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Der Autor schildert in diesem Buch seinen Umgang mit seiner zweiten Krebserkrankung. Sie erhalten einen Einblick in eine vielleicht ungewöhnliche Haltung und wie er die mentalen Fähigkeiten nutzt, um die Bedrohung zu bearbeiten. Sie lesen ein Buch voller Humor und gleichsam schockierender Offenheit. Sie erfahren, wie Sie auch in extremen und vielleicht auch aussichtslosen Krisensituationen zuversichtlich bleiben können. Und Sie erhalten viele Tipps und fundierte Hintergrundinformationen, wie wir generell die Macht des Geistes nutzen können.
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Seitenzahl: 168
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Die Station
Der Anfang – Tee und Narbenstörungen
Intensivstation ade
Die erste Mentalreise
Der Proktologe und der Chirurg
Schorschi und Rosalia
Mein Bettnachbar
Beim Superdoc
Die Chemopille und der Mundgeruch
Der erste Spaziergang
Der Port
Das Virus und der Schreihals
So sind Freunde
Ein merkwürdiges Paar
Die letzten zwei Tage im Krankenhaus
Die Stomaberaterin
Prophylaxekongress in Innsbruck
Der Radiologe mit den zwei Bildschirmen
Die Entlassung und dann
Die Entzündung und die Verzweiflung
Die Rettung
Die Rakete wird neu gezündet
Über tausend Zuhörer
Das Pferd und ein trauriger Schorschi
Laura Lu
Zärtlichkeiten und andere Normalitäten
Der Neuanfang
Anhang
Dieses ständige Piepsen regt mich auf. Auch das Licht. Allmählich begreife ich, dass ich aufwache. Aber es ist anders als sonst. Viel langsamer, alles ist nebelig im Kopf. Eigentlich sollte ich doch operiert werden und bin wohl eingeschlafen. Aber im Krankenzimmer auf der Station liege ich nicht. Wie unglaublich schwer meine Augenlider sind, die Stirn drückt.
Eine Hand legt sich auf meinen rechten Arm, ich blinzele und erkenne Hermann, den Krankenpfleger. Wie schön, dass er hier ist. Also bin ich wohl schon operiert worden. Wir kennen uns vom Pferdehof, auf dem seine Freundin einen Hannoveraner eher pflegt und putzt als reitet. Erst vor ein paar Tagen habe ich von Hermann erfahren, dass er im AKA Hamburg auf der Intensivstation arbeitet.
Jetzt greift er zu einem der vier Beutel, die an einem Ständer hängen und wechselt sie aus. Und ich spüre, dass er an meinem Arm herumhantiert.
Dann wieder das Piepsen. Hermann betupft meine Lippen mit einem nassen Lappen und fragt, ob ich Schmerzen habe. Ich weiß nicht genau. Ich schüttle den Kopf. Jedenfalls glaube ich, dass ich den Kopf bewegt habe. Er fragt mich noch einmal, aber seine Stimme ist jetzt ganz weit weg, irgendwie wattig und dumpf.
Als ich wieder aufwache, höre ich jemanden leise mit Hermann sprechen, eine zarte Frauenstimme. Sie hantiert ebenfalls an mir herum, ich spüre etwas am Bauch. Es zwickt etwas und allmählich begreife ich, dass ich auf der Intensivstation liege und operiert worden bin. Ich habe Darmkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Und jetzt nicht mehr?
Nach vielen Wochen Bestrahlung und Chemotherapie bin ich heute operiert worden. Das hatte ich mir nicht so schwierig vorgestellt. Aber eigentlich habe ich die Operation und die Zeit im Krankenhaus gar nicht richtig durchdacht. Habe es wohl verdrängt. Nun liege ich also hier und versuche, die Lage zu erfassen. Mir ist klar, dass mein Bauch von oben bis unten aufgeschnitten und ein Teil meines Darms entfernt wurde. Dass dabei auch Drumherum einiges weggeschnitten wurde, weiß ich auch. Aber musste auch mein Schließmuskel dran glauben? Habe ich jetzt einen zugenähten Popo?
Ich lebe, das ist schon mal gut. Aber ich lebe nicht richtig, sondern nur irgendwie und nur ein bisschen – glaube ich.
