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Der DDR-Bürger verreiste für sein Leben gern. Wer Glück hatte, durfte ins sozialistische Ausland: an den Goldstrand am Schwarzen Meer oder in die romantischen Täler der Hohen Tatra. Natürlich gab es auch innerhalb der Republik attraktive Ferienziele. Wandern im Elbsandsteingebirge und Win ter sporturlaub in Oberhof oder Oberwiesenthal waren sehr gefragt. In den großen Ferien fuhren die meisten in den Badeurlaub. Ob Rügen, Usedom oder Ahrenshoop – die Ostsee stand ganz oben auf der Wunschliste. Dabei herrschte bei den Ostdeutschen weitestgehend Einigkeit darüber: Nacktbaden macht Spaß und ist gesund. Jahr für Jahr zog es Unzählige an die FKK-Strände. Ob man im eigenen Trabi oder mit der Deutschen Reichsbahn anreiste, sich dem Camping verschrieben hatte oder das FDGB-Ferienheim bevorzugte – es gibt unvergessliche Erlebnisse! Und wer hat als Kind in der DDR keine gute Zeit im Ferienlager verbracht? Dieses Buch widmet sich dem Urlaubsland DDR in seinen vielen Facetten, schildert persönliche Geschichten, erinnert sich an DDR-Urlaubssongs, kartografiert FKK-Badestellen und bildet die Orte und Menschen in zahlreichen stimmungsvollen Fotografien ab – ein Stück heitere Unbeschwertheit im DDR-Alltag!
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Seitenzahl: 143
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Wie der Osten Urlaub machte
Die schönsten Ferienorte der DDR
Bild und Heimat
eISBN 978-3-95958-812-6
1. Auflage
© by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin
Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin
Umschlagabbildungen: picture alliance/ZB/Archiv Berliner Verlag
Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:
BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat
Axel-Springer-Str. 52
10969 Berlin
Tel. 030 / 206 109 – 0
www.bild-und-heimat.de
Statt eines Vorworts
Uli Jeschke
(picture alliance / ddrbildarchiv / Klaus Morgenstern)
Urlaub! Dieses Wort weckt sofort Assoziationen – Meer, Wellen, Sonne, Berge, Wandern, Nichtstun, Lesen, gutes Essen, fremde Länder sehen. Die Gedankenketten sind sicher so vielfältig und unterschiedlich wie die Menschen, bei denen sie wachgerufen werden. Das Positive, die schönen Erinnerungen und die Vorfreude auf Kommendes überwiegen sicher dabei. Entspannung, aktive oder passive, auf jeden Fall jenseits vom Alltag, von der Arbeit, das bedeutet Urlaub für die meisten.
Und dabei liegen sie dicht am Ursprung des Wortes. Etymologisch geht Urlaub auf das mittelhochdeutsche urloup bzw. das althochdeutsche urloub zurück, was so viel bedeutet wie »Erlaubnis, sich zu entfernen«. Im Mittelalter durfte sich einer nicht einfach von seinem Wohnort fortbewegen, schon gar nicht, wenn er Leibeigener oder Bediensteter war, aber auch der niedere Adel benötigte die Erlaubnis seines Lehnsherrn. Und so wie einer im Mittelalter die Einwilligung erhielt, wegzugehen, so entfernen wir uns von unseren unmittelbaren Pflichten und Zwängen und genießen dabei, wenn man den Werbesprüchen der gewaltigen Urlaubsindustrie folgen will, die glücklichsten Tage des Jahres. Dabei sind wir hier in Deutschland durchaus privilegiert, liegen wir doch weltweit mit 20 Tagen Mindesturlaub im guten Mittelfeld und galten global lange Zeit als Reiseweltmeister.
Wie war das aber nun früher im Osten? Welche Rolle spielte Urlaub im Leben der DDR-Bürger und wie wurde er gestaltet? Nun gibt es die DDR seit 30 Jahren nicht mehr. Da mögen manche die Frage stellen, ob damals Urlaub überhaupt stattfand, wo es doch die Mauer gab und man nicht frei reisen durfte, andere fragen sich, ob nicht alles von der Partei, der Gewerkschaft oder dem Betrieb bestimmt wurde …
Zum Ersten sollte daran erinnert werden, dass bei Gründung der DDR, wie auch der Bundesrepublik, der verheerende Zweite Weltkrieg keine fünf Jahre vergangen war. Hüben wie drüben waren die Menschen in allererster Linie damit beschäftigt, die Zerstörungen zu beseitigen und sich um das unmittelbar Nötige zu kümmern. Aber freie Arbeitstage und Urlaub gab es schon in der 1950er Jahren.
