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Ein zurückgezogen lebender Milliardär stellt eine Frau mit falscher Identität als persönliche Assistentin ein Alexander Sehr geehrte Ms Wilder, ich erwarte Sie heute Abend um neun Uhr im Ballsaal. Seien Sie pünktlich. Lord Alexander McLeod Annabelle Ich hielt einen Augenblick inne, bevor ich an die weiße Tür klopfte, um mir die Erlaubnis zum Eintritt gewähren zu lassen. Mein Herz pochte laut und kräftig, als ich den rauen Bass von McLeods Stimme vernahm: "Kommen Sie rein." Ich ignorierte das Gefühl der Unsicherheit, während ich die Finger auf die kalte Klinke legte und sie langsam herunterdrückte.
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Seitenzahl: 186
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Alice Ann Wonder
Copyright © 2019 Alice Ann Wonder
Alle Rechte vorbehalten.
Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet. Sämtliche Personen im vorliegenden Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig.
Über dieses Buch
Ein zurückgezogen lebender Milliardär stellt eine Frau mit falscher Identität als persönliche Assistentin ein
Alexander
Sehr geehrte Ms Wilder,
ich erwarte Sie heute Abend um neun Uhr im Ballsaal. Seien Sie pünktlich.
Lord Alexander McLeod
Annabelle
Ich hielt einen Augenblick inne, bevor ich an die weiße Tür klopfte, um mir die Erlaubnis zum Eintritt gewähren zu lassen.
Mein Herz pochte laut und kräftig, als ich den rauen Bass von McLeods Stimme vernahm: “Kommen Sie rein.”
Ich ignorierte das Gefühl der Unsicherheit, während ich die Finger auf die kalte Klinke legte und sie langsam herunterdrückte.
Inhaltsverzeichnis
Prolog
1
Annabelle
2
Annabelle
3
Annabelle
4
Alexander
5
Annabelle
6
Annabelle
7
Annabelle
8
Annabelle
9
Annabelle
10
Alexander
Es war einmal ein böser Lord, der lebte allein auf einem Berg, in einem großen Schloss. Der Lord sprach mit niemandem, wenn es sich vermeiden ließ.
Die Menschen fürchteten sich vor ihm, weil er herablassend, aufbrausend und feindselig jedem gegenüber war, der ihm zu nahe kam. Er war nicht immer so gewesen, doch das Leben hatte ihn früh gelehrt, dass es für ihn kein gutes Ende nehmen würde. Nach dem alles verändernden Vorfall, welcher den Lord, der einst ein liebenswürdiger, anständiger und mitfühlender Mann gewesen war, für immer zeichnen sollte, hatte er kapituliert; er hatte sich mit dem Unvermeidlichen abgefunden: wir alle werden irgendwann dem Tod ins Auge blicken.
Doch statt gerade deswegen jeden Tag so zu leben, als wäre es sein letzter, beschloss der Lord, dass es keinen Grund gäbe, sich weiterhin um sein Glück zu bemühen, da es ohnehin nicht von Dauer sein würde. So kam es, dass die Einsamkeit sein treuester Weggefährte wurde. Bis etwas völlig Unvorhergesehenes geschah, das weder der Lord noch die übrigen Beteiligten kommen sahen …
Petrov Kalinin strich mit seiner kalten, ledrigen Hand über meine Wange. “Du bist so schön”, raunte er mit einem solch gierigen Ausdruck in den Augen, dass es mir eiskalt den Rücken hinunterlief. Ich lehnte mich ein Stück zurück, um seinem heißen, nach Wodka riechenden Atem zu entgehen. Doch er begriff nicht. Stattdessen kam er mir abermals näher als mir lieb war.