Neben mir zischt eine Maschine hinter einem Vorhang. Und etwas entfernt reden auch ein paar Leute leise und eintönig miteinander. Alles ist einerseits sehr aufdringlich und nah und dann wieder verklärt und weit entfernt. Auch ich selbst bin nicht richtig hier.
Ich versuche mein linkes Bein anzuwinkeln, aber da tut mein Bauch mächtig weh. Also lass ich es. Die Frau beugt sich über mich und meint, sie sei Schwester Silke. Prima, denke ich. Silke klingt gut. Und die Schwester sieht auch ganz gut aus. Aber ich glaube, hier sehen alle aus meiner Perspektive gut aus.
»Wie spät ist es?«, will ich wissen. Hermann steht wohl am Fußende und meint, es sei jetzt elf Uhr am Abend. »Du hast lange geschlafen. Alles ist gut verlaufen.«
Schwester Silke lächelt mich an. Wieder die Frage nach den Schmerzen. Warum immer diese Frage? »Wo könnte ich denn Schmerzen haben?«, denke ich. »Am Bauch vielleicht«, sagt sie. Oder hab ich es ausgesprochen? Alles ist so irreal.
Ich freue mich, dass die Schwester so freundlich ist. Und während ich noch darüber nachdenke, ob ich vielleicht doch etwas gesagt habe, schlafe ich wieder ein. Von weit her höre ich noch, wie Hermann meint, ich solle nicht so grinsen. Ich sei noch nicht über den Berg. Moment mal – über den Berg? Was heißt das denn? Und ich gleite dahin, weit und leicht.
Später erinnere ich mich immer wieder an diesen Moment. So kann sterben sein. Eigentlich ganz leicht und irgendwie normal. Aber ich lebe. Und Fieber habe ich. Das merke ich an meinen rasenden Gedanken und den Bildern im Kopf.
Ich sehe mich auf Mallorca am Felsen sitzen. Glutrot geht die Sonne am Ausgang der riesigen Bucht von Palma unter. Lautlos schießt ein Flugzeug in den Himmel. Weit entfernt leuchten die gelben Lichter der Stadt und spiegeln sich im Wasser.
Dann sitze ich plötzlich wieder auf der Wiese im Weserbergland und sehe mich, wie ich ins Tal schaue. Unser Pferd Lotte grast ein paar Meter entfernt. Daneben die Kühe. Es geht steil bergab, Haselnusssträucher dort unten, dann ein kleiner Bauernhof und weit unten die kleine Stadt, wo ich bald zur Schule gehen werde.
Fünf Jahre bin ich da. Meine kurze Lederhose riecht neu. Das Gras kitzelt. Lotte ist jetzt ganz nah an mir dran mit ihren Nüstern. Sie schnuppert ein bisschen an mir herum. Wie gut sie riecht. Wolken ziehen über mich hinweg. Mal sehe ich dort ein Gesicht, mal ein Tier. Unten läutet die Kirchturmglocke erst ganz dumpf und dann ein paar Mal ganz hell. Ganz, ganz oft habe ich dort gesessen und den Ausblick eingesogen, die Düfte, die Geräusche und mit dem kitzeligen Gras geredet. Wie gut es ist, dass es das Gras gibt. Weil Lotte doch dadurch so stark ist und so gut riecht. Mein Glücksmoment, so tief hat er sich bei mir eingebrannt. Immer wieder taucht er auf und verschwindet im Nebel.
Jetzt höre ich mich atmen und weiß, dass ich gleich wieder einschlafe. Oder schlafe ich schon und weiß es gar nicht?
In den nächsten Stunden wache ich immer wieder von diesem nervenden Gepiepse auf. Jedes Mal ist dann jemand bei mir und hantiert an den Geräten und Schläuchen herum. Ich mag mich kaum bewegen, überall Verbände und diese Schläuche.
Plötzlich bin ich hellwach. Geträumt habe ich nichts. Oder doch? Die Frau mit der zarten Stimme ist wieder da.
»Das Piepsen nervt total. Können Sie das nicht abstellen oder etwas dagegen unternehmen?« Ich bin fast schon sauer.
»Herr Prange, das Piepsen kommt von Ihnen. Wenn Ihr Blutdruck fällt oder Ihr Herz unrund schlägt, piepst es.«
»Ach so.«
Wie dumm. Ich bin also von mir selbst genervt. Und schon gleite ich wieder dahin.
