, als wäre sie recht einfach zu bedienen, und befüllte den Wasserbehälter.

»Absolut.« Hope hielt mir mit einem fragenden Blick die Toastpackung entgegen, woraufhin ich nickte. Sie zog den Toaster heran. »Aber das Ganze ist nur eine Notlösung. Unsere ehemalige Mitbewohnerin ist Hals über Kopf ausgezogen, als sie durch ihre Uniprüfungen gerasselt ist.«

»Oh, das ist mies.« Ich löffelte das Kaffeepulver in den wiederverwendbaren Filter. »Was hat sie denn studiert?«

Schon bevor Hope antwortete, war mir klar, dass ich vielleicht besser nicht hätte fragen sollen. Ihre Miene gefiel mir ganz und gar nicht. Hope biss sich auf die Unterlippe. »Ähm, Medizin …«

Ich schluckte. Das waren ja fabelhafte Aussichten.

Hope machte eine wegwerfende Handbewegung, bevor sie Teller und Tassen aus den Hängeschränken nahm. »Lass dich davon bloß nicht verunsichern. Ich glaube, Agnes hat das mit dem Studium eh nicht so wirklich ernst genommen. Sie hing eigentlich ständig nur bei ihrem Freund rum und hat dauernd davon gesprochen, dass sie sowieso aufhören will.«

Ich wollte Hopes Worten gern Glauben schenken, doch angesichts des aufwendigen Bewerbungsprozesses und vor allem der exorbitant hohen Studiengebühren konnte ich mir nur schwer vorstellen, dass jemand Medizin studierte und es nicht so wirklich ernst nahm. Vielleicht war ich aber auch nur eine panische Streberin.

»Willst du Orangensaft?«, fragte Hope und riss mich aus meinen finsteren Gedanken. »Oh, Emmett hat Tropicana gekauft.« Sie grinste diabolisch und griff nach dem großen Tetrapack.

»Ja, gern.«

Sie füllte zwei Gläser. »Und, hast du gut geschlafen in deiner ersten Nacht hier?«

Ich hatte Hope den Rücken zugewandt und schloss für einen Moment die Augen. Soeben hatte ich die Erinnerung an meinen Traum fast verdrängt, doch sie war sofort zurück. Als hätte sie nur hinter einer Ecke gelauert, bis ich sie für einen Wimpernschlag vergaß. Und leichtsinnig wurde. Meine Stimme klang gepresst, als ich viel zu schnell antwortete.

»Ja, danke.« Mein Lächeln fühlte sich absolut gezwungen an. Vielleicht hatte ich Glück, und Hope würde mir die Worte abkaufen, immerhin konnte sie mein Gesicht nicht sehen. Sie zögerte. Als ich in ihre Richtung blinzelte, sah sie mich einen Moment lang an. Sie sagte nichts, als das Brot aus dem Toaster hüpfte und ich sofort danach griff, um irgendetwas zu tun.

»Was hast du heute vor?« Hope klang unbekümmert, doch ich war mir sicher, dass ihr meine seltsame Stimmung nicht entgangen war. Dass sie darüber hinwegging und keine unangenehmen Fragen stellte, rechnete ich ihr hoch an.

»Ich muss meinen Studentenausweis abholen und wollte mich ein bisschen auf dem Campus umschauen.«

»Wenn du magst, kann ich dir eine kleine Führung geben. Ich muss sowieso ein paar Sachen im Bookstore besorgen.«

»Wirklich? Das wäre toll.«

Hope erwiderte mein Lächeln. »Ach, und sag mal, ist das deiner?« Mit einem Kopfnicken deutete sie Richtung Tür. Mein Herz stolperte, als ich den dunklen Koffer erkannte, der dort einsam neben einem Berg Schuhe stand.

»Oh Gott, ja!« Am liebsten hätte ich Hope umarmt. »Wie spät ist es? Ich habe völlig vergessen, dass sie den noch bringen wollten.«

Am Griff war ein unübersehbares Etikett befestigt. Dringende Lieferung stand in leuchtend roten Lettern darauf, außerdem der Name der Fluggesellschaft und meine Adresse.

