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Der Nahostkonflikt bewegt und polarisiert die Welt seit über 100 Jahren. Assaf Zeevi ist im Schatten des Konflikts aufgewachsen. In diesem Buch nimmt er uns mit auf eine Reise von seinen Anfängen bis in die Gegenwart: Wie tief prägt der ewige Streit die Identität der Menschen? Warum gibt es so viele Experten, aber keine Lösung? Gibt es noch Hoffnung auf Versöhnung? Auf der Suche nach Antworten überschreitet Assaf Grenzen, befragt die Beteiligten nach ihrem Traum von der Zukunft - und wird fündig. Ein Buch voller Hoffnung und dem Glauben an eine Zukunft ohne Hass.
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Seitenzahl: 348
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SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
Die Namen einiger Personen im Buch wurden aus Gründen der Anonymität verändert.
ISBN 978-3-7751-7542-5 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6116-9 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© 2022 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]
Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:
Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R. Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen.
Lektorat: Christiane Kathmann, www.lektorat-kathmann.de
Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.grafikbuero-sonnhueter.de
Titelbild: Boris Diakovsky, Sopotnicki (shutterstock.com)
Autorenfoto: © Assaf Zeevi
www.assafzeevi.com; E-Mail: [email protected]
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
Für die Menschlichkeit
Über den Autor
Vorwort
Kindheit und Jugend im Schatten des Konfliktes
Eine Reise durch die Geschichte
Am Anfang (bis 1948)
Im geteilten Land (1948–1967)
Zwanzig entscheidende Jahre (1967–1987)
Experimentieren und scheitern (seit 1987)
Eine Reise durch die Realität
Verstehen will ich
Siedler
Palästinenser
Ostjerusalemer
Israelische Araber
Israelische Juden
Eine Reise hin zum Frieden
Worum geht es eigentlich?
Wieso ist alles gescheitert?
Wie denn sonst?
Epilog
Anmerkungen
ASSAF ZEEVI (Jg. 1982) ist in Israel geboren und aufgewachsen. Nach einigen Jahren als Landschaftsarchitekt und Mitarbeiter der Holocaustgedenkstätte Yad VaShem wurde er Reiseleiter. Seine Kenntnisse über Natur, Judentum und Bibel machten ihn zu einem der gefragtesten Israel-Reiseleiter im deutschsprachigen Raum. Heute lebt er am Bodensee.
So viele Bücher und Artikel wurden über unseren Konflikt geschrieben, Filme, Serien und Dokumentationen gedreht. Er ist so prominent, dass unter all den Konflikten im Nahen Osten nur er den Namen »Nahostkonflikt« bekam. Seit Jahrzehnten erhält er die Weltaufmerksamkeit, löst Emotionen aus und polarisiert selbst Unbeteiligte – und das, obwohl er an Fläche und an Opfern gemessen verhältnismäßig klein ist.
Als Israeli kann ich mir mein Leben ohne ihn kaum vorstellen. Seit meiner Kindheit bin ich mit ihm konfrontiert. Vielleicht gerade deswegen verwundert es mich, wie gefestigte Meinungen manche Menschen im fernen Ausland haben. Durch die Einteilung in entweder »proisraelisch« oder »propalästinensisch« verflachen viele die Diskussion. Dabei kennen die meisten die Realität vor Ort kaum und wissen nur über Segmente der Geschichte des Konfliktes Bescheid. Selbst zahlreiche Israelis und Palästinenser sehen eher Ausschnitte des Konfliktes und wissen nur wenig über die andere Seite. Viele der geschriebenen und gedrehten Werke zum Thema verteidigen jeweils eine Konfliktpartei und setzen die andere auf die Anklagebank. Manche Kommentatoren erklären, was an Lösungsvisionen alles nicht funktionieren würde. Es gibt viele Experten für das Scheitern – für Erfolge jedoch keine.
Seit 2008 arbeite ich als Reiseleiter in Israel und das hat meinen Blickwinkel noch einmal völlig verändert. Nun kann ich auch die palästinensischen Autonomiegebiete bereisen, die für die meisten Israelis unerreichbar sind. Diese Tätigkeit bringt mich außerdem in ungezwungene Kontakte mit vielen Arabern aus Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten. Nach einer gewissen Zeit habe ich »vergessen«, dass sie Araber sind. Aus »Arabern« wurden Atrash, Razi, Khaled, Ahlam und Fadi. Im Laufe der Jahre entstanden manche Freundschaften fürs Leben. Die Kontakte öffneten mir eine Tür in ihre Welt. Vor allem hat mich ihre Perspektive auf den Konflikt und auf uns jüdische Israelis fasziniert. Es war wie ein neuer Aussichtspunkt auf das Tal, in dem man selbst lebt. Ich verstand, dass ich den Konflikt nicht wirklich verstand.
Nach vielen Jahren im hoffnungslosen Ermüdungszustand, begleitet von Mantras, an die wir nicht mehr glauben, habe ich mich auf die Suche nach den Wurzeln des Konfliktes gemacht. Ich begab mich auf eine Reise durch die Realität und die Geschichte des Konfliktes, denn ich vermutete, dass ich nur so in der Lage sein würde, Gründe für Hoffnung auf Frieden zu finden.
Und ich bin fündig geworden. Das Erlebte und Gelernte erzähle ich in diesem Buch.
Bevor wir zu den Anfängen des Konfliktes gehen, möchte ich dir aus meiner Kindheit und Jugend erzählen. Nicht um meine Person in den Mittelpunkt zu stellen. Auch nicht, weil meine Biografie besonders interessant wäre. Diese könnten in ähnlicher Form Millionen Israelis haben – und genau aus diesem Grund möchte ich diese Einblicke bieten. Außerdem wird durch diese Einblicke verständlich, weshalb ich mich der Suche verpflichtet fühle.
Ich bin 1982 in Israel geboren. Das erste Mal, dass ich etwas über Araber gehört habe, war im Alter von drei Jahren. Draußen fuhr ein alter offener Transporter sehr langsam vorbei. Aus einem Lautsprecher hörte man: »Altisachen, Altisachen!«
»Mama, was heißt Altisachen ?«, fragte ich meine Mutter aufgeregt.
»Schrott«, erklärte sie, »es ist ein Schrottsammler.«
»Wieso hat er ein blaues Nummernschild?«, erkundigte ich mich, denn alle anderen Nummernschilder waren gelb.
»Weil er aus den Schtachim kommt.«
Sicher ahnte meine Mutter, dass die nächste Frage sofort folgen würde. »Was sind die Schtachim?«
»Das sind Gebiete, wo viele Araber wohnen«, war die Antwort.
Schon wieder so ein Wort, das ich nie gehört hatte. »Was sind Araber?«
»Menschen. Sie sprechen Arabisch«, erklärte meine Mutter.
