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Wir tauchen ein in das Leben des Erzählers und seines afrikanischen Freundes als Studenten in Ost-Berlin Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre, den letzten Jahren der Ulbricht-Ära. Der eine behütet und mit dem Anspruch aufgewachsen, nur durchhalten und sich dem jeweiligen politischen Regime entziehen zu müssen, um sich nicht schuldig zu machen, der andere mit der Sicht "von außen", stürzen sie sich in ein ausschweifendes Leben, das dem Duo eine willkommene Tarnung ihres Planes ist, nach Abschluss des Studiums nach London zu gehen. Den jungen Männern ist längst klar, dass sie sich lieben. Sie sind entsetzt über den Verfall der Städte und die Gleichgültigkeit der Menschen. Dank seiner Großmutter, die einem polnischen Adelsgeschlecht entstammt, besitzt er einen polnischen Reisepass. Bald machen Sie aus ihrer Liebe keinen Hehl, haben aber gleichzeitig Angst, enttarnt zu werden. Am Tag nach Übergabe der Abschlusszeugnisse kommt Thomas, der Afrikaner, bei einem Verkehrsunfall ums Leben, als eine Straßenbahn wegen eines maroden Gleisbettes auf eine Gruppe Passanten stürzt. Herr K, der Erzähler, wird nach Polen in ein Kloster gebracht, um eine Befragung der DDR-Behörden zu verhindern. Das geschieht in einer für den Erzähler nicht geahnten Allianz seiner Großmutter, Mitarbeitern des Britischen Geheimdienstes, seiner Englischlehrerin Fräulein Dr. Sölle, die als Pensionärin inzwischen in London lebt, und seines Mentors Dr. Schwarz. Herr K bleibt nach seinem Aufenthalt bei den Brüdern des Hl. Philip Neri in Polen. Er verliebt sich in den jungen Arzt Adam Fuks. Jahre nach dem Unfalltod des Freundes, gibt der britische Geheimdienst Akten frei. Er und Adam reisen nach London. Dort und nach Einsicht in seine Stasiakten erkennt er die Zusammenhänge und dass sein Leben vom ersten Tag an mit einem bestimmten Ziel verbunden war.
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Seitenzahl: 336
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Polnischer Titel:
Chodź tam gdzie wszystkie gwiazdy widać
Alle in diesem Buch geschilderten Handlungenund Personen sind frei
erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen
sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
Bei der Gestaltung des Buchcovers wurde eine Zeichnung
von Luc-Marie Pouech, Paris, verwendet.
Mit freundlicher Genehmigung
Merci à Luc-Marie Pouech, Paris, pour la permission d'utiliser son dessin sur
la couverture du livre.
Das Gedicht "So also geht die Zeit" von nehls ist dem Band
"Am Abend Stille - Am Morgen Sturm", Berlin 2003, entnommen.
Mit freundlicher Genehmigung
Dank an nehls für die Genehmigung zum Abruck
Covergestaltung: Siegmar Förster, sfb-design, www.sfbdesign.de
So also geht die Zeit,
wenn man nicht daran denkt,
sie aufzuhalten.
Sie fließt, sagt man.
Sie fließt und fließt
wie Flüsse fließen.
Die Schiffe, die wir meinen,
absichtsvoll zu lenken,
sind auf direktem Kurs,
sich selber zu versenken.
nehls
Während meiner Schulzeit kam es im Zusammenhang mit einem Aufsatz, den ich nach einem Klassenausflug zu schreiben hatte, zu einem Skandal an der Schule. Unser Deutschlehrer hatte uns angehalten, Phantasie walten zu lassen und nicht nur das Erlebte tagebuchartig aufzuschreiben.
Dieser Aufsatz fiel mir vor einigen Tagen in die Hände und ich beschloss, die fragliche Passage des Aufsatzes in einem Text zu verwenden, den ich die Absicht hatte demnächst fertigzustellen.
Sie lautete: Am gegenüber liegenden Ufer des Sees badeten die Mädchen aus der 9. Klasse. Ihr Lachen drang zu uns herüber. Es hörte sich an wie das gellende Meckern von Ziegen, wenn sie auf ein Kuchenblech pinkeln.
Der Vergleich des unschuldigen Lachens der Mädchen aus der 9. Klasse mit dem Meckern von Ziegen in einer an unserer Schule bisher nicht beschriebenen obszönen Situation hatte die Vorladung meiner Eltern und einen umfangreichen Briefwechsel mit der Schule und der Schulaufsicht zur Folge. Mein Verweis von der Schule stand unmittelbar bevor. Die Rettung kam von unerwarteter Seite. Unser Physiklehrer machte die Problematik zum Gegenstand des Unterrichts und kam zu dem Schluss, dass sich das Lachen der Mädchen, verfremdet von der glatten Oberfläche das Sees, vermischt mit anderen natürlichen und unnatürlichen Geräuschen der Umgebung und angesichts des an diesem Tage von ihm selbst gemessenen hohen Luftdrucks sehr wohl wie das Meckern von Ziegen habe anhören können. Der in diesem Zusammenhang hergestellte Vergleich mit dem Kuchenblech wäre lediglich auf meine Unreife zurückzuführen.
Herrn Pfister kannte ich schon, bevor er als Lehrer an die Schule kam. In seiner Studentenzeit war er in drei Sommern Helfer im Ferienlager gewesen und ich war immer in seiner Gruppe.
Diese drei Sätze wollte ich also notieren. Dabei fiel mir der Hinweis von Bärbel aus dem Polnisch Kurs ein, dass es über Windows die Möglichkeit der Spracherkennung gibt. Das kleine Programm war schnell aktiviert und ich sprach den kurzen Text in das Mikrofon.
Wie von Geisterhand geführt schrieb der PC folgendes:
Am geführten offenen des Sees bald er nie Mädchen. Erwachen schlang zum vorüber. Wir lachen, kleinen wieder Schmitt war von zehn wenn sie auch am Küchentisch hinken.
