Whisperworld 6: Jagd durchs Eis - Barbara Rose - E-Book

Whisperworld 6: Jagd durchs Eis E-Book

Barbara Rose

0,0
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Lesespaß mit Sogwirkung – auf nach Whisperworld! In Whisperworld, einem Land fernab der Zivilisation, werden Kinder zu Tierflüsterern.  Sie wachsen über sich hinaus, retten bedrohte Arten und finden Freunde fürs Leben.    Eine aufregende Reise für Lesende ab 9 ins Unbekannte. In Whisperworld gibt es wilde Tiere, Fantasiewesen und spannende Prüfungen! Das Skeif ist eine faszinierende und gefährliche Welt aus Eis. Chuck, Coco und die anderen Tierflüsterer lernen hier, Iglus zu bauen und die Orientierung im ewigen Frost nicht zu verlieren. Doch wem können sie hier trauen? Den scheuen Schneewesen? Als sich plötzlich manche Tiere ungewöhnlich aggressiv verhalten, sind sie sicher: Fiesling Devin Dolor ist nicht weit entfernt. Können sie ihn im Skeif schnappen? Ein Buch voller Fantasie und Abenteuer, das Kindern auch das Thema Artenschutz näherbringt "Wir haben definitiv Feuer gefangen und wir brauchen mehr! Diese Bücher sind für alle geeignet, die zwischen Fantasie und Wirklichkeit wandern, Tiere lieben und dazu noch Abenteuer mit dem Tüpfelchen Nervenkitzel in kindgerechter Art mögen. Unbedingt lesen!" Whisperworld-Fan

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Barbara Rose

Whisperworld – Jagd durchs Eis

Mit Bildern von Alina Brost

In Whisperworld, einem Land fernab der Zivilisation,

werden Kinder zu Tierflüsterern.

Sie wachsen über sich hinaus,

retten bedrohte Arten

und finden Freunde fürs Leben.

Das Skeif ist eine faszinierende und gefährliche Welt aus Eis. Chuck, Coco und die anderen Tierflüsterer lernen hier, Iglus zu bauen und die Orientierung im ewigen Frost nicht zu verlieren. Doch wem können sie hier trauen? Den scheuen Schneewesen? Als sich plötzlich manche Tiere ungewöhnlich aggressiv verhalten, sind sie sicher: Fiesling Devin Dolor ist nicht weit entfernt. Können sie ihn im Skeif schnappen?

Buch lesen

Personenvorstellung

Glossar

Viten

Whisperworld – ein Land am Ende der Welt.

Geheim und verborgen.

Nur ein einziges Buch erzählt seine Geschichte.

In Whisperworld leben Tierarten, die längst als ausgestorben galten.

Dort finden bedrohte Tiere eine Heimat.

Dort werden sie beschützt.

Beschützt von den Tierflüsterern.

Jedes Mädchen und jeder Junge träumt vom Ruf nach Whisperworld.

Denn in Whisperworld werden Kinder zu Tierflüsterern.

Mädchen und Jungen, die alles geben, um unsere Welt zu retten.

Wer wird auserwählt?

Wer darf bleiben?

 

Hörst du das Flüstern aus Whisperworld?

Beinahe völlige Stille herrschte über der frostigen, blau schimmernden Landschaft. Millionen Eiskristalle fingen das Licht der Sonne ein und reflektierten es wie winzige Spiegel. Die gesamte Gegend funkelte und glitzerte. Sie war kalt und abweisend, zugleich aber unglaublich faszinierend, beinahe magisch.

Doktor Noa setzte ihre Schneebrille auf, um nicht geblendet zu werden. „Was für ein Schauspiel!“

Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Schon in ihrer Kindheit war sie immer wieder mit ihrem Vater Pete in der eisigen Landschaft des Skeif gewandert. Zunächst hatte sie Widerwillen gezeigt. Sie fürchtete sich vor der Kälte und hatte eine eintönige Gegend erwartet. Doch mehr und mehr war die Begeisterung in ihr gewachsen. Das Skeif hatte bei jedem Besuch anders, beeindruckender, unbezähmbarer ausgesehen.

„Wer glaubt, dass die Welt aus Eis und Schnee einfach nur weiß ist, der irrt sich gewaltig“, zitierte Eleonor Noa leise ihren Vater und blickte sich weiter um.