Eine Hand berührt meine rechte Hand. Ach, wie schön. Und die zarte Stimme dazu.
Ich hätte jetzt zwei Tage hier gelegen. Das Piepsen hätte seit Stunden aufgehört. Jetzt wäre meine Zeit hier auf der Intensiv zu Ende. Ich bräuchte eine schönere Umgebung. Etwas mit Aussicht. Sie lächelt mich an, als wollte sie mich zu einer Partie einladen. Ich fühle mich auch wirklich besser. Dieser Nebel ist weg und ich sehe alles klarer.
Ich soll auf die Station gebracht, aber vorher noch gewaschen werden. Links und rechts hängen Schläuche aus dem Bett. Ich schau mal unters Laken. Donnerwetter, das sieht nicht gut aus. Dicker Verband am ganzen Bauch und am Hintern. Und überall kommen Schläuche heraus.
Ich soll mich hinsetzen. Dabei nimmt sie meine Hand und beugt sich über mich.
Das ist doch lächerlich. Ein Scherz ist das wohl. Denn schon der kleinste Versuch, mich auch nur zu drehen oder aufzurichten, tut unglaublich weh. Niemals in meinem ganzen Leben werde ich jemals sitzen, geschweige denn stehen können. Wie denn?
Wie energisch diese Schwester mit der säuselnden Stimme plötzlich sein kann. Zieht mich tatsächlich an einem Arm hoch und schiebt gleichzeitig die Beine schräg aus dem Bett. Alles ganz sanft und wie von selbst. Und schon sitze ich auf dem Bettrand. Mensch oh Mensch.
Mir ist ja so schwindelig. Aber es geht mir gut. Ich sitze und lächle krampfhaft. Mein Bauch, verdammt, verdammt. Und mein Hintern. Oh Gott.
Jetzt soll ich dort zum Stuhl gehen. Ist die Frau blöd? Was hab ich ihr getan? Hat wohl Spaß dran, mich zu quälen. Aber dann greift sie meinen Ellbogen und wie von Geisterhand gehoben stehe ich gekrümmt auf zittrigen Beinen und bewege mich schlürfend rasend schnell furchtbar langsam zum Stuhl. Mindestens zwei Meter weit. Und meine Schläuche hängen an einem Gestell und kommen mit.
Da sehe ich den etwas dickeren Schlauch mit dem Beutel daran. Und erst jetzt wird mir klar, dass meine letzte Hoffnung sich nicht erfüllt hat. Schade. Also doch ein neuer Darmausgang am Bauch. Und nie wieder Arsch abwischen. Nie mehr auf einer Toilette sitzen. Wie wohl alles wird?
»Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit werden wir auch Ihren Schließmuskel entfernen und Ihren Hintern zunähen. Der Darmausgang wird dann links am Bauch sein.«
Das hat der smarte Proktologe vor drei Monaten gemeint. Und so ist es wohl auch gekommen. Jetzt ist mir doch zum Heulen.
Ich frage die Schwester und sie nickt.
Heidewitzka, das muss ich erst einmal verdauen. Also ist es das Beste, dass ich mich auf das Hier und Jetzt konzentriere. Später kommt später. Und künstlicher Darmausgang und zugenähter Po – das ist später dran. Daran will ich jetzt nicht denken.
Angefangen hat es eigentlich vor zwei Jahren. Ich fühlte mich schwächer und schwächer. Die Ärztin meinte, ich hätte Stress und außerdem wären meine Energiebahnen durch die Narben gestört. Vor drei Jahrzehnten war mir schon mal der Bauch von oben bis unten wegen einer Lymphausräumung nach einem Hodenkrebs aufgeschlitzt worden.
Die Naturheilkunde-Ärztin aus Hamburg-Eppendorf gab mir Tees, hat die Narben unterspritzt und andere Empfehlungen gegeben. Als irgendwann regelmäßige Blutungen einsetzten, hat sie mich zum Proktologen geschickt. Der Stuttgarter Internist, für den ich ein großes ambulantes Ärztezentrum projektiert habe, hat mir Hämorrhoidenzäpfchen verschrieben.