“Meine Rose”, knurrte er und versuchte, seine eingerissenen, mit feinen Hautfetzen übersäten, Lippen auf meine zu pressen. Meine flache Hand traf ihn vollkommen unvorbereitet, das sagte mir der geschockte Ausdruck in seinen aschgrauen Augen. “Sie kennen die Regeln!”, sagte ich und stieß ihn unsanft zur Seite. Ich stand auf, während der grimmig schauende Petrov auf dem weinroten Sofa, das regelrecht verlassen in dem riesigen Ballsaal wirkte, zurückblieb. “Wo ist der Fahrer?”, herrschte ich ihn an, als könnte mir nichts auf der Welt Angst einjagen – und er schon gar nicht. Sein eisiger Blick ruhte einige Sekunden auf mir, bevor auch er sich erhob und mich mit einem groben Griff um mein Handgelenk, an sich zog. “Warum zeigst du mir nur deine Dornen, hübsche Blume?” Wieder war er mir so nah, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spürte. Er umfasste meinen Nacken, während seine andere Hand sich in meiner Hüfte vergrub. “Nur einen Kuss, meine Schöne!”, knurrte er und leckte sich die tiefroten, schmalen Lippen. “Ich habe für dich bezahlt. Gib mir, was ich will!” Ich schluckte. Petrov Kalinin war kein Mann, dem man eine Abfuhr erteilte. Er gehörte zu den mächtigsten Unternehmern ganz Russlands. Sein Wort war Gesetz. Ich hatte geahnt, dass ich diesen Auftrag lieber hätte ablehnen und verschwinden sollen, als ich es noch gekonnt hatte. Ich hätte mir eine andere Stelle suchen sollen. Das wäre nicht schön, aber machbar gewesen. Die Kunden mochten mich – genau wie die Agenturen. Solange ich noch jung und unverbraucht war, hatte ich gute Chancen, erneut in einem exklusiven Escort-Unternehmen unterzukommen. Hätte ich doch nur auf mein Gefühl gehört! Nun saß ich in der Falle! “Ich habe Nein gesagt!”, rief ich und versetzte Petrov mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, einen Stoß gegen seine muskulöse Brust. Aus einem unerfindlichen Grund war mir das Schicksal an jenem Tag ausnahmsweise einmal gnädig gestimmt. Petrov hatte bereits eine starke Alkoholfahne gehabt, als sein Fahrer mich abgeholt hatte. Auf dem Weg zu seinem Palast hatte er ununterbrochen weitergetrunken – und gesungen! Letzteres war zunächst recht unterhaltsam gewesen, was mich glauben ließ, der Abend – oder die Nacht, je nachdem, wie lange er mich hatte haben wollen – würde nicht so schlimm werden wie befürchtet. Ein Irrtum! Er schwankte, ging einige Schritte zurück, die wirkten, als machte er einen seitenverkehrten Eiertanz.
Dann fiel er rücklings, mit dem Hinterteil zuerst, auf das Sofa.
Das war meine Chance! Ich nahm die Beine in die Hand und lief, so schnell ich konnte, hinaus aus seinem Kristallzimmer. Es folgten noch zwei weitere Räume, durch die ich hindurch jagte und dann noch die Treppen, die mich letztlich hinunter zum Ausgang führten. “Anastasia!”, hörte ich ihn hinter mir rufen. Doch ich drehte mich nicht um. Ich rannte einfach immer weiter. Draußen schneite es – und ich hatte meine Jacke drinnen vergessen. Petrovs Butler hatte sie nach unserer Ankunft mitgenommen und sie zusammen mit meiner Handtasche in einem extra dafür vorgesehenen Raum verstaut. Meine Tasche! So ein Mist! An die hatte ich ebenfalls nicht gedacht! Mein Ausweis, mein Handy … mein Schlüssel – einfach alles war darin! Warme Tränen liefen über meine Wangen, denn ich wusste, was das bedeutete. Ein junger Mann, der zwei bildschöne Blondinen im Arm hatte und aussah, als wollte er es in dieser Nacht richtig krachen lassen, kam mir entgegen.