Lange glaubte ich, »Altisachen« wäre ein arabisches Wort, bis ich verstand, dass es Jiddisch war, »alte Sachen« bedeutet und mit schwerem arabischem Akzent vom Tonband des Schrottsammlers kam.
Vom Konflikt habe ich mit fünf Jahren zum ersten Mal etwas wahrgenommen. Ich war bei einem Freund zu Besuch. Wir Jungen durften oben alleine in die Badewanne gehen, während unsere Mütter sich unterhielten. Dort oben übten wir das Rutschen. Dabei maßen wir aus, wer das Wasser weiter spritzte. Das Reihenhaus in der Stadt Netanya, in dem mein Freund wohnte, war damals sehr modern. Vom offenen oberen Flur konnte man ins Wohnzimmer sehen und hören. Dort lief im Fernsehen gerade das Nachrichtenjournal von 17 Uhr.
Zwischen den Spritzwellen hörten wir Stimmen aus dem Fernseher, die darüber sprachen, Gespräche mit Aschaf seien verboten. Ich hatte keine Ahnung, wer Aschaf war, aber die Ähnlichkeit mit meinem Namen fiel mir auf. Nach jedem Rutschen schrie ich laut: »Und jetzt ist Aschaf dran!«
Irgendwann kamen unsere Mütter. Sie waren verärgert über die Spritzerei. Das ganze Bad stand unter Wasser, unsere Hintern waren rot.
Auf die Frage, was wir da machten, behauptete ich, es wäre nicht ich, sondern Aschaf gewesen. »Wer?«, fragte die Freundin. »Aschaf«, gab ich meine klare Antwort. Unsere Mütter lachten und fragten, wer Aschaf sei. Ich sagte, es wäre der, mit dem man nicht reden darf. Mit Lachtränen in den Augen erklärte die Freundin meiner Mutter, man dürfe Aschaf nicht laut sagen, weil es böse Leute seien, Terroristen. Auch dieses Wort hörte ich nun zum ersten Mal.
Ich stellte keine weiteren Fragen, weil mir der Popo brannte. Die Freundin meiner Mutter putzte ihre neue Badewanne mit dem damals in Israel üblichen Generalputzmittel Ekonomika, einem Bleichmittel aus Chlor. Mein Po wurde glühend heiß und ich musste weinen.
Ein Jahr später wurde ich eingeschult. In der ersten Schulwoche sah ich abends in den Nachrichten Bilder von steinewerfenden vermummten Männern. Man sprach über Brandsätze. Während ich von meinem Vater wissen wollte, was Brandsätze seien, hörte ich den Namen Jassir Arafat und seinen Titel »Kopf von Aschaf«. So erhielt ich von meinem Vater neben der Erklärung zu Brandsätzen noch eine weitere Information: Aschaf ist der hebräische Name der Organisation zur Befreiung Palästinas, PLO.
Es waren die Tage der Ersten Intifada. Kampagnen brachten uns Kindern bei, herrenlose Taschen nicht anzufassen. Einmal sahen wir in einem Aufklärungsfilm in der Schule eine auf einem Schulhof deponierte Wassermelone, die eine getarnte Bombe war. Auch Colaflaschen sollten wir immer vor dem Öffnen kontrollieren. Wenn sie nicht ganz verschlossen waren, könnte jemand Glaspulver hineingeschüttet haben. Sowohl die Wassermelonenbombe als auch die tödliche Cola hatte es leider wirklich schon gegeben.
Eines Tages fragte mich mein Vater, ob ich mit ihm einen Kollegen besuchen wolle. Er wohne in einem Ort, an dem wir noch nie gewesen waren, und die Fahrt dorthin führe durch eine schöne Landschaft. Ich war acht Jahre alt und hatte eine ausgeprägte Liebe zu Natur und Landschaft und eine spürbare Abenteuerlust. Natürlich sagte ich Ja. Im Auto zeigte mir mein Vater eine Handpistole. Ich hatte noch nie vorher eine Pistole gesehen und war von ihrer geringen Größe überrascht. Ich wunderte mich, dass wir überhaupt eine Pistole hatten. In meiner Welt besaßen nur Polizisten oder Diebe so etwas.
Als ich mich erkundigte, wieso die Pistole so klein sei, antwortete mein Vater: »So kann ich sie besser verstecken.« Auf die Frage, wozu wir überhaupt eine Pistole bräuchten, erklärte er: »Wir fahren in die Schtachim.« Den Ausdruck kannte ich aus der Schrotthändlerdiskussion, jetzt fragte ich genauer nach.
Mein Vater erzählte, die Armee hätte diese ehemals jordanisch besetzten Gebiete vor über zwanzig Jahren eingenommen, aber eigentlich sei es die Region, in der sich die Geschichte des Volkes Israel abgespielt und in der zur biblischen Zeit unsere Vorfahren gelebt hatten. Er erklärte: »Die Gebiete bestehen aus zwei Hauptlandschaften, Judäa und Samarien, und wir befinden uns auf dem Weg in den Ort Kdumim im Herzen Samariens.«
Mein Vater bat mich darum, meiner Mutter weder etwas von den Schtachim noch von der Pistole zu verraten, sie würde sich sonst zu viele Sorgen machen.
Die felsigen Hügel, durch die wir nun fuhren, gefielen mir besser als das bebaute Flachland zuvor. Die Straße wurde kurvig und mein Vater legte sich die Pistole auf den Schoß. Schließlich sagte er, ich solle mich ducken. Besonders an solchen Kurven könnten sich Terroristen verstecken und Steine werfen. Geduckt auf dem Boden vor dem Beifahrersitz unseres Opel Kadett wirkten die Bedenken meiner Mutter auf einmal nicht so übertrieben. An jeder Kurve rechnete ich mit Steinen. Ich stellte mir vor, wie mein Vater mit der winzigen Pistole aus dem Auto schoss und die Terroristen nur über ihre geringe Größe lachen.
Wir kamen jedoch ohne Zwischenfälle an. Der bärtige Kollege meines Vaters, ein Physiklehrer, zeigte uns stolz Haus und Hobby. In mehreren Reihen baute er Blaubeeren an, denn das örtliche Klima war kühl genug. Die Pflanzen standen in schwarzen Säcken auf dem kahlen Kalkboden. Schwarze Plastikschläuche bewässerten mit einem Tropfsystem die kleinen Sträucher. Unser Gastgeber trug eine Kippa, Quasten, ein kariertes Hemd, eine Hose mit Bügelfalten und Sandalen.
Mein Vater war sehr angetan von der Pflanzung, denn sie erinnerte ihn an seine Kindheit in Budapest, wo es in den Wäldern Pilze, Kirschen, Brombeeren und natürlich Blaubeeren gegeben hatte. All das fand man in den israelischen Wäldern nicht.