Und ich war ständig müde. Na gut, ich habe auch viel als Geschäftsführer gearbeitet und zusätzlich noch viele Vorträge und Seminare gehalten. Und mit der Bahn oder im Auto quer durch Deutschland. Und dann noch die wachsende Unzufriedenheit mit meiner Ehe.
Dann aber hat die Naturärztin mir doch einen Besuch beim Urologen empfohlen. Einen Stab hat er in den Hintern geschoben und irgendetwas erklärt. Sofort floss Blut in Mengen. Aufs Handtuch und auf den Fußboden.
Am nächsten Tag soll ich zur Darmspiegelung mit Gewebeprobe. Ein Erlebnis der besonderen Art. Sankt-Georgkrankenhaus in Hamburg. In einer Kabine ausziehen, Hemd überziehen. Und dann zur Toilette vorbei am Wartebereich, an offenen Büros und wieder zurück. Alles im kurzen OP-Hemd. Peinlich, peinlich.
Drei Tage später hat mich der smarte Urologe angerufen. Ob ich heute noch in seine Praxis kommen könne?
»Ich bin in Stuttgart und kann erst morgen kommen.«
Mir war sofort klar, dass ich ein großes Problem habe. Denn der Internist, für den ich gerade in Stuttgart tätig war, hat gemeint, solche Blutungen könnten auch bei Darmkrebs auftreten.
»Aber das kann bei Ihnen nicht sein. Dann würden sie anders aussehen«, war seine Sichtdiagnose. Meistens wären die Patienten älter und viel schwächer. Beiläufig hat er dann noch bemerkt, nur fünf Prozent der an Darmkrebs Erkrankten würden die nächsten fünf Jahre überleben.
Endlich sitze ich auf dem Stuhl, auf dem ich gewaschen werden soll. Wie ich dort hingekommen bin, weiß ich bis heute nicht.
Also waschen. Warum eigentlich, hab doch hier keinen Dreck gemacht? Ach so, wegen der Schwitzerei und generell wäre es gut, sich öfter zu waschen. Ich sei ja nun schon etwas länger hinfällig, meint die Schwester.
Ohne Nachsicht oder Rücksichtnahme nähert sich der nasse Lappen relativ schroff meinem Hals und schon kreisen Silkes Hände an mir herum. Mal fester, mal zarter.
Ich bin wirklich schlapp und ziemlich fertig. Schwester Silke lächelt mich an. Ich sei sehr tapfer. Ich versuche auch zu lächeln und freu mich über den Motivationsschub. Also putze ich mir auch die Zähne. Ich sitze dabei weniger, als dass ich irgendwie auf dem Stuhl herumhänge. Aber es geht.
Mir wird schwummerig hinter den Augen. Obwohl sich alles um mich herum in ein Grau auflöst, habe ich das Gefühl, es würde sich eher etwas in mir verwischen. Schwester Silke hält mich an sich gedrückt. Oje, so unendlich schwach und hilflos fühle ich mich. Aber Silke fühlt sich gut an. Die Schwester ist unendlich vorsichtig und gleichzeitig zupackend.
Sie hebt meinen Arm hoch. Da muss ich lächeln. Jedenfalls glaube ich, dass ich lächle. Arm hochheben und auch oben halten werde ich ja wohl noch schaffen. Ich stecke also voller Elan beide Hände in die Luft und lasse meinen Bauch, also das, was nicht hinter einem Wickelverband verschwunden ist, schön putzen. Wie selbstverständlich fährt sie auch zwischen meine Schenkel und – nix. Keinerlei Gefühl. Nicht mal so klar wie am Arm oder an den Fingern. Wirklich weniger als weniger. Was ist da los?
Ich frage sie: »Ich spüre nichts, wenn Sie meinen Pimmel waschen.« Sie schaut mich an und schweigt. »Also rein gar nichts. Weniger, als Sie meine Hand gewaschen haben.«
Schwester Silke unterbricht ihre Reinigung und rückt ein wenig von mir ab. »Bei der Operation werden tiefe Schnitte im Gewebe gemacht. Es kann passieren, dass dabei einige Nerven durchtrennt wurden, die den Genitalbereich ansteuern.«
Das klingt irgendwie beunruhigend. »Moment, bedeutet das, dass ich im Pimmel kein Gefühl mehr habe. Also auch keine Erektion, kein Nix?«
Da zeigt sie wieder ihr Wunderlächeln. »Die Nerven wachsen in den nächsten Monaten wieder zusammen. Das ist genauso wie bei einer Schnittwunde. Dort haben sie in den ersten Wochen auch kein Gefühl.«
»Ja, das stimmt. Das wird ja spannend«, versuche ich endlich ein tolles Lächeln hinzulegen. Aber ich glaube, es sah sehr gequält aus.