Ähnlich einem fest gewebten, glatten Tuch bedeckte der Schnee die gesamte Landschaft. An einigen Stellen türmte er sich zu seltsamen Skulpturen auf. Schneewehen, geformt vom Wind, bildeten bizarre Formen. Am Übergang von der Tundra Elksor zum Eisland trugen die wenigen Pflanzen wie Moose, Wollgras, Steinbrech, Polarweiden oder Zwergbirken weiße Mützen. Kristalle schimmerten an den Zweigen. Die Gipfel des nahen Hinalya-Gebirges leuchteten in vielen Farben und Schattierungen: Türkis und Hellblau, Marine, Gletscherblau.

Die Berge wirkten majestätisch und Angst einflößend.

Wie kristallenes Pulver knirschte der Schnee unter Doktor Noas Schuhen. Die Leiterin der Schule der Tierflüsterer bückte sich, nahm eine Handvoll davon und pustete ihn in die Luft. Weiße Flöckchen tänzelten langsam zu Boden.

„Schnee ist nicht einfach Schnee. Er hat verschiedene Formen, er hat Farbe …“, sagte sie laut zu sich selbst.

Wieder dachte sie an ihren Vater, der ihr erklärt hatte, dass jede Schneeflocke ein einmaliges Kunstwerk sei. Tatsächlich gleicht keine Schneeflocke der anderen. Jede setzt sich aus unzähligen und einzigartigen Eiskristallen zusammen. Nur ihre sechskantige Grundform prägt sie alle. Ein Wunderwerk der Natur.

Doktor Noa schritt voran, immer in Richtung des Gebirges. Seit dem Morgen war sie unterwegs auf der Suche nach einem Zugang zu dem unterirdischen Höhlensystem, in dem sich Devin Dolor mit seiner Assistentin Lexi versteckt hielt. Mit einem Rentierschlitten hatte Doktor Noa in aller Frühe das Lager in Elksor verlassen und war in den südwestlichen Teil des Skeif aufgebrochen. Systematisch untersuchte sie dort die Ausläufer des Gebirges Hinalya.

Wenn sie die Aufzeichnungen ihres Großvaters richtig im Kopf hatte, war der Boden in dieser Gegend durchsetzt von Spalten und Eingängen zu Eishöhlen. Von diesen Hohlräumen in der Unterwelt hatte vor ihrem Großvater auch bereits ihr Urgroßvater Alexander Noa ausführlich berichtet, und genau danach fahndete sie nun. Denn die Eishöhlen veränderten sich ständig und bildeten sich an neuen Stellen. Sie suchte einen Zugang zu einer möglichen zweiten, geheimen unterirdischen Zentrale ihres Erzfeindes Devin Dolor, ähnlich der in der Simari-Schlucht. Anscheinend reichte das Höhlensystem, das Devin Dolor mithilfe der Kinshas, riesiger Würmer, geschaffen hatte, von der Simari-Schlucht bis weit unter das Eisland. Noa, Poppy und Silvester vermuteten, dass er über das unterirdische System seltene Tiere aller Art aus Whisperworld entführen wollte, um sie für viel Geld zu verkaufen.

„Wir müssen ihn aufhalten, unbedingt!“, stieß Doktor Noa wütend hervor. „Die Zukunft von Whisperworld steht auf dem Spiel!“

Wie schnell könnte Devin vorankommen? Wenn er es schaffen würde, ausgestorbene Tierarten zu entführen, wäre dies das Ende von Whisperworld. Dann würden sie ihr Geheimnis nicht länger bewahren können. Forscher, Zoologen, Presse und Schaulustige würden nach Whisperworld strömen. Sie würden das ruhige Leben der Tiere und die friedliche Koexistenz von Tierflüsterern und Tieren zunichtemachen, das Erbe ihres Urgroßvaters Alexander Noa mit Füßen treten.

Immer noch war kein Geräusch zu hören bis auf das leise Jaulen des Windes. Und das Knacken des Schnees unter den viel zu dünnen Stiefeln, in denen Doktor Noa bedächtig einen Fuß vor den anderen setzte. Mit jedem ihrer Schritte stob eine Wolke Schneestaub in die Höhe, wirbelte durch die Luft wie winzige Diamanten, die dann in Zeitlupe zu Boden flirrten.

Sie richtete ihren Blick weiter nach Westen. Die Bergspitzen des Hinalya-Gebirgeswaren fast vollkommen weiß, bis auf wenige Stellen, an denen das Eis von der Sonne aufgetaut worden war.

