Wie der Osten Deutschland rettet - Mario Czaja - E-Book

Wie der Osten Deutschland rettet E-Book

Mario Czaja

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Beschreibung

Auch über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung bleibt die Diskussion über Ostdeutschland aktuell. Das Gefühl der Ungleichheit und mangelnden Anerkennung ist bei vielen Menschen in den neuen Bundesländern noch immer präsent. Doch bloßes Klagen reicht nicht aus. Was wir brauchen, sind praktische Lösungen. In seinem Buch liefert der ostdeutsche Politiker Mario Czaja genau das. Basierend auf fast 30 Jahren politischer Erfahrung auf verschiedenen Ebenen zeigt er, wie ein selbstbestimmtes, demokratisches und wirtschaftlich starkes Ostdeutschland gefördert und aufgebaut werden kann - für eine gerechtere und erfolgreichere Zukunft. Mit seinen unbequemen und provokanten Vorschlägen, unter anderem zum Verhältnis seiner Partei, der CDU, zur Linken, zu einer Ostquote bei der Besetzung von Führungspositionen und zu einer gerechteren Verteilung des Reichtums, eröffnet Czaja neue Wege in der Debatte um den Osten. Ein unverzichtbares Buch, um den Osten zu verstehen und die deutsche Einheit endlich mit Turboantrieb voranzubringen. Mit einem Vorwort von Gregor Gysi.

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Seitenzahl: 254

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Mario Czaja

Wie der OstenDeutschland rettet

Lösungen für ein neues Miteinander

Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Zero Media GmbH, München

Umschlagmotiv: © bgblue, GettyImages

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft SRL, Timișoara

ISBN (Print): 978-3-451-39829-2

ISBN (PDF): 978-3-451-83472-1

ISBN (EPUB): 978-3-451-83495-0

Inhalt

Aus Verantwortung für die Demokratie: Das Potenzial des Ostens aktiv für das ganze Land nutzenVorwort von Gregor Gysi

Einleitung„Der Einzige aus dem Osten“

Kapitel 1Wie mehr Mitbestimmung in die Politik kommt

Lektionen in Bürgernähe

Parteiferne ist nicht Demokratieverdrossenheit

Neue Formate der Beteiligung

Sei vor Ort!

Gespräche statt Belehrungen

Kapitel 2Warum Ostdeutschland eigene politische Souveränität benötigt

Eine eingeschüchterte Partei

Lehren aus Thüringen?

Abschied von der Hufeisentheorie

Pragmatische Zusammenarbeit mit der Linkspartei

Schluss mit den falschen Vergleichen

Kapitel 3Wie die zweite Halbzeit beim „Aufbau Ost“ ganz Deutschland voranbringen wird

Irgendwann reicht es?

Der Solidarpakt, eine falsch erzählte Geschichte

Viel Raum und Chancen für Entwicklungen

Investitionen in neue Wege

Unverzichtbarer „Aufbau Ost 2.0“

Kapitel 4Mit Sonderförderzonen die ostdeutsche Wirtschaft auf die Überholspur bringen

Bayerische Montagsreden

Ohne Sonderförderung geht es nicht

Das Defizit an mittleren und großen Unternehmen

Energiekosten und Infrastruktur gerechter verteilen

Zukunftsanker im Osten für den Westen

Kapitel 5Ein Kinderstartkapital schafft mehr Chancengerechtigkeit

Von der Hand in den Mund

Vermögensschere zwischen Ost und West

Beteiligung aller Menschen am Produktivkapital

Kein bedingungsloses Grunderbe

Nur etwas mehr Erbschaftssteuer

Kapitel 6Ostdeutsche Standards und ihre Vorteile für den Westen – oder warum eine DIN Ost allen hilft

Enteignungsattacken

DIN Ost

Beispiel Gesundheitsversorgung

Standards flexibilisieren

Kapitel 7Eine Ostquote ist überfällig

Wendekinder

Der Osten hat fast nichts zu sagen

Abnehmende Akzeptanz des Gemeinwesens

Die CDU als Vorreiterin?

Die Quote ist schon im Grundgesetz verankert

Kapitel 8Außenpolitik aus ostdeutscher Sicht: Mehr Emanzipation der Europäer

Die USA – weniger verlässlich

Das außenpolitische Know-how des Ostens liegt brach

Die historische Bindung des Ostens an Russland

Gorbatschows europäisches Haus – nur ein Traum?

Die Emanzipation der deutschen und europäischen Außenpolitik

Kapitel 9Lösungen: Mehr Osten wagen, um ganz Deutschland zu stärken

Gesamtdeutsch denken – Wolfgang Schäubles Vermächtnis

Die Wiedervereinigung und ihre Schwächen

Den Umbrüchen mutig begegnen!

