Whisperworld 5: Entscheidung am Abgrund - Barbara Rose - E-Book

Whisperworld 5: Entscheidung am Abgrund E-Book

Barbara Rose

0,0
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Lesespaß mit Sogwirkung – auf nach Whisperworld! In Whisperworld, einem Land fernab der Zivilisation, werden Kinder zu Tierflüsterern.  Sie wachsen über sich hinaus, retten bedrohte Arten und finden Freunde fürs Leben.    Eine aufregende Reise für Lesende ab 9 in eine unbekannte Welt - voll mit wilden Tieren, Fantasiewesen und spannenden Prüfungen! Chuck und die anderen Tierflüsterer sind wieder vereint. Der Alltag und der Unterricht an der Schule der Tierflüsterer haben gerade erneut begonnen, als seltsame Dinge geschehen: Silvester kehrt nicht von einer heiklen Expedition zurück, ungewöhnliche Brände bedrohen die Tiere in Mandulara. Die Tierflüsterer machen sich auf die Suche nach Antworten. Auf der Reise begegnen ihnen kuschelige fantastische Tierwesen und sie stoßen auf eine Schlucht, in der unglaubliche Überraschungen auf sie warten. Ein Buch voller Fantasie und Abenteuer, das Kindern auch das Thema Artenschutz näherbringt "Wir haben definitiv Feuer gefangen und wir brauchen mehr! Diese Bücher sind für alle geeignet, die zwischen Fantasie und Wirklichkeit wandern, Tiere lieben und dazu noch Abenteuer mit dem Tüpfelchen Nervenkitzel in kindgerechter Art mögen. Unbedingt lesen!" Whisperworld-Fan

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Barbara Rose

Whisperworld – Entscheidung am Abgrund

Mit Bildern von Alina Brost

 

In Whisperworld, einem Land fernab der Zivilisation,

werden Kinder zu Tierflüsterern.

Sie wachsen über sich hinaus,

retten bedrohte Arten

und finden Freunde fürs Leben.

 

Als ihr Lehrer Silvester von einer heiklen Expedition nicht zurückkehrt, machen die Tierflüsterer sich auf die Suche. Sie stoßen auf Brände, die Menschen gelegt haben müssen, und helfen verwundeten Tieren. Dann führt sie ein Hinweis zur Simari-Schlucht. Um ihren Lehrer zu retten, wagen die Tierflüsterer den Abstieg. Aber der ist voller Gefahren und sie haben keine Ahnung, was sie unten erwartet …

 

Hörst du das Flüstern?

Buch lesen

Personenvorstellung

Glossar

Viten

Whisperworld – ein Land am Ende der Welt.

Geheim und verborgen.

Nur ein einziges Buch erzählt seine Geschichte.

In Whisperworld leben Tierarten, die längst als ausgestorben galten.

Dort finden bedrohte Tiere eine Heimat.

Dort werden sie beschützt.

Beschützt von den Tierflüsterern.

Jedes Mädchen und jeder Junge träumt vom Ruf nach Whisperworld.

Denn in Whisperworld werden Kinder zu Tierflüsterern.

Mädchen und Jungen, die alles geben, um unsere Welt zu retten.

Wer wird auserwählt?

Wer darf bleiben?

 

Hörst du das Flüstern aus Whisperworld?

Die Luft in der Savanne flirrte vor Hitze. Gelegentlich fuhr ein lauwarmer Windstoß durch das Mosaik aus unterschiedlichen Grasflächen und brachte die dürren Stängel zum Erzittern. Außer dem metallischen Zirpen der Zikaden war kaum ein Geräusch zu hören. Wie ein Klangteppich breitete es sich über die weiten Ebenen von Mandulara aus. Während die meisten Tiere versuchten, die Sonne zu meiden, machten sich Adler, Falken und Bussarde die heißen Aufwinde zunutze. Mit Leichtigkeit stiegen sie in die Höhe und hielten dort schwerelos nach Beute Ausschau.

Ein paar Löwen rekelten sich im Schatten einer Schirmakazie am Rand der großen Schlucht, bevor sie mit einem Mal blitzartig im hüfthohen Gras verschwanden.