Im nächsten Winter brach der Golfkrieg aus. Er fand weit weg in Kuwait statt, aber trotzdem fuhr unsere sechsköpfige Familie zur Gasmaskenstation. Junge Soldatinnen nahmen uns in Empfang. Meine Eltern bekamen Erwachsenen-Masken und den 13-jährigen Zwillingen passte die Jugendmaske sofort. Meine dreijährige Schwester erhielt einen »Bardas«, der für mich wie ein Astronautenanzug aussah. Sie hatte sogar ein eigenes Gebläse mit Knopf.
Ich wäre genau im Übergangsalter, sagten die Soldatinnen, und setzten auch mir einen Bardas auf. Der Wind vom eigenen Gebläse war herrlich. Ich wollte nichts anderes. Leider war ich doch zu groß und bekam eine Jugendmaske aufgesetzt. Beim Test kam seitlich Luft rein. Ich war zu klein. So bekam ich eine Jugendmaske mit einer angeklebten Plastiktüte. Die Enttäuschung war groß, lieb habe ich das Teil nie gewonnen. Aber eine gute Sache hätte meine Gasmaske, versuchten die Soldatinnen mich zu überzeugen. An der Seite könne man einen Strohhalm einstecken und trinken, während man die Maske trägt.
Im Karton mit dem Tragegurt lagen auch Atropinspritzen. Diese dürften wir Kinder uns nie einspritzen, erklärten die Soldatinnen streng, denn dann würden wir sterben. Das hatte ich auch nicht vor, aber den Gedanken an ein Experiment mit der Nachbarskatze konnte ich lange nicht abstellen.
Zu Hause gestalteten wir das Kinderzimmer in einen Luftschutzraum um, denn einen Bunker hatten wir nicht. Die Außenwände des ärmlichen Hauses aus den Vierzigerjahren waren nicht stärker als zehn Zentimeter, die Holzfenster einfach verglast, die Decke aus Leichtbeton. Meine Eltern beklebten alle Spalten am Fenster mit Paketband und Plastikfolien, um sie abzudichten. Mein Vater erzählte, wir hätten Glück gehabt. Das Paketband war überall ausverkauft, aber er hatte es im arabischen Dorf doch noch bekommen.
Meine Mutter kaufte viele Konservendosen und H-Milch ein und wir holten einen Fernseher und ein Radio ins Zimmer. Meine Mutter stellte außerdem einen Eimer mit Backsodawasser und einem Putzlumpen neben die Tür, so wie alle instruiert wurden.
Der Alarm kam immer nachts, in der tiefsten Schlafphase. Dann rannten wir ins Zimmer und ich achtete stets darauf, dass unsere Hündin Pizi nicht vergessen wurde. Im Kopf entwarf ich eine Gasmaske für Hunde. Während meine Mutter der Kleinen die Gasmaske aufsetzte und unsere Gasmasken kontrollierte, klebte mein Vater die Tür zu und legte den in Backsodawasser getränkten Putzlumpen vor den Türschlitz. Ich fühlte mich geschützt und vorbereitet.
Einmal wackelte jedoch das ganze Haus und die Fensterscheiben wären beinahe zersprungen. Da verstand ich, dass wir es mit Paketband und Plastikfolien nicht allzu weit bringen würden. Als der Alarm vorbei war und der Armeesprecher mit ruhiger Stimme darum bat, den Luftschutzraum nicht zu verlassen, überraschte uns meine Mutter mit H-Kakaotüten, die wir sonst nie zu Hause hatten. Das lenkte uns von der Sorge ab.
Am nächsten Morgen sahen wir im Fernsehen, wie Männer in der Nacht auf einem Dach in Tulkarm aus Freude tanzten, als sie die Raketen im Anflug sahen. Sie sangen ein Loblied auf Saddam Hussein, der die Raketen hatte abfeuern lassen.
»Wo ist denn Tulkarm«, fragte ich und bekam zur Antwort: »In den Schtachim.«
»Die müssen uns wirklich hassen, Saddam Hussein und die Menschen in den Schtachim«, dachte ich. Ich verstand damals nur nicht, warum.
In den Neunzigerjahren lief der Friedensprozess auf Hochtouren und war in aller Munde. Meine politische Wahrnehmung wuchs mit mir. Als Palästinenserführer Jassir Arafat nach Gaza kommen durfte, wo gerade ein palästinensisches Autonomiegebiet entstand, beeilte ich mich nachmittags auf dem Heimweg von der Schule, um die Live-Übertragung zu sehen. Es war aufregend, ich sah lange zu und freute mich für die Palästinenser. Als Arafat jedoch immer wieder rief: »In Blut und Feuer werden wir dich einlösen, Palästina!«, war ich verwirrt. Ich hatte mit freundlicheren Worten gerechnet. Der Kommentator erklärte etwas über Arafats Verpflichtung zur kämpferischen Rhetorik. Das verstand ich nicht ganz, aber als Kind ist man gewohnt, nicht alles zu verstehen. Ich freute mich trotzdem.
Ein Friedensvertrag wurde mit Jordanien geschlossen. Es liefen Friedensverhandlungen mit Syrien. Es schien so, als würde der Friedenstraum bald Realität. Im Literaturunterricht analysierten wir Friedenslieder, in den Klassenzimmern hingen von uns gebastelte Friedenstauben.
Zeitgleich bebte das Land immer wieder. Statt vor herrenlosen Taschen fürchteten wir uns nun vor Selbstmordattentätern. Wir hatten Angst, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren und an Bushaltestellen zu stehen. Am Schultor stand ein bewaffneter Sicherheitsmann.
An einem Januarsonntag im Jahr 1995, zu Beginn der ersten Stunde des Werkunterrichts, hörten wir einen Knall. Wir spürten ihn auch in der Luft, aber nur leicht. Einige Minuten später folgte ein zweiter. Kurz darauf informierten uns die Lehrerinnen, dass es an der drei Kilometer entfernten Kreuzung Beit Lid einen Anschlag gegeben hatte. Ein Selbstmordattentäter hatte sich an einer Bushaltestelle in die Luft gejagt. Während man sich um die Verletzten kümmerte, sprengte sich ein zweiter in die Luft. 22 Menschen waren getötet worden, fast alles Soldaten auf dem Rückweg in die Kaserne nach dem Wochenende zu Hause.
Auf dem Heimweg blieb ich auf dem Hügel stehen, von dem aus die Hügel Samariens im Osten zu sehen waren. Am Fuße der Hügel, in sieben Kilometer Entfernung, lag Tulkarm. Ich blickte auf die palästinensische Stadt und war von der Gewaltbereitschaft und der Barbarei angewidert. Nach einer Weile versuchte ich, mich in die Lage der Palästinenser hineinzuversetzen, und wünschte ihnen, sie würden bald ihren Staat bekommen, so wie wir unseren Staat hatten. Mir ging der Gedanke durch den Kopf, dass die Unabhängigkeit eines Volkes nicht die Verhinderung der Unabhängigkeit eines anderen Volkes bedeuten darf. Noch im gleichen Jahr wurde Tulkarm Autonomiegebiet.