Mein Fazit: Der Osten als Chance

Danksagung

Anmerkungen

Über den Autor

Aus Verantwortung für die Demokratie: Das Potenzial des Ostens aktiv für das ganze Land nutzenVorwort von Gregor Gysi

Kohls Versprechen der blühenden Landschaften und die dahinterstehende Haltung, dass aus der Einheit kein neues gemeinsames Deutschland, sondern letztlich nur eine erweiterte Bundesrepublik entstünde, war eine den Einheitsprozess bis heute prägende Fehleinschätzung. Viele Deutsche aus der DDR hatten nach dem 3. Oktober 1990 das Gefühl, zu Deutschen zweiter Klasse zu werden. Die Bundesregierung konnte damals nicht aufhören zu siegen. Die Regierenden strahlten nicht nur eine gewisse Arroganz aus, sondern waren vor allem nicht bereit, sich die DDR genau anzuschauen und sinnvoll positive Seiten aus ihr im vereinten Deutschland zu bewahren. Die DDR wurde ausschließlich mit Mauertoten, Staatssicherheit und SED identifiziert. Aber es gab auch ein Leben in ihr, das nicht interessierte. Ich erinnere an den deutlich höheren Grad der Gleichstellung der Geschlechter im Vergleich zur alten Bundesrepublik. Man darf auch die Berufsausbildung mit Abitur, die Polikliniken und die Art und Weise der Müllentsorgung ins Gedächtnis rufen. Die BRD war damals eine Wegwerf-, die DDR eine Behaltegesellschaft. Hätte die Bundesregierung solche Seiten übernommen, wäre das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gestärkt und nicht nach unten gedrückt worden. Wir hätten uns gesagt: Wir hatten zwar eine Diktatur, aber sechs Gegebenheiten waren so gut, dass sie jetzt in ganz Deutschland gelten. Die Westdeutschen hätten erlebt, dass sich ihre Lebensqualität in diesen sechs Gebieten durch den Osten erhöhte. Das ist ihnen nicht gegönnt worden. All das hat Konsequenzen für das Denken und Fühlen in Ost und West bis heute.

Allerdings muss auch immer wieder betont werden, dass die Stadtzentren, die Kirchen und viele Wohnungen saniert wurden, was den Ostdeutschen und den Besucherinnen und Besuchern zugutekommt.

Ein Denken, dass der Osten einfach nur so werden müsste wie der Westen, ist Mario Czaja fremd. Wer wie er im Osten Berlins direkt kandidiert hat und mehrfach ins Abgeordnetenhaus und 2021 auch in den Bundestag gewählt wurde, hätte dies nicht geschafft, ohne ostdeutschen Biografien und Leistungen den Respekt entgegenzubringen, den sie verdienen. 2001 traten wir bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus gegeneinander an, und das war das letzte Mal, dass Mario Czaja seinen Wahlkreis nicht gewann. Geblieben aus dieser Zeit und den nachfolgenden nun schon über 20 Jahren ist bei ihm eine Haltung, die mit Unvereinbarkeitsbeschlüssen unter demokratischen Konkurrenten nichts anfangen kann. Dies umso mehr, wenn die Demokratie sowie Demokratinnen und Demokraten direkt und handgreiflich bedroht werden. Letztlich nimmt er damit den urdemokratischen Impuls der Wendezeit in der DDR wieder auf und stellt an uns die Frage, ob und wie man nicht gerade die Erfahrungen des friedlichen Umbruchs 1989/90 heute zum Tragen bringen könnte und müsste.

Denn die Friedlichkeit damals hatte zwei Seiten: „keine Gewalt“ durch Demonstrierende und der Verzicht darauf bei den Soldaten, bei der Polizei, nicht gleich, aber ab dem 9. Oktober 1989. Es ist eine beachtliche Leistung, dass während des Umbruchs kein einziger Schuss fiel, von keinem aus den sogenannten bewaffneten Organen der DDR (Polizei, Armee, Zoll, Staatssicherheit, Kampfgruppen). Beides ist zu würdigen, nicht das Schwarz-Weiß, sondern das große Dazwischen bestimmt den Lauf der Geschichte.

Der Prozess des Machtwechsels war einzigartig, geschah in äußerst strittigem Dialog und ohne rigorose Konsequenzen für die alten Machthaber in der DDR. Manchen erscheint das inkonsequent, aber aus meiner Sicht zeigte sich gerade darin eine demokratische Kraft und Reife, die zugleich dafür sorgte, dass der Alltag für die Menschen weiterlief. Diese Kraft und Reife wären wieder bitter nötig, um die heutigen Gefahren für die Demokratie zu bannen.

Die Lohnlücke zwischen Ost und West besteht nach wie vor – 20 Prozent verdient man im Osten durchschnittlich weniger als im Westen. Das gilt auch für ungleiche Arbeitszeit, im Osten wird für geringeren Lohn länger gearbeitet. Für die gleiche Lebensleistung gibt es nach wie vor keine gleiche Rente. Erst seit dem vergangenen Jahr, 33 Jahre nach Herstellung der Einheit, sind die Rentenwerte nominell angeglichen, aber die geringeren Löhne aus der Vorzeit und jetzt drücken auch die Einzahlungen in die Rentenkasse, sodass Ostdeutsche auch in 33 Jahren noch niedrigere Renten haben werden als Westdeutsche bei vergleichbaren Erwerbsbiografien. Und die Ungleichbehandlung in vielen Berufsgruppen, zum Beispiel bei Polizistinnen und Polizisten, Ingenieurinnen und Ingenieuren bis zu mithelfenden Angehörigen privater Handwerkerinnen und Handwerker aus der DDR, soll bleiben.