“Entschuldigen Sie”, begann ich, als er kaum mehr zwei Meter von mir entfernt war. Er sah mich von oben bis unten an, wobei sein Blick etwas länger auf meinem von silbernen Pailletten umgebenen, tiefen Ausschnitt hängen blieb. “Darf ich kurz Ihr Handy benutzen? Ich wurde ausgeraubt”, keuchte ich und betete, dass er mir glaubte. Zu sagen, dass die Gegend, in der Petrov Kalinin wohnte, wohlhabend war, wäre eine gewaltige Untertreibung. Hier lebte nur die Crème de la Crème Russlands! Milliardäre, die die Polizei mit Schmiergeldern bestachen, um jedem, der ihnen in die Suppe spuckte, ungestraft ihre eigenen Regeln aufzwingen zu können. “Eine Frau wie Sie sollte um diese Uhrzeit nicht mehr allein unterwegs sein”, entgegnete der in einen üppigen braunen Nerzmantel gehüllte Fremde. “Ich habe schlimme Schmerzen”, log ich und hielt mir den Arm schützend um meine Taille. “Das Baby ...“ Ich sah hinab zu meinem Bauch, anschließend wieder zu ihm und hoffte, dass er verstand. “Sie haben großes Glück, dass ich ein ehrenwerter Mann bin. Ein anderer wäre sicher …”, er stockte und sah auf meine nackten Beine, die vor Kälte zitterten, “… nicht so freundlich gewesen.” Dann zog er sein Handy aus der Innentasche seines Mantels und reichte es mir. “Danke”, hauchte ich und versuchte mich an einem Lächeln. Ich schaute mich hastig um, doch von Petrov oder einem seiner Gefolgsleute war keine Spur zu sehen. Straße und Gehweg waren bereits von einer frischen Schicht Schnee bedeckt. Niemand, der nicht etwas Dringendes zu erledigen oder sonst einen guten Grund hatte, der Kälte zu trotzen, wagte sich um diese Uhrzeit in Ostozhenka vor die Tür.
Meine eisigen Finger wählten in Windeseile die einzige Nummer, die ich – neben der meiner Mutter – auswendig kannte. Tuuut.
Tuuuuut.
Komm schon – geh ran, beschwor ich meinen engsten Freund im Geiste.
Tuuuuuuut.
“Suchanow”, hörte ich nach dem dritten Klingeln die vertraute Stimme. “Konstantin”, sagte ich und atmete erleichtert auf, “du musst mich abholen! Ich bin — ”, ich hielt inne und sah verstohlen zu dem Dreiergespann, das mich neugierig beäugte. Dann drehte ich mich beinahe um hundertachtzig Grad, sodass ich direkt auf die alte Eisenbahnstichstrecke sah – ein Überbleibsel aus Zeiten, in denen Rubljowka noch weniger elitär war. Ich hielt meine Hand vor den Mund und teilte Konstantin im Flüsterton mit, wo wir uns treffen würden. “Haben Sie vielen Dank!” Als ich dem Herrn das Handy mit bebender Hand zurückgab, grinste er anzüglich. “Komm unter meinen Mantel – ich wärme dich auf, bis du abgeholt wirst.”
Die beiden Frauen, von denen eine schlauchbootförmigere Lippen als die andere hatte, warfen sich verschwörerische Blicke zu.
Ich schüttelte den Kopf und rief “Ich muss los”, während ich mich an der Blondine rechts außen vorbeidrängte und weiter hinein in die von klirrender Kälte durchzogene Nacht lief. “Schade”, hörte ich den Mann noch brummen, aber er machte Gott sei Dank keine Anstalten, mir zu folgen. Ich rannte ununterbrochen – sicher vier, fünf Kilometer –, bis ich endlich den Treffpunkt erreichte, den ich mit Konstantin ausgemacht hatte. Mein Herz hämmerte wie ein Vorschlaghammer, als ich endlich unter der alten Brücke stehen blieb. Zum Teil lag das ungestüme Pochen an dem Marsch, den ich eben zurückgelegt hatte. Der andere und weitaus gewichtigere Grund war jedoch, dass ich fürchtete, Petrov könnte mich jeden Moment aufspüren.