In der DDR versuchte man von Beginn an, bei aller Not, auch auf das Soziale, das Menschliche zu achten. Die Verantwortlichen waren sich darüber im Klaren, dass es nicht nur die materiellen, sondern auch die geistigen Folgen eines Krieges mit über 65 Millionen Toten zu überwinden galt. So wurde in dem jungen Staat neben dem wirtschaftlichen Aufbau von Beginn an großer Wert auf die Möglichkeit eines kulturvollen Lebens gelegt, Verlage entstanden und wurden gefördert ebenso wie Theater und Film, denken wir nur an die vielen interessanten DEFA-Filme aus den frühen DDR-Jahren.
Wer schwer arbeitet, soll sich erholen können. Das ging schon weit über die reine Erhaltung der Arbeitskraft hinaus. Gleichzeitig sollte die Arbeit an sich eine Würdigung erfahren, zu arbeiten, nicht nur um Geld zu verdienen, sondern auch um sich zu entwickeln und »seinem« Land zu helfen, geriet zum Wert. Nur so ist es zu erklären, warum das Recht auf Urlaub und Erholung schon in der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1949 im Artikel 16 Verfassungsrang bekam, nachdem der Artikel 15 bereits das Recht auf Arbeit manifestierte. Weiter wurden dann in den Arbeitsgesetzbüchern der DDR konkrete Rechte formuliert. So heißt es im Gesetzbuch der Arbeit der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. April 1961 unter § 79 und § 80:
Das Recht auf Erholungsurlaub
§ 79. (1) Alle Werktätigen erhalten jährlich einen bezahlten Erholungsurlaub.
(2) Das Recht auf Erholung wird verwirklicht mit Hilfe des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, der einen bedeutenden Teil seiner Mittel für die gesellschaftliche Aufgabe des planmäßigen Ausbaus der Erholungsmöglichkeiten, insbesondere des Feriendienstes der Gewerkschaften, nutzt, damit die Werktätigen ihren Erholungsurlaub unter vorbildlichen gesundheitlichen, kulturellen und sozialen Bedingungen zur Erhaltung ihrer Gesundheit und Leistungsfähigkeit verbringen können.
Die Dauer des Erholungsurlaubes
§ 80. (1) Jeder Werktätige hat Anspruch auf einen Grundurlaub von zwölf Werktagen.
(2) Werktätige, die überwiegend besonderen Arbeitserschwernissen oder Arbeitsbelastungen ausgesetzt sind oder eine besonders verantwortliche Tätigkeit ausüben, erhalten einen arbeitsbedingten Zusatzurlaub.
(3) Die Dauer des Zusatzurlaubes ist für die einzelnen Beschäftigtengruppen in Urlaubskatalogen festzulegen, die in die Rahmenkollektivverträge aufzunehmen sind. Auf ihrer Grundlage ist die Dauer des Zusatzurlaubes in einer jährlich zwischen dem Betriebsleiter und der zuständigen betrieblichen Gewerkschaftsleitung abzuschließenden Urlaubsvereinbarung zu bestimmen.
§ 81. Zur Festigung der Betriebsbelegschaften wird entsprechend den Rahmenkollektivverträgen für langjährige Tätigkeit in bestimmten Berufen oder in volkswirtschaftlich besonders wichtigen Betrieben ein Zusatzurlaub gewährt.