»Da hat jemand geklingelt und nach dir gefragt, also habe ich ihm das Ding einfach abgenommen. Ich hoffe, es war okay, dass ich für dich unterschrieben habe? Unterschriften fälschen ist normalerweise nicht so mein Ding.« Hope wirkte tatsächlich leicht schuldbewusst.

»Quatsch, ich bin froh. Danke!« Ich unterzog den Koffer einer genauen Kontrolle, doch er schien weder beschädigt noch gewaltsam geöffnet worden zu sein. Mir fiel ein ganzer Fels vom Herzen. Ein paar schwache Momente lang war ich mir nicht sicher gewesen, ob es vielleicht doch etwas zu bedeuten hatte, dass einer meiner Koffer in Toronto geblieben war. Und mit ihm ein Teil von mir. Der Teil, der nicht loslassen konnte, obwohl ich all meine Hoffnungen auf diesen Neubeginn setzte. Jetzt war er da. Der Koffer und mit ihm der langsam aufkeimende Mut, dass es möglich sein musste, die Dunkelheit hinter mir zu lassen.

– SEELENVERWANDT –

Als Mom starb, war ich zweieinhalb Stunden alt. Ich glaube, für Dad war es härter als für mich. In dieser Nacht im Toronto General Hospital hatte er nicht nur die Liebe seines Lebens verloren, sondern auch jegliche Chance, angemessen zu trauen. Er hatte dafür schlicht und ergreifend keine Zeit. Er hatte jetzt mich.

Heute sagt er immer, ich war der einzige Grund, der ihn damals bei Verstand hielt. Und ich glaube ihm das. Aber ich glaube auch, dass es die schwerste Zeit seines Lebens war. Bis zu Austins Tod.

Die ersten sieben Jahre meines Lebens gab es nur Dad und mich. Ich kannte es nicht anders. Als ich kleiner war, dachte ich immer, alle Mütter sterben bei der Geburt. Wenn ein neues Leben beginnt, hört ein altes auf. Es hat irgendwie Sinn ergeben. Dann kam ich in den Kindergarten, und plötzlich hatten alle anderen Kinder zwei Elternteile. Meistens noch eine Mutter.

Ich kannte meine nur von Bildern. Sie war jung und hübsch, sie sah aus wie ich. Lange braune Haare, grüne Augen und eine winzige Lücke zwischen den geraden Schneidezähnen. Auf den Fotos hat sie immer gelacht. Manchmal habe ich sie mir stundenlang angesehen und mit ihr gelächelt. Zu behaupten, ich empfände echte Trauer, wenn ich an sie dachte, wäre gelogen. Ich vermisste sie, aber ich kannte sie nicht. Es war nichts verglichen damit, was jeder Gedanke an Austin in mir hervorrief. Und es war so verdammt falsch.

Wir hätten uns hassen müssen. In all den Büchern und Filmen verabscheuten sich die Stiefgeschwister, wenn sich ihre alleinstehenden Elternteile zu einer neuen Familie zusammenschlossen. Austin Clayburn und ich hassten uns nicht. Es war, als hätten wir aufeinander gewartet.

Als ich fünf Jahre alt war und Dad mir erklärte, dass ich keine Geschwister bekommen konnte, weil es dazu einen Vater und eine Mutter bräuchte, hatte ich tagelang geheult. Ich wünschte mir einen großen Bruder, wie Chelsea McQuiston einen hatte. Jemand, der mir verbot, sein Zimmer zu betreten, und mir die Legosteine wegnahm. Mit Lego hatte Austin nichts mehr am Hut, als seine Mom und er zwei Jahre später bei uns einzogen. Ich war sieben, er elf, und er hatte dieses unfassbar coole Operationsspiel, bei dem man mit kleinen Pinzetten winzige Organe aus dem Körper eines Plastikmenschen herausholen konnte. Ich sah ihm stundenlang dabei zu, wie er mit ruhiger Hand seine OPs durchführte. Als ich irgendwann alt genug war, durfte ich ihm sogar dabei assistieren.

Ich hatte mir nichts so sehr gewünscht wie einen großen Bruder, und plötzlich hatte ich einen. Ich hatte Austin und eine Mom und einen glücklichen Dad, also war ich es auch. Glücklich.