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, und beschloss, auch diesen schrägen Text dem PC vorzulesen in der Hoffnung, dass der sich besinnen würde, und das kam heraus:
Am angeführten Wochenende des Sees baden die Mädchen. Er machen Schlamm zum vorüber. Wir lachen, klein wie das Nest, waren zehn wenn sie auch am Küchentisch trinken.
Ich glaube, dass ich mich jetzt richtig erinnere: Das beschriebene Ereignis fand an einem Wochenende statt. Es waren genau zehn Mädchen. Wegen des einsetzenden Regens hatten sie sich in ein kleines Zelt gesetzt. Nachdem wir zu ihnen hinüber geschwommen waren, saßen sie da wie in einem kleinen Nest, wir setzten uns zu ihnen in das Zelt, eines der Mädchen hieß Schmitt oder so ähnlich. Es goss inzwischen in Strömen, überall war Schlamm und wir beschlossen, alle im Zelt zu bleiben. Die Mädchen hatten etwas zu trinken mitgenommen.
Einen Küchentisch gab es nicht, aber das war kein Problem. Zum Glück waren wir nur vier Jungs, sonst wäre es viel zu eng in dem kleinen Zelt geworden. Es war aber auch so ziemlich anstrengend. Nachdem der Regen aufgehört hatte, sind wir nach Hause gelaufen. Unterwegs mussten die Mädchen mal und alle zehn sind hinter einem Gebüsch verschwunden. Wir Jungs sind hinterher, denn wir mussten auch. Ich will jetzt nicht sagen, wie sich das angehört hat. Noch Tage danach fühlte ich mich wie gerädert.
Nach all den Jahren bin ich froh, dass ich damals nicht die Wahrheit geschrieben hatte. Dank der Windows – Spracherkennung habe ich mich wieder erinnert. Selbst Herr Pfister hätte dafür keine Erklärung gefunden, zumindest keine physikalische.
Einige Jahre später traf ich Herrn Pfister in einer Vorstellungspause im Berliner Ensemble wieder. Gisela May und Maria Farantouri sangen Brecht. Als Überraschungsgast kam nach der Pause Milva auf die Bühne und sang ebenfalls Brecht. Ich studierte Betriebswirtschaft an der Humboldt–Universität. Herr Pfister machte einen Klassenausflug mit einer 10. Klasse. Ich gab ihm die Adresse des Studentenwohnheims, in dem ich mir ein Zimmer mit Thomas Ngube aus Ghana teilte. Er gehört zum Volk der Nzeme. Spät in der Nacht klopfte jemand. Thomas öffnete und Herr Pfister stand im Zimmer. Wir wollten gerade ins Bett gehen, ließen uns aber überreden und tranken mit ihm die Flasche Rotwein aus, die er mitgebracht hatte. Herr Pfister sprach über die Vergangenheit, die Sommer im Ferienlager. Immer wieder kam er darauf zu sprechen, dass ich im ersten Jahr, in dem er als Ferienhelfer tätig war, die gesamte Zeit bei ihm im Bett übernachten musste, weil meins zusammengebrochen war und niemand den Hausmeister informiert hatte.
Ich konnte mich gut daran erinnern. Ich war 11 oder 12 und fand es toll, bei Herrn Pfister im Bett zu liegen. Alle aus meiner Gruppe hätten gerne mit mir getauscht. Ich hatte ihn solange mit der Frage genervt: "Bist du mein großer Bruder?", bis er endlich sagte: "Ja, kann sein, dass ich dein großer Bruder bin". Es war während der Mittagsruhe und ich drückte mich dicht an ihn und er legte seine Arme um mich. Als wir müde waren, fragte Herr Pfister, ob er nicht bei uns übernachten könne. Thomas machte große Augen, sagte ja und zeigte auf sein Bett. Herr Pfister zog sich aus und legte sich hin. Dabei erinnerte ich mich daran, dass Herr Pfister überall Haare hatte, auch da, wo üblicherweise keine sind. Als Thomas das sah, sagte er zu Herrn Pfister, dass er sich mit so einer Behaarung für Geld auf dem Jahrmarkt zeigen könne, worauf Herr Pfister meinte: "Schön, dann sind wir ja schon zu zweit". Thomas kam zu mir ins Bett, als wäre das die selbstverständliche Sache der Welt. Am Morgen war Herr Pfister verschwunden.
"Was hat er mit dir im Ferienlager gemacht?" fragte Thomas. "Hat er dich angefasst? Hat er dich etwa verführt?" "Wenn man davon überhaupt sprechen kann, habe ich ihn verführt, oder besser gesagt: um den Finger gewickelt. Herr Pfister hat sich nie etwas zu Schulden kommen lassen und mich immer respektvoll behandelt, im Ferienlager und in der Schule, und es ist nichts passiert, was nicht hätte passieren dürfen" sagte ich. Herr Pfister hat mich im Physikunterricht konsequent nicht beachtet, aber immer mit guten Noten beurteilt. Nur einmal war er vor Freude aus dem Häuschen und schenkte mir Beachtung. Jeder Schüler sollte ein oder zwei Messgeräte von zu Hause mitbringen und deren Wirkungsweise erklären. Ich brachte das Barometer mit, das bei uns im Treppenaufgang hing.
Es war ein Dosenbarometer aus der Werkstatt des Hoflieferanten Hausswald in Dessau von 1921.
Es maß in Torricelli und funktionierte einwandfrei. Das zweite war eine Autouhr von DOXA aus dem Auto meines Vaters mit einem Zifferblatt von 8 cm Durchmesser und der Krone unter der 6 und nicht wie sonst üblich über der 12. Die Uhr lief eine Woche ganggenau. Es war das einzige Stück, das aus der Firma meines Vaters nach der Enteignung durch die Kommunisten übrig geblieben war. Ich konnte die Wirkungsweise der beiden Messgeräte richtig erklären, auch wie die Uhr als Kompass funktioniert. Herr Pfister freute sich. Anlässlich eines Klassentreffens sah ich ihn noch einmal. Er begrüßte mich mit den Worten: "Mein kleiner Bruder ist ja ein richtiger Mann geworden." Er stellte uns seine Frau vor, sie war eines der Mädchen vom Badesee. Stolz zeigten sie die Fotos ihrer Zwillinge. Sie hatten unsere Vornamen.