Bemerkenswert ist, dass es praktisch keine Änderung gibt seit über 30 Jahren. Der Lohnabstand zwischen West und Ost wird nicht kleiner. Das ist schlicht und einfach skandalös. Seit 1995, als in den westdeutschen Unternehmen die 35-Stunden-Woche erkämpft wurde, musste ein Metaller im Osten 4000 Stunden länger arbeiten – das sind zwei Arbeitsjahre. Die Gewerkschaften taten zu wenig. Dass es so ist, liegt aber auch daran, dass sich die Bundesregierung nie für eine wirkliche Einheit energisch einsetzte und sich die Ostdeutschen zu wenig wehrten. Jeder kleine Schritt musste der Bundesregierung abgerungen werden. Angela Merkel, der Kanzlerin aus dem Osten, war der Osten leider auch nicht wichtig genug.

Es zeigt sich auch daran, dass nur zwei von 35 beamteten Staatssekretärinnen und Staatssekretären in den Bundesministerien der Ampelkoalition und nur elf von 135 Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleitern aus dem Osten kommen. Insgesamt sind nur 13,9 Prozent der Führungspositionen in 94 Bundesbehörden, vier Verfassungsorganen und fünf Bundesgerichten mit Ostdeutschen besetzt. Nimmt man nur die ostdeutschen Flächenländer, sind es sogar nur 7,4 Prozent bei einem deutlich größeren Anteil an der Bevölkerung. Das ist grundgesetzwidrig, denn in der Verfassung werden nicht nur gleiche Lebensverhältnisse, sondern auch eine angemessene Beteiligung sämtlicher Bundesländer auf der Leitungsebene des Staates gefordert.

Dass man dies ändern müsste, war in der Führung der Christdemokratie durchaus nicht wenigen klar. Wolfgang Schäuble hat es in seiner am 19. Februar 2020 in Erfurt gehaltenen Ringvorlesung „Die Einheit, die uns trennt? 30 Jahre vereintes Deutschland“ mehr als nur indirekt anklingen lassen. Doch die Kraft dazu fehlte der Union, was auch eine Ursache dafür war, dass sie nach 16 Jahren das Kanzleramt verlor. Mario Czaja plädiert in seinem Buch nun dafür, trotz wieder günstigerer Wahlaussichten seiner Partei die Entwicklung im Osten, das Verhältnis von demokratischen Parteien auch und gerade in der Auseinandersetzung mit den die Demokratie bedrohenden Kräften sowie die soziale Frage nicht aus den Augen zu verlieren. Dass er mit dieser Haltung bei seinem aktuellen Parteivorsitzenden nicht unbedingt offene Türen einrennt, scheint offenkundig. Es kann aber erwartet werden, dass Friedrich Merz sich nach den Landtagswahlen im Osten im Frühherbst diesen Herausforderungen wird stellen müssen, wenn er im nächsten Jahr Kanzler werden will.

Dass bei Löhnen und Renten zwischen Ost und West endlich Augenhöhe hergestellt werden muss, ist auch eine Frage des Respekts und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Den Ostdeutschen und dem Osten wurde seit 1990 nie das Gefühl von Gleichwertigkeit vermittelt. Die reale und gefühlte Benachteiligung wurde auch auf die Generationen übertragen, für die die Wende ebenso wie der Mauerfall Ereignisse aus Geschichtsbüchern sind, die sie sich kaum vorstellen können. Dennoch erleben sie selbst und in ihren Familien, worauf sich das Gefühl, benachteiligte Menschen zu sein, gründet. Dies verschwindet erst dann, wenn es keine konkreten Benachteiligungserfahrungen mehr gibt, deutlich mehr für Arbeitsplätze und Jugend im Osten getan wird und das Potenzial, das im Osten aus dem Umgang mit einem Epochenumbruch erwachsen ist, endlich für die Bewältigung der aktuellen Krisen in Gesellschaft und Wirtschaft genutzt wird. Investitionen wie die von Tesla oder Intel machen deutlich, dass internationale Konzerne dieses Potenzial offenbar eher erkennen, als die (west)deutsche Wirtschaft es vermag – und die Politik es unzureichend fördert. Die von Union und FDP Anfang der 2010er Jahre maßgeblich dem Ausverkauf preisgegebene Solarindustrie war vor allem im Osten beheimatet. Dass sich dieser Prozess heute und erneut vornehmlich im Osten wiederholt, weil Union und FDP meinen, die Schuldenbremse habe Vorrang vor der Entwicklung einheimischer Forschungs- und Produktionskapazitäten für eine Kerntechnologie der Energiewende, verstärkt das Gefühl, dass der Osten einfach nicht wichtig genug genommen wird.

Das Potenzial des Ostens aktiv für das ganze Land zu nutzen, wäre auch eine Voraussetzung dafür, rechtsextremen Kräften das Wasser abzugraben, die aus den politischen Enttäuschungen und sozialen Abstiegsängsten im Osten Kapital zu schlagen suchen. Denn machen wir uns nichts vor. Die Enttäuschungen haben sich über 30 Jahre lang ins ostdeutsche Bewusstsein eingegraben und korrespondieren mit dem zur Wendezeit Erlebten. Dies wird sich nicht von heute auf morgen mit ein paar Milliarden für die Investitionsförderung verändern lassen, sondern nur mit einer langfristig angelegten Politik, die gesellschaftlichen Krisen, noch dazu, wenn sie existenzieller Natur sind, strikt in sozialer Verantwortung begegnet und zugleich das Bewusstsein fördert, dass sich globale Krisen gerade nicht durch nationale Abkapselung lösen lassen. Dies muss die Politik in Bund und Ländern ausstrahlen, statt die falschen Narrative der Demokratieverächter aufzunehmen und sie damit zu verstärken.

