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Anstrengende Kinder besitzen besonders ausgeprägte Eigenschaften, die im Erwachsenenalter sehr geschätzt werden: Willensstärke, Ausdauer und Sensitivität. Bei Kindern und Jugendlichen führen diese Gaben oftmals zu Schwierigkeiten auf ihrem Weg durch Kindergarten, Schule und alle Institutionen, die Anpassung, Flexibilität und Selbstkontrolle erfordern. Ihre Erziehung führt Eltern immer wieder an ihre Grenzen und vor viele Fragen: Was kann ich tun, um meinem Kind eine unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen? Wie kann ich ihm helfen, ein glücklicher und zufriedener Mensch zu werden? Und wie verhindere ich, dass mir dabei die Kraft ausgeht? Dr. Mary Sheedy Kurcinka verhilft Eltern mit ihrem Buch zu einer völlig neuen Sichtweise. Sie richtet den Fokus auf die Stärken der Kinder und gibt den Eltern ganz konkrete Hilfestellung für den Alltag. Mit ihrem neuen Betrachtungsansatz führt sie aus der Frustration und zeigt, dass anstrengende und fordernde Kinder ein großes Geschenk für ihre Eltern sind und wie sie zu großartigen Erwachsenen heranwachsen können.
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Seitenzahl: 708
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Dr. Mary Sheedy Kurcinka
Der Erziehungsratgeber fürbesonders geforderte Eltern
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen:
8. Auflage 2023
© 2017 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
D-80799 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Die englische Originalausgabe ist 1992 unter dem Titel Raising Your Spirited Child bei Harper Perennial erschienen. Die vorliegende deutsche Übersetzung basiert auf der Ausgabe von First William Morrow paperback
© 2015 Mary Sheedy Kurcinka, Ed.D. All rights reserved.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.
Übersetzung: Christa Trautner-Suder, Weilheim
Redaktion: Petra Holzmann, München
Umschlaggestaltung: Verena Frensch, München
Umschlagabbildung: Shutterstock.com/Ihnatovich Maria, Magenta10
Satz: des2com_Matthias von der Preuß, Berlin
ISBN Print 978-3-86882-864-1
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-111-1
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-96121-112-8
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.mvg-verlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter
www.m-vg.de
Dieses Buch widme ich:Meinem Ehemann, Joseph Michael Kurcinka –ohne dein Verständnis, deinen Scharfsinn unddein Organisationstalent hätte ich es nicht geschafft.Meinen Kindern, Joshua Thomas und Kristina LeahSheedy Kurcinka – ohne euch hätte ich nichts davon erfahren.Meinen Eltern, Richard und Beatrice Sheedy –ohne euch gäbe es mich nicht.
Vorwort
ERSTER TEIL
Das Temperament verstehen
1 | Wer ist dieses temperamentvolle Kind?
2 | Eine andere Sichtweise
Auf die Stärken bauen
3 | Wodurch wird ein Kind temperamentvoll?
Warum es tut, was es tut
4 | Was zusammenpasst und was nicht
Wie Eltern und Kinder zueinander finden
ZWEITER TEIL
Mit dem lebhaften Temperament arbeiten
5 | Extrovertiert oder introvertiert
Für Energie sorgen, um klarzukommen
6 | Intensität
Sie sind es, die starke Emotionen Ihres Kindes zuerst zerstreuen können
7 | Intensität
Lehren Sie Ihr Kind Fertigkeiten der Selbstregulation
8 | Trotzanfälle
Was Sie tun können, wenn alles fehlschlägt
9 | Beharrlichkeit
Entscheiden Sie, wann es sich zu kämpfen lohnt und wann Sie besser Ja sagen
10 | Beharrlichkeit
Die Kämpfe auswählen – Nein sagen
11 | Sensibilität
Verstehen, wie Ihr Kind sich fühlt
12 | Leicht abzulenken oder besonders wahrnehmungsfähig
Helfen Sie Ihrem Kind, Ihre Anweisungen zu hören
13 | Langsame Anpassungsfähigkeit
Übergänge erleichtern
14 | Regelmäßigkeit, Energie, erste Reaktion und Stimmung
Die »Bonus«-Merkmale verstehen
DRITTER TEIL
Mit dem lebhaften Temperament leben
15 | Den Erfolg planen
Neuralgische Punkte vorhersehen und ihnen vorbeugen
16 | Zubettgehzeit und nächtliches Aufwachen
17 | Die Mahlzeiten
18 | Anziehen
VIERTER TEIL
Mit temperamentvollen Kindern unter Leute gehen
19 | Mit anderen Kindern klarkommen
20 | Krisenherde: Feiertage und Ferien
21 | Erfolg in der Schule
FÜNFTER TEIL
Das Temperament genießen
Epilog: Die Rose in meinem Garten
Danksagung
Über die Autorin
»Sie haben mir versprochen, meine Tochter würde eine großartige Erwachsene werden und genau das ist sie geworden!«
Lydia, zweifache Mutter
Willkommen bei der Lektüre von Wie anstrengende Kinder zu großartigen Erwachsenen werden. Ich bin Mary, lizensierte Dozentin im Eltern- und Kindercoaching, selbst Mutter temperamentvoller Kinder, die inzwischen erwachsen sind, und werde Sie durch dieses Buch begleiten. Mit Freude kann ich Ihnen mitteilen, dass sich die Informationen und Strategien in Wie anstrengende Kinder zu großartigen Erwachsenen werden bereits langfristig bewährt haben.
Als Eltern eines temperamentvollen Kindes haben Sie vielleicht manchmal das Gefühl, Sie wären damit ganz allein. Das sind Sie aber nicht. Tausende vor Ihnen sind diesen Weg gegangen, und es gibt inzwischen Informationen, die dabei helfen, bestimmte Sachen zu verbessern. Jeden Tag werden Erfahrungsberichte von Eltern, die diese Informationen erfolgreich nutzen konnten, auf meiner Facebook-Seite der Gruppe für Wie anstrengende Kinder zu großartigen Erwachsenen werden gepostet oder landen in meinem E-Mail-Account.
So schrieb Lydia: »Sie haben mir beigebracht, meinem Kind zuzuhören. Seit meine Tochter merkt, dass ich ihr zuhöre und sie respektiere, hat sie großes Selbstvertrauen und versteht sich endlich selbst. Kürzlich hat sie ihr Studium in drei Hauptfächern abgeschlossen. Sie hatte mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen und hat sie alle bewältigt. Ich wünschte mir, ich wäre auch so ›beeltert‹ worden, wie ich sie ›beeltert‹ habe.«
In dieser dritten Auflage von Wie anstrengende Kinder zu großartigen Erwachsenen werden wurden in jedes Kapitel neue Informationen und die aktuellsten Forschungsergebnisse eingefügt. Es wurden neue Tipps mit aufgenommen, wie Sie sich auf die Stärken Ihres Kindes konzentrieren können, gelassen bleiben, Zusammenbrüche abfangen, klare Grenzen setzen können, eine lösungsorientierte Familie werden und die Häufigkeit von Konflikten mit Gleichaltrigen und Geschwistern reduzieren können. Außerdem finden Sie einen Leitfaden für die Wahl einer Schule, die für Ihr Kind »passt«.
Das Kapitel 16 »Bettgehzeit und nächtliches Aufwachen« wurde ebenfalls völlig neu formuliert. Jahrelange Arbeit mit einzelnen Familien hat mir bei der Feinabstimmung der hilfreichsten Informationen geholfen sicherzustellen, dass Ihre Familie den Schlaf bekommt, den sie braucht und verdient.
Als ich mich hinsetzte, um die erste Version von Wie anstrengende Kinder zu großartigen Erwachsenen werden zu schreiben, war ich Mutter von zwei Kleinkindern und gab Kurse für Eltern im Rahmen des Minnesota Early Childhood Family Education Program. Damals frustrierten mich die bestehenden Lehrpläne, und es war wichtig für mich, mit anderen Eltern zu sprechen, die verstanden, was ich mit einem Kind durchmachte, das fünfundvierzig Minuten schreien konnte, weil der Toast in Dreiecke geschnitten war und nicht wie erwartet in Rechtecke. Mit einem Kind, das lieber sterben wollte, als die Antwort Nein zu akzeptieren, und so empfindlich war, dass es die Nähte in den Socken störten. Mit einem Kind, das in gängigen Erziehungsratgebern entweder gar nicht auftauchte oder in schrecklich negativer Art besprochen wurde – mit Begriffen, die ich nicht akzeptieren wollte.
Ich brachte in diese ersten Kurse über temperamentvolle Kinder die neuesten Forschungsberichte und Studien über kindliche Entwicklung, Kommunikation, Persönlichkeit, Temperament und Typ ein. Wir kauten sie durch, zerpflückten sie und überlegten uns Möglichkeiten, wie wir sie als Hilfe dafür nützen könnten, widerstrebende kleine Personen angezogen, gefüttert oder ins Bett zu bekommen und mit etwas weniger Auseinandersetzungen durch ein Geschäft zu lotsen. Indem wir unsere Geschichten teilten, erlaubten wir es uns untereinander, einen Blick in unser Zuhause, unsere Schulen und die unmittelbare Nachbarschaft zu werfen. Wir entdeckten Ähnlichkeiten in den Dingen, über die wir uns sorgten, und mussten manchmal laut schreien. Wir teilten die Regeln, die in unseren Familien vorherrschten, die disziplinarischen Methoden, die funktionierten, und solche, die nicht funktionierten. Wir erfuhren, was jeder von uns tat, um eine gesunde Beziehung zu seinem temperamentvollen Kind aufzubauen.