Doktor Noa seufzte. Seit Devin mit seiner Assistentin Lexi und möglicherweise noch anderen Gehilfen im Labyrinth der Simari-Schlucht verschwunden war, konnte sie an kaum etwas anderes mehr denken. Sie mussten ihn aufhalten! Ihr Herz raste und sie fühlte das Blut in ihren Ohren pulsieren. Sie blieb einen Moment stehen, ging leicht in die Hocke, stützte die Hände auf die Oberschenkel und atmete tief durch.

„Nur einen kurzen Augenblick durchschnaufen“, sagte sie beinahe entschuldigend zu sich selbst.

Und da entdeckte sie ihn: Ein Polarhase sah ihr zitternd und mit vor Angst geweiteten Augen entgegen. Er musste mit einer seiner großen Pfoten in einem Spalt feststecken. Anscheinend konnte er sich nicht mehr selbst befreien.

„Keine Angst, ich tue dir nichts“, murmelte Doktor Noa mit sanfter Stimme und näherte sich vorsichtig. „Gleich kannst du wieder losspringen.“

Sie hockte sich vor das pelzige Tier, packte behutsam die Pfote des Polarhasen, drehte sie leicht ein und zog sie dann aus dem Spalt. Kaum befreit, vollführte der Hase einen meterweiten Hopser und raste davon.

Doktor Noa sah ihm zufrieden nach und wollte sich gerade aufrichten, als sie ein dumpfes Knurren vernahm. Sie hob den Kopf. Wenige Meter von ihr entfernt lauerte ein Schneeleopard. Seine geduckte Haltung, der bebende Brustkorb und der zuckende Schwanz verrieten, dass er kurz vor dem Sprung war. Er wollte seine Beute erlegen: Doktor Noa.

„Beruhige dich, mein Freund“, flüsterte sie. „Ich bin Doktor Noa, die Leiterin der Schule der Tierflüsterer. Ich bin keine Feindin, ich bin Tierschützerin.“

Doch ihre Erklärung, die sonst jedes Tier in Whisperworld beruhigte, hatte keine Wirkung auf den Schneeleoparden. Stattdessen prustete das Tier heiser und schüttelte den mächtigen Kopf. Dann machte der Schneeleopard eine kurze federnde Bewegung mit seinen breiten Pfoten, riss das Maul auf und fauchte wütend.

Der Gestank, der aus seinem Maul quoll, raubte ihr den Atem. Was zum Teufel sollte das? Doktor Noa war wie gelähmt. Warum nur hatte sie ihr Betäubungsgewehr im Schlitten gelassen? Es war unmöglich, dem Schneeleoparden zu entkommen. Sie wusste, dass die Tiere hervorragende Springer waren, ein Satz würde reichen, damit er seine gewaltigen Krallen in ihren Körper schlagen konnte. In einer hilflosen Geste hob sie die Hände, drehte die Handflächen nach vorn. Der Leopard knurrte. Doktor Noa streckte ihren Arm aus, wollte das Tier zur Ruhe bringen. Diesen Moment nutzte der Schneeleopard, um ihr mit einem schnellen Prankenhieb den dicken Handschuh zu zerfetzen.

Ein stechender Schmerz breitete sich in Doktor Noa aus, eilig zog sie den Arm zurück. Blut tropfte aus dem Handschuh und färbte den Schnee rot. Der Leopard schnupperte gierig, der Geruch des Blutes schien das Raubtier noch mehr zu reizen. Mit in den Nacken gelegtem Kopf stieß es ein lang gezogenes, zufriedenes Heulen aus, siegessicher, ohne Angst vor weiterer Gegenwehr.

Doktor Noa zuckte zusammen und beobachtete gleichzeitig panisch, wie der Schneeleopard in diesem Moment zum Sprung ansetzte. Sie registrierte, wie er seine Krallen ausfuhr und das Maul mit den scharfen Zähnen öffnete. Entsetzt riss sie die Augen auf, aber sie schrie nicht. Es hatte keinen Sinn. Sie wusste, dass es sowieso niemand hören würde. Also wartete sie auf den Angriff, auf furchtbare Schmerzen.

Doch stattdessen stand mit einem Mal ein riesiger Eisbär neben ihr. Brüllend erhob er sich auf die Hinterbeine und fegte den Schneeleoparden mit einem einzigen Hieb seiner Pranken mitten im Sprung zur Seite. Die Raubkatze landete unsanft auf dem Rücken, rappelte sich auf, warf einen kurzen Blick auf den Eisbären und jagte davon.