Vielleicht sollte man sich dafür mal anschauen, wie der 1. FC Union aus dem Osten Berlins zu einem Klub geworden ist, der es von 2006 bis 2023 aus der vierten Liga bis in die Champions League geschafft hat. Mit der Kraft seiner Fans, unterstützt von dem einen oder anderen Investor, durch harte Arbeit, kluge Personalpolitik, Vertrauen in die handelnden Personen, mit der Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen, und über das Finden versteckter Potenziale bei den Transfers aus dem In- und Ausland. Man kann es schaffen – wenn man will und an sich, aber auch an andere glaubt.

Mario Czaja hat aus seiner Position mit diesem Ziel ein wichtiges Buch geschrieben.

Einleitung„Der Einzige aus dem Osten“

Es war ein Montag. Die letzte Sitzungswoche im Bundestag vor der Sommerpause 2023 lag gerade hinter uns. Es war eine gute Woche für die Union gewesen, und sie enthielt eine herbe Niederlage für die Ampelkoalition. Unser Fraktionskollege Thomas Heilmann hatte – für die meisten von uns überraschend – vor dem Bundesverfassungsgericht das Heizungsgesetz von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck zumindest vorerst stoppen können. Die Debatte um diesen Gesetzentwurf sollte damit den ganzen Sommer über anhalten. Kampagnentechnisch sehr gut für die Union. Eine Sondersitzung der Fraktion wurde einberufen. Beste Stimmung. Dann noch eine Freitagsdebatte im Plenum des Bundestages. Friedrich Merz, CDU-Bundesvorsitzender und Unions-Fraktionschef in Personalunion, hatte Heilmanns Erfolg umgehend zu einem Erfolg der gesamten Union und damit auch zu seinem eigenen gemacht. Besser ging es kaum für die Motivation der eigenen Leute. Merz las der Regierung die Leviten und zitierte gleich eingangs den Koalitionsvertrag: „Demokratie lebt vom Vertrauen in alle staatlichen Institutionen und Verfassungsorgane. Wir werden daher das Parlament als Ort der Debatte und der Gesetzgebung stärken.“ Leichtes Spiel nach solch einer schallenden Ohrfeige vom Bundesverfassungsgericht. Ein maßgebliches Gesetz gestoppt wegen unzureichender Aussprachezeit. Anspruch und Wirklichkeit fielen bei dieser Bundesregierung erneut weit auseinander. Genüsslich zerpflückte Friedrich Merz die Koalition, die noch sichtlich angeschlagen in den Reihen saß. Ein schöner Abschluss der Sitzungsperiode vor der Sommerpause für den Fraktionsvorsitzenden. Die eigenen Abgeordneten gingen so mit entsprechendem Rückenwind in ihre Wahlkreise und die Sommerferien.

Aber den Parteivorsitzenden trieb etwas um, das spürten viele von uns in seinem engen Umfeld seit Tagen. Konkret seit dem 15. Juni des Jahres 2023, als ein in Parteikreisen aufgeregt debattierter Artikel von Hendrik Wüst in der FAZ erschienen war,1 fühlte er sich herausgefordert und persönlich enttäuscht. In besagtem Namensbeitrag, übrigens einen Tag vor dem kleinen CDU-Parteitag, hatte Wüst als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und Parteivorsitzender des größten Landesverbandes eine Positionsbestimmung für die CDU vorgenommen, die Merz umgehend als Angriff auf sich verstand. Die liberalen Kräfte in der CDU und vor allem die öffentlich besonders aktiven Ministerpräsidenten Hendrik Wüst aus Nordrhein-Westfalen und Daniel Günther aus Schleswig-Holstein, so die Einschätzung von Friedrich Merz, schlugen seine ausgestreckte Hand aus, und zugleich wandten sich die Konservativen in der Partei aus Enttäuschung zunehmend von ihm ab. Rückblickend war offensichtlich, was diese persönlich vom Parteivorsitzenden wahrgenommene Drohkulisse für die Beziehung zwischen Friedrich Merz und mir bedeuten sollte.

Friedrich Merz bat mich an diesem Montag nach der letzten Sitzungswoche Mitte Juli 2023 um zwölf Uhr zum persönlichen Gespräch in sein Büro in der markanten Spitze der sechsten Etage des Konrad-Adenauer-Hauses, der Zentrale der CDU Deutschlands an der Klingelhöferstraße im Berliner Zentrum. Es ist die Etage, in der der Parteivorsitzende mit seinem Stab logiert. Ich, in meiner Funktion als CDU-Generalsekretär, saß mit meinem Team eine Etage tiefer. Es kam nicht so häufig vor, dass Friedrich Merz sich die Zeit für persönliche Rücksprache nahm. Sein Büroleiter aus der Fraktion und seine Büroleiterin aus der Partei kündigten keine besonderen Themen für unseren Austausch an. „Allgemeine Themen für den Sommer – ganz entspannt“, sagten sie beide auf meine Nachfrage, mit der ich mich auf den Termin vorbereiten wollte. Ich erwartete eine Abstimmung zu den Aufgaben in den Ferienwochen. Diese Aufgaben waren klar und gut strukturiert. Die Zusammenarbeit mit dem neuen Bundesgeschäftsführer Christoph Hoppe, den wir beide ins Adenauer-Haus geholt hatten, war sehr gut, und die anstehenden Projekte hatten wir gemeinsam und eng abgestimmt im Blick.