Am Tag des Anschlags kam Premier Jitzchak Rabin zu dem Ort, wo er verübt worden war. Er erklärte, den Anschlag hätten die Feinde des Friedens verübt und wir dürften uns nicht auf dem Weg zum Frieden aufhalten lassen. In den kommenden Monaten hatte jeder eine Meinung über Landabgabe. Viele äußerten sie auf Aufklebern auf dem Auto. Auch ich hatte eine Aufklebersammlung, aber auf der Innenseite meines Kleiderschrankes, sodass nur ich sie sah. Rechte warnten vor noch mehr Terror, Linke vor der Kapitulation auf dem Weg zum Frieden. Es war für mich, wie für viele andere auch, nicht auf Anhieb verständlich, weshalb in Zeiten des Friedens immer mehr Anschläge kamen.
Dann kam die Nachricht über Rabins Ermordung. Der Schockzustand dauerte mehrere Tage an.
Kurz vor dem Purimfest 1996 wollte ich mit zwei Freunden nach Tel Aviv fahren, um originelle Kostüme auf dem Flohmarkt zu kaufen, denn Purim feiert man ähnlich wie Fasnacht. Doch meine Mutter meinte, es sei jetzt zu gefährlich, mit dem Bus zu fahren, besonders in Tel Aviv. Ich hätte sie vermutlich überreden können, aber die Mutter meines einen Freundes legte ebenfalls ihr Veto ein und sie hatte schon immer eine ausgeprägte diktatorische Neigung. Wir fuhren nicht.
Nur wenig später jagte sich ein Selbstmordattentäter an der Fußgängerampel an der Dizengofstraße in Tel Aviv in die Luft, wo wir sicher vorbeigekommen wären. Die Nachricht hörte ich aus dem Radio eines vorbeifahrenden Autos, als ich auf dem Fahrrad unterwegs war. Ich fuhr schnell nach Hause, um den Live-Bericht zu schauen. Ein Augenzeuge erzählte, dass der Kopf des Attentäters bis zum Geldautomaten geflogen sei und Innereien von Menschen überall herumlagen. Ich ekelte mich zutiefst.
Ich konnte nicht verstehen, wie tief der Hass in einem Menschen sein muss, der sich bewusst in den Tod begibt, um möglichst viele Unbekannte umzubringen. »Hassen sie uns wirklich so sehr?«, fragte ich mich. »Haben sie so viel Schlimmes erlebt, dass sie zur Märtyrerrache bereit sind? Sind sie vom Leben so verzweifelt?«
Langsam wurden die ersten Namen der Opfer bekannt gegeben. Unter den 13 Ermordeten waren auch drei 14-jährige Freundinnen aus einem Nachbarort. Sie hatten wie wir Purim in Tel Aviv feiern wollen. Sie waren bei den Pfadfindern, wie wir. Wir kannten sie nicht persönlich, wussten aber, dass wir im letzten Juli im selben Sommerlager bei Nazareth gewesen waren. Auch wir hätten unter den Opfern sein können.
Im Fernsehen folgten Videoausschnitte aus palästinensischen Städten. Frauen verteilten Baklava auf der Straße. Menschen klatschten mit ausgestreckten Fingern in runden Bewegungen in der typischen arabischen Freudengeste, Frauen ululierten. Ich war erschüttert, wütend. Meine Gedanken waren nun von Zorn geprägt, von schmerzhafter Enttäuschung und Trauer. Ich radelte zu dem Hügel, obwohl es schon fast dunkel war, und blickte wieder nach Samarien hinüber. In den israelischen Dörfern sprang gerade die gelbe Straßenbeleuchtung an, in der Ferne schimmerte Tulkarm in seinen weißen Neonlichtern. »Dann eben nicht«, dachte ich. »Es wird keinen Frieden mit Menschen geben, die solche monströsen Taten ausführen und es anschließend feiern. Lieber sollten wir uns voneinander trennen. Wenn wir die Gebiete, in denen sie leben, sowieso abgeben, sollte es eine richtige Grenze geben.«
Wie viele Jugendliche hörte ich gern den Rockstar Aviv Geffen. In seinem Lied »Shalom« drückte er die Skepsis für mich treffend aus:
Hallo Frieden, gut, dass du schon gekommen bist, weil wir hier Angst hatten. Hallo, Frieden, die Toten würden sterben, um dich heute zu sehen. Kannst du jedoch die Klagemauer vom Blut reinigen? Kannst du jedoch alle nach Hause zurückbringen? Hallo, Frieden, bist du heute mit der Linie 5 hergefahren? Hallo, Frieden, dich findet man nirgendwo mehr.1
Nichts rechtfertigte in meinen Augen die Ermordung von Zivilisten, erst recht nicht von Jugendlichen. Wenn palästinensische Extremisten die Autonomiegebiete als Angriffsbunker ausnutzten, durfte es mit der Landabgabe nicht weitergehen. Ich wollte etwas dagegen tun.
Vor den bevorstehenden Neuwahlen lud mich ein Klassenkamerad zur Likud-Jugend ein. Zusammen standen wir auf dem Unabhängigkeitsplatz in Netanya und verteilten Flyer. Wir trugen T-Shirts mit dem Aufdruck »Netanjahu. Wir machen einen sicheren Frieden«. Von der Notwendigkeit eines »sicheren Friedens« war ich überzeugt.
Anlässlich des Festes »Lag BaOmer« nahmen wir an einem zweitägigen Ausflug der Likud-Jugend zum Berg Meron teil. Benjamin Netanjahu kam ebenfalls und bedankte sich bei uns. Ihn live zu sehen, machte mich stolz, aber als ich die anderen Teilnehmer betrachtete, verstand ich, dass ich weder wirklich zu dem Profil der Likud-Jugend noch zu dem der Berg-Meron-Besucher passte. Die Feier besuchten fast nur Orthodoxe und die meisten Mitglieder der Likud-Jugend waren orientalisch-stämmig. Aufgrund meines aschkenasischen Aussehens und der fehlenden Kippa zeigte sich auf den Gesichtern der anderen eine gewisse Überraschung, als sie mich sahen.
Im Mai gewann Netanjahu die Wahlen. In den kommenden Jahren bis 2000 pendelten meine Positionen. Anschläge waren immer wieder wie Ohrfeigen im Halbschlaf, wurden aber seltener. In mir war die Hoffnung auf Frieden nicht gestorben und wir glaubten weiterhin, uns in einem Friedensprozess zu befinden. Auf der Innenseite meiner Schranktür überklebte ich die Aufkleber der Likud mit denen der linken Partei Merez.