In der vorliegenden Ausgabe von Wie anstrengende Kinder zu großartigen Erwachsenen werden kamen weitere Geschichten von Eltern hinzu, die an meinen Workshops teilgenommen, im Rahmen privater Konsultationen meinen Rat in Anspruch genommen oder mir geschrieben haben, um ihre Erfahrungen zu teilen. Wie ihre Vorgänger waren auch diese Eltern bereit, ihre Fragen, Ängste, ihre bevorzugten Strategien und Horrorgeschichten mit Ihnen zu teilen. Alle Berichte sind wahr, die Altersangaben sind korrekt, nur die Namen, Orte und diesbezügliche beschreibende Details wurden frei erfunden. Ich habe festgestellt, dass es den Menschen nichts ausmacht, wenn wir in ihre Fenster schauen, solange wir ihre Adresse nicht bekannt geben.
Etwas habe ich jedoch nicht verändert: die Einleitungsseiten. Denn sehr oft haben mir Leser gesagt: »Als ich die ersten Seiten gelesen habe, musste ich weinen. Natürlich hat mir die Logik gesagt, dass auch andere Eltern Kinder wie meine Tochter großziehen, aber ich bin ihnen nie begegnet, und ich fing doch an zu glauben, dass meine Tochter vielleicht die einzige ihrer Art ist …« Daher bleibt der Anfang unverändert. Er ist eine Einladung an Sie, noch andere Eltern von sehr lebhaften Kindern auf dem wilden, manchmal zur Verzweiflung treibenden, aber herzerquickenden Weg kennenzulernen, ein Kind großzuziehen, das völlig normal, in allem aber »etwas mehr« ist.
Ich muss zugeben, dass diese anderen Eltern eine viel größere Gruppe bilden, als ich es je erwartet hätte. Nie hätte ich mir selbst in meinen kühnsten Träumen vorstellen können, dass Wie anstrengende Kinder zu großartigen Erwachsenen werden Leser in aller Welt finden würde. Aber genau das ist passiert. Das Buch ist ein Freund, den man bei sich hat, es findet seinen Platz auf dem Nachttisch oder wird heruntergeladen, wenn die Antwort auf eine Frage gesucht wird, eine Strategie gelernt werden muss und eine optimistische Zukunftsvision benötigt wird.
Ich bin jedes Mal überwältigt, wenn ich von Eltern gefragt werde, wie es sein kann, dass ich ihre Kinder so gut kenne, ohne ihnen je begegnet zu sein, oder ob ich es irgendwie geschafft hätte, bei ihnen eine Videokamera zu verstecken. Tatsächlich habe ich einfach den Geschichten zugehört und habe die Gemeinsamkeiten darin erkannt. Anscheinend sind wir nicht allein, egal wo wir leben, auch wenn sich unsere Kulturen und Länder unterscheiden.
So haben sie sich tatsächlich gefunden. Vierundzwanzig Stunden am Tag chatten Mitglieder der Facebook-Gruppe Raising Your Spirited Child miteinander, teilen ihre Geschichten und bieten einander Unterstützung und hilfreiche Vorschläge an. Sie besuchen meine Website unter http://www.parentchildhelp.com/, um mich wissen zu lassen, dass sie dankbar sind für das Buch, das »Gutes gebracht hat« oder um private Konsultationen zu planen. Sie sprechen sich gegenseitig in Geschäften, Schulen und Parks an, um zu sagen: »Ich war auch einmal an diesem Punkt und heute ist mein Kind einfach nur fantastisch.« Sehr lebhaft und temperamentvoll sind nicht nur Begriffe. Dazu gehört auch eine Vision, die uns zueinander zieht, damit wir uns auf die Stärken unserer Kinder konzentrieren.
Und Sie müssen wissen, dass auch unser Motto für Wie anstrengende Kinder zu großartigen Erwachsenen werden unverändert bleibt:
Fortschritt, nicht Perfektion
Eltern zu sein, eine gesunde Beziehung zu einem Kind aufzubauen, ist ein nie endender Prozess. Es gibt gute Tage und miserable Tage. Wenn wir uns Fortschritt zum Ziel setzen, müssen wir nicht auf ein unklares Finale warten. Stattdessen können wir jede Sekunde, in der wir etwas verstanden haben, jeden im Sande verlaufenen Machtkampf und jede innige Umarmung als Erfolg verbuchen. Wir können zu uns selbst freundlich sein, können glücklich sein über Momente des Friedens und Stunden »pädagogischer Stärke«, selbst wenn der Tag insgesamt nicht perfekt ist. Wir können uns selbst die Zeiten vergeben, in denen wir voller Frustration grollen oder wütend aufbrausen, indem wir erkennen, dass wir zwar nicht ausfallend werden dürfen, aber doch nur Menschen sind. Fortschritt braucht Zeit. Man kann nicht von heute auf morgen Haltungen verändern, alte Fertigkeiten stärken und neue erlernen. Darum müssen wir jeden noch so winzigen Erfolg mitzählen. Zum Glück sind diese winzig kleinen Erfolge wie nasse, klebrige Schneeflocken: Sie können sich zu einem Schneeball zusammenfügen. Zusammengerollt bilden sie eine glückliche und gesunde Beziehung. Und eines Tages, so hoffen wir, werden auch Sie, wie so viele vor Ihnen, sagen können: »Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass ein lebhaftes Temperament ein wunderbares Geschenk ist.« Vielleicht werden Sie sogar erkennen, dass auch Sie selbst so temperamentvoll sind!
Nehmen Sie sich nun eine Tasse Kaffee, Tee oder was Sie sonst mögen, und entdecken Sie die »Geheimnisse«, wie Sie ein temperamentvolles, lebhaftes Kind großziehen. Picken Sie sich heraus, was für Sie passend ist, und lassen Sie den Rest links liegen. Nur Sie können wirklich wissen, was Sie und Ihr Kind brauchen. Vergessen Sie aber nicht: Unser Ziel ist Fortschritt, nicht Perfektion.
»Eine Gelegenheit, sich zu verlieben, Nahrung für Frustrationen, eine Quelle der Angst und ein endloses Puzzle – das ist mein temperamentvolles Kind.«
Abby, zweifache Mutter
Das Wort, das temperamentvolle Kinder von anderen Kindern unterscheidet, ist mehr. Es sind ganz normale Kinder, sie haben nur mehr Intensität, mehr Beharrlichkeit, sind empfindlicher, haben eine höhere Wahrnehmungsfähigkeit, und an Veränderungen passen sie sich schwerer an als andere Kinder. Alle Kinder besitzen diese Merkmale, bei temperamentvollen Kindern sind diese jedoch sehr stark ausgeprägt und haben eine große Bandbreite, die von anderen Kindern nicht erreicht wird. Temperamentvolle Kinder sind der Flummi in einem Zimmer voller Gummibälle. Andere Kinder springen vielleicht neunzig Zentimeter hoch. Bei einem temperamentvollen Kind geht jeder Sprung bis zur Decke.
Es ist schwer zu beschreiben, wie es sich anfühlt, Mutter oder Vater eines temperamentvollen Kindes zu sein. Die Antwort fällt immer wieder anders aus, ist tagesabhängig oder sogar momentabhängig. Wie beschreibt man die Erfahrung, zehnmal am Tag innerhalb von Sekunden das Wechselbad von Freude und Frust zu erleben? Wie erklärt man die Vorahnung morgens um acht Uhr, dass es ein guter oder ein schrecklicher Tag werden wird?
Die guten Tage könnten gar nicht besser sein. Sie werden geweckt von einer liebevollen Umarmung und einem schnellen Küsschen. Ihr Kind erobert Sie mit seinen lustigen Mätzchen im Sturm, wenn es beispielsweise vor dem Hund steht, einen Klacks Erdnussbutter in der Handfläche versteckt und fragt: »Ist Grace eine hundsgemeine Schwester?« Der Hund lauscht aufmerksam. Die Hand bewegt sich wie eine Zauberwand leicht auf und ab. Die Hundenase folgt dem Geruch und scheint zustimmend zu nicken. Da müssen Sie einfach lachen.
Tiefsinnige Äußerungen kommen aus seinem Mund, frühreif und viel zu intellektuell für ein Kind dieses Alters. Es erinnert sich an Erlebnisse, die Sie längst vergessen haben, und zieht Sie ans Fenster, um Regentropfen zuzusehen, die wie Diamanten vom Himmel fallen. An den guten Tagen ist es verblüffend, überraschend, wunderbar, lustig, interessant und von großartigen Momenten durchsetzt, ein Elternteil eines temperamentvollen Kindes zu sein.
Die schrecklichen Tage sind eine völlig andere Geschichte. An solchen Tagen sind Sie nicht sicher, weitere vierundzwanzig Stunden mit diesem Kind auszuhalten. Es fällt schwer, sich als Elternteil gut zu fühlen, wenn Sie dem Kind nicht einmal seine Socken anziehen können, wenn Sie immer nur ermahnend mit ihm gesprochen haben, wenn die harmlose Tatsache, dass Sie Hühnchen statt der erwarteten Tacos auf den Tisch bringen, einen wütenden Aufstand auslöst, wenn Ihnen klar wird, dass Sie innerhalb von fünf Jahren mehr öffentliche Orte verärgert verlassen haben als die meisten anderen Eltern im Laufe ihres gesamten Lebens.
Sie fühlen sich abgekämpft, ausgelaugt und viel zu alt dafür, selbst wenn Sie zwischen zwanzig und dreißig waren, als Ihr Kind zur Welt kam. Es ist manchmal schwierig, ein Kind zu lieben, das einen nachts aufweckt und beim Einkaufen blamiert.
An den schlechten Tagen ist es verwirrend, frustrierend, anstrengend, herausfordernd und löst Schuldgefühle aus, Vater oder Mutter eines temperamentvollen Kindes zu sein. Sie überlegen, ob Sie die einzigen Eltern mit einem solchen Kind sind, denken beunruhigt daran, was wohl in den Teenagerjahren auf Sie zukommen wird, wenn Sie schon jetzt, in den ersten Jahren, nicht wissen, was Sie tun sollen.