Doktor Noas Blick fiel auf das rechte Ohr des Bären, dem ein großes Stück fehlte. „Nanook? Du hast mir … das Leben gerettet. Genau wie meinem Vater vor vielen Jahren.“ Sie streckte die Hand aus und vergrub sie im weichen Bärenfell. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich verstehe nicht, warum der Schneeleopard mich attackieren wollte.“

Der Bär ließ sich auf alle viere fallen. „Er wird nicht das letzte Tier mit bösen Absichten hier im Skeif sein, Eleonor. Devin Dolor hat Spione überall. Und er zwingt manche Tiere, euch Menschen anzugreifen. Du musst vorsichtig sein. Das Eisland steckt voller Gefahren!“

Paul stand vor dem hell erleuchteten Kino und trat von einem Bein aufs andere. Lachende, lärmende Menschen schoben sich an ihm vorbei, drückten die Glastüren auf und reihten sich im Inneren in die Schlangen für Popcorn und Getränke ein.

19:50 Uhr. Noch zehn Minuten, bis der Film begann, aber von seinem Vater keine Spur. Dabei waren sie schon vor zwanzig Minuten verabredet gewesen.

„Ich verspreche, dass ich pünktlich bin. Besorge du schon mal die Karten. Wir holen uns vorher noch was Leckeres, geht alles auf mich“, hatte sein Vater noch am Morgen angekündigt. „Ich habe schon lange keine Nachos mit Käsesoße mehr gegessen. Da freue ich mich drauf. Und natürlich auf den Actionfilm.“

Paul war mindestens genauso vorfreudig gewesen. Es kam selten vor, dass sein Vater Zeit für ihn hatte, also so richtig Zeit, kein kurzer Plausch zwischen zwei Geschäftsmeetings. Der gemeinsame Kinobesuch war ein Geschenk zu Pauls gutem Zeugnis. Neben der Rolex-Uhr, die in einer schmalen Schachtel neben Pauls Frühstücksmüsli gelegen hatte. Die vierte Markenuhr, die er von seinem Vater bekommen hatte. Eigentlich machte er sich nicht viel aus solchen protzigen Symbolen, viel lieber hätte er ein cooles Fernrohr bekommen oder eine richtig gute Taucherausrüstung. Aber sein Vater liebte Uhren, er besaß Dutzende, die in einer teuren Vitrine mit Panzerglas ausgestellt waren. Wahrscheinlich erinnerte sich sein Vater jedes Mal, wenn er eine neue Uhr für Paul kaufte, nicht mehr daran, dass er seinem Sohn schon einige geschenkt hatte. Paul wollte ihm die Freude nicht nehmen, also trug er die Uhren. Immer abwechselnd.

„Mensch, Papa! Wo bleibst du?“, murmelte Paul genervt.

Er hätte es ahnen müssen. Außer zu geschäftlichen Besprechungen kam sein Vater ständig zu spät. Wenn Pauls Mutter mit ihm verabredet war, musste sie im Restaurant manchmal eine Stunde auf ihn warten. Selbst zu Geburtstagen im eigenen Haus, egal ob Pauls, dem seiner Mutter oder sogar dem eigenen Festtag – im privaten Bereich war Pauls Vater nie pünktlich. Häufig hatten die Partys längst begonnen, die Gäste feierten schon ausgelassen, bis auch der Gastgeber endlich eintrudelte. Aufgehalten von wichtigen Terminen, Geschäftskollegen, Anrufen, die man nicht aufschieben konnte, vom Verkehr oder sonstigen Dingen.

19:55 Uhr. Fröstelnd zog Paul den Kragen seiner Lederjacke höher und sah auf die neue Uhr. Nur noch fünf Minuten, bis der Film begann. Das würde richtig, richtig eng werden, wenn sie noch etwas zu essen kaufen wollten. Okay, wahrscheinlich gab es wieder jede Menge Werbung, bevor der Film losging. Also kein Grund zur Panik.

„Entspann dich“, mahnte Paul sich selbst.

So wiederholte es auch sein privater Tai-Chi-Lehrer ständig, den Paul nicht ausstehen konnte. Überhaupt fand er diese Kampfkunst unglaublich langweilig. Viel lieber hätte er richtigen Boxunterricht genommen, wo man ordentlich auf einen Boxsack eindreschen konnte. Aber sein Vater hatte darauf bestanden, dass es Tai-Chi sein musste. Die Kinder all seiner Geschäftspartner betrieben diesen Sport, das war einfach … chic.

Paul trat ein paar Schritte vor, um nahe am Bordstein zu stehen. Von hier konnte er die ganze Straße rauf- und runterblicken und schnell die Tür aufreißen, wenn Igor, der Chauffeur, mit dem Jaguar seines Vaters direkt am Kino vorfuhr. Dann würden sie es noch schaffen.