Er war betrunken, sicher ist er eingeschlafen, versuchte ich mir einzureden, um nicht vollkommen den Verstand zu verlieren. Ich kannte die Geschichten von seinen Mädchen – vor allen Dingen die, von denen, die sich ihm widersetzt hatten. Es hieß, dass er seine ersten beiden Ehefrauen im Schlaf ermordet hatte.
Bisher hielt ich das für ein albernes Gerücht, doch das war, bevor er mich mit in sein Schloss genommen hatte. Etwas an der Art, wie er mich angesehen hatte, als er mich seine Rose nannte, sagte mir, dass er alles tun würde, um zu bekommen, was er wollte: mich. Ich bildete mir deshalb nicht ein, etwas Besonderes zu sein – das nicht. Aber ich kannte die russischen Oligarchen, bedingt durch meinen Job, mittlerweile gut genug, um einschätzen zu können, wann es ihnen mit einer Sache ernst war. In dem Augenblick, als ich seine Avancen abgelehnt hatte, hatte er mich markiert.
Vielleicht war es dumm von mir, nicht zu tun, was er von mir verlangte. Doch ich war noch nie gut darin gewesen, blind zu gehorchen.
Eine meiner größten Schwächen, wie meine Mutter stets sagte.
Und Mr Grigorjew – mein Chef – würde ihr da gewiss zustimmen.
Ich hingegen, hielt jene Eigenschaft für eine meiner besten.
Während ich mir wieder und wieder über meine von Gänsehaut übersäten Oberarme rieb, hoffte ich inständig, nicht auch noch Russlands unbarmherzigem Winter zum Opfer zu fallen. Nach einer gefühlten Ewigkeit – vielleicht waren auch gerade einmal zehn Minuten vergangen, ich konnte es nicht mehr einschätzen – blendeten mich die runden Scheinwerfer eines Wagens. Ich hielt mir die Hand vor die Augen, um mich vor dem grellen Licht zu schützen, während ich vorsichtshalber einen Schritt zur Seite wich. Zwar wäre es ein selten komischer Zufall, würde einer von Petrovs Leuten plötzlich mit einem alten Käfer durch Moskaus Straßen fahren – aber mit Sicherheit wissen konnte ich es nicht. Ich nahm eine Haltung ein, die es mir ermöglicht hätte, möglichst schnell wegzulaufen, als der Fahrer des Autos das Licht ausschaltete. Die nächste Straßenlampe war zu weit weg, als dass ich in der Dunkelheit das Nummernschild hätte erkennen können. Die Tür ging auf und Konstantins karottenrote, verstrubbelte Mähne kam zum Vorschein. Erleichterung machte sich in mir breit.
“Spring rein! Du holst dir noch den Tod!”, rief er und traf damit den Nagel auf den Kopf. Ich konnte froh sein, wenn ich mir nach dieser Nacht keine Lungenentzündung zugezogen hatte. “Hi”, sagte ich, nachdem ich mich auf die Rückbank gesetzt und die Tür hinter mir zugeschlagen hatte. Konstantin legte einen Arm über die Lehne des Beifahrersitzes und sah zu mir nach hinten. “Was ist passiert?” Besorgnis zeichnete sein über und über mit Sommersprossen bedecktes Gesicht. Ich ließ einen langen Atemzug aus meinem Mund entweichen. Dann sagte ich: “Ein übler Kunde.” Daraufhin hob er die Brauen und musterte mich. “Hat er dir etwas getan?”