Ähnliche Formulierungen finden sich dann auch in späteren Fassungen des Arbeitsgesetzbuches, wobei der Mindesturlaub kontinuierlich angehoben wurde. So bekamen 1975 alle Werktätigen per Gesetzblatt einen jährlichen Grundurlaub von 18 Tagen. Lehrlinge erhielten 24, jugendliche Werktätige 21 Tage und vollbeschäftigte Mütter mit mindestens 3 Kindern (bis 16 Jahre) 21 Tage. Darüber hinaus wurde festgelegt, dass Menschen mit Behinderungen oder besonderen Arbeitserschwernissen mehr Urlaubstage zuzugestehen sind. Geregelt wurde das konkret in den Rahmen- oder Betriebskollektivverträgen. Diese Verträge vereinbarte der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB), als Dachverband der Gewerkschaften, mit den Betrieben, welche für die Umsetzung der Vereinbarungen in die Pflicht genommen wurden. Von Seiten der Betriebe waren die Direktoren für Arbeit und Soziales verantwortlich. Sie kümmerten sich um alle sozialen Belange, vom Kantinenessen bis zu den betrieblichen Erholungseinrichtungen. Natürlich begann das in den 1950er Jahren langsam, aber Ferienlager für die Kinder hatten schon immer Vorrang. So kam es, dass bis zum Ende der DDR fast jeder zweite in dem Land Heranwachsende Erfahrungen mit Ferienlagern aller Art gemacht hatte. Schlafen in einfachen Unterkünften mit vielen anderen zusammen, gemeinsames Essen, kollektive Freizeitgestaltung, aber auch Saubermachen, Küchendienste u. Ä., also Aufgaben im Interesse aller waren fester Bestandteil der Ferienlagerkultur. Einigen mag es nicht gefallen haben, es gab sicher auch herzzerreißende Formen von Heimweh – doch für die Mehrzahl der Ferienlagerkinder waren die gemeinsamen Ferien eine wunderbare Sache.
Um den Urlaub der »Großen«, also der Erwachsenen und Familien, »kümmerte« sich, neben den Betrieben mit ihren Ferienheimen, der FDGB-Feriendienst. Er vermittelte Reisen und unterhielt landauf, landab Ferienunterkünfte, aber auch Urlauberschiffe. Die Werktätigen sollten genügend und kulturvolle Möglichkeiten zur Urlaubsgestaltung haben. Man stellte einen Antrag auf einen FDBG-Ferienplatz und … na ja, manchmal errang man einen. Es war wie bei jeder guten Idee, Theorie und Praxis klaffen oft weit auseinander. Der Bedarf war bis zum Ende der DDR immer größer, als die vorhandenen Plätze hergaben.
Einen sehr großen Teil der Freizeit- und Urlaubsaktivitäten entfalteten die Menschen auf dem Gartengrundstück, in der DDR bekanntermaßen Datscha – russisch Дача für Wochenendhaus in Grünen – genannt. Diese Schrebergärten existierten in Deutschland schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Die zunehmende Enge in den wegen der Industrialisierung schnell wachsenden Städten hatte zu dieser Art von Stadtflucht in Kleingartensiedlungen geführt.
Fremdenverkehrsgebiete in der DDR 1989 (Bode, Volker © Institut für Länderkunde, Leipzig 2000)
Nach dem Zweiten Weltkrieg, dem in Deutschland viele Wohnungen zum Opfer fielen, dienten diese Gartensiedlungen lange als Ersatzwohnsitz und Gemüselieferant zugleich. Da man im Osten mit der Schaffung von modernem Wohnraum, trotz Wohnungsbauprogramm, nicht hinterherkam, machte man aus der Not eine Tugend. Bis zu 600 Quadratmeter konnten DDR-Bürger pachten, um darauf ihre kleinen privaten Reiche mit Hütten und Rabatten zu errichten. Nach Schätzungen gab es in der DDR an die 3,4 Millionen Datschen und damit die höchste Dichte an solchen kleinen privaten Oasen im Grünen weltweit. Und natürlich war darauf ständig etwas zu tun. Es musste gebaut, gebuddelt, gegraben und gepflanzt werden. Dafür ging sehr viel Freizeit drauf, und so waren Ferien auf der Datsche ganz vorn im DDR-Urlaubsranking.