Ein intensives Wochenende lag trotzdem vor mir. In meinem Wahlkreis hatte das Team aus meinem zweisprachigen deutsch-russischen Marzahner Bürgerbüro zusammen mit vielen Vereinen zu einem „Festival der Freundschaft, des Friedens und der Völkerverständigung“ geladen. Mein Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf ist ein Brennglas für viele Herausforderungen in Ostdeutschland. Im Süden das größte zusammenhängende Ein- und Zweifamilienhausgebiet Deutschlands. Dort reihen sich in Mahlsdorf, Kaulsdorf und Biesdorf gut 25.000 Träume vom Glück im Grünen aneinander. Menschen, die sich ihre vier Wände häufig über Jahre hart erspart haben und darüber hinaus nicht über große finanzielle Polster verfügen. Im Norden des Bezirks, ebenfalls an der Stadtgrenze Berlins, steht die größte Plattenbausiedlung mit über 100.000 Wohnungen. Von 1976 bis 1987 entstanden aufgrund der großen Wohnungsnot die für den Bezirk markanten Plattenbauwohnungen.2 Vor allem hier leben in Berlin die 35.000 Deutschen, die in den 1990er Jahren mit ihren Familien aus Russland hergezogen sind. Zugleich sind in meinem Heimatbezirk viele ukrainische Flüchtlinge aufgenommen worden.

In meinem Amt als Generalsekretär blieb mir leider nur begrenzte Zeit für den eigenen Wahlkreis. Den Montagmorgen außerhalb der Sitzungswochen des Deutschen Bundestages und jenseits von dienstlichen Reisen nutzte ich daher bevorzugt für Rücksprachen mit meinem Büroteam und die dringenden Anliegen von Vereinen, Unternehmern, Ärzten und Anwohnern, die sie mir mit auf den Weg geben wollten. So auch an diesem Tag. Im Anschluss an diverse Vor-Ort-Termine fuhr ich also in mein Büro im Konrad-Adenauer-Haus und bereitete mich auf das Gespräch mit Friedrich Merz vor. In den Sommerferien sollte die inhaltliche Debatte um die Verbesserung des Heizungsgesetzes fortgeführt werden, die finale Arbeit am CDU-Grundsatzprogramm mit gut 100 führenden Frauen und Männern galt es weiter zu koordinieren und inhaltlich zu begleiten, und zusammen mit dem Bundesgeschäftsführer kümmerten wir uns um den organisatorischen Umbau des Adenauer-Hauses hin zu einem kampagnenfähigen Zentrum für die anstehenden Wahlen.

Friedrich Merz kam zu unserem Treffen von einem Gespräch mit Olaf Scholz. Ich erwartete ein kurzes Briefing und dann den Einstieg in ein Update zu den Sommerprojekten des Adenauer-Hauses. Eigentlich hätte es mich stutzig machen müssen, dass er mich an diesem Vormittag bat, unsere Handys draußen im Vorzimmer zu lassen. Aber noch dachte ich mir nichts dabei. Friedrich Merz kam immer schnell zu den wichtigen Dingen und Projekten, die er für den Moment und die kommende Zeit im Mittelpunkt sah. Er hatte klare Vorstellungen davon, wie die jeweilige Aufgabe anzugehen sei, und kommunizierte präzise und klar seine Richtung. Er konnte zuhören und Hinweise annehmen, aber man musste gute Argumente haben, um ihn zu überzeugen. Gerade weil wir in einer Reihe von Punkten doch verschieden waren, besprachen wir häufig unterschiedliche Ansätze und ich konnte dabei von ihm einiges lernen und mitnehmen. Möglicherweise ging es ihm umgekehrt ebenso.

Seine Idee eines sich ergänzenden Teams im Konrad-Adenauer-Haus empfand ich als das ideale Führungsmodell, das in unsere Zeit passte. Zuhören, andere Auffassungen aushalten, gemeinsame Wege suchen. Ich bin weiter überzeugt davon, dass dieser Weg richtig war und bleibt. Ein Präsidium der CDU Deutschlands, in dem der Klimaexperte Andreas Jung und die Bildungsministerin Karin Prien ebenso Einfluss haben wie das Urgestein christsozialer Politik Karl-Josef Laumann, der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer und die Bundesschatzmeisterin Julia Klöckner.

Ich möchte an dieser Stelle etwas ausholen: Als mir Friedrich Merz Mitte November 2021 in seiner Wohnung in Berlin für mich völlig überraschend das Amt des Generalsekretärs anbot, sprachen wir offen über unsere unterschiedlichen Sichtweisen und Sozialisationen. Er war überzeugt, in einem sich ergänzenden Team liege die Kraft, die die Union jetzt brauche, um nach 16 Jahren wieder Tritt zu fassen. Team CDU, statt „nur“ Team Merz, das war unser Credo. Vertrauensvoll, fair und gewollt unterschiedlich. Komplementäre Teams, wie sie auch in Unternehmen, Verbänden und Institutionen immer häufiger und zugleich erfolgreich zu finden sind. Für dieses Projekt habe ich gebrannt, und ich bin dankbar für den Weg, den wir so miteinander gehen konnten.