Ich schluckte, als ich daran dachte, was alles hätte passieren können. Es war nicht das erste Mal, dass ein Kunde mehr als meine Gesellschaft bei einem Geschäftsessen oder einem Termin gewollte hatte. Trotzdem hatte ich nie das Gefühl gehabt, ernsthaft in Gefahr zu sein. Grigorjew hatte immer besonderen Wert darauf gelegt, uns Mädchen daran zu erinnern, dass wir jederzeit gehen konnten, wenn wir uns bedroht fühlten. Selbiges hatte er auch unseren Kunden eingetrichtert. Außerdem wartete in der Regel ein eigens vom Divine-Escort-Service engagierter Sicherheitsmann in unmittelbarer Nähe auf uns. Genau jene hohen Standards waren es, weshalb Grigorjew stets die attraktivsten Mädchen Russlands jahrelang beschäftigte, ohne dass sie ihm allzu leicht abhanden kamen. Unsere Sicherheit war ein Garant für seinen wachsenden Reichtum. Die Summe, die wir dabei verdienten, war deutlich höher, als der Standard. Doch sie reichte nicht aus, um damit abzuhauen und ein neues Leben anzufangen.
Zumindest nicht, wenn man wie ich, noch eine Familie hatte, die auf einen angewiesen war.
Es war ausreichend zum Leben, genügend um zu bleiben – aber niemals genug, um frei zu sein.
“Nein”, antwortete ich auf die Frage meines Freundes und rieb mir erneut über die Arme, um mich aufzuheizen. “Warte.” Ratsch. Konstantin zog den Reißverschluss seiner olivfarbenen Steppjacke nach unten, streifte sie sich mit einer umständlichen Bewegung vom Leib und hielt sie mir hin.
Ich presste ein leises “Danke” hervor, als ich hastig nach dem so dringend herbeigesehnten Kleidungsstück griff. “Es war Petrov Kalinin”, erklärte ich, nachdem ich die Jacke angezogen und meine Arme um meinen nun gut gepolsterten Oberkörper geschlungen hatte. Konstantin riss seine grünen Augen auf. “Scheiße”, war alles, was er daraufhin hervorbrachte – und auch damit hatte er die Sache treffsicher auf den Punkt gebracht. “Das ist noch nicht alles”, stammelte ich und rieb meine Finger an meinen Handflächen, weil ich sie kaum mehr spürte. Konstantin öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne etwas zu sagen. Stattdessen starrte er mich erwartungsvoll an. “Er hat meine Handtasche”, erklärte ich und unterdrückte ein Schluchzen bei dem Gedanken, was das bedeutete. “Mein Handy, meinen Ausweis ...“ Ich wandte den Blick von ihm ab und sah hinaus in die Nacht. Zehn Meter entfernt von uns hinterließ ein einsamer streunender Hund seine Abdrücke in der sonst makellosen Schneedecke. Seine Ohren hingen schlapp herunter, ebenso wie sein Schwanz. Die Rippen, die sich auf seinem Körper abzeichneten, ließen vermuten, dass seine letzte anständige Mahlzeit lang her gewesen sein musste.
Am liebsten hätte ich Konstantin gebeten, ihn einen Moment mit zu uns in den Wagen nehmen zu dürfen – oder besser: mit zu ihm nach Hause. Die meisten herrenlosen Hunde, die durch Moskaus Straßen irrten, waren zutraulich. Sie waren an Menschen gewöhnt und nahmen dankbar jeden noch so kleinen Nahrungsrest entgegen, den man ihnen hinwarf. Aber da ich wusste, dass Konstantin Hunde hasste, sagte ich nichts. Darüber hinaus war ich bereits im Begriff, meinen besten Freund um Unterschlupf für mich zu bitten. Mehr als einen Streuner aufzunehmen, konnte ich nicht von ihm verlangen. Das und die Tatsache, dass er mich mitten in der Nacht abgeholt hatte, katapultierten mich in eine höchst unangenehme Situation. Ich wusste zwar, dass er es gerne und jederzeit wieder machen würde, doch wohl fühlte ich mich damit trotzdem nicht. “Wir fahren zu mir”, stellte Konstantin mit seiner gewohnt analytischen, wenig gefühlsduseligen Art fest und ich nickte.
