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Warum fühle ich mich so überwältigt? Wieso habe ich diese peinliche Sache gesagt? Und bin ich eigentlich die Einzige, der es so geht? Angesichts eines noch nie dagewesenen Ausmaßes an Einsamkeit, Burnout und Stress in der Gesellschaft geht Gemma Styles der Frage nach, wie wir ticken, um die Herausforderungen des modernen Lebens besser verstehen und bewältigen zu können. Ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen mit psychischen Problemen und Neurodivergenz zeigt die Autorin Wege auf, wie wir uns hoffnungsvoller, verbundener und in Frieden mit uns selbst und anderen fühlen können. Dieses Buch regt zum Nachdenken an und macht Mut. Es richtet sich an alle, die überfordert sind, sich weniger wert fühlen oder das Gefühl haben, nicht dazuzugehören.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
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www.piper.de
Aus dem Englischen von Britta Fietzke und Katharina Herzberger
Gibt es keine deutschen Ausgaben der zitierten Werke, wurden die Zitate von den Übersetzerinnen ins Deutsche übertragen.
Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Why Am I Like This? bei Bantam, einem Imprint von Transworld. Transworld gehört zur Verlagsgruppe Penguin Random House.
© Rechteinhaberin Gemma Styles, 2024
Für die deutsche Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2024
Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München nach einem Entwurf von Beci Kelly/TW
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
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Cover & Impressum
Widmung
Motto
Einleitung
1 Was ist mit unserer neutralen Gesundheit passiert?
Wie hat sich unsere Einstellung zu psychischen Erkrankungen verändert?
»Ach, die und ihre mentale Gesundheit schon wieder«
Und was ist, wenn du ohne jeden Grund traurig bist?
Verschlechtert sich unsere mentale Gesundheit?
Das ist mehr als Ursache und Wirkung
Social Media: Hilfe oder Hindernis?
Warum verlassen wir uns bei Problemen auf Hilfe aus dem Internet?
Fühlen wir uns mit einer Diagnose besser?
Die Beziehung zwischen Psyche und Körper
Serotoninmangel …
Wo fangen wir an, um unsere mentale Gesundheit zu verbessern?
2 Warum sind wir so?
Eins dieser Tiere ist nicht wie die anderen
Eine Landkarte deines Gehirns
Warum entwickelt sich unser Gehirn so langsam?
Wie kam es dazu?
Gehirn für Anfänger:innen
86 Milliarden Neuronen
3 Was habe ich mir dabei nur gedacht?
Diese Stimme in deinem Kopf
Stell dir einen Apfel vor
Das Unterbewusstsein
Offene Tabs
Gewohnheiten
Warum wir Muster so lieben
Das Bias-Problem
Erzähl mir eine Geschichte
4 »Knowing Me, Knowing You«?
Die Dunbar-Zahl
Warum sind Beziehungen so wichtig?
Introvertiert und extrovertiert
Labels
Identität und Zugehörigkeit
Beziehungen
Parasoziale Beziehungen
Freundschaft
5 Warum verlieren wir uns in Vergleichen?
Die Vergleichskarotte
Der Rampenlichteffekt
Selbstbewusste Emotionen
Impostor-Syndrom
»Main character«-Energie
6 Verändern Social Media unser Gehirn?
Authentisch sein
Menschheit vs. »der Algorithmus«
Verbringen wir zu viel Zeit online?
Warum machen Social Media so süchtig?
Social Media und mentale Gesundheit
Sind wir chronisch online?
7 Warum kommen wir nicht miteinander klar?
Was ist Wut?
Ach, hallo noch mal, liebe Amygdala
Echokammern
Die Empathielücke
Polarisierung
Toxisch, ein Trigger oder doch nur ein »Das mag ich nicht«?
Auf welcher Seite stehst du?
Google das halt mal!
Warum bist du wirklich wütend?
8 Wie kann ich etwas bewirken?
Die Sauerstoffmasken-Theorie
Die Nachrichten und der Negativitätsbias
Hot Takes und spontane Reaktionen
Virtue Signalling und Slacktivism
Wo kann ich etwas bewirken?
Im Einklang mit deinen Werten leben
»Sei kein Arsch« – kann die Lösung denn so einfach sein?
Intellektuelle Demut
9 Kann ich mein Gehirn verändern?
Dein Gehirn aus Knetgummi
Mit Meditation zur Regulation
Shinrin Yoku
Power of Wow
Bitte kümmere dich gut um dein Gehirn
Schlusswort
Glossar
Danksagung
Anmerkungen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Literaturverzeichnis
Für alle Grübler:innen, die zu viel und zu wenig fühlen.
»Wir verstehen nicht einmal, wie das Gehirn eines Wurms funktioniert.«
Dr. Christof Koch, Chief Science Officer und Präsident des Allen Institute for Brain Science
Was stimmt nicht mit mir? Wie oft hast du dich das allein in der letzten Woche gefragt? Hast du deinen Kaffee auf dem Auto stehen lassen? Oder vergessen, jemandem zurückzuschreiben? Oder dir endlos den Kopf darüber zerbrochen, dass du dich und deine Gedanken nicht leiden kannst, dass du nicht magst, wie dein Hirn funktioniert?
Vielleicht denken manche von euch: »Wow, Gemma, das ist jetzt aber ein bisschen dramatisch« …, und manche von euch werden sich ertappt fühlen und sich wundern, woher ich das weiß. Wir sind alle anders! Das ist einfach so und sollte Grund zum Feiern sein, aber ob dich dein Hirn nun zum Verzweifeln bringt oder deine Neugierde weckt, ändert nichts daran, dass wir alle bei manchen Dingen ziemlich ähnlich ticken. Das besser zu verstehen, kann uns meiner Erfahrung nach sowohl ermächtigen als auch begeistern.