Unsere Aufgaben waren vom ersten Tag an groß. Zeit zum Durchatmen nach dem für mich sehr erfolgreichen Wahlkampf Ende September 2021 gab es nicht. Während in 298 deutschen Wahlkreisen für die CDU ein Minuszeichen vor dem Wahlergebnis der jeweiligen Lokalmatadore stand, war es meinem Team und mir in Marzahn-Hellersdorf gelungen, deutlich mehr Menschen von uns und unserem Politikangebot zu überzeugen. Statt bislang 30.000 Menschen hatten mir gut 40.000 Menschen das Vertrauen ausgesprochen. Und das trotz eines Wahlkampfes mit bundespolitischem Gegenwind, der zeitweise einem Wirbelsturm glich. Mehr als vier Millionen Wähler hatte meine Partei zur letzten Bundestagswahl 2017 verloren. Nur noch etwas mehr als elf Millionen Wahlberechtigte schenkten uns das Vertrauen, der niedrigste Wert seit Gründung der Bundesrepublik.

Der Absturz in der deutschlandweiten Wählergunst führte dazu, dass wir im Bund auf den harten Oppositionsbänken Platz nehmen mussten. Es galt, die Partei in diese neue Rolle zu führen und für unsere Positionen neu um Vertrauen zu werben. Es galt zu verhindern, dass die CDU ins Rutschen kommt und auf einen Weg abgleitet, wie ihn viele christdemokratische Parteien in Europa jüngst schmerzhaft gegangen sind: zerstritten in der Frage um den richtigen Weg, aufgelöst und von der Bildfläche verschwunden.

Doch zurück zu jenem Montag im Büro von Friedrich Merz. Wir nahmen in der Couchecke seines Vorsitzendenzimmers Platz. Er kam schnell zur Sache. Er sagte mir, dass er mich als Generalsekretär austauschen wolle. Diese Entscheidung sei ihm nicht leichtgefallen, aber bereits am darauffolgenden Mittwoch, also nur zwei Tage später, wolle er alles umsetzen. Die letzte Präsidiums- und Bundesvorstandssitzung vor der Sommerpause sei dafür der richtige Zeitpunkt. Keine 48 Stunden später wäre alles erledigt. Im Übrigen, so Merz, sei die Sprachregelung für den Wechsel auf der Position des Generalsekretärs bereits in Bearbeitung, ich sollte sie von seinem Büro erhalten. Wenig später erfuhr ich, dass das Kommunikationsbüro von Dieter Metz, dem ehemaligen Pressesprecher von Roland Koch, früherer CDU-Ministerpräsident in Hessen, diese seit einigen Tagen vorbereitete. Unser Gespräch dauerte kaum 30 Minuten. Als ich sein Büro verließ, musste ich erst einmal durchatmen und mich sammeln. Denn damit hatte ich nicht gerechnet. Viel Zeit blieb jetzt nicht.

Mein erster Impuls war eine Abstimmung mit dem Bundesgeschäftsführer Christoph Hoppe. Er bedauerte die Entscheidung und wirkte dabei ehrlich betroffen. Ich telefonierte mit meiner Frau und mit einem engen Freund und Berater. Beide fragten mich, wie es sich anfühle. Es war verwunderlich, aber es fühlte sich insgesamt trotzdem positiv an. Natürlich waren da eine Enttäuschung und eine damit verbundene Traurigkeit. Aber auch schnell die Erkenntnis, dass ich selbst wohl wenig im Vorfeld hätte tun können, um die Trennung zu verhindern. Es war eine Entscheidung von Friedrich Merz, die er offensichtlich auf Basis stark subjektiv gefärbter Bewertungen getroffen hatte.

Rückblickend kann ich sagen, dass spätestens seit dem 15. Juni und dem besagten Artikel von Hendrik Wüst ein Positionswechsel von Friedrich Merz und damit auch eine spürbare Distanz zu mir erkennbar waren, über die ich aus Respekt vor unserer Zusammenarbeit nicht in alle Details gehen möchte. Aber so viel kann ich heute offenlegen: Es herrschte bei ihm eine Kombination aus drei Dingen. Zunächst seine Enttäuschung darüber, dass er, obwohl er die liberalen Kräfte in der Parteiführung eingebunden hatte und beispielsweise mit der Zustimmung zur Frauenquote auch deren Positionierungen bei der Neuausrichtung der Partei berücksichtigte, von dort weiteren Gegenwind erhielt. Zweitens spürte er zunehmend die Enttäuschung der konservativen Kräfte in der Partei, aus deren Sicht er zu wenig von dem lieferte, was sie sich eigentlich von ihm als Parteivorsitzenden erwarteten. Und als Drittes kamen seine mageren Zustimmungswerte in der Öffentlichkeit und speziell bei den Frauen hinzu. Diese schlechten Werte wiederum machten – ähnlich wie innerhalb der Partei – deutlich, dass er im konservativen Spektrum nicht glaubwürdig genug und bei den liberalen Wählern politisch nicht ausgewogen und attraktiv genug erschien. Ein Dilemma, aus dem sich Friedrich Merz mit einer Fokussierung auf seinen Markenkern – als erfahrener Europapolitiker, Wirtschaftsfachmann und Konservativer – lösen wollte. Wichtige Berater wie der frühere hessische Ministerpräsident Roland Koch oder Renate Köcher vom Allensbach-Institut bestätigten ihn in dieser Einschätzung in den Tagen zwischen dem 15. Juni und meiner Abberufung. In der Rückschau wurde es mir damit immer deutlicher: Er brauchte keinen komplementären, aus seiner Sicht zu „leisen“ Generalsekretär mehr, sondern einen, der ihn verstärkte und ihm ähnelte. Carsten Linnemann, mit dem ich in seiner Funktion als stellvertretender Bundesvorsitzender und Vorsitzender der Grundsatzkommission sehr gut zusammenarbeitete und bis heute eine vertrauensvolle Zusammenarbeit pflege, war dafür ganz offensichtlich der richtige Mann.