Sie haben vielleicht schon in der Schwangerschaft bemerkt, dass dieses Kind anders ist als andere Kinder, normal, aber anders. Vielleicht hat es während der Schwangerschaft so fest geboxt, dass Sie ab dem sechsten Monat nicht mehr gut schlafen konnten. Oder sie haben es erst später gemerkt, als die Säuglingsschwestern der Säuglingsabteilung betroffen den Kopf schüttelten und Ihnen viel Glück wünschten. Ihnen kann diese Erkenntnis auch erst Jahre später gekommen sein. Anfangs dachten Sie vielleicht, alle Kinder seien so. Möglicherweise kam Ihr »Erwachen« bei der Geburt eines zweiten Kindes – eines Kindes, das bei Familienfesten durchschlief, anstatt zu brüllen, und sich ein hübsches Kleidchen anziehen ließ, anstatt die Spitze abzureißen. Oder es war bei der Geburt des Kindes Ihrer Schwägerin, das sofort einschlief, egal, wohin man es legte. Ihre Schwägerin strahlte voller Stolz, als hätte sie etwas richtig gemacht, während Ihr Kind weiterschrie und sich aufregte, sodass sich alle Blicke im Raum auf Sie richteten mit der stillschweigenden Anklage: »Was stimmt nicht mit deinem Kind?” Intuitiv haben Sie sich gegen diese Blicke und die Anklagen zur Wehr gesetzt, haben gewusst oder geglaubt, dass Ihr Kind schwieriger zu erziehen ist, waren sich aber nicht wirklich sicher, ob Sie recht haben, und wenn Sie recht hatten, wussten Sie nicht, warum.
Wahrscheinlich ist Ihnen der Begriff »Temperamentvolles Kind« nicht sehr geläufig. Als mein Sohn Joshua geboren wurde, gab es keinerlei Kurse oder Bücher über temperamentvolle Kinder. Die einzigen Informationen, die ich finden konnte und die ein Kind wie ihn beschrieben, verwendeten Worte wie schwierig, mit ausgeprägtem Willen, dickköpfig, Sargnagel oder Dennis, der Plagegeist. Dabei merkte ich, dass Joshua viel Ähnlichkeit mit seinem Vater hatte, einem energiegeladenen, sensiblen, leidenschaftlichen und umsichtigen Erwachsenen, den ich innig liebe. An den »guten« Tagen begann ich daher, ein besseres Wort zu finden, um Josh zu beschreiben. An solchen Tagen stellte ich fest, dass dieses Kind, das mich in den Wahnsinn treiben konnte, Persönlichkeitszüge besaß, die tatsächlich Stärken waren, wenn man sie verstand und in gute Bahnen lenkte.
Mein Wörterbuch definiert »temperamentvoll« auch als lebhaft, kreativ, leidenschaftlich, begierig, voller Energie und Mut und mit sehr durchsetzungsfähiger Persönlichkeit. Temperamentvoll – das fühlt sich gut an, das klingt gut, es vermittelt das spannende Potenzial dieser Kinder, verschweigt aber auch nicht die Herausforderungen, mit denen ihre Eltern konfrontiert werden. Wenn wir uns dafür entscheiden, unsere Kinder als temperamentvoll zu betrachten, geben wir ihnen und uns selbst Hoffnung. So richtet sich unser Fokus auf ihre Stärken anstatt auf ihre Schwächen, damit versehen wir sie aber nicht mit einem weiteren Etikett, sondern wir versuchen, sie dadurch besser zu verstehen.
Jedes temperamentvolle Kind ist einmalig, es besitzt jedoch ausgeprägte Merkmale, die deutlich zeigen, was es mehr hat. Nicht jedes temperamentvolle Kind besitzt alle der folgenden fünf Merkmale, aber jedes weist genügend davon auf, um es von der Masse abzuheben.
1. INTENSITÄT: Am leichtesten erkennt man die lauten, effektvollen temperamentvollen Kinder. Sie weinen nicht, sie brüllen. Sie sind laut, wenn sie spielen, wenn sie lachen und sogar, wenn sie duschen und dabei aus voller Kehle singen, während sich der Warmwassertank leert.
Aber auch stille, aufmerksam beobachtende Kinder können temperamentvoll sein. Sie beurteilen jede Situation, bevor sie auf den Plan treten, als würden sie für jede Bewegung eine Strategie entwickeln. Ihre Intensität konzentriert sich eher nach innen, als nach außen.
Egal worauf sich die Intensität dieser temperamentvollen Kinder fokussiert, die Reaktionen sind immer stark. Einen Mittelweg gibt es selten. Sie quengeln nicht, sie brüllen. Sie können lächelnd und lachend in ein Zimmer gehüpft kommen, um es dreißig Sekunden später wutentbrannt wieder zu verlassen. Ihre Wutanfälle sind impulsiv und ausdauernd.
2. BEHARRLICHKEIT: Sobald temperamentvollen Kindern eine Idee oder Aktivität wichtig ist, können sie sich komplett darauf fixieren. Dann sind sie engagiert, zielorientiert und wollen nicht davon ablassen. Sie zu einem Sinneswandel zu bewegen, wird ein größeres Unterfangen. Sie diskutieren gerne und haben keine Angst, sich durchzusetzen.
3. EMPFINDLICHKEIT: Sehr bewusste temperamentvolle Kinder reagieren rasch auf die geringsten Geräusche, Gerüche, Lichter, Texturen oder Stimmungsänderungen. Sie werden in größeren Menschenansammlungen leicht von der Flut an Empfindungen überwältigt. Es wird eine bedeutende Leistung, sie durch ein Einkaufszentrum, einen langen Gottesdienst, eine Karnevalsveranstaltung oder ein Familientreffen zu lotsen, ohne dass es in einem Tränenmeer endet. Das Anziehen kann zur Qual werden. Ein widerspenstiger Faden oder eine kratzige Beschaffenheit kann Kleidung für sie unerträglich machen.
Diese Kinder saugen jede Empfindung und Emotion auf, auch Ihre Gefühle. Sie erzählen Ihnen, dass Sie einen verkorksten Tag haben werden, noch bevor Sie es selbst merken, und sie schreien und schmollen sogar an Ihrer Stelle.
4. HOHE WAHRNEHMUNGSFÄHIGKEIT: Wenn Sie ein temperamentvolles Kind in sein Zimmer schicken, damit es sich anzieht, wird es dies nie tun. Irgendetwas auf dem Weg in sein Zimmer – vielleicht ein helles Licht am Fenster – wird seine Aufmerksamkeit fesseln, und es wird das Anziehen vergessen. Es kann zehn Minuten dauern, um das Kind aus dem Haus ins Auto zu bringen. Es bemerkt alles – den neuen Ölfleck, die weiße Feder im Vogelnest und den Tau im Spinnenetz. Häufig wirft man diesen Kindern vor, sie würden nicht zuhören.
5. SCHLECHTES ANPASSUNGSVERMÖGEN: Temperamentvolle Kinder tun sich mit Veränderungen schwer. Sie hassen Überraschungen und wechseln nicht so einfach von einer Aktivität oder Idee zur nächsten. Wenn Ihr Kind zum Abendessen Hamburger vom Grill erwartet, bewahre der Himmel Sie davor, mit dem Vorschlag heimzukommen, essen zu gehen. Selbst wenn Sie das Lieblingsrestaurant vorschlagen, wird Ihr Kind sagen: »Nein, ich will Hamburger vom Grill.«
Es ist für diese Kinder schwierig, mit jeder Art von Veränderung zurechtzukommen: ein Spiel zu beenden, um zum Essen zu kommen, sich in den verschiedenen Jahreszeiten anders zu kleiden, bei der Oma zu schlafen anstatt daheim, ins Auto zu steigen und dann wieder aus dem Auto auszusteigen – alle diese Aktivitäten lassen bei temperamentvollen Kindern, die lange brauchen, um sich auf etwas neu einzustellen, einen Kampf erwarten.
Jedes temperamentvolle Kind ist einmalig, doch die meisten sind intensiver, ausdauernder, empfindlicher, haben eine höhere Wahrnehmungsfähigkeit und können sich Veränderungen schlechter anpassen. Viele, aber nicht alle, besitzen vier zusätzliche »Bonus«-Merkmale: Aspekte ihrer Persönlichkeit, die es noch herausfordernder machen können, ihre Eltern zu sein.
6. PROBLEME MIT DER REGELMÄSSIGKEIT: Es ist ein tägliches Geduldsspiel für Eltern temperamentvoller Kinder herauszufinden, wann diese schlafen oder essen werden. Es erscheint unmöglich, sie an irgendeine Art von Zeitplan zu gewöhnen. Eine Nacht mit achtstündigem ungestörtem Schlaf ist für Sie nur noch eine ferne Erinnerung an die Zeit vor ihrer Geburt.
7. HOHE ENERGIE: Die Geschichten, die ich von Eltern über ihre temperamentvollen Kinder höre, sind wirklich verblüffend – so wie die eines zwei Wochen alten Babys, das die gesamte Länge eines Doppelbetts hinunter»robbte« und kurz davor war, auf dem Boden zu landen, als sein Vater nach ihm schaute. Oder die Geschichte von dem Kleinkind, das die Backofentür öffnete und sie dazu nutzte, um auf die Arbeitsplatte und von dort aus oben auf den Kühlschrank zu klettern.
Nicht alle temperamentvollen Kinder sind Kletterer und Springer. Aber alle neigen zu großer Geschäftigkeit: Sie zappeln, zerlegen Dinge, gehen auf Erkundungstour und verfolgen bestimmte Projekte – von dem Moment an, an dem sie aufwachen, bis sie irgendwann endlich schlafen. Obgleich sie gelegentlich als »wild« angesehen werden, ist ihre Energie in der Regel fokussiert und verfolgt einen Zweck.