Sehr, sehr lange fühlte ich mich gefangen und eingeschränkt durch das, was in meinem Kopf vor sich ging. Ich verstand nicht, warum ich solche Schwierigkeiten hatte und alle anderen scheinbar problemlos weiterlebten, während ich schon bei der ersten Hürde innerlich scheiterte. Was für meine Gefühlslage schon immer den größten Unterschied gemacht hat, sind Informationen. Antworten. Für mich waren es vor allem Antworten auf Fragen zu schlechter mentaler Gesundheit oder, wie ich später herausfinden sollte, ADHS. Das hier ist kein Memoir, aber ich werde trotzdem über die Erfahrungen mit psychischen Problemen berichten, die ich seit meiner Jugend gemacht habe (insbesondere mit Depressionen und Angststörungen). So will ich dir meinen Hintergrund klarmachen, aber auch offen und ehrlich von etwas berichten, das viele Menschen in bestimmten Zeiten ihres Lebens durchmachen, und außerdem sollte man dort anfangen, wo man sich am besten auskennt. Vielleicht habe ich nicht genau dieselben Fragen wie du, aber unser aller Selbstgefühl hängt zutiefst davon ab, wie wir uns durch diese Welt bewegen, in der wir leben.
Natürlich werden wir immer auf Neues stoßen und nach weiteren Erklärungen für unsere Eigenarten suchen. Es bräuchte tausend Bücher, um jede kleinste Erfahrung jeder einzelnen Person zusammenzufassen. Vielleicht machen wir nicht genau dieselben Erfahrungen, aber ein paar haben wir alle gemeinsam. Wenn wir unser Weltverständnis so universell betrachten, kann es zu dem schönen Ergebnis führen, dass du Erkenntnisse über dich selbst auch auf andere anwenden kannst. Vielleicht frustrierst du dich selbst am meisten, vielleicht sind es aber auch andere Leute. Warum reagieren die denn so? Warum hören die mir nicht zu?
Aber anstatt vor den besonders ärgerlichen Angewohnheiten unserer Gehirne (und den entsprechenden Gefühlen) zu resignieren, will ich erklären, wie viel Methode doch im Wahnsinn steckt, und aufzeigen, dass wir manches ändern können. Dein Hirn arbeitet nicht gegen dich – auch wenn es sich so anfühlt –, sondern will dich oft beschützen. Unsere Welt hat sich rasant und umfassend verändert. Was uns heute bedrohlich oder einschüchternd erscheint, entspricht nicht mehr den Gefahren der Zeiten, in denen unser Evolutionstrieb darauf aus war, den lauernden Tiger vor der Höhle zu entdecken, aber das kann unsere Hirnchemie nur schwer unterscheiden.
Manche Leute verbringen ihr ganzes Leben damit, Neurowissenschaften, Psychologie und Anthropologie zu studieren, um Menschen besser zu verstehen. Ich bin keine Expertin auf diesen Feldern. Aber meiner Meinung nach muss man das auch nicht sein, um Informationen aufzunehmen und einen entscheidenden Aha-Moment zu haben, der irgendetwas bei dir klicken lässt. Ich liebe es wirklich, Informationen verständlich zu präsentieren (deshalb habe ich wahrscheinlich auch Naturwissenschaften auf Lehramt studiert). Es gibt viele Möglichkeiten, sich einen Zugang zu so großen und komplexen Themen zu verschaffen wie der Funktionsweise unseres Hirns und ihrem Einfluss auf uns. Mich verblüfft, frustriert und fasziniert es immer wieder, wenn ich mehr darüber lerne, wie wir ticken, und ich habe mittlerweile begriffen, dass es durchaus in unserer Macht liegt, uns selbst etwas besser zu verstehen. Und dabei mehr Mitgefühl für uns und unsere Mitmenschen zu entwickeln, was das Leben in dieser komplexen und herausfordernden Welt ein bisschen einfacher macht.
Ich werde in diesem Buch viel über mentale Gesundheit schreiben, über den Unterschied zu psychischen Krankheiten sowie über den Effekt des Lebens heutzutage, also Berichterstattung rund um die Uhr, Dopamin-Hits (im übertragenen Sinne) in unseren Hosentaschen und mehr Möglichkeiten denn je, uns mit anderen zu vergleichen. Ich will erkunden, was wir gemeinsam haben, anstatt tief in unsere individuelle Einzigartigkeit abzutauchen. Kennst du das, wenn du an einer Infografik vorbeiscrollst, die zufällig perfekt erklärt, was du gerade tust oder fühlst? Dieses Gefühl der Genugtuung, weil du dich selbst ein kleines bisschen besser verstehst? Dieses Buch soll dir genau das geben. Wenn du beim Lesen bisher nickst und diesen Frust über dein eigenes Hirn erkennst, dann wird hier hoffentlich noch einiges Hilfreiches folgen. Irgendwann verrennen wir uns alle mal und müssen uns gezwungenermaßen fragen: »Was stimmt nicht mit mir?«
Und was passiert, wenn wir die Antwort herausbekommen? Nur weil du weißt, warum du etwas tust, hält dich das nicht automatisch davon ab. Aber uns bewusst zu machen, was in unseren Köpfen vor sich geht, wozu wir neigen und wie wir evolutionsbedingt verdrahtet sind, kann dabei helfen, uns weniger über uns selbst zu ärgern, weniger Zeit zu verschwenden und einfach mit unserem Leben weiterzumachen.
Wie wir später noch besprechen werden: Wie soll man sich gegen jemanden behaupten, dessen Argumente man nicht kennt? Was sollen wir denn tun, wenn wir überhaupt nicht wissen, was da gerade vor sich geht, während unsere Hirne uns Eifersucht einflüstern, wieder auf eine schlechte Gewohnheit zurückgreifen oder eine peinliche Erinnerung in Endlosschleife abspielen? Dieses Gefühl, wenn du verzweifelt die Zähne zusammenbeißt und die Person, mit der du streitest, in deinem eigenen Kopf ist … ooooooje.
Aus eigener hart erkämpfter Erfahrung habe ich gelernt, was schlecht für deine mentale Gesundheit ist: nicht auf deiner Seite zu sein. Ich war so lange genervt von mir und habe mich gefragt, warum ich in alte Gewohnheiten oder Gedankenmuster verfalle, warum ich nicht so zurechtkomme, wie alle anderen es scheinbar tun, warum es mir so wichtig ist, was andere denken. Das ist anstrengend. Und mir ist klar geworden, dass all diese Tendenzen nicht ansatzweise so schlimm sind, wie sich deshalb selbst komisch zu finden und sich auch noch die Schuld daran zu geben. Ich will daher nicht, dass du deine Zeit weiterhin damit verschwendest!