„Irgendwas stimmt hier nicht, wenn du mich fragst, Koru.“ In einiger Entfernung von den Raubtieren wischte sich Silvester den Schweiß von der Stirn. „Je mehr wir uns der Simari-Schlucht nähern, desto seltsamer benehmen sich die Tiere. Diese Löwen da vorn sind nicht auf Beutefang. Irgendwas hat sie aufgeschreckt.“ Er deutete zum Horizont. „Überhaupt sind heute viel zu wenig Tiere unterwegs.“

Der Nebelparder neben ihm knurrte verhalten. „Vielleicht haben sie uns gewittert und sich zurückgezogen?“

Silvester schüttelte den Kopf. „Warum sollten sie? Die Wandertauben haben uns sicher längst angekündigt. Wir sind Freunde. Alle werden wissen, dass wir seit Tagen auf der Suche nach Devin Dolor sind. Und dass sein Hubschrauber zuletzt hier gesichtet wurde, in Mandulara.“

Koru hob den Kopf. „Ich sehe mich mal eine Weile um. Vielleicht entdecke ich etwas Ungewöhnliches. Von der Akazie da vorn habe ich einen guten Ausblick.“

„Yep, mach das.“

Mit weichen, geschmeidigen Bewegungen verschwand die Großkatze mit den charakteristischen schwarz umrandeten Plattenflecken auf dem Fell zwischen Gras und dichtem Buschwerk.

Silvester wusste, dass Koru mit seinem langen Schwanz, der ihm beim Balancieren half, ein hervorragender Kletterer war. Er war ihm ausgesprochen dankbar für seine Hilfe, denn eigentlich war der Nebelparder ein nachtaktives Tier. Deshalb hatten sie auch viel Zeit mit Wanderungen in der Dunkelheit verbracht. Jetzt war es helllichter Tag und Silvester war müde. Zeit für eine kleine Pause. Der Lehrer an der Schule der Tierflüsterer seufzte, befeuchtete die Stirn mit Wasser aus seiner Trinkflasche und nahm einen Schluck.

„Nur einen einzigen“, murmelte er erschöpft.

Mehrere Tage waren inzwischen mit der Suche nach Devin Dolor und seiner Helferin Lexi verstrichen. Tage und Nächte, die Silvester mehr angestrengt hatten, als er zugeben wollte. Kein einziges Tier, mit dem er gesprochen hatte, konnte ihm etwas über den Aufenthaltsort des Verbrecherpärchens berichten. Dafür waren Silvester und Koru etliche verbrannte Grasflächen aufgefallen. Das war kein natürliches Buschfeuer gewesen. Hier handelte es sich eindeutig um Brandrodung.

„Bis wir ein Wasserloch gefunden haben, sollte ich sparsam mit der Flüssigkeit umgehen“, murmelte Silvester.

Der Hüne schraubte den Verschluss der Flasche zu, beschattete sein Gesicht und blickte Koru hinterher, der längst zwischen den Gräsern verschwunden war. Silvester musste die Augen zukneifen, das Sonnenlicht bereitete ihm inzwischen beinahe körperliche Schmerzen. Längst fühlte er sich nicht mehr so leistungsfähig, wie er eigentlich hätte sein sollen. Ihm fehlten Schatten, Ruhe, Schlaf.

Wie lange war er bereits unterwegs? Drei Tage, vier Tage, vielleicht fünf? Silvester hatte jedes Gefühl für Zeit verloren, die Momente dehnten sich wie Kaugummi, die Stunden und Tage waren eine zähe, wabernde Masse.

Wenn er nach Osten blickte, konnte er den Rand der Simari-Schlucht erkennen. Hier vermutete er Spuren von Devin und Lexi – oder zumindest Tiere, die dort lebten und ihm Hinweise auf deren Aufenthaltsort geben konnten.

Gerade wollte Silvester wieder nach Koru sehen, da erregte eine merkwürdige Erhöhung am Rand der Schlucht sein Interesse. Ein Felsbrocken vielleicht? Oder ein merkwürdig geformter Termitenhügel? Silvester sah genauer hin, und in diesem Moment bewegte sich das Objekt sachte nach rechts und links. Es lebte! Aber was konnte das sein? Silvester schloss einen Moment die Augen, um sich besser konzentrieren zu können, und öffnete sie dann rasch wieder. Nein, das war keine Erhöhung, kein Hügel oder Fels, keine tote Masse, kein Bau aus zerkautem Pflanzenmaterial und Erde, sondern das war …

ein Kopf! Riesig, fleischfarben und komplett haarlos. Ein runder, wurmartiger Schädel. Reglos starrten die kleinen Augen genau in Silvesters Richtung.