Es mag Sie überraschen, dass nicht alle temperamentvollen Kinder energiegeladen sind. Doch meist ist es diese hohe Energie, die als Erstes die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zieht. Daher habe ich sie auch in den Untertitel dieses Buches aufgenommen. Sieht man jedoch genauer hin, ist es in der Regel eher die Bewegungsintensität oder Hartnäckigkeit, als die Energie selbst, die Probleme bereitet.
8. ERSTE REAKTION: Typisch für viele temperamentvolle Kinder ist, dass sie vor allem Neuen erst einmal zurückschrecken. Jede unbekannte Idee, jeder unbekannte Ort, jede unbekannte Person trifft auf ein heftiges »Nein!«, oder das Kind versteckt sich schnell hinter Ihnen oder in einem anderen Zimmer. Diese Kinder brauchen Zeit, um mit einer Sache oder Person warm zu werden, bevor sie bereit sind mitzumachen.
9. STIMMUNG: Für manche temperamentvollen Kinder ist die Welt ein ernster Ort. Sie sind analytisch, prüfen Erlebnisse akribisch, entdecken Fehler und machen Änderungsvorschläge. Selbst wenn sie beim Fußball drei Tore geschossen haben, fokussieren sie sich auf das eine, das sie verpatzt haben. Sogar wenn sie sich für etwas begeistern oder sich über ein Geschenk freuen, werden Sie das vielleicht nur schwer merken, da das Lächeln bei diesen Kindern ein seltenes Vergnügen ist.
Die Bonus-Eigenschaften sind nicht bei allen temperamentvollen Kindern vorhanden, sollte Ihr Kind jedoch eine davon besitzen, müssen Sie noch einfallsreicher sein. Sie leben nicht nur mit einem Kind zusammen, das in allem mehr ist, sondern werden auch mit der Erschöpfung konfrontiert, die das Leben mit einem Kind mit sich bringt, das energiegeladen ist, nur selten einen vorhersehbaren Schlaf- und Essenszeitplan einhält, starken Widerstand gegenüber neuen Situationen und Dingen zeigt und Sie seltener mit einem Lächeln belohnt. Verzweifeln Sie nicht. Auch diese Kinder haben ihr Potenzial!
Vater oder Mutter eines temperamentvollen Kindes zu sein, kann ein einsames Unterfangen sein. Da diese Kinder mehr sind, bleiben viele Ratschläge, die für das Aufziehen anderer Kinder funktionieren, bei temperamentvollen Kindern wirkungslos. Es wäre lächerlich, die Wutanfälle Ihres temperamentvollen Kindes zu ignorieren. Es kann sich eine Stunde lang wie wild aufführen, weil Sie die Tür aufgemacht haben, während es erwartet hatte, dies selbst zu tun. Schicken Sie es für eine Auszeit in sein Zimmer, und es wird dieses auseinandernehmen. Es lässt sich nicht ablenken von etwas, was es unbedingt tun oder haben will. Selbst wenn ein Gegenstand weggesperrt ist, wird es über Hindernisse klettern, darunter durchkriechen oder diese umgehen, um ihn wiederzubekommen. Als Ergebnis können Sie das Gefühl haben, verrückt zu sein, können überlegen, was Sie falsch machen, sich dafür schelten, nicht »die Kontrolle zu gewinnen« und denken, sie seien der einzige Elternteil auf der Welt mit einem Kind, das sich so aufführt. Genau so fühlte sich Abby, bis sie anderen Eltern begegnet ist, die verstanden, was es bedeutet, ein Kind zu haben, das in allem mehr ist. Abby ist eine von Tausenden von Müttern und Vätern, mit denen ich in meinen Kursen für Familienbildung gearbeitet habe. Sie musste lächeln, als sie mir von dem ersten Mal erzählte, als sie die Worte temperamentvolle Kinder gelesen hatte. Sie standen in großen blauen Buchstaben auf dem Whiteboard am Eingang zu dem Familienzentrum, an dem ich unterrichtete. Im Eingangsbereich dieses Zentrums gab es ein großes hölzernes Klettergerüst, das zum Klettern einlud, ein blaues Trampolin und übergroße rote Kissen.
An diesem ersten Tag hatte sie das Gebäude eilig betreten, ihren dreijährigen Sohn Owen im Schlepptau. Sie waren zu spät dran für den Kurs. Später erzählte sie mir, dass sie an diesem Tag durch einen Faden in Owens Socke ausgebremst worden waren, der die einfache Aufgabe, Socken anzuziehen, in eine viertelstündige Geduldsprobe verwandelt hatte, während der sie sorgfältig alle losen Fäden entfernt und die Socke so lange gedreht hatte, bis sie sich für ihn richtig anfühlte. Darauf folgten Tränen und Geschrei, weil die Etiketten im Kragen seines Pullovers ihn am Hals kratzten und die Ärmelbündchen zu eng waren.
Nun, zwei Monate später, haben sich ihre Vermutungen bestätigt: Das Großziehen eines temperamentvollen Kindes verlangt mehr. Aber sie kann heute Owens Empfindlichkeit schätzen, kann seine »Auslöser« vorhersehen und Wutausbrüche vermeiden. Sie hat gelernt, dass es Verständnis, Geschicklichkeit und Geduld verlangt, mit dem Temperament umzugehen, dass dies jedoch möglich ist. Ja, es kann sogar Spaß machen.
Genau wie Abby habe auch ich von anderen Eltern gelernt. Und ich habe mit ihnen gelacht und mich mit ihnen gesorgt. Ich habe ihr Verständnis für das Leben mit einem temperamentvollen Kind und ihre Unterstützung wertgeschätzt. Ich habe meine Notizen und Tagebucheinträge aus diesen Jahren aufbewahrt und mir nun selbst die Aufgabe gestellt, die Informationen und Methoden festzuhalten, die das Leben mit dem Temperament belohnender und vergnüglicher machen.
Bevor wir nun ein Stück des Weges gemeinsam gehen, möchte ich Sie an ein paar Dinge erinnern. Ich habe sie in Form eines Credos aufgeschrieben. Für mich sind sie die wesentlichen Grundlagen für das Leben mit temperamentvollen Kindern und den Aufbau einer gesunden und warmherzigen Beziehung zu ihnen. Ich empfehle Ihnen, dieses Credo für die schlimmen Tage, an denen Sie sich sehr allein fühlen, an die Kühlschranktür zu hängen und sie an guten Tagen mit einer Freundin oder einem Freund zu teilen.
Ein Credo für die Eltern temperamentvoller Kinder
1. Sie sind nicht allein. Persönlichkeitsforschungen zufolge passt auf 15 bis 20 Prozent aller Kinder die Beschreibung des temperamentvollen Kindes. Folglich gibt es also Millionen Eltern, die sich in Sie hineinversetzen können und verstehen, mit welchen Herausforderungen Sie es zu tun haben. Ihr Kind ist weder merkwürdig noch ein Sonderling. Sie sind nicht die schlechtesten Eltern der Welt. Sie sind nicht die einzigen Eltern eines solchen Kindes. Sie sind von Freunden umgeben.
2. Es liegt nicht an Ihnen, dass Ihr Kind temperamentvoll ist. Es gibt einen genetischen Faktor dafür, temperamentvoll zu sein, aber wie sich die Gene eines Menschen im Verhalten ausdrücken, wird signifikant von Lebensereignissen beeinflusst. Sie sind nur einer von vielen Einflüssen im Leben Ihres Kindes. Der andere Elternteil, Verwandte, Geschwister, Lehrer, Nachbarn, Freunde, Lebenserfahrungen und die Welt insgesamt spielen alle eine Rolle. Sie machen einen großen Unterschied aus, aber nicht den einzigen.
3. Sie sind nicht machtlos. Dieses Buch enthält Informationen, die Ihnen helfen werden, Ihr temperamentvolles Kind zu verstehen. Sie können sie lesen und anwenden. Sie können Fertigkeiten stärken, die Sie bereits haben, und neue erlernen. Sie können die Auseinandersetzungen reduzieren und in Frieden mit Ihrem temperamentvollen Kind leben – an den meisten Tagen zumindest. Fortschritt, nicht Perfektion ist unser Ziel.
4. Sie dürfen für sich selbst sorgen. Ihr eigenes Bedürfnis nach Schlaf, Ruhe, Erwachsenengesprächen ohne Unterbrechung, nach Liebe, einem gemütlichen Bad, einem Spaziergang um den Block und Zeit für eigene Projekte ist legitim. Es ist kein Zeichen von Versagen, eine Freundin/einen Freund um Hilfe zu bitten, einen Babysitter zu engagieren oder Verwandten die Gelegenheit zu geben, eine Beziehung zu Ihrem Kind aufzubauen, während Sie eine Pause einlegen. Wenn Sie Ihren Bedürfnissen gerecht werden, sind Sie ruhiger und können dann auch Ihr Kind besser beruhigen.
5. Sie können sich an Ihrem temperamentvollen Kind erfreuen und es feiern. Sie können sich auf seine Stärken konzentrieren, sein empfindsames und liebevolles Herz wertschätzen und Ihre Fantasie anregen lassen von seinen wilden Geschichten und verrückten Kreationen. Es ist angemessen und richtig, dass Sie Ihrem Kind sagen, wenn es etwas gut macht, und nicht, wenn es etwas schlecht macht, ihm richtiges Verhalten beizubringen, anstatt es für arglose Fehler zu bestrafen. Ihr temperamentvolles Kind besitzt Persönlichkeitszüge, die wir bei Erwachsenen schätzen. Sie können seine Tugenden nicht früh genug loben.
Da ich gelernt habe, mich auf die Stärken temperamentvoller Kinder zu fokussieren, ist mir klar geworden, dass ich von Erwachsenen umgeben bin, die selbst einmal temperamentvolle Kinder waren. Von Erwachsenen, die ich bewundere und an denen ich meine Freude habe: Sie sind intensive Menschen.