Ich habe realisiert (durch jahrelanges Abmühen mit meinen eigenen Problemen), wie viel einfacher man seinen Alltag bewältigen kann, wenn man versteht, warum etwas passiert. Ganz einfach. Außerdem ist das – zumindest meiner Meinung nach, aber dich werde ich hoffentlich auch überzeugen können – wirklich spannend. Du musst kein Bio- oder Psychologie-Nerd sein, um Ehrfurcht und Begeisterung für diese großartigen Gehirne in unseren Köpfen empfinden zu können, die zu so vielen coolen Sachen fähig sind.
Genau das möchte ich hier mit dir teilen: eine Möglichkeit, einen Schritt zurückzutreten und anzuerkennen, wie kompliziert unsere Spezies ist, warum dem so ist und wie es zu unserem Überleben beigetragen hat. Ich will uns von dem Ärger und Frust befreien, den wir oft auf uns selbst richten, wenn wir wieder einmal wütend geworden sind, uns mit anderen vergleichen, uns betäubt fühlen von dieser wahnsinnig schnell fortschreitenden Welt – wenn wir diese Gefühle hinter uns lassen, benötigen wir weniger Energie für unsere inneren Kämpfe und haben mehr übrig für das, was wir dieser Welt geben möchten. Das könnte vielleicht heißen, dich für Veränderungen in unseren Communitys einzusetzen. Oder vielleicht, dich bei der Arbeit nicht mehr wie ein Impostor zu fühlen. Oder vielleicht einfach ein Safe Space für deine Freund:innen zu sein. Ich will dich in dem bestätigen, was dir schwerfällt. Dir Trost spenden, weil du nicht die einzige Person bist, der es so geht. Und dir, in all deiner wundervollen Unperfektheit, die Kraft zum Weitermachen geben.
Fangen wir mal mit dem Positiven an. In letzter Zeit hat sich der öffentliche Diskurs über mentale Gesundheit ganz offensichtlich verändert, wie die meisten sicher bestätigen würden. Früher war es eine ziemlich große Sache, wenn man darüber gesprochen hat, neuerdings Antidepressiva zu nehmen oder eine Panikattacke gehabt zu haben, und dem ist jetzt nicht mehr so. Offen über unsere mentale Gesundheit zu sprechen, ist sehr viel üblicher geworden, und das finde ich persönlich wunderbar.
Aber ist es dasselbe, über mentale Gesundheit und psychische Erkrankungen zu sprechen? Sind Probleme mit der mentalen Gesundheit und psychische Erkrankungen heutzutage häufiger, oder entsteht dieser Eindruck nur, weil wir mehr darüber hören, sich die Diskussion weiter öffnet und das Stigma verblasst? Und auch wenn es super ist, offen über mögliche Probleme in unseren Hirnen zu sprechen, was passiert danach? In einer idealen Welt könnten wir alle entsprechenden Expert:innen konsultieren, wenn wir sie brauchen, aber das ist nicht immer allen möglich – wegen der Unterfinanzierung des öffentlichen Gesundheitswesens und unerschwinglicher Privatbehandlungen sowie einer Nachfrage, die das Angebot an ausgebildeten Ohren weit übersteigt. Und sind die Labels, die diese Profis unseren Symptomen verpassen, wirklich immer hilfreich, oder gibt es auch so etwas wie zu viele Diagnosen und zu viel Aufklärung über mentale Gesundheit? Wie können wir aus unseren Hirnen schlau werden, wenn wir in Schwierigkeiten geraten, und verstehen, was da oben eigentlich los ist?
Ich warne euch vor: In diesem Kapitel werde ich am meisten über Depressionen und Angststörungen reden, einfach weil ich beides persönlich erlebt habe. Natürlich gibt es auch andere psychische Erkrankungen, das ist mir bewusst, aber weil diese beiden am häufigsten auftreten, hoffe ich, zumindest einige von euch werden sich mit meinen Erfahrungen identifizieren können. Die Einzelheiten meiner schlimmsten Zeiten sind mittlerweile verschwommen, aber schwere Depressionen und Selbstmordgedanken haben bei mir definitiv nachhaltige Spuren hinterlassen. Das soll nicht heißen, dass ich vermute, bald wieder an diese mentalen Orte zurückzukehren. Stattdessen weiß ich es jetzt dauerhaft zu schätzen, wenn ich mich gut und glücklich fühle – und habe tiefstes, schwerwiegendes Mitgefühl für diejenigen, die gerade mittendrin stecken.
Glücklicherweise geht es mir (während ich dieses Buch schreibe) besser als zu anderen Zeiten meines Lebens, was wiederum bedeutet, dass es mir leichter fällt, über mentale Gesundheit im Allgemeinen zu reden und mich an schwerere Zeiten zu erinnern. Wie erwähnt hatte ich als Jugendliche immer wieder Probleme mit meiner mentalen Gesundheit. In diesen frühen Jahren war meine Angststörung das Hauptproblem, oft wegen erwartbarer Stressfaktoren wie Prüfungen, aber seitdem habe ich viele Erfahrungen gesammelt und kann rückblickend sagen, dass ich mich schon damals in ein ungesundes Territorium begab.
An der Uni litt ich vor allem an Depressionen. Ich ging deshalb relativ zeitnah zu meiner Hausarztpraxis, aber dort riet man mir vor allem zu Selbsthilfebüchern und Gruppentherapie, in der ich mich über den Druck des Unilebens austauschen sollte – beides half nicht viel und passte leider nicht zu der Person, die ich damals war. Auch wenn es anders scheinen mag, da ich schließlich gerade in einem Buch über meine mentale Gesundheit schreibe, bin ich eine sehr private Person. Ich weiß zwar, wie unglaublich hilfreich Gruppentherapie oder Gesprächsrunden für andere sein können, aber meins waren sie einfach nicht, weil ich solche Themen nicht mit Fremden besprechen wollte, die ich später vielleicht bei einer Uni-Veranstaltung wiedertreffen würde. Sehr lange war mir auch sehr genau bewusst, dass manche Menschen in der Außenwelt ein, sagen wir mal, wirklich großes Interesse an Geschichten über mein Leben, meine Kindheit oder meine Familie haben könnten, und weil ich diese Menschen und ihre Privatsphäre aufs Äußerste beschützen wollte, war ich entsprechend abgeneigt, so persönliche Informationen mit Außenstehenden zu teilen. Diese Sorge hielt mich auch jahrelang davon ab, mir einen Therapeuten oder eine Therapeutin zu suchen, obwohl dies später die beste Entscheidung war, die ich hätte treffen können. Wenn es dir also genauso geht und du nicht mit Fremden über deine Probleme sprechen möchtest, könnte es viel angenehmer sein, als du denkst, dich mit einem passenden Therapeuten oder einer passenden Therapeutin zu treffen. Lerne aus meinen Fehlern.