Silvesters Herz klopfte heftig. Spielte ihm sein Gehirn gerade einen Streich? Hatte ihm die Sonne so zugesetzt, dass er schon Halluzinationen hatte? Er zog sein Fernglas aus der Tasche. Doch als er den Sucher richtig eingestellt hatte und den Rand der Schlucht genauer betrachtete, war das merkwürdige Wesen weg. Wie vom Erdboden verschwunden. Verärgert biss sich Silvester auf die Lippe, spähte mit dem Fernglas weiter nach rechts, dann weiter nach links.

Nichts zu sehen. Die Suche nach dem ungewöhnlichen Schädel am Rand der Schlucht nahm Silvesters Aufmerksamkeit völlig in Beschlag. Er achtete nicht auf seine Umgebung, auf Geräusche oder Gerüche. Dabei war Sicherheit die oberste Priorität in Whisperworld und Silvester selbst wiederholte das geradezu mantramäßig vor seinen Schülern. Dass er sich bereits in höchster Gefahr befand, ahnte er in diesem Moment nicht. Er wusste nicht, dass der Kuss des Todes schon auf ihn wartete.

Nur etwa hundert Meter von Silvester und der Akazie entfernt ragten mehrere Termitenhügel in den Himmel: steinharte Gebilde, kunstvoll gestaltet und von etlichen Löchern durchsetzt. Wie erstarrter Honig glänzten sie in der Sonne. Ein breiter Unterbau, darüber zahlreiche säulenförmige Türme, die sich steil in die Höhe reckten. Millionen von Termiten lebten in jedem dieser Gebilde. In jedem – bis auf eines. Dieser Bau war schon lange nicht mehr von den wuseligen Insekten bewohnt. In der gut temperierten Behausung mit ihrem konstanten Klima lebte nun eins der gefährlichsten Tiere der Savanne und wartete auf den richtigen Moment – auf sein Opfer, das sich nur wenige Meter von ihm entfernt befand.

Lautlos schlüpfte die Schlange aus dem Termitenhügel, stieß die gespaltene Zunge mit schnellen Bewegungen immer wieder aus dem Maul, zog sie ein und nahm bei jedem Mal winzige Partikel aus der Luft auf. In Sekundenbruchteilen entschlüsselte das Reptil die Gerüche der Umgebung und hob zufrieden den Kopf. Seine Prüfung hatte das Ergebnis gebracht, auf das es gehofft und seit Tagen gewartet hatte: der Tierflüsterer war zum Beißen nah. Die Schlange konnte ihren Auftrag endlich erledigen.

Mit anmutigen, fließenden Bewegungen ließ sich das meterlange Reptil durchs Gras gleiten. Seine silbrig-graue Haut verschmolz mit der Umgebung. Unmöglich für seine Beute, es zu entdecken. Und obwohl sich die Schlange bereits mit unglaublicher Geschwindigkeit vorwärtsbewegte, richtete sie nun auch noch ein Drittel ihres Körpers auf. Dadurch rieb noch weniger Haut am Boden und sie konnte maximales Tempo aufnehmen.

„Genug gewartet, der Schädel taucht wohl nicht mehr auf“, brummte Silvester. Er erhob sich, steckte das Fernglas wieder ein und klopfte sich den Lehm von der Hose. „Mal hören, was Koru entdeckt hat.“

Silvester machte einen energischen Schritt nach vorn und … starrte in die Augen einer Schwarzen Mamba.

Hoch aufgerichtet und mit schnellen Bewegungen ihrer schwarzen Zunge schwang sie leicht und graziös vor ihm hin und her. Ihr Maul war genau auf seiner Augenhöhe.

„Verdammter Mist“, entfuhr es Silvester.

Wie hypnotisiert starrte er in die Augen der Schlange und fragte sich zu seinem eigenen Erstaunen, warum diese Giftschlange keine vertikalen, sondern runde Pupillen hatte. Wollte sie damit ihre Gefährlichkeit tarnen?