Als wir merkten, dass er weg war, blieben wir liegen. Im Radio lief „The Morning Of My Life“ mit Abi und Esther Ofarim. Es war Sonntag. Gegen 10 Uhr kam Helga mit ihrem kleinen Bruder Roland, der bei ihr zu Besuch war. Wir hatten völlig vergessen, dass wir versprochen hatten mit Roland einen Stadtbummel zu machen, weil Helga etwas für ein Seminar ausarbeiten musste. Wir rannten in den Keller zu den Duschen. Als wir wieder im Zimmer waren, hatte Helga für uns etwas zum Frühstück gemacht. Sie fragte: "Wer hat denn bei Thomas im Bett gelegen, das ist ja voller schwarzer Haare?" "Edwin war hier." Edwin war der Riesenschnauzer des Hausmeisters und Chef des Wohnheims. Er ging in den Zimmern ein und aus, legte sich auf die Betten, wie es ihm in den Kopf kam. Manchmal legte er sich auch darunter und schlief ein. Roland war zum ersten Mal bei Helga zu Besuch und er wusste nicht, wo Helgas Zimmer war, also musste er sich durchfragen. Dabei war er uns am Vortag über den Weg gelaufen.
Thomas hatte ihn zuerst gesehen und wir sind hinter ihm her: "Komm den schnappen wir uns." Thomas fragte ihn nach dem Weg zur Mensa. Er lief rot an und sagte nur: "Keine Ahnung." "Aber als Student hier musst du doch wissen, wo die Mensa ist" sagte ich. "Ich bin erst 17 und kein Student" kam zur Antwort. Wir mussten uns das Grinsen verkneifen, denn der Junge sprach einen urigen Dialekt, wie man ihn nicht oft hört. Es hörte sich an, als wenn ein ungeordnetes Seil versucht sich zu entwirren und sich dabei immer mehr verknotet. Ich wollte ihn noch ein wenig ausquetschen und fragte, woher er sei. Er antwortete: "Aus einem Dorf bei Auerbach im Vogtland." "Das hätte ich jetzt nicht gedacht, Auerbach, da sprechen doch die Leute alle Sächsisch und bei dir merkt man gar nichts, du sprichst perfekt hochdeutsch." "Wir sprechen nicht Sächsisch, sondern Vogtländisch, das gehört zum Oberdeutschen." Thomas hatte Erbarmen und fragte: "Zu wem willst du denn?". Zu unserer Helga wollte er, sie hieß bei uns die Königin, weil sie ständig im Befehlston sprach.
So hatten wir also Roland auf dem Hals. Ich fragte ihn, was wir ihm zeigen sollten. "Keine Ahnung", diese Antwort kannten wir ja schon. Wir fuhren mit der S-Bahn bis Alexanderplatz und liefen am Rathaus vorbei, die Linden hoch bis zum Brandenburger Tor. Von West-Berliner Seite guckten Leute zu uns herüber. Wir wussten, dass sie auf einem Holzpodest stehen mussten, um uns sehen zu können.
Auf dem Rückweg bogen wir von den Linden rechts ein auf die Friedrichstraße, von dort in die Jägerstraße und kamen so zum Gendarmenmarkt. Noch immer kein Wort von Roland. Thomas fragte ihn: "Und? wie gefällt es dir?" Wir sahen von den Stufen des Schauspielhauses auf den Platz. Plötzlich fragte Roland: "Wo ist das Denkmal? Das Schillerdenkmal von Begas ist weg."
Ich sagte ihm, dass es drüben in West Berlin sei und im Lietzenseepark stehe. "Warum steht es bei den Imperialisten und Kriegstreibern?", fragte er. Thomas grinste. Ich erklärte es ihm. Wieder eine lange Funkstille. Wir flanierten zurück zur Schlossbrücke und über den Lustgarten zur Nationalgalerie. Über den schmalen Steig am Bodemuseum ging es weiter in den Monbijoupark. In einem kleinen Café ruhten wir uns aus. Wir waren uns einig: es reichte für heute. Ich schlug vor in die Sauna in der Gartenstraße zu gehen. Roland sträubte sich, weil er noch nie in einer Sauna gewesen war und nicht wusste, wie es da abläuft. Wir sagten, dass wir aufpassen würden, dass er sich nicht übernimmt. An den leeren Schränken im Umkleideraum konnten wir schon sehen, dass nur wenige Saunagäste da waren. Ich dachte, dass er sich zieren würde, aber das war ein Irrtum. Noch bevor wir fertig waren, stand er nackt vor uns und konnte es gar nicht erwarten, dass es losging, wir staunten. Seine Haut war weiß, nicht der kleinste Hauch eines Farbtones. Der Oberkörper war völlig unbehaart, von der Gürtellinie abwärts aber gleichmäßig mit einem weichen Flaum bedeckt, so hell und blond wie sein Haupthaar.
"Da hat sich der liebe Gott mit dir aber angestrengt, so etwas Schönes ist nicht an einem Tage gemacht" sagte Thomas. Roland wurde nicht im geringsten verlegen. "Ihr seht aber auch super aus, echt jetzt, und so tolle Muskeln." Ich spannte meine Oberarme "Und auch sonst alles dran, sieh mal. Und hier bei Thomas, er drehte uns gerade den Rücken zu, mit dem Po kannst du Nüsse knacken zu Weihnachten." "Aber der liebe Gott hätte dich ruhig noch ein wenig länger im Backofen lassen sollen" sagte Thomas, "dass du etwas mehr Farbe bekommst." "Und dich hat er wohl im Backofen vergessen, kam zur Antwort, überall verbrannt wie ein altes Russenbrot."