Es war absurd. Ich hätte ihn als Konkurrenten sehen müssen. Mich von ihm bedroht fühlen. Um Dads Aufmerksamkeit und Zuneigung fürchten müssen, doch wieso hätte ich das tun sollen? Ich hatte nichts verloren, als Austin in mein Leben trat. Im Gegenteil. Ich hatte gewonnen. Einen großen Bruder und eine Mom, durch die ich erst verstand, wie sehr mir eine weibliche Bezugsperson gefehlt hatte. Später entdeckte ich all die Ratgeber in einer Ecke unseres Bücherregals, die Mom und Dad damals angeschafft hatten. Patchworkfamilie – so klappt es miteinander oder Stiefgeschwister als Team: Ideen für eine starke Familie.

Entweder waren diese Bücher irrsinnig gut, oder wir waren seltsame Kinder. Ich hatte es gar nie hinterfragt. Die Veränderung. Austin, Mom und Dad. Sie waren meine Familie. Mein sicherer Hafen, in dem auch Boote mit geflickten Segeln lagen. Vielleicht war es der Verlust, der uns zusammenschweißte. Austins Dad, der ihn und Mom kurz nach seiner Geburt verlassen hatte. Er wusste, wie es sich anfühlte, jemanden zu vermissen, den man eigentlich gar nicht kannte. Gar nicht vermissen konnte, aber irgendwie sollte.

Und dann war es auf einmal andersherum. Austin war fort, und ich vermisste ihn, obwohl ich es eigentlich gar nicht sollte. Zumindest nicht in diesem Ausmaß. Nicht so sehr wie einen leiblichen Bruder. Doch wenn mich all der Tod in meinem Leben, all der verfluchte Verlust eines gelehrt hatte, dann, dass es meinem Herzen egal war, was es durfte und was nicht.

Er war mein Bruder, und eigentlich war er es nicht. Jedenfalls nicht auf dem Papier. Nicht in der Highschool, wenn die Lehrer wegen unserer unterschiedlichen Nachnamen nicht begriffen, dass wir aus einem Elternhaus kamen. In meinem Herzen waren wir Geschwister. Vom ersten Tag an. Seit er mir dieses schiefe Grinsen schenkte, mich neugierig musterte und eine halbe Stunde später mit unserem Hund Tucker und mir durch den riesigen Garten jagte. Dank Austin und Mom wurde meine tolle Kindheit zu einer großartigen. Bedingungslose Liebe, verlässlicher Zusammenhalt. Als ich älter wurde, fragte ich mich, womit ich all das Glück verdiente.

Und seit mein bester Freund und größtes Vorbild weg war, verstand ich nicht, wie der Schmerz so körperlich sein konnte. So beißend, so echt, obwohl er nur mein Stiefbruder war. Es spielte keine verfluchte Rolle. Ich hatte gelernt, was Brutalität wirklich bedeutete.

Das Schicksal hatte mir einen Bruder geschenkt. Nur um mir Jahre später einen Seelenverwandten wieder zu entreißen.

4. KAPITEL

An der nordwestlichen Pazifikküste blieb die Augustsonne sogar dann erträglich, wenn sie mit voller Kraft vom stahlblauen Himmel brannte. Der Wind spielte mit meinen Haaren, während ich neben Hope über den Campus schlenderte. Mir die Namen der Dutzenden Gebäude und Vorlesungssäle zu merken, hatte ich längst aufgegeben. Schon jetzt wusste ich nicht mehr genau, welches das Learning Center und welches die Unibibliothek beherbergte. Historische Backsteinfassaden, über und über mit Efeu überwuchert, wechselten sich mit futuristischen Bauten aus Glas und Metall ab. Hinter fast jedem Fakultätsgebäude verbarg sich eine weitere Parkanlage. Platanen säumten die breiten Wege, und unter den Trauerweiden saßen Studenten auf dem akkurat gemähten Rasen, noch ohne dicke Lehrbücher und Laptop auf dem Schoß, dafür mit Vorfreude auf das kommende Semester in den leuchtenden Augen. Mein Herz schlug schneller beim Gedanken, dass von nun an auch ich an diesem traumhaft schönen Ort lebte und studierte.