Nach den Telefonaten mit meiner Frau und meinem engen Freund sowie dem Gespräch mit dem Bundesgeschäftsführer rief ich Wolfgang Schäuble an. Der ehemalige CDU-Bundesvorsitzende, Bundesminister und Bundestagspräsident war für mich in den Monaten zuvor immer mehr zu einem sehr wichtigen Berater und väterlichen Ratgeber geworden. Er selbst hatte mit Friedrich Merz nach dem 15. Juni wichtige Gespräche geführt und mich meist dazugeholt. Sein Rat und seine Unterstützung halfen mir, diese Situation im besten Sinne für die Zukunft der Union anzugehen.

Ich fuhr zurück in meinen Wahlkreis. Es war einer der wenigen Montage in einer sitzungsfreien Woche, den mein Team akribisch vorbereitet hatte. Ich konnte und wollte diese wichtigen Termine nicht absagen. Am Abend, nachdem ich mir die Sorgen von gut 150 Marzahner Bürgern rund um den grünen Fortuna-Park angehört hatte, die mit dem dort geplanten Wohnungsbau und der zunehmenden Verdichtung viele berechtigte Sorgen verbanden, fuhr ich in mein Mahlsdorfer Bürgerbüro. Die Sprachregelung von Friedrich Merz war während meines Bürgerdialogs im Marzahner Tal-Center in meinem Mailpostfach angekommen. Sie war eine Provokation. Kein Satz über das Erreichte. Weitgehend Lob für die Entscheidung von ihm, jetzt den Wechsel zu vollziehen. Zurück in meinem Mahlsdorfer Büro telefonierte ich mit Friedrich Merz. Er erhielt deutliche Kritik von mir, und es war schon fast skurril, als er erwiderte, dass er meinen Unmut verstehen könne und dass dieser Text nicht von ihm, sondern seiner Agentur komme. Ich solle ihn doch einfach korrigieren und anpassen. Ein weiterer Affront, wie ich fand. Denn er selbst nahm sich keine Zeit, den gemeinsamen Weg noch mal zu bewerten. Ich erklärte ihm, dass ich im Interesse der Partei den Weg für einen schnellen Wechsel mitgehen würde, aber eine ausgewogene Bestandsaufnahme erwarte. Ich beriet mich mit meinem allerengsten Team.

Am nächsten Tag ging das Tauziehen weiter. Da von ihm und seiner Agentur aus der Bankenstadt Frankfurt/Main keine Änderungen kamen, arbeiteten wir nun an einem Text, den ich am Abend davor entworfen hatte. Im Hintergrund band er seine Büroleiterin und Carsten Linnemann ein. Ich traf mich am späten Vormittag im Adenauer-Haus mit Friedrich Merz. Er informierte mich, dass er bereits mit seinen Stellvertretern telefoniert habe. Bevor er jedoch das Präsidium komplett informiere, wolle er eine Meldung zum Wechsel des Generalsekretärs an die Nachrichtenagentur dpa geben. Er fürchtete offensichtlich Lecks in der eigenen Umgebung. Ich bestand weiterhin auf eine faire Erklärung.

Ich hatte lange im Voraus den großen Lenkungskreis zur Erarbeitung des Europawahlprogramms zu 14 Uhr ins Adenauer-Haus eingeladen. Die Arbeitsrunde fand im Ludwig-Erhard-Konferenzraum gegenüber von meinem Büro in der fünften Etage statt. Aufgrund der am nächsten Tag anstehenden Gremiensitzungen waren viele Mitglieder dieses Gremiums bereits im Adenauer-Haus. So war es auch von mir geplant gewesen. Andere schalteten sich aus Brüssel dazu. Zusammen mit dem Bundesgeschäftsführer absolvierte ich diese zweistündige intensive Programmberatung. In Abstimmung mit Friedrich Merz sollte dieser Termin unbedingt bestehen bleiben, um keine frühzeitigen Irritationen auszulösen.

Die gemeinsame Erklärung wurde danach weiter besprochen, schließlich ging sie am späten Nachmittag an die dpa. Die Nachrichtenredaktionen, Zeitungen und Fernsehsender übernahmen die Meldungen. Kaum mehr als 24 Stunden vergingen, bis nach dem überraschenden Gespräch mit Friedrich Merz der Wechsel vollzogen war.

Am nächsten Morgen fuhr ich mit einem guten Freund ins Adenauer-Haus. Ich wollte auf dem Weg ungestört noch mit dem einen oder anderen Journalisten telefonieren. Von Journalisten erfuhr ich, dass Friedrich Merz am Vorabend seine Sicht auf die Dinge in einem Hintergrundgespräch dargelegt hatte. Daher galt es, auch meine Sicht zu skizzieren.