20 Uhr. Jetzt begann der Film und noch immer war weit und breit kein Auto zu sehen. Dafür fing es auf einmal an zu nieseln. Ein leichter Sommerregen, aber intensiv genug, dass Pauls Hose und seine dünnen Schuhe schnell durchnässt waren. Wie gut, dass er wenigstens die coole Lederjacke angezogen hatte, die ihm seine Mutter von einer ihrer Geschäftsreisen aus Italien mitgebracht hatte. Doch wenn er noch länger im Regen stand, war die wahrscheinlich auch irgendwann durch. Also trat er wieder zurück unter das schützende Vordach des Kinos.

20:10 Uhr. Noch immer kein Auto.

Paul biss sich auf die Lippen. Sollte er einfach reingehen und etwas kaufen? Den ganzen Tag hatte er sich schon so auf Nachos mit Käsesoße gefreut.

„Verdammt!“

Verärgert trat er mit dem Fuß gegen eine leere Getränkedose, die lärmend über den Gehweg kullerte. Er verschränkte die Arme vor der Brust und wartete weiter.

20:15 Uhr. Pauls Magen fuhr inzwischen Achterbahn, weil er nicht zu Mittag gegessen hatte, um sich den Bauch so richtig mit Fastfood vollschlagen zu können. Sein Highlight des Tages. Paul kniff die Augen zusammen, drehte sich um und sah zum beleuchteten Tresen im Innenraum des Kinos, an dem bereits aufgeräumt wurde. Für Verpflegung war es jetzt zu spät. Wenn sein Vater käme, würden sie gerade noch in den Kinosaal huschen können.

20:30 Uhr. Wahrscheinlich würde er nichts mehr vom Film kapieren. Die ersten Minuten waren immer megawichtig, genau wie bei Krimis. Wenn man da nicht mitbekam, was Sache war, war die Story so gut wie gelaufen. Was für ein Mist!

20:40 Uhr. Paul war inzwischen ziemlich durchgefroren, obwohl es Spätsommer war. Nachdenklich betrachtete er die beiden Kinokarten in seiner Hand. Dann riss er sie in der Mitte auseinander, stopfte die Fetzen in einen nahen Mülleimer und machte sich auf den Weg nach Hause.

„Wo warst du?“

Paul musste wohl eingeschlafen sein. Sein Vater war gerade ins Zimmer gepoltert.

„Wo ich war?“ Paul blinzelte. „Am Kino natürlich. Nur du nicht.“

„Natürlich war ich da! Um Viertel vor neun!“

„Viertel vor neun? Wir waren für Viertel vor acht verabredet!“

Paul setzte sich auf. Er trug noch immer die nasse Hose, auf dem Fernseher flimmerte ein Film. Neben ihm lag seine zahme Farbratte Scrat, benannt nach einer Figur aus einem seiner Lieblingsfilme, und sprang bei Pauls Bewegungen auf seine Schulter. Paul hatte Scrat erst vor wenigen Wochen aus dem Tierheim in der Stadt mitnehmen dürfen, wo er seit einiger Zeit aushalf. Das schlaue Tier war ihm sofort ans Herz gewachsen. Ihm erzählte er alle seine Sorgen, Nöte, Hoffnungen und Träume.

„Steck das blöde Vieh in den Käfig, wenn ich mit dir rede. Du weißt, dass ich Ratten nicht leiden kann.“ Pauls Vater sah den Nager missbilligend an. „Es war zwanzig Uhr fünfundvierzig, als Igor den Wagen geparkt hat. Um diese Zeit kann man immer noch ins Kino gehen.“

„Kann man. Allerdings läuft der Film dann schon fast eine komplette Stunde und man hat beinahe die Hälfte verpasst.“ Paul nieste so heftig, dass Scrat erschrocken fiepte.

„Bring das dreckige Tier weg!“, donnerte Pauls Vater.

„Die ganze blöde Zeit über stand ich vor dem Kino und es hat geregnet.“ Paul lief zum Käfig.

Pauls Vater zuckte mit den Schultern. „Ich hatte ein spontanes Meeting. Mit einem wichtigen asiatischen Kunden. Einem sehr wichtigen!“

„Schon klar.“

Paul hatte es sich anders überlegt. Sein Vater nervte ihn tierisch, außerdem war es unglaublich stickig im Zimmer. Statt zu Scrats Käfig zu gehen, lief Paul zur Glastür der Terrasse, die direkt an sein großes Zimmer angrenzte, und öffnete die Flügel weit. Am liebsten wäre er von hier aus gleich in den Pool gehüpft, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Mit Klamotten, ihm doch egal. Feucht waren sie sowieso schon. Aber dann wäre sein Vater komplett ausgerastet. Er bekam immer Wallungen, wenn sich jemand nicht auf ihn konzentrierte oder ihn bei einem Gespräch einfach stehenließ. Eine Majestätsbeleidigung.

„Schon klar? Was soll das heißen?“ Pauls Vater hob die Brauen. Ein schlechtes Zeichen. „Ich habe einen Job. Und der sorgt dafür, dass es dir und deiner Mutter gut geht.“

Mit einer unwirschen Handbewegung deutete er auf den riesigen Fernseher, die Spielekonsolen auf einem Sideboard, auf den nagelneuen Computer auf Pauls Schreibtisch.

„Du hast doch alles, was du brauchst. Deine Mutter hat alles, was sie braucht. Und ich bringe das Geld nach Hause. Oder nicht?“

Paul spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Aber die sollte er lieber zügeln. Streitigkeiten mit seinem cholerischen Vater gingen nie gut aus, niemals.

Ja, sie hatten ein schönes Haus. Sein Vater hortete jede Menge Geld auf diversen Konten. Aber wann hatte sein Vater mal Zeit für ihn gehabt? Davon hatte er immer zu wenig.

Paul schluckte. „Ja, bis auf Zeit mit dir habe ich alles. Und bis auf echte Freunde.“

Beide Sätze murmelte er allerdings so leise, dass ihn sein Vater nicht verstehen konnte. Er würde sowieso nie kapieren, dass Paul längst begriffen hatte, dass seine angeblichen Freunde nur zum Baden, Zocken oder Partyfeiern kamen. Wenn es ihm schlecht ging, wenn er nicht gut drauf war, blieben sie weg.

Pauls Vater machte einen großen Schritt auf Paul zu. „Was hast du gesagt? Sag schon!“

„Nichts. Alles gut. Ich muss an die frische Luft.“ Er musste hier raus. Hauptsache, weg von seinem Vater. Er ging durch die Flügeltür in den Garten. Sein Vater hatte schon wieder das Interesse verloren und sich seinem Handy zugewandt.

In diesem Moment sprang Scrat von Pauls Schulter und verschwand in einem Gebüsch.

Dann hörte Paul den Vogel. Pfeifend und trillernd flog er durch den Garten. Überrascht sah Paul ihm nach. Auch im bläulichen Schein der Poolbeleuchtung war sein buntes Gefieder deutlich zu erkennen. Aber seit wann flogen Papageien über ihr Grundstück?

Paul?

Wer hatte ihn gerufen?

Paul?!

Da! Schon wieder dieses Flüstern. Diesmal lauter.

Paul! Paaaaaaaaul!

Noch einmal!

Paul sah sich suchend nach Scrat und dem Papagei um. Etwas Buntes flatterte über den Pool und verschwand dann am Horizont. Eindeutig ein Papagei mit einem gelb-roten Kopf und einem gelbgrün leuchtenden Rücken. Paul schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein, das gab es nicht. Hatte der Papagei etwa … seinen Namen gerufen?

Noch bevor Paul sich weiter Gedanken machen konnte, sauste Scrat auf ihn zu. An seinem winzigen Halsband baumelte ein Zettel. Paul bückte sich, die Ratte krabbelte auf seine Hand und Paul löste die kleine Papierrolle. Neugierig strich er das Papier glatt und las:

Pauls Augen brannten, während er den Brief las. Einmal, zweimal, dreimal. Er konnte es nicht fassen. Er sollte nach Whisperworld reisen. Er, Paul Karlsson. Wie cool war das denn? Er war auserwählt! Bestimmt würde sein Vater Augen machen, wenn er ihm die Einladung zeigte. Sicher würde er unglaublich stolz auf ihn sein.

Doch als Paul ins Billardzimmer kam und seinem Vater triumphierend den Brief unter die Nase hielt, warf der nur einen kurzen Blick darauf.

„Whisperworld? Tierflüsterer? Lächerlich! Für so einen Unfug ist deine teure Ausbildung viel zu schade.“

Er packte den Zettel, knüllte ihn mit Blick auf seinen Sohn in der geballten Faust zusammen und warf ihn in den Marmorkamin, der glücklicherweise nicht brannte.