»Was ich an diesem Campus besonders liebe, ist seine Lage«, erzählte Hope, während wir uns einer Aussichtsplattform oberhalb eines liebevoll angelegten Rosengartens näherten. Die letzten Sträucher verblühten, und ihre herabgefallenen Blütenblätter bedeckten das Gras wie ein Teppich aus sattem Dunkelrot und tiefem Rosa. Vom abschüssigen Gelände schaute ich auf die Bucht, hinter der sich am Horizont die Berge erhoben. »Die Uni liegt ganz im Westen der Stadt. Der Campus hier am Point Grey ist in drei Himmelsrichtungen vom Pazifik umgeben. Das ist einfach einmalig.« Hope drehte sich um die eigene Achse. »Rund um die Halbinsel führt der Marine Drive, vorbei am Spanish Banks Beach und dem Botanischen Garten. Wir sollten dir dringend ein Fahrrad besorgen. Die Tour dort entlang ist wunderschön.«

Ich folgte Hopes Gesten, die mir die Bergketten von Bowen Island und die Gipfel des Mount Seymour Provincial Park im Norden von Vancouver zeigte. Dieser Ort war völlig surreal.

»Bist du sicher, dass das hier eine Uni ist und kein Ferienresort?«

Hope lachte kurz auf. »Keine Sorge, spätestens kurz vor den Midterms beantwortet sich deine Frage von selbst.«

»Vermutlich sogar schon eher.«

»Geht’s bei euch am Montag gleich richtig los?«, fragte Hope, als wir die breite Hauptallee entlang zum Bookstore liefen.

»Wenn ich es richtig verstanden habe, finden an den ersten beiden Tagen hauptsächlich Einführungsveranstaltungen statt. Ab Mittwoch beginnen dann die Vorlesungen.«

»Das klingt nicht nach allzu viel Schonfrist.«

»Nicht wirklich. Aber ja, wir sollen in vier Jahren den ganzen menschlichen Körper in- und auswendig lernen. Keine Ahnung, wie das überhaupt funktionieren soll.«

»Dein Pre-Med-Studium kommt dir da hoffentlich ein bisschen zugute?«

»Na ja, ich habe Sozialwissenschaften studiert. Biochemie oder Neurowissenschaften wäre vermutlich klüger gewesen. Aber ich habe recht spontan entschieden, dass ich am Auswahlverfahren für die Med School teilnehme.«

»Wer sagt denn, dass das ein Nachteil ist? Keiner will eine Ärztin, die sich nur mit Naturwissenschaften und Diagnosen auskennt, aber den Menschen dahinter nicht versteht.«

Ich musste lächeln. »Wenn du das so sagst, klingt es tatsächlich gar nicht so schlecht.«

»Außerdem hat es ja geklappt, oder etwa nicht?« Hope sah mich lächelnd an. »War Vancouver deine erste Wahl?«

»Alles außer Toronto war meine erste Wahl.«

»Wieso? Die U of Tohat doch einen exzellenten Ruf, oder?«

»Mag schon sein, aber ich musste einfach weg. Ich habe mein ganzes Leben dort verbracht, es war an der Zeit für was Neues.«

»Auf jeden Fall hast du die beste Wahl getroffen. Vancouver ist echt ein Traum. Ich würde nirgendwo lieber leben.«

»Wie weit entfernt liegt die Farm deiner Familie?«

»Nur gute anderthalb Stunden von hier, direkt im Fraser Valley. Der Ort heißt Chilliwack. Es ist dort … nun ja, sehr friedlich, um es mal nett auszudrücken.«

»Ich wollte früher immer auf einer Farm leben«, seufzte ich.

»Ich auch.« Hope lachte. »Früher. Da fand ich das super. Inzwischen hält sich meine Begeisterung in Grenzen.«

»Das Landleben muss ja auch nicht jedermanns Sache sein.«

»Na ja, sag das mal meinen Eltern.« Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, und ich verstand. Ich war nicht die Einzige, bei der es mehr zu entdecken gab, als auf den ersten Blick ersichtlich.

»Sind sie dagegen, dass du studierst?«