Am Ende des neunten Schuljahrs an unserer Kibbuzschule mussten wir für die Bagrut, die israelische Hochschulreife, zwei Leistungskurse wählen. Die Arabisch-Grundkenntnisse aus den drei Pflichtjahren reichten mir nicht, denn ich wollte meine Nachbarn verstehen können, deshalb wählte ich den Arabisch-LK.
Im letzten Schuljahr machte unser Arabisch-LK eine Exkursion nach Wadi Ara, wo Araber und Juden nahe beieinanderleben. Wir setzten uns mit der Lebensrealität und mit der Frage der Identität auseinander. Unter anderem waren wir in Barta’a, einem geteilten arabischen Dorf. Die eine Hälfte befindet sich auf israelischem Boden, die andere im palästinensischen Autonomiegebiet.
Als ein örtlicher Redner zu lange vor der Moschee sprach, verschwand ich mit einem Freund in den Tante-Emma-Laden nebenan. Beim Kauf einer Coladose und einer Tüte Bamba – das sind Erdnussflips, die in Israel als Nationalsnack gelten – wurde ich mit zwei Tatsachen konfrontiert. Erstens: In den palästinensischen Gebieten waren die Produkte fast alle israelisch. Zweitens: Die gleichen Produkte kosteten etwa ein Viertel. Dass Bamba nebenan nur 1,5 Schekel kostete, ließen wir gleich die ganze Klasse wissen. Zwar verhinderte die Lehrerin, dass daraufhin alle Schüler in den Laden rannten, aber wir hatten etwas Wichtiges fürs Leben gelernt: Einkaufen bei Palästinensern lohnt sich.
An einem Aussichtspunkt erzählte unser Gastgeber, die roten Ziegeldächer würden sofort verraten, dass wir auf jüdische Ortschaften schauen. »Die Juden kommen aus Europa und dort sind Ziegeldächer typisch, zum Beispiel in Deutschland oder in der Schweiz«, erklärte er. Die Juden hätten diese Bauweise mitgebracht und daran könne man sehen, dass sie hier eigentlich ortsfremd seien. In den arabischen Orten gäbe es nur Flachdachhäuser, ergänzte er. Das klang im ersten Moment richtig. Während ich jedoch die weitläufige arabische Bebauung im Tal betrachtete, zählte ich viele rote Ziegeldächer. In einer der beiden jüdischen Ortschaften befanden sich dagegen zwei Häuserreihen mit flachen Dächern im Neubaugebiet.
Bei einem Jugendaustausch in Südwestfalen hatte ich ein paar Monate zuvor nur schwarze Ziegeldächer gesehen. Daher stellte ich unserem Gastgeber die Frage, ob die Häuser mit den roten Ziegeldächern unten nicht arabisch wären. Mit den Farben der Dächer in dem Teil Deutschlands, den ich kannte, wollte ich ihn nicht konfrontieren. Er lächelte und sagte, im arabischen Sektor in Israel würden die modernen Araber inzwischen auch rote Ziegeldächer wollen. Es wäre ein Statussymbol und letzten Endes ein Einfluss der Juden. In den palästinensischen Gebieten würden die Araber aber keine roten Ziegeldächer bauen. Dort wollten sie den Juden nicht zu sehr ähneln. Die Palästinenser in den Autonomiegebieten, fuhr er fort, würden über die israelischen Araber wegen ihrer roten Ziegeldächer lachen und sie als »veraschkenasierte Araber« bezeichnen.
Ich war erstaunt, dass die Araber uns besser zu kennen schienen, als wir dachten. Die Frage, ob die Juden im Neubaugebiet vom arabischen Baustil beeinflusst waren oder ob ihre neue Bauweise eher bedeutete, dass sie im Land »angekommen« waren, hat mich später noch länger beschäftigt.
Zurück an der Schule fragten wir unseren Lehrer Hassan, ob er uns mitnehmen würde, denn unser Wohnort lag auf seinem Heimweg. Er nickte und wir stiegen in seinen grünen Honda Civic. Kurz vor der Schnellstraße fuhr plötzlich ein Traktor auf die Straße, obwohl wir Vorfahrt hatten. Geschickt wich Hassan ihm aus und schimpfte: »Wo kam dieser Sohn einer Hure her?« Auf Hebräisch.
Mir wurde bewusst, dass Hassan sehr tief im Hebräischen lebt. Er war ein gutes Zeugnis für seine Integration. Ich dachte über das umgekehrte Verhältnis nach und bemerkte, dass sehr viele Schimpfwörter, die wir Juden verwenden, arabisch sind. Im Schimpfen also klappte es wunderbar.
Im Auto lachten wir alle, samt Hassan. Ihm war aber nicht bewusst, dass wir aus zweierlei Gründen lachten. Abgesehen von der außergewöhnlichen Schimpferei aus dem Mund eines Lehrers war sein Satzbau so korrekt, dass ein Muttersprachler es nie so gesagt hätte. Ganz wie ein Jude war Hassan also doch nicht.
Eine andere Lehrerin kannte meine politische Neugier. Nachdem ich mich bei Arbeiten für Themen wie »Die Rolle des Flüchtlings-Daseins in der palästinensischen Identität« entschieden hatte, wäre es auch schwer gewesen, diese zu übersehen. Eines Tages kam sie auf mich zu und erzählte, dass die Soziologielehrerin an einer Reihe von Begegnungen mit palästinensischen Kollegen und Kolleginnen teilnehmen würde. Meine Lehrerin fragte mich, ob ich zu ihrem nächsten Treffen nach Jerusalem mitfahren wolle.
Die Soziologielehrerin kannte ich nicht persönlich. Ich wusste nur, dass sie ihren Pudel überallhin mitnahm, sogar zur Toilette. Auf eine Fahrt mit dem Pudel hatte ich nicht wirklich Lust, aber die Gelegenheit schien mir interessant. Ich fuhr mit.
Die 100 Kilometer im Renault Clio waren schlimmer als erwartet. Der Hund kam vom Regen nass ins Auto, doch das war nicht das Schlimmste. Der arme Renault musste viel mitmachen, die Lehrerin benutzte nämlich nur die ersten drei Gänge. Nach 20 Kilometern auf der vierspurigen Schnellstraße nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte, ob es einen besonderen Grund gäbe, dass sie nicht hochschaltete. Ich hatte Angst, bald in einer Qualmwolke stehen zu bleiben.
»Als ich den Führerschein gemacht habe, hatten die Autos nicht so viele Gänge«, erklärte sie. Mit dieser Antwort verblüffte sie mich fast mehr, als es die Fähigkeiten des Autos taten.
In Jerusalem zeigte sich, dass auch das Navigieren nicht die Stärke dieser Lehrerin war, denn wir landeten mitten im ultraorthodoxen Viertel Me’a Sche’arim. Ich kannte Jerusalem nicht gut und konnte nicht helfen. Als wir endlich einen altstadtnahen arabischen Stadtteil erreichten, war die Lehrerin richtig erleichtert – normalerweise reagieren Juden eher umgekehrt.