Die Schwarze Mamba glitt ein Stück nach vorn. Langsam, sehr langsam. Sie hatte keine Eile mehr, denn sie wusste, dass ihre Beute nicht den Hauch einer Chance hatte. Egal, wie schnell Silvester sich umdrehen, zur Seite springen oder weglaufen würde, die Schwarze Mamba war schneller.

Die Schlange öffnete ihr Maul mit dem pechschwarzen Gaumen und wollte gerade zubeißen, als eine geschmeidige Gestalt mit lautem Fauchen auftauchte.

Pffffchhhhh!

Kurz drehte die Schlange den Kopf, um zu sehen, wer sie störte. Zu kurz, als dass sich Silvester hätte in Sicherheit bringen können. Aber doch so lange, dass Koru die gefährliche Situation einschätzen konnte.

Ohne einen einzigen Stopp in seinem Lauf, ohne jede Unsicherheit oder Verzagtheit sprang der Nebelparder auf das Reptil zu und verbiss sich mit seinen langen Zähnen genau unterhalb des Kopfes in den Körper der Schlange.

Schlaff fiel ihr Leib zu Boden.

Korus Raubtiergebiss hatte die Schwarze Mamba getötet.

„Puh, das war knapp. Danke dir, mein Freund.“ Silvester schnaubte, Schweißperlen tropften von seiner Stirn. „Was ist hier los? Normalerweise greift uns kein Tier an, auch keine Schwarze Mamba. Sie und alle anderen sollten doch wissen, dass wir Tierflüsterer sind und Leben schützen. Wir wollen doch kein Tier verletzen, geschweige denn töten.“

Korus Tasthaare zitterten. „Der Biss der Schwarzen Mamba, der Kuss des Todes, könnte fünfzehn Menschen auf einmal umbringen. Du hättest ihren Angriff nicht überlebt.“

„Ich weiß, ich weiß.“ Silvester kratzte sich am Kopf. „Du hast mir das Leben gerettet, Koru, keine Frage. Ich danke dir tausendmal.“ Silvester starrte den reglosen Körper der Schlange an. „Aber … das ist alles kein Zufall, wenn du mich fragst. Die Tiere verhalten sich uns gegenüber nicht mehr so, wie es seit der Gründung von Whisperworld vereinbart wurde: Alle Arten werden von uns geschützt, dafür werden die Tierflüsterer nicht angegriffen.“

Koru nickte. „Du meinst, dass Devin Dolor dahintersteckt und die Lebewesen von Mandulara beeinflusst?“

Silvester nickte ebenfalls.

„Gut möglich, mein Freund.“ Koru betrachtete die tote Schlange. „Ich bringe sie schnell weg, solange ihr Körper noch warm von der Sonne ist. Möglicherweise hat ein Honigdachs, ein Schakal oder sogar ein Leopard Appetit auf einen kleinen Snack.“

Mit federnden Schritten verschwand der Nebelparder, die tote Schwarze Mamba im Maul. Silvester ging erschöpft in die Hocke, legte die Ellenbogen auf seine Oberschenkel und atmete tief durch. Glück gehabt!

In diesem Moment fiel ein riesiger dunkler Schatten über ihn. Die Umgebung verdüsterte sich, und für einen kurzen Moment hatte Silvester das seltsame Gefühl, dass sich eine rosafarbene Wand vor ihm aufbaute. Er spürte einen dumpfen Schlag, der ihn zusammensacken ließ.

Rosa, so wie der Himmel an einem Frühlingsmorgen über dem Deepwood, dachte Silvester noch.

Dann fiel er ohnmächtig in den Staub.

Die Welt versank in Dunkelheit.

In völliger Schwärze.

Finsternis.

„Du weißt, dass du mein Augenstern bist, Enisa. Doch seit Großmutter Leila schwer krank ist und nicht mehr arbeiten kann, brauche ich jede Hand.“ Ihr Vater Ramad musterte sie mit seinen müden dunklen Augen. „Das bedeutet, dass du ab jetzt nicht mehr zur Schule gehen kannst.“

Enisa starrte ihren Vater völlig überrascht und entsetzt an.

„Können wir schließlich auch nicht“, schob Enisas Bruder Hakim hinterher. Ungeduldig riss er am Führstrick, mit dem er Sultan, das Trampeltier seines Vaters, auf dem Weg zur Medina, dem alten Teil der Stadt, hinter sich herzog.