»Ihren Humor scheinen Sie also nicht verloren zu haben.« Und während ich mich darüber noch ein bisschen freue, wird mir mächtig schwummerig im Gehirn. Ich höre mich atmen, laut atmen. Schwanke nach vorne. Schwester Silke hält mich kräftig an den Schultern fest. »Jetzt nicht schwächeln, Herr Prange.«
Warum schreit sie mich jetzt an? Oh Gott, alles ist so schwer.
»Herr Prange, gucken Sie mich an.« Okay, ich gucke. Und sehe einen Mann vor mir stehen. Aber ich sitze noch auf dem Stuhl. »Geht es Ihnen wieder besser?«
»Ja.« Mehr kann ich nicht zu dieser Unterhaltung beitragen. Und dann auch wohl noch sehr leise. Schmerzen? Nein, Schmerzen gibt’s keine. Und jetzt sehe ich auch wieder alles klar und deutlich.
Schwester Silke meint zum Arzt, ich hätte mich wohl etwas aufgeregt. Stress wäre das wohl gewesen. Aber sie sagt nicht, was mich aufgeregt hat.
Nachdem ich nun endlich an allen freien Stellen meines Körpers gereinigt bin, soll ich zum Bett dort in der Ecke gehen. Das wird nicht einfach, denke ich mir und richte mich auf. Oh Gott, der Bauch. Und die Beine. Wo sind sie eigentlich? Und warum sind sie so kraftlos? Dank Silkes tatkräftigem Halt schaffe ich die fünf bis sechs Schritte dann doch.
Wenig später kommt mein Transport in die schöne Welt im elften Stock. Sauber und duftend im Transportbett liegend werde ich auf die Station geschoben. Am Ende bin ich froh, dass ich gewaschen wurde. Weg mit der klebrigen schweißigen Haut, duftende Seife überall, dann ein Spray, das wohl eher desinfizieren soll, aber betörend riecht.
Der junge Mann, der mich über die Flure und um die Ecken bugsiert, scheint wichtige Termine am Abend zu haben. Jedenfalls hält er sein Handy in der Hand und schaut immer wieder drauf.
Wir halten plötzlich mitten auf einem langen Flur, er tippt. »Nein, da treffe ich doch Nuran,« brüllt er ins Handy und schnaubt. »Okay, ich sag Nuran ab.« Aha, ein Deutschtürke oder Türkeideutscher.
Ich finde das nicht richtig. »Da wird die Nuran aber bestimmt sauer sein«, gebe ich zu bedenken. Ohne mich anzugucken, murmelt er im Türkenslang: »Das kannst du glauben.«
Er tippt wieder, schiebt eine Zigarette zwischen die Lippen, steckt sie jedoch sofort wieder in die Tasche. Da hat er sich aber mächtig beherrschen müssen. Alle Achtung. Was wohl passiert wäre, wenn er hier mitten im Krankenhaus geraucht hätte?
Wieder brüllt er ins Gerät. »Ich komm doch nicht. Nein. Mann, reg dich nicht auf.«
Er lauscht. »Okay, dann um elf.«
Und ich grinse: »Na siehste, geht doch! Alles eine Frage der Entscheidung.«
Da dreht er sich halb um, sieht mich das erste Mal an und begreift wohl jetzt erst, dass ich vorher auch was gesagt habe.
Guckt, dreht sich um und schiebt mich schweigend bis aufs Zimmer. Als er alles hin und her gestellt hat und zur Tür geht, dreht er sich um und sagt mit ernster Miene: »Schöne Genesung wünsche ich Ihnen.«
Ich glaube, ich habe noch danke gesagt. Aber da war er schon draußen. Jedenfalls habe ich dann ein bisschen geheult.
Heute frage ich mich manchmal, ob er wohl mit Nuran glücklich geworden ist. Aber vielleicht ist Nuran seine Schwester. Egal, netter Kerl.