Es gibt geschichtliche Persönlichkeiten, bei denen ich stark vermute, dass auch sie temperamentvolle Kinder waren. National Public Radio hat in einer Sendung Thomas Edison gewürdigt. Ich erinnere mich, dass ich in mich hineinlachen musste, als ich den Rundfunksprecher sagen hörte: »Thomas Edison erfand den Fonografen, die elektrische Glühbirne, den Telegrafen, die Filmkamera und den Filmprojektor. Er war ein Mann, der nicht wusste, wann es an der Zeit ist aufzuhören.«
Ich dachte an seine Mutter. Ich überlegte, wie oft das Essen wohl kalt geworden war, wenn er wieder einmal vergaß, zum Essen heimzukommen, oder wie oft sein Vater ihn angeschrien haben mochte, er solle aufhören, zu Hause alles auseinanderzunehmen. Heute erfreuen wir uns an seinen Erfindungen, wenn wir uns bei einem Film entspannen oder zu jeder Tageszeit ein gutes Buch lesen können. Wir rühmen seine Ausdauer, seine Zielstrebigkeit, sein ausgeprägtes Wahrnehmungsvermögen und seine Tatkraft.
Dann sind da noch die normalen Leute, nicht die, die wir in Filmen sehen oder über die wir hören, sondern die Menschen, mit denen wir jeden Tag leben wie mein Ehemann, der die kleinen Dinge des Lebens bemerkt und mich zum Lachen bringt. Oder meine Freundin, die so viel Energie besitzt, dass sie bei mir sogar dann noch einspringt, nachdem sie sich um ihre eigenen Dinge gekümmert hat. Und meine Nichte, die beim Monopoly nicht aufgibt, die uns alle besiegt, wenn wir anderen bankrottgegangen sind.
Das alles sind Menschen, die gelernt haben, sich selbst zu verstehen, ihre Stärken gut zu nutzen und ihre Schwächen zu minimieren. Sie sind normal. Sie sind mehr als normal. Sie sind temperamentvoll.
Es kann beängstigend sein, ein Kind zu haben, das so stark und entschlossen ist, und Sie werden sich vielleicht fragen, ob noch mehr dahinterstecken könnte. Daher werde ich oft gefragt: »Woher wissen Sie, ob Ihr Kind einfach temperamentvoll ist oder ob es ein medizinisches Problem hat wie eine Aufmerksamkeitsstörung mit oder ohne Hyperaktivität, eine sensorische Integrationsstörung, eine Störung im Sozialverhalten mit oppositionellem Trotzverhalten, eine tiefgreifende Entwicklungsstörung oder sonstige Störungen?«
Was ich in den Jahrzehnten gelernt habe, in denen ich mit temperamentvollen Kindern und ihren Familien gearbeitet habe, ist, dass temperamentvolles Verhalten absolut in den Rahmen typischen menschlichen Verhaltens passt – es ist in allem mehr, aber normal.
Wenn Sie das Temperament verstehen und die Informationen nutzen, die Sie in diesem Buch finden, können Sie Ihrem Kind die Fertigkeiten beibringen, die es braucht, um mit seinem Temperament umzugehen und es gut zu nutzen. Es wird sich in der Schule auf die jeweilige Aufgabe fokussieren und erfolgreich sein können. Es wird problemlos zu einer Gruppe von Kindern auf dem Spielplatz gehen und mit Gleichaltrigen spielen. Und wenn Sie es bitten zu warten, bis es an der Reihe ist, ins Auto zu steigen oder sich anzuziehen, wird es in der Lage sein, diesen Aufforderungen nachzukommen, ohne auszurasten – meistens zumindest. Genau wie die anderen Kinder, die Sie kennen, wird Ihr temperamentvolles Kind unter Ihrer Anleitung letztlich mit Erfolg die Aktivitäten und Aufgaben eines normalen Tages bewältigen. Häufig wird es dabei glänzen.
Ein temperamentvolles Kind kann aber auch ein medizinisches Problem haben. So kann es beispielsweise temperamentvoll sein und eine Verarbeitungsstörung oder Entwicklungsverzögerung haben. Oder sein Verhalten kann eher ein medizinisches Problem als ein ausgeprägtes Temperament widerspiegeln. Sein Verhalten kann sich von einem »typischen« temperamentvollen Verhalten bis zu extremeren Varianten desselben Verhaltensmerkmals erstrecken, die eine Entwicklungsstörung oder eine neurologische Störung anzeigen können.
Wenn Sie daher Ihrem Kind die Fertigkeiten beibringen, mit seinem Temperament gut umzugehen und ihm Gelegenheit geben, diese zu üben, es aber dennoch weiter damit zu kämpfen hat, sich in der Schule zu konzentrieren, sich einer Gruppe von Gleichaltrigen anzuschließen oder es jedes Mal ausrastet, wenn Sie eine Kleinigkeit von ihm verlangen – vertrauen Sie Ihrer Intuition. Ihr Bauchgefühl wird Ihnen sagen, wenn Häufigkeit, Intensität oder Dauer seines Verhaltens anders sind als bei anderen Kindern, die Sie kennen – auch anderen temperamentvollen Kindern.
Nehmen Sie sich die Zeit, Verhaltensweisen, die Ihnen Sorgen bereiten, zu notieren oder auf Video aufzunehmen und dann einen Kinder- oder Jugendmediziner zu konsultieren, eine örtliche Organisation oder eine sonstige Berufsgruppe aufzusuchen, die mit Kindern arbeitet. Deren Erfahrung und Sichtweise kann Ihnen zu erkennen helfen, ob Ihr Kind temperamentvoll ist und tatsächlich ein medizinisches Problem vorliegt, d. h. ob das Verhalten Ihres Kindes mehr widerspiegelt als typische Probleme in Zusammenhang mit seinem ausgeprägten Temperament.
In diesem Fall suchen Sie die medizinische Hilfe, die Ihr Kind braucht. Eine frühe Diagnose und Behandlung sind entscheidend, aber selbst wenn bei Ihrem Kind eine medizinische Diagnose gestellt wird, lesen Sie dieses Buch weiter. Zusätzlich zu therapeutischen Hilfen ist es gleichermaßen wichtig, dass Sie Ihrem Kind weiterhin die nötigen Strategien beibringen, um seine Gefühle und Bedürfnisse respektvoll auszudrücken, einschließlich der Worte und Handlungen, um mit seiner Intensität und Empfindlichkeit umgehen zu können, mit neuen Situationen zurechtzukommen und mit anderen zu kooperieren. Damit stellen Sie ihm sowohl die erforderliche Behandlung als auch die nötigen Informationen und die nötige Übung zur Verfügung, die es für eine positive Entwicklung braucht. Lassen Sie mich Ihnen also die Hoffnung und das Handwerkszeug vermitteln, damit Sie eine Familie aufbauen können, in der sich Ihr Kind mit seinem Temperament positiv entwickeln kann.
»Als ich ein kleiner Junge war, nannten sie mich einen Lügner, jetzt, wo ich erwachsen bin, nennen sie mich einen Schriftsteller.«
Isaac Bashevis Singer
Ich sammle gerne Etiketten. Alle Arten von Etiketten: solche, die auf Dosen kleben, und solche, mit denen Menschen klassifiziert werden. Heute habe ich das Etikett auf einer Suppendose genau gelesen. Es ist knallrot auf einem sehr hellen Weiß. Mit seinen kräftigen fröhlichen Farben macht es mich glücklich. Einige gelbe Farbkleckse verkünden mir, dass es eine »HÜHNERSUPPE mit BUCHSTABENNUDELN und Gemüse ist«. Es ist interessant, wie sie das Gemüse verstecken und die Buchstabennudeln hervorheben. Das Etikett auf der Rückseite nennt die Zutaten, und ein Siegel bestätigt, dass die US-Regierung diese Suppe geprüft hat. Das Etikett sagt mir viel. Noch bevor ich die Dose öffne, weiß ich, was darin ist, und ein Stempel bestätigt, dass die Regierung den Inhalt geprüft hat. Firmen geben Tausende, ja Millionen von Dollar für die Entwürfe solcher Etiketten aus, um sicherzustellen, dass wir sie verlockend finden und die Waren kaufen wollen.
Die Etiketten, mit denen Menschen gekennzeichnet werden, sind nicht immer so bezaubernd. Es gibt sie in vielen Formen, Spitznamen wie »Griesgram« und »Heulsuse«, Titel wie »Besserwisser« und »Boss« und Schlagworte wie »Lahmarsch« und »Tagträumer«. Einige sind hell und bunt, und ich fühle mich gut, wenn ich sie höre, z. B. kleiner Scooter und Spatzilein. Einige wie Heulsuse und Griesgram sind düster und trostlos und haben einen sauren Beigeschmack, wenn sie über meine Lippen kommen. Alle Etiketten unterstreichen eine besondere Eigenschaft, ein feststellbares Merkmal. Sie sagen mir etwas über einen Menschen, selbst wenn ich ihm nie begegnet bin. Leider beinhalten diese Bezeichnungen nicht eine bestimmte Abstufung, sodass ich, wenn ich Griesgram höre, nie weiß, ob der betroffene Mensch ein bisschen oder sehr griesgrämig ist.
Temperamentvolle Kinder scheinen geradezu um Etiketten zu betteln und zwar um keine sehr positiven. Alle Kinder werden einmal mit Beinamen belegt, aber temperamentvollen Kindern gelingt es, eine Überfülle an schrecklichen, elenden und schlecht gestalteten Etiketten einzusammeln, die wie lästige Mücken auf ihrem Rücken kleben und dabei kleine Beulen auf der zarten glatten Haut hinterlassen. Das kann in jeder Familie vorkommen, so wie es bei Caroline der Fall war.