Aber bevor es bei mir besser wurde, wurde es leider schlechter. Zunächst hatte ich nur leichte Depressionssymptome, die am Ende der Schulzeit und mit Anfang zwanzig zu ziemlich heftigen depressiven Phasen wurden. Manchmal fühlte ich mich so leer, auch wenn ich keinen Grund dafür wusste. Geschahen traurige Dinge, nutzte ich sie als Entschuldigung, weil es dann zumindest Sinn ergab, dass ich mich so schrecklich fühlte. In den schlimmsten Untiefen wollte ich zwar nicht sterben … aber ich wollte so sehr raus aus dem, was aus meinem Leben geworden war, dass es auf dasselbe hinauslief. Zum Glück bemerkte ich diese Gedanken, die mich so schockierten und verängstigten, dass ich mir Hilfe suchte. Ohne die richtigen Freund:innen zur richtigen Zeit hätte mir dazu allerdings die Kraft gefehlt. Dass andere Menschen solche Tiefpunkte ohne die Rettungsanker erleben, die mir zur Verfügung standen, macht mich wirklich traurig und verstärkt nur meine Leidenschaft für das Thema mentale Gesundheit und die entsprechende Vorsorge.
In dieser Zeit war nicht alles immer schlimm. Manchmal ging es mir eine Weile besser, nur damit mir ein neues Tief ohne Vorwarnung entgegenschlug oder sich langsam anschlich, während ich es gelegentlich aus dem Augenwinkel erspähte. Manchmal dachte ich, mir ginge es gut und ich könne mein Leben genießen, obwohl ich mich eigentlich nur selbst ablenkte und davonrannte. Und, wie es so oft der Fall ist, haben einige Menschen sicher überhaupt nichts bemerkt. Und trotzdem fühlte es sich sehr lange an, als sei mein Erwachsenenleben übersät von Narben und Rissen, weil es so leer, traurig und wertlos war. Depressionen sind so grausam, weil man sich wegen ihnen substanzlos und verzweifelt fühlt, gleichzeitig aber auch, als sei man selbst daran schuld, als habe man sein Leben einfach nicht gut genug gelebt und finde jetzt nicht mehr zurück auf den Pfad, der an diesen elenden Ort geführt hat.
Die meiste Zeit meines Lebens war ich davon überzeugt, dass ich immer zumindest etwas depressiv sein würde. Selbst mit Medikamenten oder Therapie, selbst wenn es eigentlich ganz gut lief und viele schöne Momente gab, hielt ich mich nicht für eine glückliche Person oder eine, die ihr Leben im Alltag genießen können würde. Seit bei mir mit Anfang dreißig ADHS diagnostiziert wurde, erkenne ich, wie einige dieser anhaltenden Symptome – dass ich mich nur schwer motivieren oder Freundschaften nur schwer aufrechterhalten kann – auch von ADHS stammen könnten und nicht von der Depression, wie ich (vernünftigerweise, eigentlich) angenommen hatte.
Neurodivergenz und psychische Erkrankungen trifft man oft gemeinsam an; dabei spricht man auch von Komorbidität, wenn also unterschiedliche Krankheiten gemeinsam auftreten. Ist man neurodivergent, heißt das nicht automatisch, dass man auch Probleme mit der mentalen Gesundheit hat, aber realistisch gesehen kann eine Existenz in einer neurotypischen Gesellschaft, in der man sich von den meisten Menschen unterscheidet, auch emotionale Konsequenzen mit sich ziehen, die zu Symptomen psychischer Erkrankungen führen. Für die »Alle haben plötzlich ADHS«-Brigade sollten wir festhalten, dass das National Institute for Health and Care Excellence (NICE) und dementsprechend auch der britische National Health Service (NHS) bis 2008 ADHS bei Erwachsenen nicht einmal anerkannte und 2018 sogar die eigenen Richtlinien aktualisierte, um die chronische Unterdiagnose von Frauen und Mädchen aufzuzeigen.[1] Es stimmt also nicht, dass alle plötzlich beschlossen haben, ADHS zu bekommen, sondern es stattdessen schon immer hatten und wir mit einem riesigen Rückstau an Menschen umgehen müssen, die nicht an Unterstützung oder eine Behandlung herankommen. Ich mag wie eine Straßenrednerin klingen, aber gerade weil es mich persönlich betrifft, ärgern mich Kommentare und Nachrichten von Menschen, für die zwar überhaupt nichts auf dem Spiel steht, die uns aber erklären wollen, wie »trendy« Neurodivergenz jetzt ist. Frauen wie ich, die laut Statistik eher später diagnostiziert werden als andere Gruppen, haben oft über Jahre erfolglos versucht, mit den Symptomen einer Krankheit umzugehen, die sie vor der Diagnose überhaupt nicht kannten. Und ganz offensichtlich hat dieser »Sich wie eine Versagerin fühlen«-Kreislauf einen großen Einfluss auf das eigene Selbstbewusstsein und den mentalen Zustand. Ich konzentriere mich hier auf ADHS, weil ich deren Verbindung zu psychischen Erkrankungen persönlich erlebt habe, aber andere neurodivergente Diagnosen wie Autismus, Tourette oder Dyslexie sind genauso herausfordernd und können die mentale Gesundheit der Betroffenen durchaus beeinflussen – auch wenn es sich dabei nicht um psychische Erkrankungen handelt.