Um neun Uhr begann im besagten Konferenzraum gegenüber meinem Büro die Präsidiumssitzung, um elf Uhr tagte der Bundesvorstand im Helmut-Kohl-Saal. Um 13 Uhr folgte die gemeinsame Pressekonferenz mit anschließender Mitarbeiterkonferenz im Adenauer-Haus. Danach packte ich meine Kisten, der Fahrer nahm alles mit in den Wagen in die Tiefgarage. Friedrich Merz war bereits abgereist.

An den Folgetagen war ich oft mit Carsten Linnemann verabredet, um die wichtigsten Dinge zu übergeben. Dieser Übergang gestaltete sich sehr kollegial und fair. Wir sprachen zusammen mit den Kollegen, und er wollte mein Team gern zunächst behalten. Auch in seinem Wahlkreis besuchte ich ihn in den Tagen danach zu einem schon lange vorher verabredeten Termin. Er nahm die Zügel im Adenauer-Haus in die Hand. Bis heute ist mein gesamtes früheres Generalsekretariats-team bei ihm geblieben.

Ich blicke keineswegs mit Groll zurück. Im Gegenteil, es waren für mich gute, intensive und lehrreiche 20 Monate an der Spitze der CDU Deutschlands, an der Seite des Parteivorsitzenden. Die Zeit in diesem Tandem hat mich geprägt und gestählt. Als wir die Verantwortung für die Partei unmittelbar nach der schwersten Wahlniederlage im Herbst 2021 übernahmen, bestand die Gefahr, dass wir einen ähnlichen Weg gehen würden wie etliche Christdemokratien in Europa. Unversöhnlich in den Lagern, zerstritten zwischen Stadt und Land, gespalten in Traditionelle und Liberale, zwischen Aufsteigern und Enttäuschten. Es gelang uns, einen deutlich anderen Weg einzuschlagen, weil wir als breites Team angetreten waren, weil zwischen CDU und CSU schnell eine gute Zusammenarbeit etabliert wurde und weil wir mit Klarheit und großer Offenheit Fehler analysiert haben.

Zu Beginn unseres Weges in der Opposition, also in den ersten Monaten des Jahres 2022, wurden wir durch den Krieg in der Ukraine mit einem Epochenwandel konfrontiert. Wir fanden schnell den richtigen Ton und haben uns als wirkungsvolle und konstruktive Opposition bewährt. Unser ideologiefernes Mittun bei der notwendigen Sonderfinanzierung der Bundeswehr wurde auch von den Wählern honoriert, ähnlich wie unser hartnäckiges Nachverhandeln im Vermittlungsausschuss bei der ersten Einführung des Bürgergelds. Wir gewannen wichtige Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen und später dann auch die Neuwahlen in Berlin.

Ich war in dieser Zeit viel in der Partei unterwegs und stieß überall auf zupackende, bodenständige und kreative Menschen, auf Parteimitglieder, die der Union seit vielen Jahren eng verbunden sind. Überall spürte ich, dass der von uns eingeleitete Kurswechsel von der reinen Mitgliederpartei hin zu einer Mitmachpartei erste Früchte trug. Es gab unfassbar viele Menschen, die wir mit unserem Kurs der ausgebreiteten Arme erreichten, die mitmachten, die ihre Ideen einbrachten, die wieder Freude an Politik hatten – dank der bis dahin nicht gekannten Mitgestaltungsmöglichkeiten.

Nicht immer öffentlich sofort erkennbar arbeiteten wir inhaltlich sehr hart. Die Substanz dieser Arbeit findet sich heute etwa im Grundsatzprogramm wieder. Mein Herzensanliegen, das Kinderzukunftspaket, wurde wenige Tage vor meinem Ausstieg als Generalsekretär auf dem Kleinen Parteitag verabschiedet. Diesen umfangreichen Beschluss, um Strukturen von Kinderarmut aufzubrechen und die Startchancen der von Armut betroffenen Kinder und Jugendlichen zu verbessern, hatte ich mit sehr vielen Experten aus der Partei und aus den Sozialverbänden erarbeitet.

In meiner Amtszeit als CDU-Generalsekretär merkte ich aber auch, der Osten der Republik ist für viele Menschen ganz weit weg. Auch Friedrich Merz fiel dies hin und wieder auf. Ich erinnere mich an die gemeinsame Sitzung der Präsidien von CDU und CSU am 30. Juni 2023 in München, wenige Tage vor meinem Ausstieg als Generalsekretär. Gut 45 Personen saßen im Kreis. Auf der CDU-Seite kamen von 20 Teilnehmern sechs Führungskräfte aus Nordrhein-Westfalen und sechs aus Baden-Württemberg. Friedrich Merz beugte sich zu mir und sagte leise zu mir: „Du bist hier mit Yvonne Magwas der Einzige aus dem Osten.“ Yvonne Magwas saß als Vizepräsidentin des Bundestages mit am Tisch. Mehr Menschen mit Ostbiografien gab es in diesem Kreis nicht. Im Nachgang fragte ich mich: War dort schon seine Entscheidung gereift, mich auszuwechseln? Oder hatte er noch Bedenken?