"Nein, nicht überall" sagte Thomas und streckte seine Zunge heraus "und sieh mal hier", er wollte seine Vorhaut nach hinten schieben. "Du bist ein Monster, wie kannst du den Jungen so erschrecken" Ich griff zu und konnte es verhindern. Wir lachten und gingen in die Dampfsauna. "Man gewöhnt sich daran", sagte ich zu Roland.
Nach dem ersten Saunagang saßen wir im Vorraum und lästerten über die anderen Gäste. Uns gegenüber saß Edgar neben einem etwas älteren Mann und beobachtete die eintretenden Saunagäste. Über jeden der kam, wußte Edgar etwas zu sagen, denn er beugte sich zu dem Mann neben ihm und redete auf ihn ein. Edgar war Schauspieler am Deutschen Theater und in der ganzen DDR bekannt. Mit der Hälfte davon war er bestimmt schon im Bett. Als Edgar uns bemerkte, gab er sich Mühe uns zu beeindrucken. Wir beeindruckten zurück. Roland starrte unentwegt hinüber und wurde unruhig, wahrscheinlich hatten Edgars Bemühungen Wirkung auf ihn. Er fragte nach den Toiletten, Thomas erklärte ihm den Weg. Als Roland losging, sah mich Edgar von gegenüber fragend an. Ich schüttelte den Kopf. Nach einer Weile kam Roland zurück. Edgar kam herüber und lud uns zum Abendessen ein. Roland sagte kein Wort. Thomas fragte: "Hast du Lust, Roland?" Er nickte und sah zu Boden. "Geht leider nicht", sagte ich. "Seine Schwester hat uns schon eingeladen."
Edgar bot uns Freikarten an für den übernächsten Tag, aber Thomas sagte gleich nein. Als er weg war, regte sich Thomas darüber auf, dass Edgar jeden Typen angrabe, der ihm über den Weg laufe. Im Wohnheim, lag ein Zettel von Helga auf dem Tisch: Abendessen heute bei mir. Wir gingen gleich rüber in die Melkanlage, das war die Bezeichnung für die beiden Häuser der Studentinnen. Diese Bezeichnung hatten sich Studenten des Jahrgangs vor uns ausgedacht, nachdem man deren Häuser als Faultierfarm diffamiert hatte. Roland erzählte Helga, was wir gemacht hatten.
Thomas stand in der kleinen Küche mit Marion, die mit Helga in einem Zimmer wohnte. Ich wartete darauf, was Roland über die Sauna sagen würde. Ohne weitere Umschweife kam er darauf zu sprechen. Helga wunderte sich, dass ihr kleiner Bruder in einer Sauna gewesen war. "Was habt ihr ihm versprochen, dass er sich auszieht und dort nackt herumläuft", fragte sie. "Nichts", sagte ich, "er konnte sich ganz allein ausziehen und auch wieder anziehen." "Thomas wollte seine Vorhaut zurückschieben und mir seine Eichel zeigen", sagte Roland.
"Das ist nichts Besonderes, die kennt hier jeder und auch die seines Spießgesellen!" Dabei zeigte sie auf mich. "Die beiden ziehen durch die Zimmer und haben ihren Spaß. Wenn sie fertig sind, werfen sie die benutzten Kondome unter das Bett und haben es eilig wegzukommen. ‚Du hast dich wieder so angestrengt mein Lieber, wir müssen doch noch zum Training‘, heißt es dann. Vorher wischen sie sich noch gegenseitig den Schweiß von der Stirn und streiten sich, wer welche Unterhose anziehen soll" Helga stellte einen Stapel Teller auf den Tisch und legte Bestecke und Servietten dazu und zeterte weiter: "Das arme Mädchen steht zitternd am Fenster, zieht eine Zigarette durch und muss von oben mit ansehen, wie sie unten die Nächste anquatschen und sich verabreden, und wenn es geklappt hat, freuen sie sich wie die Kinder, wenn es Geschenke gibt. Dann siehst du sie tagelang nicht, keiner weiß wo sie sich herumtreiben. Bei der nächsten Seminararbeit und bei den Tests liefern sie immer die besten Arbeiten und haben die besten Ergebnisse und treten auf wie aus dem Ei gepellt, obwohl sie, seit sie hier ankamen die gleichen Jeans tragen und man annehmen darf, dass die jeden Moment auseinanderfallen. Die Hemden gebügelt, die Schuhe geputzt, immer gut rasiert, ausgeruht, fröhlich und unnahbar. Keiner weiß, wie sie das machen. In der Bibliothek sieht man sie jedenfalls nicht, weder in der Staatsbibliothek noch in der Uni-Bibliothek. Es sind Unholde, kleine Teufel, ein schwarzer und ein weißer, und wie füreinander geschaffen. Wer weiß, was sie wollen, was sie noch vorhaben und womit sie uns überraschen werden. Mein Kleiner, mein weißer Schwan", sagte sie und nahm Roland in den Arm.
"So klein war der gar nicht, den können wir so lassen, war alles sehr ordentlich", rief Thomas aus der Küche. Marion kicherte noch etwas hinterher und kuschelte sich an Thomas. Er nahm sie in den Arm und drückte sie an sich und streichelte ihre Brüste. "Finger weg, du Ferkel", hörte ich sie schimpfen. Er kam zurück ins Zimmer und setzte sich neben mich. "Sie wollte mich nicht", schmollte er, "ich hab doch gar nichts gemacht." "Mädchen sind anders als wir, da kannst du nicht gleich überall anfassen. Du musst lernen dich besser zu betragen." Als Thomas und ich nach dem Essen loswollten, sagte Helga: "Nehmt ihn mit, er kann in Thomas´ Bett schlafen. Ich habe neu bezogen, die Hundehaare sind weg und ihr liegt ja neuerdings immer in einem Bett." Sie sah bedeutungsvoll zu Marion herüber.