Mit all dem will ich sagen, dass ich zwar schon einen langen Weg der Erkenntnis zu meinen eigenen mentalen Gesundheitsproblemen hinter mir habe, die wahrscheinlich am weniger heiklen Ende der Skala liegen, aber trotzdem noch viele Fragen habe und viele Verbindungen bislang nicht klären konnte. Zum Beispiel, warum ich überhaupt an einer Angststörung und Depressionen gelitten habe. Gibt es da einen Zusammenhang? Hat meine ADHS sie verursacht oder nur angestachelt? Warum haben manche Medikamente geholfen und andere nicht? Vielleicht wünschen wir uns zwar, dass man psychische Erkrankungen einfach mit einem Messwert und einer verschriebenen Pille behandeln könnte, die diesen Messwert dann in Richtung Sonne und Regenbogen verschiebt, aber leider (und eigentlich ist das auch ziemlich schön) funktionieren unsere Gehirne nicht so, sondern sind sehr viel komplexer.
Ich wurde schon oft gefragt, wann und wieso ich mich dazu entschieden habe, online über mentale Gesundheit zu sprechen, aber darauf habe ich keine klare Antwort. Ich erinnere mich an keine wegweisende Entscheidung, die mein Leben in ein Vorher und ein Nachher teilt. Ich glaube nicht, dass es je einen Post gab, in dem ich »ausgepackt« oder eine Einführung zum Thema meiner mentalen Gesundheit geschrieben habe. Soweit ich mich erinnere, tröpfelte es eher vor sich hin – hier mal die Angststörung erwähnen, da mal ein Depressions-Meme teilen. Wie bei den meisten Dingen auf Social Media formen diese kleinen Schnipsel, die wir ganz bewusst teilen, egal wie spontan oder durchdacht, ein öffentliches Bild von uns. Und so wurde ich nach und nach bekannt als Person, die offen über mentale Gesundheit spricht. Das macht mich stolz.
Davon abgesehen ist mir bewusst, dass meine Erkrankungen, jetzige oder vergangene, am geläufigeren und eher »akzeptablen« Ende des Spektrums liegen. Akzeptabel steht extra in Anführungszeichen, weil ich damit ausdrücken will, inwiefern sie von dem Großteil der Gesellschaft toleriert werden. Anders gesagt: Wie Menschen reagieren, wenn ich über meine Erfahrungen mit Angststörungen und Depressionen rede, ist ein Kinderspiel im Vergleich zu dem, was Menschen mit stärkeren oder missverstandenen Erkrankungen erleben. Ganz eigene Herausforderungen bergen zum Beispiel die bipolare Störung, posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) oder Zwangsstörung (also obsessive-compulsive disorder bzw. OCD). Das reicht von einem generellen Nichtwissen über ihre Existenz, Klischees über Betroffene bis zu vereinfachten, verfremdeten Vorstellungen über ihre Auswirkungen. (Bitte sage nicht, dass jemand »bestimmt ein bisschen OCD hat«, weil er gerne Ordnung in seiner Wohnung hält.)
Jede Woche erleben in England achthundert Personen eine Mischung aus Angststörungen und Depressionen, während eine bipolare Störung nur zwei von hundert Personen in ihrem gesamten Leben betrifft. Psychotische Störungen wie Schizophrenie betreffen jedes Jahr weniger als eine von hundert Personen.[2] Es ist also verständlich und, einfach gesagt, statistisch wahrscheinlicher, dass wir eher eine geläufigere Krankheit erlebt oder mitbekommen haben, aber trotzdem sollten wir auch diese selteneren Störungen ganz bewusst auf dem Schirm haben.
Versteh mich nicht falsch, natürlich gibt es immer noch genug Personen, die Depressionen und Angststörungen nicht ernst nehmen. Aus meiner Sicht ist es unmöglich, das Konzept individueller mentaler Gesundheit anzuzweifeln. Wenn du die Realität von mentaler Gesundheit oder mentalen Gesundheitsproblemen anzweifelst, verstehst du sie nicht. Wie den Klimawandel. Du kannst das Problem der globalen Erderwärmung so skeptisch sehen, wie du willst, aber Wissenschaft bleibt Wissenschaft, und die Polarkappen schmelzen. Und trotzdem gibt es leider immer noch viele Menschen, die sich ganz bewusst nicht informieren und keinerlei Mitgefühl haben. In ihren langweiligsten, müdesten Tiraden erzählen uns diese kritischen und/oder respektlosen Leute, dass gerade die jüngeren Generationen einfach zu sensibel sind, vollkommen selbstbesessen, und dass sie zu schnell Diagnosen hinterherrennen. Jegliche Snowflake-Hater, die dieses Buch aus Versehen in die Hand genommen haben, haben es sicher schon lange beiseitegelegt. (Hoffentlich sind sie ohne mich glücklicher.) Wenn wir positive Mental-Health-Spaces verlassen, können wir nur zu schnell daran erinnert werden, dass jahrelange Aufklärungskampagnen und Gesprächsaufforderungen nicht alle erreicht haben. Und selbst dort, wo man schon mehr über psychische Erkrankungen weiß, herrscht nicht automatisch Mitgefühl und Verständnis für alle Communitys oder für alle Betroffenen.
Was genau entspricht jetzt also der Wahrheit? Kann man die öffentliche Meinung zu psychischen Erkrankungen irgendwie messen? Na ja, 2019 führte The Harris Poll im Auftrag der American Psychological Association eine Studie in den USA durch, bei der 87 Prozent aller Teilnehmer:innen teilweise oder stark zustimmten, dass man »sich für eine psychische Erkrankung nicht schämen muss«. Wie ermutigend! Allerdings stimmten in derselben Studie 86 Prozent, also beinahe genauso viele Teilnehmer:innen zu, dass »der Begriff ›psychische Erkrankung‹ stigmatisiert ist«[3].