Das Treffen hatte schon längst begonnen und ich durfte mich den etwa vierzig Lehrerinnen und Lehrern kurz vorstellen. Die Moderatorin lächelte mich an und sagte, ich könne Fragen aufschreiben und diese später stellen. Für meine Arbeit wollte ich die Meinung palästinensischer Teilnehmer zum Thema Demokratie in den palästinensischen Autonomiegebieten hören. Ich formulierte Fragen zur Pressefreiheit, zur Meinungsfreiheit, zu Rechten der christlichen Minderheit, zur Lage der Frau und zur Machtregulation des Präsidenten Arafat. Ich dachte, die palästinensische Gesellschaft hätte sicher eine gute Ausgangslage, denn sie bauten ihren zukünftigen Staat gerade erst auf.
In der Pause erwischte mich die kühle Jerusalemer Bergluft ganz unvorbereitet. Bei uns an der Küstenebene blieb es abends viel wärmer. Die Lehrerin schaute nach ihrem Pudel, ich blickte auf die Altstadtmauer und war von den schönen Lichtern fasziniert. Als ich in den Raum zurückging und meine Fragen nochmals durchgehen wollte, lag mein Spiralheft anders, als ich es hinterlassen hatte, und die Seite mit den Fragen war verschwunden. Ich schaute nach rechts und links. Ein älterer arabischer Mann mit Sakko sah in meine Richtung. Meine Frage, ob er vielleicht jemanden bemerkt habe, der mein Heft in die Hand genommen hatte, verneinte er. Ich erklärte, dass eine Seite fehlte. Er meinte, ich hätte doch noch genug Seiten übrig. »Ja«, antwortete ich, »aber gerade auf der Seite hatte ich mir Fragen für heute notiert.« Der Mann machte eine Handbewegung, die »weg« bedeutet, und sagte auf Arabisch »tachalak ma’a er-rikh« (»mit dem Wind weggeflogen«). Ich verstand nicht, was er damit meinte.
Eine jüdische Lehrerin nahm mich zur Seite und erklärte, jemand wolle wahrscheinlich die peinliche Situation vermeiden, die solche direkte Fragen verursachen würden. Ich solle es nicht persönlich nehmen, es sei bei den Arabern wohl anders.
Hiermit hatte ich meine erste Lektion über Tabus in der palästinensischen Gesellschaft und den Umgang mit ihnen erhalten.
Im September 2000 war ich gerade mit der Schule fertig und fuhr mit meiner künftigen Ehefrau für eine Woche in die Schweiz. Als wir im malerischen Kanton Waadt unterwegs waren, kam im Radio eine Meldung über Unruhen während des Besuches von Ariel Scharon auf dem Tempelberg. Die folgenden Tage brachten eine Hiobsbotschaft nach der anderen.
Am nächsten Morgen erschoss ein palästinensischer Polizist seinen israelischen Kollegen auf einer gemeinsamen Patrouille, ein Kopfschuss, dem kein Streit vorangegangen war. Nach dem Mittagsgebet warfen Massen Steine auf Juden vor der Klagemauer. Vier Steinewerfer wurden von der Polizei erschossen, 25 Polizisten verletzt. Ein zwölfjähriger palästinensischer Junge im Gazastreifen wurde erschossen. Palästinensische Polizisten bestürmten Josefs Grab, belagerten es und ließen nicht zu, dass ein verblutender israelischer Grenzschutzpolizist evakuiert wurde. Israels Generalstabchef beobachtete das Geschehen vom Berg Garizim und bekam vom Premier Ehud Barak kein grünes Licht zum Eingreifen, damit die Lage nicht eskalierte. Der Polizist, ein Druse, starb nach drei Stunden.
Auch israelische Araber warfen Steine auf Autos, die Polizei setzte scharfe Munition ein und zwölf israelische Araber wurden erschossen. In einem Telefongespräch erzählte meine Mutter von einer Gruppe junger Araber, die durch unseren Ort gelaufen waren und Sachen beschädigt hatten, bis die Polizei sie festnahm. So etwas hatte es bei uns noch nie gegeben. Meine Mutter hatte Angst und schloss alles ab, auch das Gartentor. Ich verstand nicht, wie sich die Lage so schnell hatte verändern können.
Aus der Schweiz kamen wir ins Haus meiner künftigen Schwiegereltern in Deutschland. Um mich herum war alles ruhig, verschlafen, friedlich, normal. Die Meldungen aus Israel ließen die Distanz zwischen den Ländern noch viel größer erscheinen. Es war wie eine Parallelwelt.
Als mein künftiger Schwiegervater einen Geschäftstermin in Erfurt hatte, nahm er uns mit. Mit Anbruch der Dunkelheit tauchten plötzlich mehrere Dutzend Skinheads auf. Sie liefen in Gruppen herum und hatten Hunde der eher weniger zärtlichen Rassen bei sich. Ich verstand noch kein Deutsch und meine künftige Frau konnte noch kein Hebräisch, sodass wir Englisch miteinander sprachen. Damit ich nicht als Ausländer auffiel, sprach ich, sobald mich jemand hätte hören können, kein Wort mehr. Das Gefühl, an einem sicheren Ort zu sein, war verschwunden.
Am nächsten Morgen zeigten fast alle Zeitungen das gleiche Foto auf dem Titelblatt: Ein Mann streckt seine blutverschmierten Hände aus einem Fenster, den Mund zu einem Ruf geöffnet. Eine schreckliche Gewalttat war geschehen. Zwei israelische Reservisten, einer von ihnen war neun Jahre zuvor aus Russland eingewandert und seit einer Woche verheiratet, waren in ihrem Pkw auf dem Weg zur Kaserne falsch abgebogen und versehentlich nach Ramallah gekommen. Im Stau wurden sie mit langen Waffen an ihrer Schläfe aus dem Auto geholt und zur palästinensischen Polizeistation gebracht. Schon in der Polizeistation wurden sie mit Messern und scharfen Gegenständen gestochen.
Zunächst ließen die Polizisten die versammelte Menge draußen warten. Dann machte ein Polizist die Türen auf. Mit brutaler Gewalt wurden die beiden Männer ermordet. Mehrere palästinensische Polizisten waren direkt am Mord beteiligt. Einen Körper warfen sie durchs Fenster im vierten Stock hinunter, den anderen schoben sie durch die Tür. Sie stachen den Reservisten die Augen aus. Draußen sprangen Männer auf die leblosen Körper und rissen ihre inneren Organe mit den Händen heraus. Mit den Organen in ihren ausgestreckten Händen tanzten sie einen Freudentanz. Über 1000 Palästinenser waren dabei. Eine der Leichen zündeten sie an. Die Überreste der beiden Männer zogen sie später hinter einem Auto über die Straßen Ramallahs. Als die Ehefrau des einen Reservisten versuchte, ihn auf seinem Handy zu erreichen, nahm einer der Mörder ab und sagte: »Deinen Mann habe ich gerade geschlachtet.«
Die Horrorszenarien der Skeptiker waren Realität geworden. Die Rechten hatten recht gehabt, als sie auf ihren Aufklebern schrieben: »Gebt ihnen keine Gewehre«.