„Vater!“, schrie Enisa fassungslos. „Tu mir das nicht an, ich bitte dich inständig. Ich bin eine gute Schülerin, ich bin fleißig und kann es zu etwas bringen.“

Sie war stehen geblieben und fixierte den Vater mit ihren schwarzen Augen, doch er wich dem Blick seiner Tochter aus und stapfte einfach weiter.

„Warte!“ Enisa zupfte an seiner Djellaba, dem traditionellen bodenlangen Mantel. „Halte bitte inne und hör mir zu. Großmutter Leila hat mir versprochen, dass ich in die Schule gehen darf. Ich kann arbeiten und trotzdem weiter lernen. Ich werde noch früher aufstehen und noch später zu Bett gehen und …“

Ihr Vater klatschte hart in die Hände. Nur ein einziges Mal. „Schweig. Es ist alles gesagt, Enisa.“

Hakim sah sie mit einer Mischung aus Mitleid und Zufriedenheit an. „In einer Familie kann sich keiner über den anderen erheben. Jeder hat seine Pflicht zu erfüllen“, erklärte er.

Enisa schluckte, sie hatte das Gefühl, einen Schlag in die Magengrube bekommen zu haben. Die Füße, die Beine, der ganze Körper fühlten sich auf einmal bleischwer an. Unmöglich, auch nur einen Schritt zu machen.

Einen Moment sah Enisa den beiden Männern hinterher, die energisch den Pfad entlangliefen und durch ein Bab, ein altes Tor der Stadt, verschwanden, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen.

Tränen bildeten sich in ihren Augen, der Kopf fühlte sich leer an. Ihr war klar, dass es keinen Sinn hatte, zu diskutieren, und noch weniger, zu schreien oder zu toben. Ihre Verzweiflung würde ihren Vater oder den Bruder nicht erweichen. Mit dem kurzen Gespräch war Enisas Schicksal besiegelt worden.

„Großmutter“, flüsterte das Wüstenmädchen und wischte sich mit einem Zipfel ihres Hijabs, des traditionellen Kopftuchs, die Tränen aus dem Gesicht. „Was tun sie mir an?“

Enisa biss die Zähne zusammen. Sie musste den beiden folgen, das wurde von ihr erwartet. Und auf keinen Fall durfte sie ihrem Vater und Hakim so verweint unter die Augen treten. Das war ein Verstoß gegen alles, was sie von ihrer Mutter, die schon vor langer Zeit gestorben war, und ihrer Großmutter gelernt hatte. Auch kein Händler im Souk, dem traditionellen Markt, sollte ihren Kummer bemerken. Niemals!

Enisa straffte die Schultern. „Glück ist eine Oase, die zu erreichen nur träumenden Kamelen gelingt“, sagte sie entschlossen. „Wie oft hat Mutter uns diese Weisheit der Beduinen ans Herz gelegt. Sie hatte recht.“

Sie zupfte die Kleidung zurecht und lief mit schnellen Schritten Vater und Bruder hinterher. Enisa zwang sich, sich so zu verhalten, als wäre nichts passiert. Gar nichts.

„Du kannst dich kurz umsehen, ich passe solange auf Sultan auf. Geh in den Souk der Gewürze, wir brauchen Kreuzkümmel. Lass dir nicht zu viel Geld abknöpfen und komm so schnell wie möglich zurück. Ich muss auch noch einige Dinge erledigen.“

Hakim sah ihr nicht in die Augen, nachdem Enisa kurz hinter dem Tor zur Altstadt zu ihm aufgeschlossen hatte. Aber sie wusste, dass sein Vorschlag eine große Geste war. Ein Friedensangebot. Und sie nahm es dankbar an. Wenigstens diese Freude wollte sie sich nicht entgehen lassen. Ihr Vater war längst im Gewühl des Marktes verschwunden.

Mit blinder Sicherheit bewegte sich Enisa durch die Gassen.

Feiner Wüstenstaub überzog jeden Winkel und legte sich über die Wege, Gebäude, Marktstände. Schon aus der Ferne hörte das Mädchen die Aufforderungen der Händler, zwischendrin erklang der Ruf des Muezzins.

Auf Fremde wirkte der Souk wie ein chaotisches Labyrinth, doch Enisa wusste, dass der Markt nach einem bestimmten Prinzip, nach den unterschiedlichen Gewerben, angeordnet war. So bekam man im Souk der Stoffe Teppiche, Kissenbezüge und farbenfrohe Tücher. Es gab den Souk für Leder, den für Kupfer, Keramik oder Gewürze.