Hmmm … okay. Natürlich könnte es sein, dass die Teilnehmer:innen die Existenz der Stigmata anerkennen, selbst aber nicht daran glauben (auch wenn die erste Antwort dafür spricht, dass dieses Stigma sehr viel weniger geläufig sein sollte, als sie annehmen). Aber mich verblüffen diese Zahlen immer noch, wo sich doch so viele dafür aussprechen, die Scham von psychischen Erkrankungen hinter sich zu lassen. Ist es dann etwa nur ein kleiner Anteil hartnäckiger Verweigerer:innen, die für alle Probleme verantwortlich sind? Vielleiiiicht. Aber wahrscheinlicher erscheint es mir, dass uns hier die große Lücke aufgezeigt wird, die zwischen oberflächlichem Wissen beziehungsweise Akzeptanz von psychischen Erkrankungen und tatsächlicher Unterstützung oder Toleranz von Betroffenen herrscht.
Auch wenn wir rational anerkennen können, wie unfair die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen ist, leben wir nicht in einer perfekten Welt, weshalb die Stigmata trotzdem oft vorherrschen. Im Abstrakten haben Menschen mehr Verständnis für Depressionen, aber das kann sich schnell ändern, wenn sie die realen Auswirkungen der Symptome eines oder einer Betroffenen spüren. Wir mögen Angststörungen langsam verstehen, haben aber trotzdem Vorurteile gegenüber Menschen mit Schizophrenie oder Zwangsstörungen. Ich werde gleich noch mal darauf zurückkommen, aber wenn wir eine einheitliche Lösung für alle psychischen Erkrankungen suchen, führt das genau zu diesen Momenten, in denen man nur den Kopf schütteln kann, weil dieses Thema viel zu komplex ist, um es mit nur einer Frage zu behandeln.
Dass wir noch einen langen Weg vor uns haben, wenn es um bedeutende Aufklärung und Akzeptanz psychischer Erkrankungen geht, zeigt sich daran, wie wir über mentale Gesundheit und psychische Erkrankungen reden. Mittlerweile werden diese beiden Begriffe im Mainstream beinahe synonym verwendet. Auch wenn Mainstream-Diskussionen über mentale Gesundheit durchaus ein Grund zum Feiern sind, stoßen wir hier auf ein Problem, da die Vermischung dieser Begriffe uns unserem eigentlichen Ziel nicht näherbringt: dass alle besser auf sich selbst achten. Du hast bestimmt auch schon mitbekommen, wie jemand leichtfertig sagt: »Ach, die und ihre mentale Gesundheit schon wieder«, wenn jemand aktuell keine gute Zeit hat. (Wenn du jetzt schon denkst: »Na ja, man sollte lieber über ›Probleme mit der mentalen Gesundheit‹ sprechen«, kriegst du ein Sternchen.) Es gibt jede Menge Gründe, warum dieser Ton oft, sagen wir mal, nicht ganz passt … aber schauen wir uns nur die beiden bedeutendsten an.
Zuerst einmal haben alle eine mentale Gesundheit. Ganz egal, ob dein mentaler Zustand gerade gut, schlecht oder irgendwo dazwischen ist, gehen wir alle mit Gefühlen und Gedanken durchs Leben und können mal besser, mal schlechter mit den Höhen und Tiefen umgehen, denen wir begegnen. Den Begriff »mentale Gesundheit« als Diagnose zu verwenden, also als etwas, das manche Menschen negativ erfahren und andere gar nicht beeinflusst, das wird keinem gerecht. So verleiten und ermutigen wir niemanden dazu, sich dieses Zustands bewusst zu werden – und erst recht nicht dazu, das Leid anderer zu bemerken oder ihr eigenes Leben schrittweise zu verbessern.
Zweitens sollten wir unsere Mitmenschen nicht vage mit »Ach, die und ihre mentale Gesundheit« beschreiben, denn so blicken wir auf »uns vs. die anderen« und erkennen nicht an, dass alle im Laufe ihres Lebens Hoch- und Tiefphasen durchlaufen. Außerdem ist eine Phase schlechter mentaler Gesundheit für die meisten Personen genau das: eine bestimmte Zeit ihres Lebens, die nicht für immer andauert. Wenn jemand »schon wieder was mit der mentalen Gesundheit hat« (auch wenn wir das alle haben, siehe oben!), scheint das viel schwerwiegender zu sein, als wenn jemand »eine Erkältung hat« – dabei kann eine Phase schlechter mentaler Gesundheit für viele auch nur ein kurzfristiger und heilbarer Zustand sein. Zugegebenermaßen geht die Erkältung wahrscheinlich schneller vorüber, aber solange wir noch in einer Welt leben, in der psychische Erkrankungen so stark stigmatisiert werden, sollten wir nicht so tun, als leide man für immer, wenn man einmal über seine Struggles gesprochen hat. Das entspricht höchstwahrscheinlich nicht der Wahrheit und trägt nur zu den Vorurteilen bei, die Menschen davon abhalten, sich überhaupt Hilfe zu suchen.
Einen weiteren wichtigen Punkt sollten wir im Kopf behalten, denn laut American Psychiatric Association »[sind] psychische Erkrankungen Gesundheitszustände, die mit Veränderungen der Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen (auch in Kombination) einhergehen. Psychische Erkrankungen können mit Nöten und/oder Problemen beim Agieren im sozialen, familiären und beruflichen Kontext zusammenhängen«[4]. Anders gesagt: Sie umfassen einen ziemlich großen Bereich. Eine Person, die vorübergehend eine moderate Angststörung verspürt, erlebt das anders als jemand mit einer schweren, lebenslangen Krankheit und muss entsprechend anders unterstützt werden. Und ich hoffe doch sehr, dass es uns immer um Hilfe und Unterstützung geht, wenn wir über Betroffene von psychischen Erkrankungen reden! Einige der breit gefassten Definitionen psychischer Erkrankungen umfassen affektive Störungen (wie Depressionen), Angststörungen, psychotische Störungen (wie Schizophrenie), traumabedingte Störungen, Suchterkrankungen und Essstörungen. Damit ist noch nicht alles aufgezählt, zeigt aber hoffentlich, wie unnütz es ist, mit sehr vereinfachten Begriffen über mentale Gesundheit zu reden.
Tatsächlich kann es selbst für die Offensten und Willigsten schwer zu verstehen sein, wie hochgradig individuell sich mentale Gesundheit bei jedem einzelnen Menschen gestaltet. Eine Personengruppe mit derselben psychischen Erkrankung ist keine Einheit, und selbst wenn wir nur eine Person betrachten, kann sich der Grad der Erkrankung von Tag zu Tag ändern.