Ab diesem Zeitpunkt konnte mich keine Nachricht mehr überraschen. Nicht der Beschuss der Gruppe israelischer Ausflügler auf dem Berg Ebal durch die palästinensische Polizei, nicht die Schießerei aus Beit Jala auf den Jerusalemer Stadtteil Gilo und nicht die 122 Selbstmordanschläge in den kommenden fünf Jahren, nicht die Erschießung eines zehn Monate alten Mädchens im Kinderwagen durch einen Scharfschützen der Fatah, nicht das Foltern und die Steinigung zweier 14-jährigen Siedlerkinder in einer Höhle südlich von Bethlehem, wo die Mörder die Köpfe der Kinder mit Steinen zerschmetterten und mit ihren Händen die Wände der Höhle mit Blut beschmierten, nicht die zahlreichen Schießereien auf fahrende Autos beim Überholen und nicht die vielen Messer-, Axt-, Auto-, Mörser- und Raketenangriffe. Ich war innerlich zerbrochen.
Mir kam der Verdacht, dass diese barbarische Brutalität keine Sache von Individuen war, sondern ein Gruppenphänomen. Solche blutbeschmierten Hände kann keiner als Hände eines Friedenspartners drücken.
Der Traum vom Frieden rückte immer weiter in die Ferne und erschien als eine naive Illusion. Meine Jugend war zu Ende.
Im Laufe der Jahre ist mein innerer Trieb, den Konflikt besser zu verstehen, immer stärker geworden. Dafür mache ich mich nun auf eine Reise durch seine Geschichte. Ich fahre zu den Stellen, an denen die wichtigsten Ereignisse des Konfliktes stattgefunden haben, denn die Geschichte bildet das Fundament für das Verständnis der Gegenwart. Kommst du mit?
Das Meer ist heute außergewöhnlich ruhig. Die Fischer sind schon längst wieder zurück. Ihre bunten Boote liegen in dem winzigen Hafen. An Land stehen einfachste Hütten aus Blech, Stein und Holz, muckelig-gemütlich.
Oft habe ich versucht, mir das Land vorzustellen, bevor die Juden in Massen eingewandert sind. Ja, es gab hier nie einen unabhängigen arabischen Staat, aber Israel oder Palästina – nenne das Land, wie du möchtest – war damals ein arabisches Land. Nicht politisch, aber die damaligen Bewohner waren in der arabischen Kultur beheimatet.
Damit mir die Vorstellung leichter fällt, fahre ich ins Fischerdorf Dschiser ez-Zarqa, unweit von Cäsarea. »Blaue Brücke« bedeutet der Name. Direkt hinter dem Hafen mündet der Fluss ins Meer. Früher hat er Sümpfe gebildet, von denen die Dorfbewohner gelebt haben. Sie fingen Fische, produzierten Töpfe aus dem Lehmboden und Körbe aus den Papyrusstauden und züchteten Büffel. Bestimmt ist meine Vorstellung idealisiert. Der Alltag war mühsam, das Leben hart und kurz. Auch damals wurde der verschlafene Ort gelegentlich von Konflikten durchgeschüttelt. Aber das war berechenbar und bekannt. Es war ihre Welt.
Ich setze mich ins Strandcafé und lese die Geschichte des Dorfes. Schnell stellt sich heraus, dass auch diese Menschen nicht immer hier waren. Vor 150 Jahren gab es 15 Häuser im Dorf. Nur die Großfamilie Dschamusin (dt. »Büffelzüchter«) lebte hier. Zu ihnen kam die Großfamilie Dschurban aus dem Jordantal, die Amaschs aus Kafr Kadum in Samarien, dann die Nadschars aus Ägypten, die Schihabs aus Syrien und die Twatchas und die Um Baschis aus dem Sudan.
Nicht nur in dieses Dorf gab es arabische Zuwanderung. Der Wirtschaftsboom, den die jüdischen Einwanderer verursachten, zog viele Araber in dieses Land, besonders zur Küstenebene, wo die jüdischen Orte entstanden, und in die gemischten Städte. In nur sechs Jahren wuchs die arabische Bevölkerung Jerusalems um 37 Prozent, die Jaffas um 62 Prozent und die Haifas um 86 Prozent.2
Manche Nachnamen arabischer Großfamilien im Land verraten bis heute ihre Herkunft. Die Halabis stammen aus Aleppo, die Mughrabis aus Marokko und die Massarwas aus Ägypten. Jeder Großfamilie können mehrere Zehntausend Köpfe angehören. Doch der Großteil der Araber war über viele Generationen im Land verwurzelt. Wo sind sie hergekommen?
Im 5. Jahrhundert florierte noch das jüdische Leben in Galiläa. Bis ins 7. Jahrhundert standen dort und in Judäa viele Synagogen. Was ist mit den antiken Juden passiert? Uns ist kein Massaker bekannt, auch keine Deportation. Im neuen muslimischen Reich des 7. Jahrhunderts verbreiteten die neuen Herrscher aus dem heutigen Saudi-Arabien den Islam und kassierten Steuern, aber Siedler brachten sie keine. Nur wenige der eroberten Bevölkerungen behielten ihre Sprache dauerhaft, fast alle erlebten einen jahrhundertelangen Arabisierungsprozess. Warum sollte es in diesem Land anders gewesen sein?
Dorfälteste in der Nähe von Hebron erzählten noch vor wenigen Jahrzehnten, sie seien Juden gewesen und vor 300 Jahren Muslime geworden.3 In mehreren anderen arabischen Orten werden bis heute Bräuche gepflegt, deren Wurzeln in der Bibel und der jüdischen Tradition liegen, wie Schwagerehe, Kerzenzünden am Sabbatabend, kein Verzehr von Kamelfleisch, bestimmte Begräbnissitten und die Verehrung von Gerechtengräbern. Manche Rabbinergräber sind bis heute auch für diese Muslime heilige Stätten.
Im galiläischen Pki’in blieben etliche Bauernfamilien bis zum 20. Jh. jüdisch. Ihren Alltag führten sie jedoch auf Arabisch und äußerlich konnte man sie von anderen Arabern nicht unterscheiden. Die anderen Bewohner sind offensichtlich in einem leisen Prozess arabisiert worden. Wie es aussieht, gab es keine Bevölkerungsverschiebung im Land, sondern eine Identitätsverschiebung.