Ich konnte froh sein, einen Freund wie ihn zu haben. Jemanden, der auch ohne viele Worte wusste, was zu tun war. “Was willst du jetzt machen?”, fragte er, nachdem wir seine Dreizimmerwohnung betreten hatten. Sie war klein, aber gemütlich. Außerdem stellte sie das genaue Gegenteil von Konstantins Charakter dar: verspielt, viel Krimskrams in Dekoform und bunt. Obwohl er während der Beziehung mit seiner quirligen Ex-Freundin Polina zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit betonte, wie sehr er ihren Einrichtungsstil hasste und sich auf seinen minimalistischen, lediglich auf einen Schrank, eine Kochstelle und ein Bett reduzierten Wohnstil zurückwünschte, hatte er seit dem Beziehungsende nichts verändert. Sein ewiges Gezeter war der Grund gewesen, warum Polina ihn vor einem halben Jahr verlassen hatte. Konstantin behauptete allerdings noch immer, sie hätten unüberwindbare Differenzen gehabt, die darin wurzelten, dass sie grundverschieden gewesen waren und die Beziehung niemals hätten eingehen sollen. Dabei hatte ich ihn nie glücklicher erlebt. Polina und er waren für mich der Beweis, dass jemand, der ganz anders als man selbst ist, manchmal genau das ist, was man braucht, um aus seinem Schneckenhaus herauszukommen. Ich ließ mich seufzend auf einem der mit türkis-grünen Sitzpolstern belegten Holzstühle nieder. Dann schlug ich die noch immer schlotternden Beine übereinander und zog meine Hände ins Innere der Ärmel von Konstantins Steppjacke. “Ich weiß es nicht”, gab ich ehrlich zu und rutschte ein Stück nach hinten. “Er hat Grigorjew dazu gebracht, mich ohne Personenschutz zu buchen.” Ich presste die Lippen aufeinander, ehe ich hinzufügte: “Das habe ich während der vergangenen acht Jahre noch nie erlebt – bei keinem Mädchen.” Ich fuhr mir mit den Fingern durch die dunkelbraunen Haare und verharrte darin.
Selbst meine Schädeldecke schien völlig ausgekühlt zu sein.
“Er war betrunken”, sagte ich schließlich mit starrem Blick auf die weiße Häkeltischdecke, “vielleicht hat er es morgen schon wieder vergessen und sucht sich eine Neue.” Ein weiches Wollknäuel traf mich unvorbereitet am Kopf. “Tschuldigung”, murmelte Konstantin, als ich mich bückte, um die grauen Socken aufzuheben. “Zieh die an!”