Das National Institute for Health and Care Excellence in Großbritannien beschreibt es wie folgt:
Bei einemmildenpsychischen Gesundheitsproblem erlebt eine Person nur eine geringe Anzahl an Symptomen, die den Alltag kaum einschränken.
Bei einemmoderatenpsychischen Gesundheitsproblem erlebt eine Person mehr Symptome, die ihren Alltag sehr viel schwerer machen als üblich.
Bei einemschwerenpsychischen Gesundheitsproblem erlebt eine Person viele Symptome, die ihren Alltag extrem schwer machen.
Eine Person kann zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Erkrankungsgrade erleben.[5]
Depressionen sind vielleicht das bekannteste Beispiel einer psychischen Erkrankung, die bei einem Individuum zwischen den oben definierten Kategorien wechseln kann. Wer langfristig Depressionen hat, erlebt die Symptome meist zyklisch und kann sich je nach Woche, Monat oder Jahr besser oder schlechter fühlen. Wenn wir anerkennen, dass die Auswirkungen dieser Krankheiten variieren, können wir den Betroffenen besser entgegenkommen und sie unterstützen. Wenn wir diese Menschen sehen, wie sie sind, anstatt sie auf ein starres Bild aus ihrer schlimmsten oder besten Zeit zu reduzieren, können wir ihnen besser zuhören und sie besser unterstützen. Selbst diese kleine Nuance kann unsere Diskussion psychischer Erkrankungen voranbringen und sicherstellen, dass wir tatsächlich den Unterschied zwischen psychischen Erkrankungen und der allgemeinen Pflege unserer mentalen Gesundheit erkennen, ganz egal, ob wir akut in Not sind oder nicht.
Wir wissen definitiv schon einiges über die Ursachen schlechter mentaler Gesundheit, denn eine Vielzahl an Faktoren trägt dazu bei, ob jemand von einer psychischen Erkrankung betroffen ist oder nicht. Diese Liste der Wohltätigkeitsorganisation Mind, die sich für mentale Gesundheit einsetzt, führt viele beteiligte Faktoren auf:
Die verwirrende und herausfordernde Realität für die meisten Betroffenen von psychischen Erkrankungen ist leider, dass sie sich auf dieser Liste nicht wiederfinden würden. Wie wir mittlerweile hoffentlich alle wissen, differenzieren mentale Gesundheitsprobleme nicht, weshalb jede Menge Menschen sowohl von außen als auch von sich selbst betrachtet so wirken, als wären sie in einer guten Lage und hätten »keinen Grund zum Traurigsein«. So funktioniert das allerdings nicht, was uns zur Gegenüberstellung von situativer Depression versus klinischer Depression bringt.
Keine von beiden ist realer oder ernster als die andere, aber wenn du verstehen kannst, mit welcher du es zu tun hast, vereinfacht es die Wahl der bestmöglichen Behandlung. Die situative Depression ist auch als »depressive Anpassungsstörung«[7] bekannt und entsteht eher durch eine Veränderung oder eine traumatische Erfahrung im Leben der betroffenen Person. Die klinische Depression ist auch als »schwere depressive Episode« bekannt und gilt offiziell als affektive Störung.[8] Eine situative Depression ist höchstwahrscheinlich nur vorübergehend und kann auch ohne Behandlung verschwinden, ist das allerdings nicht der Fall und sie wird nicht adäquat behandelt, kann daraus eine klinische Depression werden, die üblicherweise schwerer ist.
Weltweit kommt Depression bei Frauen 1,7-mal häufiger vor als bei Männern. Auch wenn viele Faktoren zu dieser Statistik beitragen mögen, beispielweise wegen der genderspezifischen Unterschiede bei Missbrauch, Bildung und Einkommen (a. k. a. der Gender Pay Gap), hat man ähnliche Verhältnisse sowohl weltweit als auch in stärker entwickelten Ländern beobachtet, wo diese sozioökonomischen Faktoren eine eher geringere Rolle spielen. Anders gesagt, scheint es keinen großen Unterschied zu machen, ob wir auf Länder schauen, wo Frauen insgesamt spürbar niedriger gestellt sind als Männer, oder auf Länder mit einem höheren Grad an Gleichberechtigung. Das scheint auf eine biologische Erklärung für die höheren Fallzahlen von Depressionen bei Frauen und Mädchen hinzuweisen.
Es ist besonders wichtig, hier die Mädchen hervorzuheben. Laut der Global Burden of Disease Study (»Weltweite Studie zur Krankheitslast«) aus dem Jahr 2010 haben junge Frauen ab der Pubertät ein höheres Risiko, an schweren Depressionen und psychischen Störungen zu erkranken als alle anderen Gesellschaftsgruppen weltweit. Im Alter von 14 bis 25 kommen Depressionen bei jungen Frauen doppelt so häufig vor wie bei jungen Männern – auch wenn sich diese Unterschiede im Alter verringern[9]. Ab 65 sinken die Depressionszahlen für alle, und die genderspezifischen Unterschiede gleichen sich aus.[10]
In Anbetracht dieser Zahlen könnte man meinen, dass die Behandlung von Depressionen insbesondere bei Frauen stärker im Vordergrund stehen würde. Vor der Pubertät sind die Fallzahlen bei Jungen und Mädchen ähnlich, aber die pubertären Hormonschwankungen scheinen einen riesigen Einfluss auf die mentale Gesundheit zu haben. Das zeigt sich auch an anderen Stellen, denn höhere Depressionszahlen bei Frauen sieht man konstant, wenn sie Zeiten hormoneller Veränderungen durchlaufen, also vor dem Zyklus, nach der Schwangerschaft und während der Perimenopause. Allerdings (und das ist leider richtig nervig) fokussieren sich viele Studien eher auf männliche Testpersonen, um Verhaltensänderungen auszuschließen, die mit dem Menstruationszyklus zusammenhängen könnten.