Vor dem Zubettgehen habe ich jedem ein kleines Glas Wein spendiert, danach schläft man besser, dachte ich. "Soll ich dir beim Ausziehen helfen?", fragte ich Roland. Thomas sagte: "Ja echt, würden wir machen." "Und ihr, könnt ihr es selbst?" "Bei der Unterhose brauchen wir immer Hilfe, stimmt´s?" Thomas stieß mich an. In der Nacht wurde ich wach. Roland warf sich in seinem Bett hin und her, sprach Unverständliches, grunzte und lallte irgendetwas. Ich stieß Thomas an, um ihn zu wecken, und flüsterte ihm ins Ohr: „Sieh doch mal nach, ob alles in Ordnung ist. Er ging hinüber und versuchte Roland zu wecken, aber es wurde nur noch schlimmer.
Thomas legte sich zu ihm, nahm ihn in die Arme und redete leise auf ihn ein, um ihn zu beruhigen. Als er zurück ins Bett kam, erzählte er mir, dass der Junge bestimmt wegen der Eindrücke des Tages aufgewühlt und erregt und völlig nass sei. "Überall, verstehst du?" "Ach der arme Kerl."
Am nächsten Morgen stürzte Helga ins Zimmer, um für uns Frühstück zu machen. "Puuuh, wie riecht es denn hier? Wie im Raubtierhaus!" und riss die Fenster auf. Thomas richtete sich auf, fletschte die Zähne, rollte mit den Augen und machte: "Grrrrrrrrrrr, grrrrrrrrrr." Helga sagte: "Der Herr K und sein schwarzer Panther liegen noch im Bett und wollen weiter vor sich hin stinken und mein weißer Schwan muss das alles ertragen." Der weiße Schwan saß inzwischen im Bett, er wirkte wie benebelt. "Was hast du?", fragte sie ihn, "haben sie dir Alkohol gegeben? Was habt ihr mit ihm gemacht?", fragte sie und deutete auf die Flasche mit dem Wein. "Wir machen nichts mit kleinen Jungen", sagte ich. Wir standen auf und gingen in die Dusche. Auf dem Weg dahin fragte Thomas Roland, was mit ihm in der Nacht los gewesen sei. "Nichts", sagte er, "aber ich glaube, mir ist da was passiert." "Hab schon gesehen" sagte Thomas und gab ihm eine Nuss auf den Hinterkopf. "Das ist kein Problem, ich habe etwas nachgeholfen, hast du es gemerkt?" Roland schüttelte den Kopf. "Hoffentlich war es ein schöner Traum." Der weiße Schwan nickte. Als wir zurückkamen, hatte Helga schon Rolands Bett abgezogen und den Tisch gedeckt. Roland wollte gegen Mittag abreisen und wir boten uns an, ihn zum Bahnhof zu bringen, denn Helga hatte ihren Vortrag noch nicht fertig. Nachdem wir Roland in den Zug gesetzt hatten, sagte er beim Abschied, dass es am kommenden Wochenende nicht gehen würde, aber am darauf folgenden könnte er wieder nach Berlin kommen und Helga besuchen.
Der Zug fuhr ab und wir standen sprachlos auf dem Bahnsteig. Gleich nach dem Bahnhof machten die Gleise eine leichte Kurve und wir konnten Roland noch einmal winkend am Fenster sehen.
"Haben wir jetzt ein Kind?" "Ja, so schnell kann es gehen", antwortete Thomas. "Er ist uns doch ähnlich, findest du nicht?" "Ja sehr". Ich dachte an den Jungen mit dem hellblonden Haar, nur wenig dunkler als seine schneeweiße Haut. Thomas drückte mich an sich. Die Leute drehten sich nach uns um. Wir fuhren ins Wohnheim und gingen in die Melkanlage zu Gitte, sie hieß eigentlich Gerlinde, mit Nachnamen Ziegenbein und kam aus Klettenberg am Harz. Ihre Eltern wohnten dort im Henkerhaus. Wer es sich mit ihr verderben wollte, musste sie nur nach Namen und Adresse fragen. Gitte hatte uns eingeladen, so richtig förmlich, vor allen anderen. Ich fragte sie: "Wie kommen wir denn zu dieser Ehre?" "Ich habe was gutzumachen." Als wir bei ihr klopften, kam ihre Freundin heraus, mit der sie in diesem Zimmer wohnte und verschwand. Von drinnen rief Gitte: "Nun rein mit euch, tut nicht so, als wäret ihr schüchtern." Thomas sah mich an und grinste. "Damit habe ich nicht gerechnet, ich hoffe sie hat was da", flüsterte er. "Eins habe ich bei mir." Wenn wir keine Kondome dabei hatten, musste einer immer in unser Zimmer hetzen und welche holen.
Gitte war aber heute nicht drauf aus. Stattdessen hatte sie gekocht und es roch verführerisch. Thomas deklamierte Wilhelm Busch: „Gar lieblich dringen aus der Küche bis an das Herz die Wohlgerüche.“ In seinem Kurs „Deutsch für Ausländer“ hatte er mit Herrn Mottek eine wandelnde Sammlung von Buschzitaten zum Lehrer. Als ich sagte, dass Mottek Hammer heißt, ein polnisches Wort ist und eigentlich młotek geschrieben wird, sagte Thomas: "Ein wichtiges Wort, merk es dir."
Gitte war unkompliziert und geradeheraus. In dieser Zeit waren wir öfter bei ihr und wir fühlten uns in ihrem Zimmer wie zu Hause. Ihre Freundin war oft nicht da, sie hatte einen Freund, der in der Auguststraße eine Wohnung im Seitenflügel hatte. Nach dem Essen kam Gitte gleich zur Sache. "Also Jungs, es geht um eure Wäscheschleuder."