Ich tat, wozu er mir geraten hatte und schälte meine halb erfrorenen Füße aus den schwarzen Lederstiefeletten, die ungefähr so warm waren, wie Eiszapfen. “Er wird bei dir zu Hause auftauchen. Wenn nicht heute, dann morgen”, warnte mich Konstantin, nachdem er die Heizung höher gestellt und seinen drahtigen Körper auf dem Futon-Bett ausgebreitet hatte. Ich biss mir auf die Unterlippe – so lange, bis es weh tat. Was sollte ich tun? Ich konnte nicht zurück, sonst hätte ich meine gesamte Familie in Gefahr gebracht. Er würde sich holen wollen, was ihm seiner Meinung nach zustünde; was ich ihm verwehrt hatte. Doch ich würde es ihm nur über meine Leiche geben. Ich war zu stolz, um ihm meinen Körper zu überlassen. Er gehörte ihm nicht – vollkommen gleich, wie viel Geld er mir dafür bot. “Hast du einen Plan?” Konstantin zog seinen hellgrauen Dell-Laptop unter dem Nachttisch hervor und klappte ihn auf. Seine Finger flogen geradezu über die Tasten, als er nachschob: “Was ist mit Schottland? Dort wolltest du doch immer schon mal hin.” “Bist du verrückt?”, rief ich entgeistert. Gleichzeitig schien das Innere meiner Brust mit jedem neuen Atemzug enger zu werden, denn ich wusste, dass sein Vorschlag keineswegs so abwegig war, wie ich mir und ihm gerade weiszumachen versuchte. “Amerika?”, fragte er, ohne aufzusehen. Ich stellte die Füße auf die untere Querstrebe des Stuhles und antwortete mit einer Selbstverständlichkeit, die mich erschrecken ließ: “Zu weit weg.” Das konnte nicht wahr sein – würde mein Leben nun tatsächlich eine solche Wendung nehmen, nur wegen eines einzigen Vorfalls? Nur wegen eines Mannes? “Ich kann dir bis morgen Abend einen Pass besorgen”, murmelte Konstantin, während seine Finger noch immer in schnellem Tempo auf die Tasten schlugen. “Jetzt mach mal halblang! Wir wissen doch noch gar nichts Konkretes!” Ich fühlte mich auf einmal wie in einem schlechten Film. Wir übertrieben – das war ganz klar.
“Du bist hier nicht mehr sicher.” Konstantin sah mit einer von Falten gezeichneten Stirn auf. “Das wissen wir doch nicht”, sagte ich kleinlaut. Dabei dachte ich daran, was vor zwei Monaten mit Darja passiert war, nachdem sie Wladislaw Saizew, einem beinahe ebenso berüchtigten Oligarchen, wie Petrov einer war, eine Abfuhr erteilt hatte. Man fand sie drei Tage später tot in einer Gosse – ihre Kleider waren zerrissen, ihr Leib geschändet. Auf der Stirn prangte ein scharlachrotes W – denn das war die Art und Weise, wie die Mächtigen hierzulande die Frauen zeichneten, die sich weigerten, ihre Huren zu werden. Ich schluckte. Und schluckte wieder, doch der Kloß in meinem Hals wollte einfach nicht verschwinden. Was hatte ich getan? War es das wirklich wert? Ich war gierig gewesen, hatte den Batzen Geld bereits vor Augen gesehen, den Petrov dafür bot, einen Abend mit mir auszugehen, nachdem er mich in Grigorjews Bar hatte sitzen sehen. Er hatte die beträchtliche Summe, die Grigorjew für uns Frauen verlangte, versechsfacht, wenn er eine Ausnahme machte und mich ohne Wachmann gehen ließe. Sein Versprechen, mir kein Haar zu krümmen, hatte aufrichtig geklungen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er einen solchen Narren an mir gefressen haben könnte, dass er die Beziehung zum Besitzer von Moskaus nobelstem Escort-Service gefährden würde. Allen Erwartungen zum Trotz, war die Szene klein. Wenn sich jemand daneben benahm, sprach sich das schnell rum. Die hochpreisigen Anbieter wie Grigorjew waren stets darauf aus, ihre Mädchen so lange wie möglich als Geldeinnahmequelle nutzen zu können. (Auch wenn nicht alle einen solchen Aufwand wie Grigorjew betrieben, was die Pflege und den Schutz ihrer besten Rennpferde anging.) Für den Bonus hätte ich meiner Mutter schon sehr viel eher als geplant eine bessere Beinprothese und meinem kleinen Bruder das lang ersehnte Mountainbike für den Sommer kaufen können. Jene Gedanken waren es, die mich hatten schwach werden lassen. Unvorsichtig. Konstantin stellte seinen Laptop auf den Nachttisch, sprang vom Bett auf und ging zu mir. “Wenn ich morgen früh bei dir zu Hause vorbeifahre, wäre das zu auffällig.”