Natürlich fuhren DDR-Bürger auch ins Ausland, auch wenn die Auswahl der zu bereisenden Länder beschränkt war. Es gab im Prinzip zwei Möglichkeiten: zum einen Privatreisen und zum anderen organisierte Reisen, zumeist in der Gruppe. Bei den Letzteren liefen die Buchungen größtenteils über das Reisebüro der DDR, das dafür über ein bestimmtes Kontingent verfügte. Darüber hinaus konnten junge Menschen bis zu 27 Jahren über Jugendtourist, das Reisebüro der Freien Deutschen Jugend (FDJ), Inlands-, aber auch Auslandsreisen buchen. Auch hier galt das Prinzip, sich rechtzeitig zu bewerben (oder jemanden zu kennen). Bei beiden Reiseveranstaltern standen zudem exotische Ziele wie Kuba, China, Jugoslawien oder sogar im NSW (Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet), etwa Mexiko, Algerien oder Österreich, auf den Listen. Allerdings waren diese Trips nicht nur teuer, sondern es bekam auch nicht jeder ein Visum dafür, denn diese gingen über den Tisch der Verantwortlichen beim MfS, und die hoben oder senkten den Daumen. Da die Gesetze der DDR da nicht eindeutig waren, war viel Spielraum für die entsprechenden Sachbearbeiter, von denen es ängstliche und weniger ängstliche gab. So konnte es passieren, dass ein Mitarbeiter des Militärverlags der DDR, der ja zur NVA gehörte, völlig problemlos nach Jugoslawien fahren durfte, ein Jugendbrigadier in einem Dresdner Betrieb nach Algerien, jedoch jemand, der in einem »normalen« Betrieb arbeitete, nicht nach Kuba durfte. Mag sein, dass solcherart Willkür die DDR-Bürger mehr gestört hat, als nicht nach Schweden oder Frankreich fahren zu können.
Es gab Tausende Privatreisen in die Nachbarländer, besonders die ČSSR, Polen und Ungarn erfreuten sich großer Beliebtheit. Sehr erleichtert wurde der »kleine Grenzverkehr« zwischen Polen und der ČSSR durch das Abkommen über visafreien Reiseverkehr ab 1972. Auch Bulgarien mit Rila-Gebirge und Schwarzmeerküste gehörte zu den Sehnsuchtszielen. Leider war es unheimlich kompliziert, privat in die Sowjetunion zu reisen. Wie auch für Ungarn, Bulgarien und Rumänien musste bei der Volkspolizei ein besonderer Visumantrag gestellt werden. Für die Sowjetunion war darüber hinaus eine Einladung vorzuweisen. Ein weiteres Hindernis war der Geldumtausch. Da die Währungen nicht konvertibel waren, wurden maximale Tagestauschsätze festgelegt. Das war speziell für Reisen in die ČSSR problematisch. Ein Urlauber durfte pro Tag nur 30 Ostmark umtauschen. Wenn er davon alles bestreiten wollte, konnte die Urlaubskasse knapp werden. Wohl dem, der Findigkeit an den Tag legte und halb- und nichtlegale Formen des Schwarzumtauschs betrieb.
Trotz aller Abenteuerlichkeit war die Reiselust ungebrochen. So stieg die Anzahl der organisierten Reisen ins sozialistische Ausland von 1965 bis 1989 stark an, in die UdSSR von ca. 20 000 auf fast 200 000, nach Ungarn von rund 30 000 auf über 100 000, nach Bulgarien von 15 000 auf mehr als 50 000 und in die ČSSR von 60 000 auf sage und schreibe 600 000. Überhaupt erwies sich die ČSSR als das beliebteste Urlaubsland – auch weil die Tschechen und Slowaken die wenigsten Unterschiede machten zwischen Ost- und Westdeutschen, oder anders gesagt: zwischen DDR-Mark und D-Mark.
So reiste der Ostbürger gern und fröhlich im Rahmen seiner Möglichkeiten, egal ob das Ziel die Ostsee, das Elbsandsteingebirge, die eigene Datsche oder auch der Balaton, das Schwarze Meer oder die böhmischen Schlösser und Burgen war. Einige Urlaubsorte wird man im vorliegenden Buch beschrieben finden oder auf den hier versammelten Fotografien betrachten können, ohne dass freilich alle Facetten ausgeleuchtet werden können. Viel Spaß dabei!