»Mein Mann sagt, wir hätten sie Hilde taufen sollen, dann hätten wir sie ›Hilde, die Wilde‹ nennen können.« Caroline sagte das lachend, während wir ihrer dreijährigen Tochter Hazel zuhörten, die ihre Spielkameraden im Sandkasten »kommandierte«.
»Aber ernsthaft, mir war nie klar, wie einfach es ist, ihr ein Etikett anzuhängen, und allmählich sehe ich, welchen Einfluss das auf sie hat. Sie ist die Jüngste, das Überraschungsbaby in unserer Familie. Sie ist so anders als unsere beiden ersten Kinder, sodass wir sie immer als ›Wilde Hummel‹ bezeichnet haben. Gestern hat meine Mutter sie getadelt, weil sie auf der Couch herumhüpfte. Hazel entschuldigte sich mit den Worten: ›Oma, das ist in Ordnung. Ich bin doch die wilde Hummel.‹«
Klebt ein Etikett erst einmal an uns, neigen wir dazu, passend zu diesem Etikett zu handeln, selbst wenn es falsch ist. Dieser scheinbar magische Sprung vom Etikett in die Wirklichkeit wird als ›Pygmalion-Effekt‹ bezeichnet und ist von Forschern gut dokumentiert. Tatsächlich lernen Kinder von anderen Menschen, wer sie sind. Denken Sie einmal an temperamentvolle Kinder, die Sie kennen. Welche Worte wählen Sie, um diese Kinder zu beschreiben? Klingen sie wie Formulierungen von Werbeagenturen, die für Millionen Dollarbeträge kreiert werden, wie Worte, die den Wunsch in Ihnen wecken, mehr solcher temperamentvoller Kinder zu haben? Sind es Beschreibungen, aufgrund derer andere Sie um die Möglichkeit beneiden, ein temperamentvolles Kind aufzuziehen? Etiketten, die Sie vor Stolz schwellen lassen, bei denen Sie anerkennend lächeln und vor Freude vor sich hinlachen? Positive Worte, bei denen im Fokus steht, was gut ist, nicht was falsch ist?
Seien wir ehrlich: Das ist ziemlich unwahrscheinlich.
Die meisten von uns sehen sich einer Palette an ausgesprochenen und unausgesprochenen Kennzeichnungen gegenüber, die Einfluss darauf haben, wie wir über unsere temperamentvollen Kinder denken, empfinden und wie wir uns ihnen gegenüber verhalten. Wenn wir eine gesunde Beziehung zu ihnen aufbauen wollen, müssen wir diese Etiketten auf den Tisch legen, müssen sie zerlegen und dann die neu gestalten, die dafür verantwortlich sind, dass wir und unsere Kinder uns mies fühlen – die Etiketten, die unseren Blick trüben und das Potenzial in unseren Kindern verbergen.
In jeder Familie gibt es andere Etiketten. Sie müssen die Ihren zerlegen und neu entwerfen, aber lassen Sie sich von mir in einen meiner Kurse für temperamentvolle Kinder einladen und hören Sie sich einige Etiketten an, die andere Eltern zusammengestellt haben. Glauben Sie mir, Sie sind nicht der einzige Elternteil, der insgeheim einige trostlose Eindrücke über ein temperamentvolles Kind in sich trägt.
Der Beginn eines Kurses für temperamentvolle Kinder ist ein chaotisches Ereignis, denn dann sind vierzehn Eltern und meist achtzehn Kinder gleichzeitig da. Der Tumult ist das Erste, was auffällt – eine Geräusch-Collage. Da sind glückliche Geräusche dabei: aufgeregtes Geschrei, Gelächter und die »Schau mal«-Rufe nach Mama und Papa, wenn flinke kleine Körper von der Rutsche aufs Trampolin springen. Oder ängstliche Geräusche: Protestgeschrei und Erklärungen wie »Ich will nicht«, wenn Kinder ihre Arme um die Beine von Mutter oder Vater schlingen und die Erwachsenen zwingen, mit steifen Beinen durch den Raum zu gehen. Die ersten Minuten verbringen die Familien gemeinsam, dann trennen sie sich. Die Kinder machen mit ihrem Programm weiter, während die Eltern in eine Diskussionsgruppe gehen. »Das heutige Thema sind Etiketten«, verkünde ich und gebe jedem Elternteil drei Karteikarten. Ich bitte sie, auf jede Karte ein Wort zu schreiben, das ihr Kind an »schlechten Tagen« beschreibt. Einige bitten sofort um mehr Karteikarten und behaupten, drei würden nicht annähernd ausreichen. Alle lachen. Es ist ein gutes Gefühl zu merken, dass auch andere Menschen einige ungute Gedanken hegen.
Manche Eltern füllen die Karten sofort aus. Andere rutschen auf ihrem Stuhl herum, zögern, ihr Stift schwebt noch in der Luft. Die Vorstellung, so schreckliche Gedanken öffentlich zuzugeben, ist für sie fast unerträglich. Ich versichere, dass die Karten nach vorne gegeben, gemischt und wieder ausgeteilt werden. Niemand muss die Urheberschaft für das Etikett, das er geschrieben hat, übernehmen. Sie können ganz ehrlich sein.
Nachdem die Karten gemischt wurden, lasse ich sie herumgehen und jeder am Tisch nimmt sich eine. Mike, ein zurückhaltender und beobachtender Vater von zwei Kindern – eines davon ist temperamentvoll –, bricht das Schweigen.
»Streitlustig«, liest er. »O ja, mein Sohn Jayden streitet über alles. Gestern hat er versucht, mich davon zu überzeugen, dass die Sonne nicht scheint. Ich bin nicht blind, die Sonne schien. ›Schau aus dem Fenster‹, sagte ich zu ihm. ›Die Sonne scheint.‹ Und wissen Sie, was Jayden darauf geantwortet hat? ›Ja, in China aber nicht.‹« Die anderen lachen und denken an ihre eigenen ausweglosen Debatten. Als das Gelächter verstummt ist, dreht Jennifer eine Karte um.
»Hört nie auf«, liest sie.
Dieses Mal schaltet sich Abby mit ein. »Ich habe vier Kinder, und Bea hält mich vierundzwanzig Stunden am Tag auf Trab. Von dem Moment an, wo sie aufwacht, bis zu dem Moment, wo sie einschläft, bin ich im Dienst. Ich bin fertig. Ich brauche eine Pause.« »Ich auch«, stimmt Amanda zu. »Elizabeth ist zwei Jahre alt, und ich warte noch immer darauf, dass sie nachts endlich durchschläft. Ich weiß nie, wann sie einschlafen und wann sie wieder aufwachen wird.« Dann fügt sie mit einem verlegenen Blick in die Runde hinzu: »Und Sex. Was ist das? Ich glaube mich zu erinnern, dass es um Liebemachen geht. Zumindest einmal muss ich das ja gehabt haben.«
Die anderen johlen vor Vergnügen.
»Ich kann gar nicht glauben, dass noch jemand außer mir das geschrieben hat«, gesteht Sarah und zeigt ihre Karte. Aggressiv steht dort in großen fetten Buchstaben
»Falls das irgendjemandem hilft«, wirft Jacob ein, »ich habe explosiv geschrieben. Die täglichen ›Raketenstarts‹ sind mehr, als ich ertragen kann. Allmählich fühle ich mich wie ein Berufsastronaut.«
»Also vielleicht ist mein Kind gar nicht so schlimm, wie ich dachte«, kichert Laura. »Ich bin schon frustriert, weil sie so pingelig ist. Die Pfannkuchen müssen auf beiden Seiten gleich braun sein. Ihre Kleidung muss sich richtig anfühlen.«
Die Liste wird immer länger.
• anspruchsvoll
• völlig verrückt
• destruktiv
• aufsässig
• unvorhersehbar
• total anstrengend
• diktatorisch
• explosiv
• streitlustig
• dickköpfig
• pingelig
• laut
• grob
• weinerlich
• unflexibel
• durch nichts von seinem Plan abzubringen
Es ist eine schockierende Liste, die alle überraschend trifft. Stille hängt im Raum, die Ungeheuerlichkeit der Liste hat uns schmerzlich getroffen. Jeder Begriff ist ein Etikett und sagt etwas über den »Inhalt« aus. Diese Begriffe wirken auf uns nicht verlockend und wecken definitiv keine Begehrlichkeiten. Unbewusst weichen wir zurück, als hätten wir einen Schlag abbekommen.
»Stellen Sie sich ein Kind vor«, beginne ich mit leiser Stimme, »das versucht, ein gesundes Selbstgefühl zu entwickeln und mit Begriffen wie dickköpfig, explosiv und streitlustig beschrieben wird. Dabei sind aber nicht nur die Kinder betroffen, sondern auch wir. Lassen Sie mich Ihnen zeigen, was ich meine.«
Ich weise jede Mutter und jeden Vater an zu sagen: »Mein Kind ist …« und dann dem Partner die Liste laut vorzulesen. Als ich in die Runde blicke, bemerke ich, dass Jennifers Hals und Gesicht von heftiger Röte überzogen sind. Sie wischt sich einige Tränen ab, wendet sich mir zu, schüttelt den Kopf und sagt: »Das kann ich nicht.«
»Es ist in Ordnung, wenn wir Sie auslassen«, versichere ich ihr. Plötzlich explodiert ein Durcheinander von Stimmen um sie herum, als andere Eltern jedes Etikett laut vorlesen. Dann wird es still im Raum. Mit hängenden Schultern sacken alle auf ihren Stühlen zusammen. »Was geschieht in Ihrem Körper?«, frage ich in die Runde.
»Mir ist übel«, antwortet Megan und hält sich den Bauch. Mit einer Hand auf ihrem Herzen sagt Abby mit zitternder Stimme: »Mein Herz rast.«
Lyssa fächelt ihrem Gesicht Luft zu: »Ich habe eine Hitzewallung.«
Jennifer wischt sich eine weitere Träne aus dem Gesicht.