Nun liege ich also hoch oben im elften Stock. Glutrot geht die Sonne unter und ich mit ihr. Ich spüre unendliche Schwere. Gedanken jagen durch meinen Kopf. Habe wohl gerade geträumt.
Ich höre meinen Atem und phantasiere vor mich hin. Also habe ich wohl wieder Fieber.
Manchmal kommt jemand und hantiert an mir herum. Aber die Augen kann ich gar nicht richtig öffnen, nur ein bisschen. Und mir ist heiß.
Einmal sehe ich aus dem Fenster die vielen Hafenlichter von Hamburg. Und höre leise dieses Rumsen. Container werden natürlich auch nachts verladen.
Unglaublich – die Container-Lastwagen fahren in einem flotten Tempo über das Gelände, halten genau unter einem der riesigen Frachtkräne, die Schachtel um Schachtel aus der Tiefe nach oben heben und sie dem Kranwagen übergeben. Und nirgends sitzt ein Mensch und steuert die Geräte. Phänomenal.
Am frühen Morgen weckt mich ein Pfleger, fragt mich, wie ich mich fühle, und misst meine Temperatur. »Oh«, schaut er mich grinsend an. »Ihr Fieber ist gesunken.« Ich lächle zurück. »Wir haben uns schon Sorgen gemacht, ob Sie wieder runter auf die Intensiv müssen. Jetzt haben Sie aber nur noch 39 Grad.« Ich zwinge mir noch ein Lächeln ins Gesicht. Da bin ich aber beruhigt. Zum Glück kreisen diese Gedanken nicht mehr so wild herum.
Das Frühstück ist prächtig, die Schwestern sind es auch. Besonders die kleine mit den langen Haaren. Mindestens jede Stunde kommt sie zu mir, lächelt eindeutig freundlich, schließt neue Beutel mit schönen Antibiotika und schicken Schmerzmitteln an. Und immer die Frage nach Schmerzen.
»Ich finde es schön, dass sich hier alle für meine Schmerzen interessieren. Warum eigentlich?«
Sie schaut unter die Bettdecke und erneuert den Verband auf dem Bauch. »Schmerzen sind für den Körper großer Stress. Das Immunsystem wird geschwächt und das verhindert eine schnelle Wundheilung. Und das ist schlecht.« Wieder das Lächeln mit einem kessen Blick. »Oder mögen Sie Schmerzen?«
Wo bin ich hier gelandet? Das kann ja heiter werden.
Mir gefällt diese aufmunternde freche und dennoch zupackende kompetente Art. Dadurch entsteht eine Beschwingtheit, eine gewisse Sorglosigkeit. Ich finde diese Einstellung prima. Und schon ist sie draußen.
Am Nachmittag habe ich kaum noch Fieber und starte meine erste Mentalreise im elften Stock. Ich liege einfach da und schließe die Augen. Nachdem ich den Atem ganz ruhig und regelmäßig habe, stelle ich mir erst bestimmte Bilder und dann kleine Filme vor.
Das mache ich schon seit vielen Jahren, eigentlich schon als Kind. Während meines ersten Studiums – Sport und Kunst – hatten wir einen Trainer, der aus der DDR »rübergekommen ist«. Dieser Leichtathletiktrainer hat uns vor 40 Jahren, also 1979, unter anderem auch Mentaltechniken beigebracht. Er meinte, dass die Vorstellung von Bewegungen im Körper kleinste Reaktionen erzeugen würden und wir somit eine Art inneres Muster erzeugen.
Das hat mich sofort fasziniert. Ich habe Speerwerfern zugeschaut und mir vorgestellt, wie ich den Speer werfe. Beim Basketball habe ich ideale Korbwürfe von Spielern aus Gießen auf einem Film angeschaut und mir vorgestellt, ich würde so werfen. Und tatsächlich hatte ich das Gefühl, mein Körper würde schneller lernen.
Später habe ich mir bei meiner ersten Krebserkrankung – das war 1983/84 – immer und immer wieder vorgestellt, wie ich voller Elan das Krankenhaus verlasse. Und ich habe mir damals vorgestellt, wie ich meinen Kindheitstraum lebe. Segeln. Meine gesamte Kindheit habe ich immer wieder Boote gemalt. Motorboote und Segelboote. Mein Bruder übrigens auch.