Das heißt nicht, wir sollten einfach akzeptieren, dass man als Frau ein größeres Risiko hat, an depressiven Erkrankungen zu leiden, und weitermachen. Stattdessen ist es eher frustrierend, auf mögliche hormonelle Faktoren hinzuweisen, weil die Gesellschaft sehr lange scheinbar nichts anderes getan hat. »Ach, Hormone – was willste machen? Schon mal die Pille probiert?« Aber wenn wir über Traurigkeit ohne konkrete Gründe sprechen, könnten Hormone für viele junge Frauen ein fehlendes Teil des Puzzles sein, das oft nicht als legitim anerkannt wird. Statt uns ernst zu nehmen und uns mit Mitgefühl zu begegnen, müssen wir uns oft reduktiven und abweisenden Reaktionen stellen. Hoffentlich können belastbare Daten über die Verbreitung psychischer Gesundheitsprobleme in dieser demografischen Gruppe für junge Frauen einstehen, die sonst so oft für ihre Gefühle belächelt werden.
Sind psychische Erkrankungen dieser Tage also wirklich weiter verbreitet, einerseits unter jungen Menschen, aber auch allgemein? Die Daten bieten eine einfache Antwort: Ja. Laut der Health Foundation sind die Zahlen psychischer Erkrankungen bei Kindern angestiegen, 2021 betreffen sie eines von sechs Kindern, 2017 war noch eins von neun Kindern betroffen.[11] (Natürlich tragen eine Vielzahl möglicher Faktoren zur Verschlechterung der mentalen Gesundheit bei jungen Menschen bei, und uns bleiben nicht genug Seiten, um sie alle zu beleuchten, aber wir werden uns später noch mit Social Media beschäftigen, weil das besonders relevant ist.) Dieser Anstieg ist alarmierend, insbesondere bei der jungen Bevölkerung, er spiegelt sich aber auch in der Datenlage für weitere demografische Gruppen. Laut Weltgesundheitsorganisation steigen psychische Gesundheitsleiden sogar weltweit, nämlich gemeinsam mit Substanzgebrauchsstörungen um ganze 13 Prozent zwischen 2007 und 2017 – auch wenn man festgestellt hat, dass dies vor allem am demografischen Wandel liegt.[12]
Wenn wir auf den demografischen Wandel verweisen, bedeutet das also, dass die heutige Lebensweise, im Vergleich zu früheren Zeiten, mit den höheren Fallzahlen psychischer Erkrankungen zusammenhängt. Bei einer Studie zur Selbsteinschätzung der mentalen Gesundheitsprobleme konnten Wissenschaftler:innen in Estland 2021 aufzeigen, dass Stress, Depressionen, Übermüdung und Selbstmordgedanken eindeutig mit dem Gefälle sozioökonomischer Rahmenbedingungen zusammenhängen.[13] Ein geringeres Einkommen hing mit höheren Fallzahlen all der psychischen Gesundheitsbeschwerden zusammen, die in der Studie abgefragt wurden. Ein niedrigeres Bildungsniveau ließ sich mit gesteigertem Vorkommen von Depressivität in Verbindung bringen, und geringere berufliche Fähigkeiten prognostizierten eine höhere Wahrscheinlichkeit, Selbstmordgedanken zu entwickeln. Interessanterweise berichteten eher jüngere als ältere (50- bis 64-jährige) Menschen von allen genannten psychischen Gesundheitsbeschwerden, genauso Singles (also Personen, die weder verheiratet sind noch einen Partner oder eine Partnerin haben).
Ein einfacher Blick auf diese Ergebnisse reicht aus, um zu erkennen, wie solche Muster zustande kommen. Es ist gut dokumentiert, dass sich jüngere Generationen heutzutage in einer völlig anderen Position befinden als vorherige Generationen, was die Lebenshaltungskosten und -standards angeht. Selbst vor der heftigen Lebenshaltungskostenkrise ab dem Jahr 2021 hatten sich beispielsweise die Verhältnisse von Durchschnittsgehältern und Mietkosten beziehungsweise Immobilienpreisen schon jahrzehntelang verschoben. Und das kann man definitiv nicht auf eine gestiegene Vorliebe für Avocadotoasts in überteuerten Cafés schieben. Weil reduzierte Einkommen mit psychischen Erkrankungen zusammenhängen, ist die Annahme durchaus vertretbar, dass es für Singles eine zusätzliche Stressquelle ist, alleine für die Haushaltskosten und anderes aufzukommen – manche von ihnen mögen sogar Alleinerziehende sein, was die finanzielle Last nur verstärkt.
Also ja, es stimmt, die Datenlage beweist, dass psychische Gesundheitsprobleme häufiger auftreten als früher, und die Gründe dafür sind zahlreich, komplex und lassen sich nicht einfach lösen. Aber auch die öffentliche Wahrnehmung und Akzeptanz haben sich verändert, zumindest insofern, dass mehr von uns offen über ihre psychischen Erkrankungen sprechen. Gemeinsam verstärken diese Tatsachen unsere Einschätzung der Zahlen: Wenn tatsächlich mehr Leute diese Probleme haben und sich ein größerer Anteil von ihnen freiwillig dazu äußert, wirkt es für Außenstehende verständlicherweise so, als seien die Fallzahlen von psychischen Erkrankungen in kurzer Zeit dramatisch angestiegen.
Dies alles hilft uns zu verstehen, warum wir scheinbar einfache Daten und Clickbait-Headlines über mentale Gesundheit hinterfragen sollten (und übrigens auch vieles andere). Schön und gut, über die gestiegene Wahrscheinlichkeit zu berichten, mit der junge Menschen psychische Gesundheitsprobleme erleben, aber dabei müssen wir auch in Betracht ziehen, wie völlig anders die Welt ist, in der diese Menschen aufwachsen, und wie schwer das heutige Leben ist, auch wenn sich vieles zum Positiven gewandelt hat. In einem Kapitel über mentale Gesundheit in einem Buch mit dem Titel Why am I like this? finde ich es besonders wichtig, hier einen Augenblick innezuhalten. Wenn du eine von diesen Personen bist, die schon mit ihrer mentalen Gesundheit zu kämpfen hatte oder es gerade tut, bist du definitiv nicht allein. Es ist nicht deine Schuld, denn es gibt sehr viel größere Probleme weltweit, die zu deiner jetzigen Gefühlslage beitragen, auch wenn sie schwer greifbar sind. Schon indem du weitermachst und durchhältst, machst du das richtig gut.