Dem jüdischen Spitzenpolitiker David Ben Gurion war das klar und Ariel Scharon soll gesagt haben: »Das ganze arabische Hebron ist jüdischer als die Juden in Kirjat Arba.«
In den letzten Jahren haben genetische Untersuchungen das Vermutete bestätigt: Europäische Juden und Palästinenser sind nah verwandt, näher als z.B. Palästinenser und Syrer. Manche Beduinen unserer Zeit sind Nachkommen der Menschen, die vor 1400 bis 2000 Jahren in derselben Gegend begraben wurden, als dort Juden und Christen lebten.
Vielleicht bringt unsere Verwandtschaft eine dramatische Komponente in den Konflikt, aber sie hilft nicht weiter. Streit gibt es bekanntlich am häufigsten innerhalb der Familie.
Wenn Theodor Herzl hier einen Parkplatz suchen müsste, hätte er es sich mit dem Zionismus zweimal überlegt.
Nicht weniger als fünf Runden musste ich heute Morgen durch das Zentrum von Rischon LeZion drehen, bis ich die ersehnte Parklücke gefunden hatte. Nur 100 Jahre vor meiner Geburt gegründet, leben hier schon 250000 Juden, die gefühlt 500000 Autos abstellen.
»Erstes zu Zion« wäre der Name der Stadt auf Deutsch. Tatsächlich ist es die erste Ortschaft, die Zionisten gegründet haben – so nannte man ab dem 19. Jahrhundert die Ideologen, die dieses Land besiedeln und hier einen Judenstaat aufbauen wollten. Als Herzl eine politische Bewegung aus ihren Vereinigungen in Europa machte, war Rischon LeZion 15 Jahre alt.
Ich spaziere durch die alte Dattelpalmenallee und sehe mir den Wir-haben-Wasser-gefunden-Brunnen an (ja, er heißt wirklich so), die Große Synagoge, die erste hebräische Schule, das erste Orchesterhaus und die erste industrielle Kellerei im Land. Ich stelle mir vor, an welcher Ecke wohl die Flagge zum ersten Mal gehisst wurde, die 63 Jahre später zur Fahne des neugeborenen Staates Israel wurde. Unsere Nationalhymne erweist sich als hartnäckiger Ohrwurm, nachdem ich gelesen habe, dass auch sie zum ersten Mal hier gesungen wurde. Die rumänische Volksmelodie ist nicht die einzige Verbindung zu Osteuropa. Alle historischen Gebäude könnten genauso gut in jeder rumänischen Altstadt stehen.
Vor der Stadt bestätigen glänzende Industriegebiete mit nagelneuen Hightech-Bauten den riesigen Erfolg des Zionismus. Israels Wirtschaft gehört zu den stärkeren. Mit einem Bruttoinlandsprodukt von 45000 U$ pro Kopf bietet Israel seinen Bewohnern einen Lebensstandard, der mit den entwickelten Ländern Westeuropas mithält. Unser Human-Development-Index ist höher als in vielen europäischen Ländern. Es gibt keinen multinationalen Konzern, der in Israel kein Entwicklungszentrum hat. Unsere Währung ist stabil, die Inflation und die Arbeitslosigkeit gering, das Wirtschaftswachstum höher als in den meisten Industrieländern, die Zahlungsbilanz positiv. In Bezug auf die Gesundheit liegen Israelis international in den Top 10. Nur eine Sache hat der Zionismus noch nicht geschafft: Frieden.
Ich bin hergekommen, weil ich mir die ersten vier Jahrzehnte des zionistischen Werkes vor Augen halten möchte. Wie war es hier vor dem Ausbruch des Konfliktes?
Am Vorabend der zionistischen Einwanderung lebten 26000 Juden im Land, die fünf Prozent der Bevölkerung stellten.4 Die Zionisten nannten diese Juden »Altgemeinde«. Sie lebten meistens in Städten und waren fromm. Fast alle anderen Bewohner waren Araber.
Damals regierten die Türken das Land. Juden brauchten ihre Bewilligung zur Einwanderung, für Landerwerb und Siedlungsbau. Obwohl der Zionismus sein Ziel, einen Judenstaat, nicht verbarg, gab es von den Arabern damals scheinbar keinen Widerstand. Politisch waren sie nicht organisiert. Landbesitzer verkauften Ländereien an zionistische Organisationen, die deren Besiedlung im großen Stil vorantrieben. Dort lebten häufig landlose Araber, die für ihre Duldung seit Jahrhunderten mit Ertragsabgaben zahlten. Da die neuen Käufer die Ländereien selbst bewirtschaften und bewohnen wollten, gab es manchmal lokale Konflikte, aber insgesamt waren die Beziehungen zwischen den jüdischen Pionieren und ihren arabischen Nachbarn gut.
Bis zum Ersten Weltkrieg wuchs die jüdische Bevölkerung auf 60000 Einwohner und machte damit 12 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Innerhalb von dreißig Jahren gründeten Zionisten sechzig Ortschaften. Die Landkarte veränderte sich massiv und mit ihr die Realität.
Die Unsicherheiten des Ersten Weltkrieges stoppten die jüdische Einwanderung zunächst. Doch der Krieg änderte alles, denn nun waren die Briten die neuen Herren des Landes und gegen Kriegsende kam der diplomatische Durchbruch der zionistischen Bewegung. Die Briten erklärten ihre Absicht, den Aufbau eines jüdischen Nationalheims im Land zu unterstützen (Balfour-Deklaration von 1917). Die Rechte der Araber sollten dabei unverletzt bleiben. Wie das möglich sein sollte, verrieten die Briten nicht. Die Juden waren euphorisch, die Araber empört. Aber nicht alle.
Für den Sharif und Emir von Mekka war das jüdische Nationalheim in Ordnung, wenn er dadurch sein eigenes Königreich von Syrien bis Arabien bekommen und die Zionisten dessen Wirtschaft auf Vordermann bringen würden. Von diesen Plänen ist nur der Gedanke geblieben, wie es hätte sein können, wenn alles friedlich geblieben wäre. Aber das blieb es nicht.
Das malerische Steingebäude mit den vielen weißen Kuppeln liegt inmitten der Judäischen Wüste. Auf dem benachbarten Hügel habe ich das Sonnensegel vor das Auto gespannt. Von hier aus blicke ich auf ein Gebäude, das wie eine muslimische Variante eines Klosters aussieht. Nebi Musa heißt es auf Arabisch (»Prophet Mose«). Die muslimische Tradition sieht hier das Grab Moses. Eigentlich könnte man sagen, er sei daran schuld, dass wir Juden so an diesem Land kleben. Aber anstatt ihn zu beschuldigen, huldigen ihm die Araber hier als einem der großen Propheten.
Nebi Musa wirkt heute verlassen und in Vergessenheit geraten. Der Zustand ist symbolisch, denn dieser Ort ist nichts weniger als die Wiege des palästinensischen Nationalismus. Von hier ging auch die erste politisch motivierte Gewalt aus.