Urlaub am Wasser
(picture alliance / ddrbildarchiv / Siegfried Gebser)
Warum das FKK-Volk der DDR mit der Wende seine Freiheit verlor
Kerstin Decker
(Verlag Bild und Heimat, Berlin (Alfred-Hoppe-Bildpostkarten))
Der frühere große Dichter und inzwischen zur Drogensucht neigende, latent unglückliche Kulturminister der DDR Johannes R. Becher schritt am Saum des Meeres entlang. Wahrscheinlich fühlte er Genugtuung. Er hatte in einem schweren Weltanschauungskampf gesiegt, er und seine Genossen: Im Mai 1954 hatte die Gemeindeverwaltung von Ahrenshoop an der Ostsee das Nacktbaden verboten. Endlich!
Beginnt nicht alle Kultur mit der Scham?
Heißt Menschsein nicht, seine Blöße zu bedecken?
Das mag schon sein, aber Menschsein am Strand sei etwas anderes, es heiße, seine Blöße gerade nicht zu bedecken, erklärten seine Gegner. Es war nicht das Volk. Die werktätigen Massen der DDR bekleideten sich wie jedes Kulturvolk der Erde, wenn sie sich dem Meer näherten. Nein, es waren seine Mitdichter und Mitmaler, es waren Schauspieler und Politiker, die meinten, es sei mit dem Begriff der menschlichen Freiheit unvereinbar, verhüllt am Strand zu sitzen. Denn die menschliche Freiheit ist nicht ablösbar von der kreatürlichen Freiheit. Deshalb kletterte schon Hermann Hesse nackt in die Berge, und Rainer Maria Rilke machte ganzjährig Fuß-FKK, denn da soll nichts sein zwischen dir und der Erde, die dich trägt.
»Schämen Sie sich nicht, Sie alte Sau?«, fragte er die Frau
Ahrenshoop war das Bad der Intellektuellen und Künstler. Die Nudisten hatten also verloren. Endlich würde auch er, Johannes R. Becher, seinen Aufenthalt am Meer genießen können.
Doch dann erblickte er im Sand eine in sträflichster Weise unangezogene Frau, keineswegs mehr jung, die statt ihrer Blöße nur ihr Gesicht bedeckt hatte, und zwar mit dem Organ des Zentralkomitees der SED, dem Neuen Deutschland. Ob man dieses Druckerzeugnis nun mit offenen oder geschlossenen Augen studierte, der Erkenntnisgewinn blieb der gleiche. Wollte sie etwa das sagen? Der Kulturminister geriet außer sich. »Schämen Sie sich nicht, Sie alte Sau?«, fuhr er die Frau an. Die große Schriftstellerin Anna Seghers nahm die Zeitung vom Gesicht, um nachzuschauen, wer da zu ihr spricht. Die jüdische Emigrantin, die den Nationalsozialismus in Mexiko überlebt hatte, kannte zwar alle nur erdenklichen Härten des Lebens, aber war sie jemals so tituliert worden?
Bekennende Nudistin: Anna Seghers, Schriftstellerin und von 1952 bis 1978 Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR (picture alliance / akg-images)
Nur Wochen später verlieh der Kulturminister der DDR der größten Schriftstellerin des Landes, deren Roman Das siebte Kreuz zur Weltliteratur gehört, den Nationalpreis. Er begann mit den Worten »Meine liebe Anna«, wurde jedoch von der Nudistin unterbrochen: »Für dich immer noch die alte Sau!«
Über 60 Jahre später, Strandbad Wannsee, FKK-Bereich. Wer sich hier aufhält, weiß, warum. Drüben liegen sie dicht an dicht, wir aber haben Platz, noch in der ersten Reihe. Und den besten Blick haben wir auch. Statt nur auf die Wannseevilla gegenüber schauen wir bis nach Kladow und später direkt in die untergehende Sonne. Das ist er, der vollkommene Einklang von Mensch und Natur. Und man begreift wieder, dass am Beginn der Hüllenlosigkeit am Strand ein Buch wie Der Mensch und die Sonne stand und eine Zeitschrift, die hieß Die Schönheit.
Die Schönheit?