„Guten Morgen!“, rief ihr ein alter Händler zu.

„Wie geht es Leila?“, wollte ein anderer wissen.

Enisa gab knappe Antworten, dann wanderte sie weiter.

Reges Treiben herrschte in den unzähligen Gassen und an den farbenfrohen Ständen. Trotz ihres Kummers musste das Mädchen lächeln. Sie liebte den Bazar ihrer Heimatstadt, das Gewirr der Stimmen, die Vielfalt der Sprachen, der Menschen, all die Farben und Gerüche. Der Duft von Gewürzen wehte durch die Gassen, Hammel­spieße brutzelten in kleinen Grillküchen, Schlangen­beschwörer machten mit greller Musik auf ihre Nattern und Kobras aufmerksam, Kaufleute boten lautstark Ketten, Taschen oder bunt bestickte Lederpantoffeln feil.

Schon als kleines Kind hatte Enisa es kaum erwarten können, mit ihrer Großmutter von Stand zu Stand zu laufen, zuzuhören, wie die alte Frau mit den Händlern feilschte, Obst und Gemüse begutachtete und mit einem wütenden Zischlaut auf zu hohe Preise reagierte.

Den Souk der Gewürze mochte Enisa besonders. Jeden Morgen wurden hier die Waren kunstvoll aufgetürmt, die aus dem eigenen Land, aber auch frisch aus Indien oder Pakistan kamen: Zimtrinde, Rosenknospen, Sumach – ein tiefviolettes, zitronig-säuerliches Gewürz –, Curry- und Paprikapulver, Zatar – eine Kräutermischung mit Thymian und Sesam –, Muskatnüsse und vieles mehr.

An einem Stand, der etwas zurückversetzt in einer engen Gasse lag, blieb Enisa stehen. Sie kannte den Händler, hier kaufte auch ihre Großmutter ein. Möglichst desinteressiert wirkend schnupperte Enisa zunächst an einigen Kräutern und betrachtete die Auslage. Der Händler beachtete sie nicht. Als hätte er gar nicht gemerkt, dass sie da war, tippte er konzentriert in sein Handy. Enisa wusste: Das war Teil des Spiels, das gerade erst begonnen hatte.

„Ich brauche Kreuzkümmel“, meinte sie mit einer scheinbar gelangweilten Handbewegung. „Was kostet diese Packung?“ Sie hielt einen Beutel in die Höhe.

Der Händler nannte einen so absurd hohen Preis, dass Enisa schmunzeln musste.

„Nein danke“, sagte sie und wandte sich zum Gehen.

Sofort nannte der Händler eine andere Summe, die weit unter seinem ersten Angebot lag. Selbstbewusst blieb Enisa stehen. Mit einem kurzen Schulterblick und noch nicht ganz dem Händler zugewandt, nannte sie einen niedrigeren Preis.

Eine Weile ging es hin und her, bis sich die beiden schließlich einig waren und Enisa mit dem Gewürz zu Hakim eilte. Sie hatte gut und auf Augenhöhe mit dem Verkäufer verhandelt. So, wie Großmutter Leila es ihr beigebracht hatte.

„Endlich“, knurrte Hakim, als sie bei ihm ankam, und drückte ihr den Führstrick von Sultan in die Hand. „Jetzt bin ich dran. Kann dauern.“

Enisa seufzte. Sie wusste, dass die Zeit, die sie auf dem Markt verbracht hatte, nichts gegen die stundenlangen Einkäufe ihres Vaters oder ihres Bruders waren. Wahrscheinlich würde sie sich zu Tode langweilen, bis die beiden wieder zurückkehrten. Enisa gähnte.

In diesem Moment sah sie den Vogel. Kreisförmig zog er seine Runden über ihrem Kopf, ließ sich dann auf dem Zelt eines Stoffhändlers nicht weit von Enisa entfernt nieder und blickte genau in ihre Richtung.

Enisa legte den Kopf schief. So einen bunten Vogel hatte sie in ihrer Heimatstadt noch nie gesehen, außerdem kam es ihr merkwürdig vor, dass er keinerlei Scheu zeigte.

Enisa? Hörst du mich?