Wir besaßen eine Tischwäscheschleuder, die wir vor Monaten einer Kommilitonin geliehen hatten. Wenn man den Gummiring, auf dem sie stehen sollte, nicht völlig aufblies und außerdem die Wäsche nicht symmetrisch einlegte, machte sie unregelmäßige, vibrierende Bewegungen. Das hatten sich einige der Mädchen in der Melkanlage zu Nutzen gemacht und sich nach einer ungeschützten Begegnung darauf gesetzt, um nicht schwanger zu werden. "Ach, und das funktioniert?" fragte Thomas. "Bis jetzt ist keine Schwangerschaft bekannt", sagte Gitte. "Na und, wo ist jetzt das Problem?" "Der Gummiring ist kaputt und ich habe keinen Ersatz bekommen." Sie fing an zu weinen. "Aber da ist doch nichts dabei. Irgendwann wird es welche geben. Gleich morgen fahre ich ins Centrum-Warenhaus", wollte ich sie trösten, "also alles halb so schlimm." "Ja toll, und ich bekomme jetzt ein Kind." "Wer ist der Kerl?", fragte Thomas und sprang auf, das hatten wir vor kurzem in einem Film so gesehen. "Das ist es ja", sagte sie, "ich weiß es nicht." "Das weißt du nicht? Aber irgendeinen Anhaltspunkt musst du doch haben." Sie erzählte uns, dass sie vor vier Wochen bei ihrer Freundin auf einer Party gewesen sei. "Sie kommt auch aus Klettenberg und studiert an der Kunsthochschule in Weißensee. Mit ihrem Freund hat sie eine Atelierwohnung in der Bornholmer Straße, wo jedes Wochenende was los ist." Am späten Abend wurde Gitte müde und ging in eine kleine Kammer, wo sie auf einem Sofa einschlief.
Als sie aufwachte, lag sie zwischen zwei betrunkenen Typen. Auf einem Sessel hing ein sehr junger Mann. Ein anderer kniete davor und machte sich an ihm zu schaffen. Sie stand auf und ging in das Atelier zu den anderen. Dabei merkte sie, dass sie kein Höschen anhatte. Sie ging zurück in das Nebenzimmer, aber die Typen waren verschwunden. Stattdessen lagen die beiden anderen auf dem Sofa und hatten ihren Spaß. "Kannst du dich denn an nichts erinnern", fragte ich. "Doch", sagte sie, "ich weiß, wer der Junge und der andere Mann sind."
"Also, da kriegen wir doch den Rest auch raus, was meinst du, Thomas?" "Ganz bestimmt, du musst uns nur sagen, wo das war und wer der Junge und der andere waren." "In der Bornholmer 6 bei Zimmermann wohnt meine Schulfreundin. Der Junge ist Jens aus dem Hinterhaus, Olschewski oder so ähnlich, und der andere Mann ist der Bruder von Gerhard, dem Verlobten meiner Freundin." Wir versprachen ihr, an einem der nächsten Wochenenden hinzugehen, um zu versuchen etwas zu erfahren. Wir machten uns auf den Weg. "Eure Wäscheschleuder, was wird damit?" "Das ist nicht unsere", log Thomas, "unsere sah anders aus."
Bericht des IM "Abitur": Während eines Besuches meiner Schwester in Berlin habe ich die Studenten K und N kennengelernt. N ist Afrikaner. Weil im Zimmer meiner Schwester kein Platz war, habe ich bei K und N übernachtet. Wir haben einen Bummel durch die Stadt gemacht und danach eine Sauna besucht. Sie haben mich nach meiner Leistung in der Schule gefragt und gesagt, dass ich beim nächsten Besuch meine Schulsachen mitbringen soll, weil sie mir helfen wollen, besonders bei Russisch und Mathe.
In unserem Zimmer lag ein Zettel. Rafael, mein Vetter aus Rajewo, hatte angerufen, ich solle zurückrufen. "Hoffentlich ist nichts passiert", sagte Thomas. In jedem Flur hing ein Münztelefon, auf dem man auch angerufen werden konnte. Ich hatte keine Münzen und klopfte gegenüber bei Bernd. Er wohnte mit dem Chinesen zusammen, der eigentlich bei Thomas wohnen sollte. Als wir zum Beginn des Studiums unsere Zimmer zugeteilt bekamen, standen Thomas, der Chinese, ich und Bernd hintereinander in einer Reihe. Der Hausmeister rief: "Die nächsten beiden bitte!" und Thomas und der Chinese traten vor. "Hier, Ihre Schlüssel, meine Herren", sagte er. Thomas fragte: "Kann ich nicht mit meinem Freund in einem Zimmer wohnen?" und zeigte auf mich. "Gut, wenn Sie wollen."
Er nahm dem Chinesen den Schlüssel wieder ab und gab ihn mir. "Wie heißen Sie?", fragte mich der Hausmeister. Ich nannte meinen Namen. Er schrieb ihn in eine Liste. Der Chinese und Bernd bekamen die Schlüssel für das Zimmer gegenüber.
"Wie heißt du?", fragte mich Thomas auf dem Weg in unser Zimmer. "Du sagst, ich bin dein Freund und weißt meinen Namen nicht? Außerdem habe ich ihn eben gesagt." "Aber es ging so schnell, ich konnte ihn mir nicht merken", wollte er sich herausreden. "Ich weiß nur noch, dass irgendwo ein K vorkam." "Richtig, ich heiße K", sagte ich, "das reicht doch. Was schreiben wir an die Tür?" "Herr K und sein Schwarzer Panther", sagte Thomas. Bei Bernd und dem Chinesen stand an der Tür: Wau Li & Bernd Claus und darunter ihre Namen noch einmal in chinesischen Schriftzeichen. Weil es für Bernds Namen keine chinesische Entsprechung gab, hat der Chinese ihm einen chinesischen Namen gegeben: Singender Mann am Fluss.
Aus ihrem Zimmer hörten wir leise Musik, chinesische Musik; ich klopfte, nichts rührte sich, erst als ich lauter klopfte, öffnete Bernd die Tür; er war betrunken. Auf dem Bett lag der Chinese, ebenfalls stark bezecht, völlig abwesend. Aus dem Zimmer drang ein starker Geruch nach Gewürzen, Medizin und verbranntem Heu. "Habt ihr noch ein paar Bier?", fragte Bernd. "Ja, kannst du haben, aber wir brauchen dringend Kleingeld." Thomas ging in unser Zimmer und holte vier Flaschen Bier.