Ein Blick auf die Nachbarn genügt, um zu wissen: Das mag vor 20 Jahren wahr gewesen sein, bei manchen ist es gewiss auch schon ein halbes Jahrhundert her. Jetzt ist nur noch die Sonne schön. Das ist der desillusionierende Befund.
Und das ist die Tendenz: Wir werden weniger. Die Nacktbader sterben aus, langsam, aber sicher!
Sommer 1986: Was den Westberlinern ihr Wannsee, war den Ostberlinern ihr Müggelsee. Insbesondere die FKK-Strände waren sehr beliebt. (picture alliance / ZB / Thomas Uhlemann)
Ist das Leben in den Städten nicht das falscheste?
Fürchten sich die Jungen vor unserem Anblick und bleiben deshalb in sicherem Abstand hinter dem Zaun? Ja, wir sind eine optische Zumutung, aber wir sind solidarisch. Da war zu Beginn des vorigen Sommers diese alte Frau, die ihre beiden Gehhilfen gegen den Strandkorb gelehnt hatte, und als sie wieder nach Hause gehen wollte, bat sie die ihr Nächstliegende um das Nächstliegende: ihr hochzuhelfen, denn allein schaffe sie das nie. Und sie zu stützen, bis sie wieder festen Boden statt weichen Sand unter den Füßen habe.
Ihr Sohn, erklärte sie, werde sich gewiss Sorgen machen, dass sie allein die Wohnung verlassen habe, denn eigentlich könne sie gar nicht mehr laufen. Aber als sie diesen Junitag in seiner ganzen tiefblauen Makellosigkeit vor ihrem Fenster sah, dachte sie: Der meint mich!
Diesen Ruf hörten viele, schon vor mehr als hundert Jahren und vor allem in Deutschland. Ist das Leben in den großen Städten nicht das falscheste, das man führen kann? Der Berliner Dichter Bruno Wille sehnte sich »nach einem unverfälschten Riss Himmelsblau ohne Telegraphendrähte und Schlotruß« und fand noch die kümmerlichste märkische Kiefer schöner als alle Laternenpfähle der Friedrichstraße.
1919 pachtete ein junger Mann namens Fedor Fuchs einen Teil des verlassenen Truppenübungsplatzes Wünsdorf, um ihn einer ganz neuen, sehr unmilitärischen Bestimmung entgegenzuführen. Der Krieg war verloren, Millionen seines Alters gefallen, Deutschland durfte künftig keine nennenswerte Armee besitzen, brauchte also auch keine Truppenübungsplätze mehr. Es war Zeit, mit Rousseau in die Arme der Natur zurückzukehren, vorbehaltlos, hüllenlos, und da war noch ein anderer Prophet, der übertönte selbst Rousseaus Ruf. Es war Friedrich Nietzsche mit seiner Aufforderung: Bleibt der Erde treu!
Auf dem Wünsdorfer Gelände befand sich eine mit Wasser vollgelaufene Tongrube. Fuchs besah die Tongrube und die Ödnis drum herum und taufte beides auf den Namen »Freisonnland«. Doch er wollte nicht allein frei sein in seiner Grube, die einzige Bedingung für den Zutritt nach »Freisonnland« lautete: Alle Kleider sind abzulegen, denn nichts soll sein zwischen dir und der allmächtigen, allheilenden Natur. Für alle, die noch nicht sicher waren, ob sie mit einem jahrtausendealten Brauchtum brechen sollten, dem zufolge das sündige Fleisch zu bedecken war, auch unter Wasser, denn der liebe Gott sieht alles, gab es schon bald das Periodikum 150 Tage nackt: der Sonnland-Probeband zum Sonderpreis von nur einer Reichsmark.
In »Neusonnland« herrschte Sportzwang
Während die übrigen von der Zivilisation deformierten Städter sich in abenteuerlichste Kostüme hüllten und trotz dieser Vorkehrungen Frauen sich von ihren Männern verabschiedeten, wenn sie baden wollten, schwammen, tanzten und turnten in »Freisonnland« beide Geschlechter in unbedeckter geschwisterlicher Eintracht zusammen. Dass ein ferner Lexikoneintrag einmal als Erstes eine Abgrenzung der Freikörperkultur vom Exhibitionismus vornehmen würde, hätten sie gewiss nicht verstanden.