Enisa blickte in das Labyrinth der Gassen. Hatte Hakim sie gerufen? Oder ihr Vater?

Enisa, du sollst Tierflüsterin in Whisperworld werden.

Whisperworld? Enisa stutzte. Das gab es nicht, das konnte nicht wahr sein. Seit vielen Jahren sprach sie mit ihrer Großmutter darüber, wie großartig es wäre, in dieses Land und an die Schule der Tierflüsterer berufen zu werden. Dabei war es anfangs nicht einmal Enisa selbst gewesen, die darauf gehofft hatte, sondern Großmutter Leila. Seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie immer wieder von der Legende der Tierflüsterer gehört. In Gesprächen am Lagerfeuer in den langen Nächten in der Wüste und in Unterredungen mit Freundinnen.

Enisa, du bist berufen. Du sollst Tierflüsterin in Whisperworld werden.

Enisa sah zu dem bunten Vogel. Kein Zweifel, sein Schnabel hatte sich bewegt. Er hatte mit ihr gesprochen! Vor Schreck ließ sie Sultans Führstrick los, was das Trampeltier wohl als Aufforderung verstand. Mit weit vorgestrecktem Kopf rannte es mitten hinein in den Souk, in die verzweigten Gassen des Marktes.

Enisa stieß einen gellenden Pfiff aus. „Sultan! Komm zurück!“

Doch das Tier scherte sich nicht um ihre Anweisung.

Fassungslos sah Enisa ihm hinterher. Sie war viel zu perplex, um Sultan zu folgen. In ihrem Kopf jagten die Informationen hin und her; ihr Gehirn verarbeitete das fliehende Kamel, den sprechenden Vogel, die Erwähnung von Whisperworld, ihre Großmutter, die Schule der Tierflüsterer … und dann rannte sie endlich los. Sie jagte Sultan in einem Affentempo hinterher, schnaufte, keuchte, bis ihre Lungen zu platzen drohten. Gleichzeitig malte sie sich aus, was das Tier wohl gerade auf dem Markt anrichten mochte. Sie dachte an die Stände, die Sultan umrennen könnte, die zertretenen Waren, an das Geld, das die Kaufleute von ihrem Vater verlangen würden und das sie nie im Leben würden aufbringen können. Alles ihre Schuld!

Längst konnte sie Sultan nicht mehr sehen. Sie hatte ihn im Gewirr der Gassen verloren, er schien wie vom Erdboden verschwunden, in Luft aufgelöst …

bis mit einem Mal ein kleiner, etwas rundlicher Mann mit Brille vor ihr stand. Hinter ihm Sultan, dessen Führstrick der Mann hielt, als hätte er nie etwas anderes getan.

„Kann es sein, dass dieses stattliche Baktrische Kamel dir gehört?“ Er grinste von einem Ohr zum anderen. „Verflixt flink. Sie sind kaum zu bändigen, wenn sie erst mal losrennen.“ Er drückte Enisa den Strick in die Hand. „Mein Name ist Max. Wir sehen uns, Enisa. Bis bald.“

Mit diesen Worten verschwand er in einer der kleinen Gassen, bevor Enisa reagieren konnte. Dabei hatte sie so viele Fragen! Woher kannte dieser Max ihren Namen? Woher wusste er, dass Sultan zu ihr gehörte? Und – wieso würden sie sich wiedersehen?

Am liebsten wäre das Wüstenmädchen dem Mann hinterhergesprungen, aber das war unmöglich. Dafür hätte sie Sultan einfach stehen lassen müssen. Eine absurde Idee. Stattdessen streichelte Enisa das Trampeltier, denn ohne es wäre ihr Vater als Kameltreiber völlig aufgeschmissen. Sultan war sein zuverlässigster Partner und Enisa musste auf das Tier aufpassen, egal, was passierte.

Erschöpft von der Aufregung vergrub Enisa ihr Gesicht in Sultans Fell. Dabei entdeckte sie die Papierrolle, die mit einem feinen Band an seinem Hals befestigt war.

Hektisch sah sich Enisa um, ob ihr Vater oder ihr Bruder schon in Sichtweite waren. Glücklicherweise noch nicht! Niemals hätte sie das Papier vor ihnen verbergen können, wären sie in der Nähe gewesen. Erleichtert faltete Enisa das Papier auseinander und las: