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Lesespaß mit Sogwirkung – auf nach Whisperworld! In Whisperworld, einem Land fernab der Zivilisation, werden Kinder zu Tierflüsterern. Sie wachsen über sich hinaus, retten bedrohte Arten und finden Freunde fürs Leben. Eine aufregende Reise für Lesende ab 9 ins Unbekannte. In Whisperworld gibt es wilde Tiere, Fantasiewesen und spannende Prüfungen! Showdown im Land der Tierflüsterer: Bo, Chuck, Enisa und Co. machen eine unglaubliche Entdeckung. Es gibt Dinosaurier in Whisperworld! Doch die Freude wird schnell von Sorge überschattet, denn Fiesling Devin Dolor plant den nächsten Angriff. Er möchte die Dinos für seine finsteren Pläne einsetzen. Die Tierflüsterer setzen alles daran, ihren Widersacher ein für alle Mal zu besiegen. Dafür müssen sich Menschen und Tiere vereinen. Wird die Rettung von Whisperworld gelingen? Ein Buch voller Fantasie und Abenteuer, das Kindern auch das Thema Artenschutz näherbringt "Wir haben definitiv Feuer gefangen und wir brauchen mehr! Diese Bücher sind für alle geeignet, die zwischen Fantasie und Wirklichkeit wandern, Tiere lieben und dazu noch Abenteuer mit dem Tüpfelchen Nervenkitzel in kindgerechter Art mögen. Unbedingt lesen!" Whisperworld-Fan
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Barbara Rose
Whisperworld – Duell in der Wildnis
Mit Bildern von Alina Brost
In Whisperworld, einem Land fernab der Zivilisation, werden Kinder zu Tierflüsterern. Sie wachsen über sich hinaus, retten bedrohte Arten und finden Freunde fürs Leben.
Showdown im Land der Tierflüsterer: Bo, Chuck, Enisa und Co. machen eine unglaubliche Entdeckung. Es gibt Dinosaurier in Whisperworld! Doch die Freude wird schnell von Sorge überschattet, denn Fiesling Devin Dolor plant den nächsten Angriff. Er möchte die Dinos für seine finsteren Pläne einsetzen. Die Tierflüsterer setzen alles daran, ihren Widersacher ein für alle Mal zu besiegen. Dafür müssen sich Menschen und Tiere vereinen. Wird die Rettung von Whisperworld gelingen?
Buch lesen
Personenvorstellung
Glossar
Viten
Whisperworld – ein Land am Ende der Welt.
Geheim und verborgen.
Nur ein einziges Buch erzählt seine Geschichte.
In Whisperworld leben Tierarten, die längst als ausgestorben galten.
Dort finden bedrohte Tiere eine Heimat.
Dort werden sie beschützt.
Beschützt von den Tierflüsterern.
Jedes Mädchen und jeder Junge träumt vom Ruf nach Whisperworld.
Denn in Whisperworld werden Kinder zu Tierflüsterern.
Mädchen und Jungen, die alles geben, um unsere Welt zu retten.
Wer wird auserwählt?
Wer darf bleiben?
Hörst du das Flüstern aus Whisperworld?
Wie ein breites dunkelgrünes Band wirkte der Krokodilfluss zu dieser Stunde. Vereinzelte Sonnenstrahlen tupften goldene Flecken aufs Wasser und brachten die glatte Oberfläche zum Schimmern. Von Zeit zu Zeit kräuselte eine leichte Welle den Strom, wenn ein Fisch oder ein größeres Tier nach oben stieß, sonst floss er träge vor sich hin. Aus der Ferne hörte man Kakadus, Papageien, Schimpansen und Bonobos in den Bäumen rechts und links vom Ufer zwitschern, keckern und toben. An dieser Stelle war der Fluss so breit, dass der Lärm der Tiere nur gedämpft bis zur Humboldt drang.
Max stand an der Reling des Solarschiffs der Schule der Tierflüsterer und sah in die Ferne.
„Ich liebe diese Gegend“, murmelte er. „Wenn ich irgendwo Kraft tanken kann, dann hier.“
Eine Stunde zuvor war der Vertrauenslehrer der Schule noch nervös und hektisch mit Lady Poppy, Bo, Enisa und Mohit aufs Schiff gestiegen. Er hatte mit ihnen alle Vorbereitungen getroffen, um so schnell wie möglich loszufahren und die anderen Tierflüsterer an einer geeigneten Stelle am Ufer des Skeif an Bord zu holen.
Max hielt sich mit beiden Händen an der Reling fest und erinnerte sich an die abenteuerliche Reise, die hinter den Lehrern und den Schülern lag: Nachdem die Tierflüsterer im Eisland entdeckt hatten, dass Devin Dolor mit seinen Komplizen und den gefangenen Tieren mit einem U-Boot aus Whisperworld geflohen war, hatte zunächst blankes Entsetzen geherrscht. Nach wie vor hatten sie dem Verbrecher auf der Spur bleiben wollen, die nun wohl – so hatten es die Kinshas, die Riesenwürmer, erklärt – ins Unknown Territory führen würde. Lange hatten Lehrer und Schüler gemeinsam überlegt, wie sie Devin so schnell dorthin folgen sollten. Eigentlich war das ein Wettlauf mit der Zeit, den sie kaum gewinnen konnten. Nur mit der Humboldt hatte noch eine Chance bestanden. Doch damals war der Weg vom Eisland bis zum Liegeplatz des Schiffes viel zu lang gewesen.
Max stöhnte kurz auf, als er sich daran erinnerte, wie in dieser ausweglosen Situation völlig überraschend Helfer im Eisland aufgetaucht und sich als Transportmittel angeboten hatten. Natürlich hatten die Tierflüsterer diesen Vorschlag sofort angenommen, die Zeit drängte! Nur dank dieser Helfer hatten Max und Lady Poppy, Bo, Enisa und Mohit unglaublich schnell die Stelle in Mandulara erreicht, wo das Solarschiff sicher vertäut lag. Danach mussten sie es nur noch flottmachen und die übrigen Tierflüsterer und ihre Lehrer abholen.
Und jetzt lagen die Jungen und Mädchen erschöpft von der Reise und dem Abenteuer im Skeif in ihren Kajüten. Max dagegen genoss die Stille, nahm seine Hände von der Reling und warf einen kurzen Schulterblick zu Lady Poppy, die ihm aus dem Steuerstand zuwinkte. Sie war die beste Kapitänin von allen.
„Alles bestens“, rief sie. „Wir sind gut in der Zeit. Wir finden diesen Mistkerl!“
Kurz hob auch Max die Hand, öffnete dann den Reißverschluss seiner dicken Jacke, zog sie aus und ließ sie achtlos auf den Boden fallen. Er brauchte sie nicht mehr. Im Gegensatz zum Skeif war es hier angenehm warm. Endlich hatte Max das Gefühl, Luft holen und wieder richtig durchatmen zu können. Die Beklemmung, die er im unwirklichen Eisland die ganze Zeit über gespürt hatte, war verschwunden. Gerade wollte er sich im Schneidersitz an Deck niederlassen und die Stille des Augenblicks genießen, da hörte er merkwürdige Geräusche.
Ein Surren, dann ein Flattern und Donnern durchschnitten die Luft. Dazu spürte Max eine Art Wirbel, der sich genau über seinem Kopf befand. Irritiert hob er die Hand, um seine Augen zu beschatten, blickte zum wolkenlosen Himmel … und erstarrte.
Ein riesiger Greifvogel kreiste mit weit ausgebreiteten Schwingen über der Humboldt. Mit geübtem Blick erkannte Max, dass die Flügelspannweite des Tieres mindestens fünf Meter betragen musste. Ein Gigant der Lüfte! Fasziniert beobachtete Max die geschmeidigen Bewegungen des Vogels. Das war hundertprozentig ein fantastisches Tierwesen, eine ihm bisher unbekannte Spezies, die es nur hier in Whisperworld gab. Ob Doktor Noa diese Art kannte?
Max war sich sicher, dass er in den Chroniken noch nie etwas über diesen Vogel gelesen hatte … oder hatte er einige Seiten überblättert, wie er das gern tat, wenn ihm die Augen zufielen?
Mit angehaltenem Atem bemerkte der Lehrer, dass der Vogel seine Runden nun tiefer flog, aber immer noch in ruhigen, gleichmäßigen Kurven. Wie hypnotisiert stand Max an der Reling und änderte seine Position auch dann nicht, als der Vogel mit einem Mal genau auf ihn zuhielt.
Die nächsten Momente erlebte er wie einen Film, beinahe wie in Zeitlupe. Überrascht starrte er zunächst auf die feurigen Augen, aus denen winzige Blitze zu zucken schienen, und auf den langen, spitz zulaufenden Schnabel des Tieres, mit dem dieses auf ihn zuschoss. Wie ein Dolch sah der aus. Scharf und tödlich.
Zum Landeanflug stellte der Vogel seine Flügel wie Ruder beinahe quer gegen die Luft. Dabei erzeugten die Schwingen das donnernde Geräusch. Die durch die Bewegungen der Flügel entstehende Luftverwirbelung drang schmerzhaft in Max’ Trommelfell. Gleichzeitig verdeckte der dunkle Körper des Vogels für einen Moment die Sonne und der blutrote Schnabel leuchtete unheilvoll auf.
„Verdammt, was …?“, setzte Max an und wollte fliehen.
Zu spät.
Gleich einem Torpedo, der sein Ziel im Visier hatte und nicht aufzuhalten war, raste der Vogel auf Max zu.
Der Lehrer duckte sich instinktiv, kauerte sich auf den Boden, schloss die Augen und presste die Arme über den Kopf. Er wartete auf den Schmerz, den der scharfe Schnabel mit Sicherheit verursachen würde. Max’ Herz raste, sein Mund war staubtrocken, in seinem Kopf fuhren die Gedanken Achterbahn.
Warum hatte er sich nicht besser auf einen möglichen Angriff vorbereitet? Weshalb war er so naiv gewesen? Er wusste doch, dass die Spione von Devin Dolor überall sein konnten. Gerade jetzt hätte er nicht so leichtfertig sein dürfen. Verdammt, warum hatte er die dicke Jacke ausgezogen, die ihm zumindest ein gewisses Maß an Schutz geliefert hätte?
Unkontrolliert begann Max am ganzen Körper zu zittern, Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Gleich würde der Vogel ihn attackieren, es konnte sich nur noch um Sekundenbruchteile handeln, dann …
„Halt! Hör sofort auf, Goran. Das ist Max, er ist Lehrer an der Schule der Tierflüsterer“, rief Lady Poppy. „Er gehört zu den Guten! Also lass ihn in Ruhe!“
Ihr Ton war hart und schneidend und duldete keinen Widerspruch.
Einen Moment verharrte Max weiter in seiner Position. Er war sich nicht sicher, ob Lady Poppys Befehl gewirkt hatte. Doch statt eines stechenden Schmerzes spürte er plötzlich eine weiche Hand auf seiner Schulter.
„Es ist gut, Max. Alles in Ordnung.“
Als er die Augen öffnete, hockte der riesige Vogel vor ihm auf dem Deck. Seine feurigen Augen sahen Max neugierig an.
„Darf ich vorstellen?“ Lady Poppy deutete erst auf den Vogel, dann auf Max. „Das hier ist Goran, ein Lorea und treuer Freund von Doktor Noa. Und das hier ist Max, der Vertrauenslehrer unserer Schule.“
Max schnaubte, bevor er sich erhob. „Freut mich, dich kennenzulernen.“ Verärgert stellte er fest, dass seine Stimme zitterte.
„Miau“, machte der Vogel.
„Miau?“ Beinahe musste Max lachen, so absurd war die Situation. Der riesige Vogel machte Katzengeräusche?
Fragend sah Max Lady Poppy an. Die grinste.
„Habe ich es gerade mit einem unserer Schüler oder mit einem Lehrer zu tun? Versuche dich zu konzentrieren, Max. Und du, Goran, wiederhole deine Worte, bitte.“
Der Vogel deutete eine leichte Verbeugung an. „Ich mich auch.“
Und jetzt verstand auch Max, was Goran gesagt hatte.
Lady Poppy sah Goran kopfschüttelnd an. „Was tust du hier? Ihr Loreas habt euch schon seit Ewigkeiten nicht mehr in dieser Gegend blicken lassen. Noch nicht mal Max kennt dich. Und er gehört praktisch zum Inventar der Schule.“
Goran schlug mit den Schwingen und jetzt bemerkte Max, dass sich an der Unterseite der schwarzen Deckfedern eine Schicht befand, die wie pures Gold leuchtete.
„Du weißt, wie wertvoll unsere Flügel sind, Poppy“, gab Goran zurück. „Deshalb haben wir uns ins Unknown Territory zurückgezogen, ins Wasserland, wie wir Tiere es nennen. Sicherheitshalber. Aber auch dort haben wir inzwischen nicht mehr das Gefühl, geschützt leben zu können.“
Lady Poppy beugte sich vor und flüsterte: „Weil Devin Dolor mit seinen Komplizen dort ist?“
„Meinst du einen brutal wirkenden Mann, eine athletisch gebaute Frau und einen dicklichen Typen? Dann ist es dieser Devin mit seinen Helfern.“ Goran nickte. „Aber es gibt noch mehr von diesen Kerlen im Wasserland. Es sind hoffentlich keine Freunde von Doc?“
Lady Poppy verdrehte die Augen. „Machst du Witze? Devin und seine Helfer sind üble Tierquäler. Wir Lehrer sind ihnen zusammen mit unseren Schülern seit einiger Zeit auf den Fersen. Was hast du beobachtet, Goran?“
„Heute Morgen sind sie mit einem U-Boot und vielen Tieren am Ufer angekommen. Diese Menschen haben Schlimmes vor, das spüre ich. Seit Wochen werden immer wieder neue Arten in ihr Lager gebracht. Es herrscht große Hektik. Als würden die Kerle ihre Abreise vorbereiten und wollten möglichst viele Tiere mitnehmen. Doktor Noa muss dringend handeln, sonst ist Whisperworld bald Legende. Deshalb hat mich mein Schwarm hierhergeschickt. Wir wollen euch unsere Hilfe anbieten.“
„Hilfe?“ Max verschluckte sich beinahe beim Sprechen. Ihm schlug das Herz immer noch bis zum Hals. „War das schon diese Art von Hilfe, als du mich angegriffen hast?“
„Ich wusste nicht, dass du ein Freund bist. Du hättest einer von diesen Typen sein können. Wir hatten uns noch nicht kennengelernt. Doch ab sofort stehst du unter meinem Schutz, Max. Verlasse dich auf mich. Jederzeit!“ Der Vogel legte den Kopf schief. „Ich muss nun weiter Ausschau halten. Es sind Spione von diesem Devin unterwegs, um euch aufzuspüren. Außerdem warten wir Loreas darauf, dass bald jemand kommt, zu dem wir seit kurzer Zeit eine besondere Verbindung spüren.“
„Eine besondere Verbindung?“ Max runzelte die Stirn. „Was willst du damit andeuten, Goran? Meinst du etwa …“
Doch der Lorea antwortete nicht mehr. Er breitete die Flügel aus, flatterte mehrmals kräftig, drückte sich mit seinen Fängen vom Boden ab und erhob sich in die Luft. Noch eine Weile konnte Max das goldene Schimmern seiner Flügel sehen.
Dann war Goran am Horizont verschwunden.
„Bo! Bo! Bo!”
„Du schaffst das, Bo!”
„Go on. Los, Junge!”
„Du coole Socke, Bo!“
Bo hörte die Stimmen, sie erreichten seine Ohren, nicht aber sein Gehirn. Es war ein Gefühl, als würde er unter Wasser tauchen und nur von ferne registrieren, dass sich Menschen an der Oberfläche etwas zuriefen. Das hatte der junge Inuk bei seinen vielen Aufenthalten in verschiedenen Krankenhäusern gelernt. Er konnte Geräusche weitgehend ausblenden und sich nur auf sich selbst konzentrieren.
Mit starrem Blick wartete Bo auf den richtigen Moment, die Augen auf sein Ziel gerichtet, hinter dem Eisberge auf dem tiefschwarzen arktischen Meer schwammen. Vergängliche Skulpturen, manche riesig wie Hochhäuser, andere zart wie blau gefärbtes Glas, einige vom Wasser weich modelliert, wieder andere scharfkantig und gezackt wie die Klingen scharfer Messer. Verstecke für die zahlreichen Buckelwale, die zum Luftholen nach oben tauchten und kreisförmige Wellen hinterließen. Der Sommerhimmel, gezeichnet von zahlreichen Flugzeugen auf ihrem Weg von Europa nach Amerika und umgekehrt, schimmerte in Pastelltönen.
Vor Bo lag eine glatt gewalzte Laufstrecke von etwa fünfhundert Metern. Die Piste, die mitten durch den glitzernden Schnee führte, endete kurz vor dem Ufer, auf der anderen Seite der Bucht leuchteten riesige Gletscher.
Bo lächelte. Beinahe bis zum Ziel war seine Laufstrecke rechts und links eingerahmt von seinen Eltern und Geschwistern, anderen Familienmitgliedern, Freunden, Erzieherinnen, Lehrern, Nachbarn. Alle, die ihn kannten und mochten, waren gekommen, um Bo, der nach Jahren endlich wieder nach Hause gekommen war, laufen zu sehen.
Sogar die zwölf Schlittenhunde der Familie Larsen lagen wie hingemalt am Rand der Piste, allen voran Uki, Bos Sibirischer Husky, der ihn seit seiner Kindheit begleitete.
Manche, vor allem die älteren Bewohner seines Dorfes, hatten sich Stühle vor ihre Häuser gestellt, um zusehen zu können. Wäsche flatterte vor den Holzhütten, daneben trockneten Fische, Hunde dösten an ihren Ketten.
Bo kontrollierte seine Turnschuhe, beinahe ungläubig strich er erst über sein rechtes Bein bis hinunter zum Fuß, dann über das linke. Sie fühlten sich völlig identisch an, ohne jegliche Verkrümmung, ohne Fehlstellung. Bo lächelte.
„Ich habe es geschafft“, flüsterte er. „Ich wusste, dass ich es schaffe.“
Hinter ihm lagen Jahre voller Schmerzen. Mehrere Operationen waren nötig gewesen, um den Klumpfuß, der sich im Kindesalter ständig verschlimmert hatte, zu beheben. Wie oft hatten ihn die anderen Kinder gehänselt, wenn er über den Schnee gehumpelt war. Wie oft hatte Bo zusehen müssen, wie seine Geschwister mit dem Vater zum Beerenpflücken gegangen, zum Jagen oder zum Fischfang aufs Meer gefahren waren, während er zu Hause lag und vor Schmerzen wimmerte. Getröstet von Uki, der schwarz-weißen Hündin mit eisblauen Augen, die nie von seiner Seite wich.
Der Arzt, der nur viermal im Jahr in sein Dorf kam, hatte Bo schließlich für eine Operation vorgeschlagen. Für seine armen grönländischen Eltern war die Behandlung der Fehlstellung seines linken Fußes eine ungeheure finanzielle Herausforderung gewesen. Nur dank einer großen Spendensammlung im Freundeskreis und der regelmäßigen Zuwendungen eines unbekannten Gönners hatten sie es geschafft. Dieser Unbekannte hatte in einem Brief angekündigt, Bos Arztrechnungen zu übernehmen und auch später für seine Ausbildung zu sorgen. Dazu, so hatte es Bos Arzt arrangiert, musste Bo allerdings für lange Zeit weit weg von zu Hause und sich in einer Spezialklinik behandeln lassen. Von dort ging es dann zur medizinischen Rehabilitation.
Bo brauchte lange, um sich daran zu gewöhnen. Aber schließlich hatte er diese Monate und Jahre trotz seines Heimwehs sehr genossen. In der Reha hatte er rennen, boxen, fechten und sogar Gleitschirmfliegen gelernt und sich dabei immer weit mehr angestrengt als alle anderen Patienten. Er war nicht nur völlig gesund, sondern auch mutig, stark und selbstbewusst geworden und dafür war er dem unbekannten Geldgeber unglaublich dankbar. Die Arztrechnungen wurden pünktlich gezahlt. Was mit der Ankündigung seiner Ausbildung gemeint war, darüber hatte Bo nie nachgedacht. Er wollte nur problemlos laufen können.
Und jetzt war es so weit!
„Ich bin so stolz auf dich, Junge. Aus dir wird etwas ganz Besonderes, das habe ich immer gewusst.“
Bo spürte eine warme Hand auf seiner Schulter. Als er sich umdrehte, stand sein Vater Atli hinter ihm.
Bo grinste schief und drückte ihm flüchtig die Hand. Mehr Zärtlichkeit wäre zwischen den beiden unpassend gewesen.
„Darf ich das Zeichen geben?“, fragte Atli.
Bo nickte.
Wumm! Wumm!
Der Lärm, den die alte Pistole seines Vaters erzeugte, durchschnitt die Stille und unter dem Jubel der Zuschauer rannte Bo los. So wie er es inzwischen viele Male an einem weit entfernten Ort geübt hatte.
Aber jetzt lief er zu Hause. In seiner kleinen Siedlung in Grönland. In der tief gefrorenen Wunderwelt der Arktis. Über den Schnee, der unter seinen Turnschuhen glitzerte und knirschte. Bo fühlte sich so stark wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er lief problemlos an Freunden und Klassenkameraden vorbei, die ihm jetzt frenetisch applaudierten, statt ihn auszulachen. Unter den Augen seiner runzligen, uralten Großmutter, die man auf einen Schlitten gebettet hatte, damit sie ihren endlich gesunden Enkel sehen konnte.
Bo flog über den Schnee. Sein Körper war leicht, so leicht wie nie zuvor, seine Füße berührten nur flüchtig den Untergrund, bevor sie zum nächsten Schritt ausholten.
„Bo!“
„Du bist der Hammer!“
„Seht nur, wie er rennt!“
Jetzt ließ Bo es zu, dass ihn die Rufe der Menschen erreichten. Er wollte hören, was sie zu sagen hatten, wollte in ihrem Jubel baden.
Endlich. Endlich. Endlich.
Bo genoss jede Sekunde, jeden Tritt, jeden Meter.
Längst hatte er die letzten Häuser seines Dorfes hinter sich gelassen, als ihm ein Vogel auffiel, der knapp über ihm in der Luft immer wieder seinen Weg kreuzte. Bo rieb sich die Augen und überlegte fieberhaft. Dieser Vogel war ein … er war ein Papagei! Bo konnte es kaum fassen. Wie konnte das sein? Grönland war viel zu kalt für diese Art. Bo hörte auf einmal ein kurzes Pfeifen und …
Bo? Bo Skifte!
Was war das? Hatte jemand seinen Namen geflüstert? Unsinn! Das hatte er sich sicher nur eingebildet. Oder?
Bo beschleunigte seine Schritte und drehte sich abwechselnd nach links und rechts, wagte einen schnellen Schulterblick.
Bo!
Wieder dieses Flüstern, diesmal direkt über ihm. Als Bo nach oben blickte, flatterte da immer noch der Papagei. Jetzt zum Greifen nah.
Bo! Du sollst nach Whisperworld kommen! Du bist berufen.
Diesmal war sich Bo hundertprozentig sicher, dass der Papagei mit ihm sprach. Er sah, wie der Schnabel auf- und zuklappte. Das war unglaublich!
Mehr Zeit zum Nachdenken blieb Bo beim Laufen nicht, denn nun war die Strecke auch schon geschafft. Bo verlangsamte seine Schritte, schüttelte die Arme aus, ließ den Kopf kreisen und sah sich nach dem Papagei um. Doch der war verschwunden. Bo atmete tief ein und aus. Ob er das Ganze nur geträumt hatte?
Erschöpft ließ er sich auf die Knie fallen, griff sich rechts und links eine Portion Schnee, schloss die Augen und kühlte das Gesicht mit den eisigen Kristallen. Als er die Augen wieder öffnete, stand Uki vor ihm und winselte leise.
„Was ist, Uki, was hast du?“
Erst verstand Bo nicht, bis er den Zettel entdeckte, der unter Ukis Zuggeschirr klemmte. Der Inuitjunge zog einen Handschuh aus, fummelte das Papier aus dem Leder, rollte es auf, strich es glatt und las:
Bo starrte ungläubig auf den Zettel.
Sein größter Wunsch, seit er ein kleiner Junge war, sollte der tatsächlich in Erfüllung gehen?
Immer hatte er sich ausgemalt, ein Tierflüsterer in Whisperworld zu werden. Jeden Zeitungsartikel über das geheime Land am Ende der Welt und über die wichtige Arbeit für den Arten- und Tierschutz hatte er gelesen, ausgeschnitten und in eine Mappe gelegt. Zu dem Schreiben des unbekannten Gönners, der seine Arzt- und Krankenhausrechnungen bezahlt hatte. Und jetzt fügte sich alles zu einem Bild zusammen: Es musste jemand aus Whisperworld, jemand von der Schule der Tierflüsterer sein, der für ihn gesorgt hatte. Diese Person hatte auf ihn gewartet, die ganze Zeit über, hatte nie aufgegeben, an ihn zu glauben.
Bo fühlte sich mit einem Mal so selbstbewusst und cool wie nie zuvor. Ja! Er würde nach Whisperworld reisen und würde alle Strapazen überstehen. Er würde allen zeigen, dass er es wert war, an diesen wundervollen Ort zu kommen und an der Schule der Tierflüsterer zu lernen.
Er, Bo Skifte, war bereit!