Die Etiketten, die wir verwenden, scheinen einfach nur Worte zu sein, sie haben jedoch die Macht, unsere Kampf- oder Fluchtreaktion auszulösen. Dabei handelt es sich um eine unbewusste physiologische Reaktion, bei der Herzfrequenz und Puls sprunghaft ansteigen, unsere Atmung sich beschleunigt und Blut rasch in unsere Extremitäten fließt – alles als Vorbereitung auf Kampf oder Flucht. Ich nenne diesen Zustand die »rote Zone«.
In der roten Zone erleben wir den Tunnelblick. Völlig auf die potenzielle Bedrohung eingestellt, verlieren wir unsere Fähigkeit, zu denken, Probleme zu lösen, die Stimmen anderer zu hören oder ihnen in die Augen zu blicken. Diese Reaktionen machen es uns unmöglich, uns in unsere Kinder hineinzuversetzen. In diesem Zustand nehmen wir sogar neutrale Gesichter als wütend und zurückweisend wahr. Wir halten arglose Handlungen für absichtlich und boshaft. Anstatt uns unseren Kindern zuzuwenden, um ihnen Trost und Fürsorge anzubieten, programmieren die negativen Etiketten unser Gehirn darauf, »kampfbereit« zu sein.
Wie ein wirbelnder Hurrikan zerstört diese Negativität unsere Beziehung. Sie ist so mächtig, dass der Psychologe John Gottman in Paar-Gesprächen feststellte, dass er bei einem Verhältnis von 2,9 negativen Äußerungen auf eine positive Äußerung vorhersagen konnte, dass dieses Paar auf eine Scheidung zusteuerte. Hingegen hatten Paare mit einer gesunden Beziehung ein Verhältnis von nur einem negativen Kommentar auf fünf positive Äußerungen.
Sie können noch heute damit beginnen, keine Worte mehr zu verwenden, die ein negatives Bild Ihres Kindes projizieren. Es ist wirklich kein so großer Sprung von pingelig zu wählerisch oder sogar von unausstehlich zu spektakulär. Durch ein verändertes Vokabular können Sie dafür sorgen, dass Ihr Kind von Ihnen und anderen anders wahrgenommen wird. Sie können ein neues Bild schaffen, das sich gut anfühlt, gut aussieht und sozial gebilligten Standards entspricht. Damit nützen Sie Ihrem Kind und sich selbst. Die physiologischen Reaktionen Ihres Körpers und Ihres Gehirns werden sich verändern, da negative Etiketten im Nervensystem wie schon erwähnt eine durch Angst verursachte Kampf- oder Fluchtreaktion auslösen können (weshalb die Eltern, die die Etiketten für Ihre Kinder laut vorlasen, starke körperliche Reaktionen empfanden). Die Verwendung der neuen Sprache wird Ihren Organismus beruhigen und Ihnen helfen, sich sogar an schlechten Tagen vertrauensvoll und kompetent zu fühlen.
Nehmen Sie ein Blatt Papier und schreiben Sie auf der linken Seite alle Worte auf, die Ihnen einfallen, um die verrückten, unausstehlichen Dinge zu beschreiben, die Ihr temperamentvolles Kind macht. Sorgen Sie dafür, auch die schlimmsten nicht auszulassen – also auch die, bei denen Sie die wenigsten Chancen sehen, sie durch positive Begriffe ersetzen zu können. Nehmen Sie in Ihre Liste auch Begriffe auf, die Sie von Verwandten, Freunden und Lehrern als Beschreibung Ihres Kindes gehört haben und bei denen Sie vor Wut entbrannt oder vor Beschämung ganz klein geworden sind. Tragen Sie alles zusammen.
Atmen Sie nun einmal tief durch, entspannen Sie Ihre Schultern, wackeln Sie mit den Zehen und schauen Sie sich einige Lieblingsfotos von Ihrem temperamentvollen Kind an, Fotos auf dem Computer oder Handy oder eingerahmte Fotos – oder Bilder, die Sie im Gedächtnis haben. Fokussieren Sie sich auf Bilder, auf denen sein forscher Blick, das ansteckende Grinsen, der gelenkige Körper oder sein verrückter »persönlicher Stil« beim Outfit zur Geltung kommen. Haben Sie dieses Bild vor Ihrem inneren Auge, während Sie sich die Liste mit den miserablen Etiketten wieder ansehen. Das wird Ihnen helfen, das verborgene Potenzial in jedem der Worte zu entdecken.
Wenn Sie sich die Liste genau anschauen, werden Sie sehen, dass diese elenden Etiketten häufig Stärken widerspiegeln, die auf die Spitze getrieben werden. Finden Sie diese Stärken heraus und benennen Sie sie. So kann beispielsweise mit etwas Anleitung und Kompetenztraining Dickköpfigkeit in Ausdauer verwandelt werden – und diese steht bei der Vorhersage künftigen Erfolges an erster Stelle. Aufgedreht kann bei entsprechender Fokussierung zu energiegeladen werden. Die Möglichkeiten sind endlos.
Ihre Liste kann ähnlich aussehen wie diese, die in unserer Gruppe entstanden ist:
Alte negative Etiketten
Neue spannende Etiketten
•anspruchsvoll
•hält an hohen Standards fest
•völlig verrückt
•kreativ
•destruktiv
•leidenschaftlich neugierig
•aufsässig
•charakterfest
•unvorhersehbar
•flexibel
•weinerlich
•ausdrucksstark
•grob
•ehrlich
•explosiv
•leidenschaftlich
•streitlustig
•künftiger Rechtsanwalt
•dickköpfig
•zielorientiert
•pingelig
•wählerisch
•diktatorisch
•stark
•durch nichts von seinem
•fokussiert Plan abzubringen
•unflexibel
•traditionsbewusst
•total anstrengend
•energiegeladen
•laut
•voller Eifer
»Mein Kind ist …« Ich lade die Gruppe ein, zusammen mit mir die neue spannende Etikettenliste laut vorzulesen. Immer mehr stimmen ein. Ein Lächeln breitet sich aus. Ein Seufzer der Erleichterung begleitet das letzte Wort.
»Wie fühlen Sie sich jetzt?«, frage ich.
»Voller Hoffnung«, erklärt Mike. »Es ist spannend, das Potenzial zu erkennen.«
Abby atmet lange und tief aus. »Ruhig.«
Jennifer lächelt. »Viel besser.«
Wenn wir ein positives Bild vor uns haben, verändert sich unsere Reaktion. Herzfrequenz und Puls verlangsamen sich und erlauben uns, den Stimmen anderer zuzuhören, zu denken, Probleme zu lösen und sogar einen gewissen Sinn für Humor beizubehalten. Das Gehirn sagt dem Körper: »Wir sind in Sicherheit. Das ist jemand, den wir lieben und der uns liebt.« Als Ergebnis lächeln wir noch mehr. Wir bieten unserem Gehirn weitere positive Informationen an. Unsere Geduld nimmt dann zu, und wir gönnen sogar unseren Kindern eine Pause. Neutrale Gesichter und Handlungen werden genau so wahrgenommen – neutral. Sie werden nicht mehr als potenzielle Bedrohung oder absichtliches Aufstacheln fehlgedeutet.
Die Entwicklungspsychologin J. J. Goodnow stellte bei ihren Forschungsarbeiten tatsächlich fest, dass Eltern, deren Kinder eine hohe Sozialkompetenz hatten, gelegentliche soziale »Rangeleien« ihrer Kinder nicht als Zeichen von Aggressivität auffassten. Stattdessen wurden solche Fehltritte einer eher temporären Ursache zugeschrieben, bei einem energiegeladenen Kind beispielsweise der Tatsache, dass es zu lange gespielt hatte. Das Ergebnis war, dass sie ihrem Kind gegenüber nicht wütend wurden, sondern sich dies einfach merkten, um es künftig früher aufzufordern, das Spiel zu beenden und dieses Problem damit zu vermeiden. Diese optimistische Sichtweise sorgte dafür, dass Eltern und Kind zusammenarbeiteten.
Sie können sich selbst beibringen, Ihre neuen Etiketten zu verwenden, wenn Sie über Ihre Kinder sprechen oder diese maßregeln. Zu dem Fünfjährigen, der sich weigert, das neue Outfit anzuziehen, das die Oma geschickt hat, können Sie beispielweise sagen: »Du hast wirklich ein ausgeprägtes Stilgefühl.« Und zu der Achtjährigen, die sich weigert, ins Bett zu gehen, bevor sie nicht das letzte Kapitel in ihrem Buch gelesen hat: »Du bist sehr ausdauernd und hältst an deinen Zielen fest.«
Mir ist klar, dass Sie jetzt vielleicht denken: Bekommt das Kind damit nicht einfach seinen Willen? Lassen Sie mich betonen, dass dies der Anfang der Unterhaltung ist – nicht das Ende. Letztlich werden Sie Ihrem Kind die Fertigkeiten beibringen, flexibel zu sein und ein kreativer Problemlöser zu werden. Damit solche Lektionen auch gehört und verarbeitet werden können, muss Ihr Kind ruhig sein. Das wird aber nicht der Fall sein, wenn Sie verärgert sind und Ihr Kind für dickköpfig oder schwierig halten.
Die Gefühle und Bilder, die das neue Etikett entstehen lässt, sind völlig anders als die durch die miesen Etiketten hervorgerufenen. Es ist ein gutes Gefühl, Mutter oder Vater eines Kindes zu sein, das durchsetzungsfähig, engagiert, wählerisch, ausdrucksstark, analytisch, begeistert und charismatisch ist. Diese Begriffe beschreiben möglicherweise sogar das Kind, das Sie sich erträumt haben.
Das Maßregeln kann beginnen, wenn Sie »Ihrem Kind näherkommen«. Durch das Visualisieren seiner Stärken werden Sie Ihrem Kind gegenüber ruhig und empathisch. Wenn Sie Ihr leidenschaftliches, kluges, neugieriges Kind vor sich sehen, das gerade zu kämpfen hat, erinnern Sie sich leichter daran, dass es Fertigkeiten erlernen kann, um die Dinge besser zu machen. Ihr Kind wiederum, das durch Ihr Vorgehen spürt, dass es von Ihnen geliebt wird und bei Ihnen sicher ist, wird sich Ihnen zuwenden, sich Ihrer Anleitung öffnen, und es wird ruhig genug sein, um diese auch zu hören.
Abby seufzt und sinkt tiefer in ihren Stuhl, als sie gesteht: »Ich versuche es wirklich. Ehrlich, ich wache nicht mit dem Plan auf, ihn einen ›kleinen Trottel‹ zu nennen. Aber an manchen Tagen ist das so schwer.«
Es ist ganz einfach, in die Falle zu tappen, Kinder mit Etiketten zu versehen. Selbst wenn Sie tendenziell ein unglaublich positiver Mensch sind, können Sie im Umgang mit Ihrem Kind in den Strudel negativer Etiketten geraten. Sie wissen vielleicht nicht einmal, wie es dazu kommen konnte. Wenn Sie Mutter oder Vater eines temperamentvollen Kindes sind, können die Emotionen roh und echt sein, Gefühle wie:
ANGST: »An manchen Tagen muss ich unweigerlich denken: ›Er ist genau wie mein Bruder.‹ Mein Bruder schneidet im Leben nicht gut ab.«
ERSCHÖPFUNG: »Jeden Tag denke ich: ›Wie lange wird es noch dauern, bis er mich wieder auf die Palme bringt?‹ Ich sage mir, dass ich es schon noch eine halbe Stunde aushalten werde, bis mein Mann nach Hause kommt, aber dann ruft er an und sagt, dass er später heimkommt!«
INKOMPETENZ: »An Tagen, an denen ich völlig überfordert bin, sagt meine Frau: ›Ruf deine Mutter an. Sie hat sechs Kinder großgezogen. Frag Jenna, wie sie es gemacht hat.‹ Ich kann nur sagen, dass ich nicht weiß, wie Jenna es gemacht hat, aber dass sie viel geweint hat.«
SCHAM: »Ich frage mich, ob ich etwas falsch mache. Ich sehe in meinem Kind sehr viel von mir – meine schlechten Eigenschaften. Ich bin ungeduldig und dickköpfig und mein Kind ist genauso. Meine Eltern ließen mich unmissverständlich wissen, dass ›brave Kinder‹ nicht ungeduldig und dickköpfig sind. Es bringt mich in Rage, wenn mein Kind sich so verhält.«
Diese Gefühle können schwer auf Ihrer Brust lasten und Ihre besten Absichten zunichtemachen. Das muss aber nicht sein. Es ist wirklich möglich, diese Last wie ein »Untier« zu verjagen. Ängste lassen sich beruhigen, sobald Ihnen klar geworden ist, dass temperamentvolle Kinder Gleichaltrige übertreffen können. Energie ersetzt die Erschöpfung, wenn Selbstfürsorge als wesentlich und edel anerkannt wird. Effizienz und Selbstvertrauen merzen Inkompetenz aus, wenn Sie das passende Handwerkszeug an wirksamen Strategien zur Hand haben. Hochstimmung lässt die Scham verblassen, wenn Sie bei einem Blick in den Spiegel erkennen, dass auch Sie temperamentvoll sind. Sie sind normal. Sie sind mehr.
Lesen Sie weiter. Ich liefere Ihnen die Insider-Informationen, damit Sie dem Untier die Tür weisen können.
Das Spannende an einer Veränderung des Vokabulars, das wir zur Beschreibung unserer temperamentvollen Kinder nutzen, ist, dass es ansteckend ist. Das hat Erica entdeckt.
»Es war verblüffend!«, äußerte sie. »Als ich Silas mit positiven Begriffen beschrieb, fingen meine Verwandten und seine Lehrer auch damit an. Wenn jemand klagte: ›Silas ist schrecklich laut‹, antwortete ich: ›Er ist richtig theatralisch, nicht wahr? Lassen Sie ihn nach draußen gehen, dann können wir das mehr schätzen.‹ Anfangs waren sie verdutzt, aber nach ein paar Minuten stimmten sie zu, dass er wirklich eine theatralische Art haben könnte. Nachdem ich das ein paarmal gemacht hatte, hörte ich, wie meine Mutter sagte: ›Silas, deine theatralische Seite kommt wieder zum Vorschein. Lass uns Musik anstellen und zusammen tanzen.‹ Es klappte sogar in der Schule. Als seine Lehrerin mir sagte, Silas sei dickköpfig, nickte ich zustimmend, sagte jedoch: ›Zu Hause stellen wir auch fest, dass er sehr ausdauernd ist.‹ ›So habe ich das bisher gar nicht gesehen‹, antwortete seine Lehrerin. ›Vermutlich ist es gar nicht schlimm, oder?‹ So veränderte sich die Art, wie sie ihn sah. Es ist wirklich ansteckend!«
Jason nickte zustimmend. »Auch für mich haben die Etiketten wirklich etwas verändert. Ich wurde geduldiger. Leo will immer selbst in seinen Autositz klettern. Wenn ich versuche, ihm zu helfen, bekommt er einen Wutanfall. Ich dachte, er sei dickköpfig und nicht kooperativ. Als ich ihn jedoch als selbstständig und zielorientiert betrachtete, merkte ich, dass dies gute Eigenschaften sind. Dieser Gedanke machte es mir leichter, zu warten und ihm ein paar Minuten Zeit zu geben. Leo bemerkte den Unterschied. Er rastet nicht mehr so schnell aus, wenn ich ihm schließlich ein bisschen helfe. Ich hätte niemals gedacht, dass ein paar Worte einen so großen Unterschied bewirken könnten. Aber so war es.«
Lassen Sie nicht zu, dass andere Sie mit verletzenden Etiketten einschüchtern. Bringen Sie ihnen bei, Worte zu verwenden, die das Potenzial Ihres Kindes widerspiegeln, indem Sie selbst diese Worte verwenden. Sie müssen mit anderen deswegen nicht einmal streiten. Lenken Sie deren Gedanken lediglich auf positivere Begriffe um.
Wie die Firmen, die Millionen von Dollars für die Entwicklung der Etiketten ausgeben, mit denen sie ihre Produkte kennzeichnen, müssen auch wir mit Bedacht handeln. Wenn Sie die negativen Bilder fallen lassen und bei sich selbst und anderen die neuen Etiketten einführen, die sich auf Stärken und Potenziale fokussieren anstatt auf Schwächen, umgeben Sie Ihr Kind mit einer Schutzhülle. Diese positiven Etiketten verändern nicht nur Ihr Vokabular, sondern auch Ihre Wahrnehmung und als Ergebnis daraus auch Ihr Handeln.
Der erste Schritt zum Aufbau einer gesunden, lebenslangen Beziehung zu Ihrem temperamentvollen Kind beginnt mit der Wahl der Worte, die Sie verwenden, um den »Inhalt« zu beschreiben. So einfach ist das.
»Da war eine Person in mein Leben gekommen. Eine reale Person, kein programmierbarer Roboter und keine leere, beschreibbare Schieferplatte, sondern eine Person, die auf ihre ganz eigene Art mit mir sprach und mir mitteilte, was sie mochte und was sie hasste – normalerweise mit einer sehr lauten und fordernden Stimme.«
Sue, dreifache Mutter
Die Fenster an zwei Seiten des Zimmers lassen den herbstlichen Sonnenuntergang herein und tauchen den gesamten Raum in eine rosa Farbe. Bevor die Familien zum Kurs kommen, schreibe ich gerne das Programm für den Abend auf das Whiteboard, aber heute schreibe ich nur eine einzige Frage auf:
»Wodurch wird ein Kind temperamentvoll?«
Die Eltern schlendern in den Besprechungsraum, unterhalten sich, nehmen sich einen Kaffee und suchen sich einen Stuhl. Es wird geseufzt, geächzt und nervös gelacht, als sie die Frage auf der Tafel lesen.
»Diese Frage versuche ich seit drei Jahren zu beantworten«, ruft Heather aus, ohne zu warten, bis jeder Platz genommen hat. »Ich habe mehr Nächte wach gelegen, als ich mich überhaupt erinnern möchte, und habe meine Schwangerschaft Revue passieren lassen. Was habe ich gegessen? Was habe ich gemacht? Ich habe mich dafür gescholten, Wasserski gefahren zu sein, als ich im zweiten Monat war. Auch wenn ich da noch gar nicht wusste, dass ich schwanger war, hätte ich es nicht tun sollen.«
Jason fügte an: »Ich denke immer wieder über die Geburt von Seth nach. Wie lange und schwer sie war. Vielleicht hätten wir einen Kaiserschnitt verlangen sollen.«
»Und ich dachte, es lag gerade am Kaiserschnitt«, meldete sich Kristin zu Wort.
»Ich hatte die Vermutung, es könnte daran gelegen haben, dass Jayden ein Frühchen war«, bemerkte Mike nachdenklich. »Er kam sechs Wochen zu früh und war die ersten Tage ziemlich krank.« Abby verzog das Gesicht. »Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich bei meiner Tochter irgendwie versagt habe.«
Ich hob die Hand, um die Aufmerksamkeit der Eltern auf mich zu ziehen. »Warten Sie einen Moment!« Ich musste beinahe schreien, um mir Gehör zu verschaffen. »Sie haben damit nichts zu tun.« Alle Köpfe wandten sich mir zu. Ein hörbarer Seufzer der Erleichterung ging durch den Raum.