Der Kaiser von China kam an die Tür und gab uns Geld, wahllos, eine Hand voll Münzen. Bernd lag inzwischen auf dem Bett und rauchte. Der Kaiser legte sich dazu und Bernd ließ ihn an seiner selbst gedrehten Zigarette ziehen. Sie sahen irgendwie sehr daneben aus. Ich zog die Tür ins Schloss und wir gingen zum Telefon. "Hast du die vielen Blumen auf ihrem Fensterbrett gesehen?", fragte Thomas, "alle dieselbe Sorte." Nein, ich hatte nicht darauf geachtet.
Rafael war gleich am Apparat, er hatte den ganzen Abend auf den Anruf gewartet. "Ist etwas passiert, seid ihr alle gesund, wie geht es dem Onkel, und Onkel Karol?" Er beruhigte mich, Grund seines Anrufes war, dass er seinen Besuch für den übernächsten Tag ankündigen wollte. Ich freute mich sehr darüber, wir hatten uns seit Wochen nicht gesehen. Wir würden ihn abholen, sagte ich ihm. Er wollte den Nachtzug Moskau-Paris nehmen und hatte schon einen Platz reserviert. "Ich habe dich lieb", sagte ich. "Ich habe dich auch lieb", sagte er und legte auf. Rafael und ich waren gleichaltrig und Thomas meinte, dass wir so ähnlich seien wie Zwillinge, obwohl wir Vettern dritten Grades sind.
Ich war sehr müde, aber Thomas wollte noch ein Glas Wein. Er setzte sich auf sein Bett und trank einen kleinen Schluck. Ich nahm ein Handtuch und sah ihn fragend an. "Ja komm, wir gehen duschen. Soll ich dir den Rücken waschen?", fragte er, als wir unter der Dusche standen. Ich nickte.
Als wir zurückkamen, hörten wir lauten Gesang aus dem Zimmer gegenüber. Bernd und der Kaiser hatten das Tonbandgerät mit der chinesischen Volksmusik ausgeschaltet und die Programmgestaltung selbst übernommen. Sie sangen gerade von den alten Germanen, die zu beiden Ufern des Rheins sitzend unheimlich viel Lagerbier tranken. Wir kannten ihren Liedschatz zur Genüge und auch die Reihenfolge. Im nächsten Lied würde es um die Festung Königstein gehen, dann folgte das lustige Zigeunerleben. Irgendwann kam der Harz, wo es wunderschön ist mit der Köhlerliesel, ihren blauen Augen und dem roten Mund. Ganz zum Schluss, als krönendes Sahnehäubchen, würde Bernd von einem einsamen Soldaten singen, der am Wolgastrand steht und von der Liebe und vom Vaterland träumt. Thomas wollte neulich gehört haben, dass der Kaiser von China mitgesummt hatte. Wir wussten, es würde so schnell nicht ruhig sein und Thomas suchte im Radio nach klassischer Musik.
Ich hatte mich inzwischen ins Bett gelegt und sah ihm zu. Als er etwas gefunden hatte, kam er zu mir ins Bett. Bevor ich etwas sagen konnte, sagte er: "Ich weiß, ich könnte wieder in meinem Bett schlafen, wir haben ja gerade keinen Besuch. Aber es ist so, ich schlafe einfach besser, wenn du neben mir liegst." "Ja, ich auch", sagte ich, "ich schlafe ruhig und habe keine Angst." "Bei mir ist es auch so", sagte er, "ich bin so froh, dass wir zusammen wohnen, sonst hätte ich drüben bei Bernd gewohnt." "Ja, und der Chinese würde jetzt hier liegen", sagte Thomas. "Warum hast du das so gedreht damals beim Hausmeister? Wir kannten uns doch gar nicht." "Ich habe dich gesehen“, sagte er, „und ich wusste, dass du es bist. Aber warum hast du Angst?" "Ich finde es abscheulich, wenn mich jemand nach meinem Klassenstandpunkt fragt und solchen Mist, der mich nicht interessiert." Ich erzählte ihm, wie mein Vater darauf geachtet hatte, dass mich niemand ausfragte, z.B. ob wir zu Hause Westfernsehen und wie viele Schweine, Hühner, Enten und Gänse wir hätten und wie die Ernte war. Ich sollte immer, sagen: das weiß ich nicht. "Das ging so weit, dass ich, als mich Leute fragten: ‚Na, wie heißt du denn?‘ geantwortet habe: ‚Das weiß ich nicht‘." "Das soll mal einer wagen, es wird dir niemand zu nahe kommen, versprochen", sagte Thomas "da werde ich schon aufpassen."
Bernd und der Kaiser von China sangen jetzt das Wolgalied. "Hörst du?", fragte Thomas, "sie singen es beide. Bald wird Ruhe sein, wir hören noch ein wenig Musik, ja?" Ich kuschelte mich an ihn und hörte, wie sein Herz schlug. Im Radio lief Opus 56 von Beethoven mit Richter, Oistrach und Rostropowitsch und den Berliner Philharmonikern unter Karajan. So hatte ich dieses Konzert noch nie gehört. Später stand Thomas auf, um das Radio auszuschalten. Es dauerte nur wenige Sekunden und er legte sich wieder zu mir, aber dieser kurze Augenblick genügte, um mir klar zu machen, dass ich nicht einen Augenblick von diesem Mann getrennt sein wollte. Er schmiegte sich an mich und ich fühlte mich wohl dabei und ließ es zu.
Die erste Vorlesung am Montag war Statistik bei Dr. Schwarz. Er war nach dem Krieg mit seinen Eltern aus Breslau geflohen, wo er studiert hatte. Wenn wir allein waren, sprach er polnisch mit mir. Dr. Schwarz hatte uns eine Arbeit in einer Brauerei besorgt. Sie bestand darin, dass wir in der Nacht von Dienstag zu Mittwoch die Verteilung der Bierfässer und Bierkästen auf die einzelnen Gastwirtschaften und Verkaufsstellen in Ost-Berlin zu disponieren hatten. Sie war gut bezahlt und obendrein gab es monatlich vier Kästen Bier als Sachleistung. Besonders günstig war, dass Mittwochs vorlesungsfrei war und wir ausschlafen konnten. Jedes Mal, wenn Dr. Schwarz die Vorlesung begann, sah er suchend in die Runde, ob wir anwesend waren. Andernfalls wartete er oder er ließ nach uns suchen. Nachdem er einen komplizierten Sachverhalt vorgetragen hatte, sah er zu uns herüber, um von unseren Gesichtern abzulesen, ob es verständlich war. An dem betreffenden Tag sind wir, als er das Podest besteigen wollte, zu ihm gegangen und haben gebeichtet, dass wir in der Nacht nicht schlafen konnten, weil so ein Lärm im Wohnheim gewesen sei. Er sagte: "Kein Problem, meine Herrn, gehen Sie mal wieder ins Bett und schlafen sich aus. Ich mache heute eine Wiederholung des Stoffes der letzten beiden Vorlesungen und nächste Woche setze ich fort, dass Sie mir ja nichts versäumen." Wir bedankten uns und gingen zu Fuß ein paar Straßen weiter in die Staatsbibliothek, wo wir uns im großen Saal in einer Ecke auf ein Ledersofa setzten. Wir lasen in den Zeitungen, die auslagen. Außer uns war niemand hier. "Was machen wir jetzt?", fragte ich ihn. "Wir machen jetzt etwas Schönes", sagt er, "du und ich." "Wir gehen jetzt frühstücken", sagte er laut, und leise sagte er mir ins Ohr: "Ich liebe dich. Wir machen alles wie immer, es gehört zu meinem Plan, dass wir alles machen wie immer." Wir standen auf und gingen zum Ausgang. Die Frau an der Aufsicht sagte vorwurfsvoll: "Aber Sie haben doch gar nichts ausgeliehen." "Wir kommen nach dem Frühstück wieder", entschuldigten wir uns. Die Kantine in der Staatsbibliothek war wegen Schädlingsbekämpfung geschlossen. Wir waren so aufgekratzt, dass wir nicht mehr wussten, wo unser Trabi geparkt war. Als wir ihn zufällig gefunden hatten, sprang er nicht an. Nach einer Weile fiel uns ein, dass der Tank leer sein könnte. Am Morgen waren wir so hektisch aufgebrochen, dass wir weder Geld noch Monatskarte, Studentenausweis und Personalausweis dabei hatten. Zu Fuß ins Wohnheim zu gehen, war zu weit und Schwarzfahren zu gefährlich.
Wir überlegten, was wir tun könnten. Ich schlug vor, zu Edgar zu gehen und Geld für den Fahrschein zu borgen. Thomas war dagegen, er konnte ihn nicht leiden, weil er mich schon öfter angebaggert hatte. "Jetzt hab dich nicht so, er wohnt doch gleich um die Ecke." Aber Thomas war strikt dagegen.
Wir kamen auf die Idee, am Eingang der U-Bahn zu warten, bis jemand kam, den wir kannten. Wir setzten uns auf eine Treppenstufe, holten unsere Aufzeichnungen hervor und lasen darin. Die Zeit verging, aber niemand, den wir kannten, kam vorbei. Nach einiger Zeit hielt ein Polizeiauto und zwei Volkspolizisten kamen auf uns zu. Wir packten unsere Unterlagen ein und standen auf. "Was machen Sie hier?", fragte einer der Polizisten. Sie waren beide noch sehr jung und hatten keine Rangabzeichen an ihren Uniformen. Thomas sagte: "Wir müssen warten, bis wir jemanden treffen, den wir anpumpen können, weil wir kein Geld dabei haben." "Was wollen Sie denn kaufen?", fragte der andere. "Wir brauchen 60 Pfennig für zwei Fahrscheine." "Wie sind Sie denn hergekommen, wenn Sie kein Geld haben?", fragte er weiter. "Mit dem Auto, aber der Tank ist leer, also müssen wir mit der U-Bahn fahren." "Wo arbeiten Sie, wenn Sie hier nicht herumsitzen?" "Wir sind Studenten", sagte Thomas. "Wo steht denn Ihr Auto?", fragte der erste, "das wollen wir uns gern einmal ansehen."
Mir wurde ganz flau, denn an diesem Trabant funktionierte nichts mehr vorschriftsmäßig. Alles war geflickt und notdürftig repariert. Als wir vor dem Trabi standen, fragte der eine Polizist: "Hast du so etwas schon mal gesehen, Kurt?" "Ja, antwortete er, auf dem Schrottplatz."
Wir schlossen auf und die beiden setzten sich hinein. "Los", sagte einer, "wir laden die beiden Jungs ein, den Neger und den anderen, und machen einen Ausflug ins Grüne."
Sie konnten sich vor Lachen nicht einkriegen. "Einverstanden", sagte ich, "wenn Sie etwas Benzin spendieren." Sie stiegen wieder aus, machten die Motorhaube auf und steckten die Köpfe hinein. Einer legte sich hin, um den Unterboden besser sehen zu können. Wir gingen zum Polizeiauto zurück. "Also, meine Herren, Folgendes: Ihr Trabant ist hiermit beschlagnahmt wegen Fahruntüchtigkeit", sagte der, der Kurt hieß. "Aber das können Sie doch nicht machen", versuchte ich die Situation zu retten. "Doch, können wir, ist soeben geschehen. Geben Sie uns die Fahrzeugschlüssel, bitte. Das Fahrzeug muss ordnungsgemäß verschrottet werden." Thomas gab ihm die Schlüssel. "Wir bringen Sie jetzt zu Ihrer Unterkunft, wie lange wollen Sie denn hier noch warten, bis jemand kommt, den Sie kennen?" "Ja, aber es kommt bestimmt jemand." "Los jetzt, steigen Sie ein." Wir stiegen ein und Kurt startete den Motor. "Wo wohnen Sie denn eigentlich?", fragte er. Ich sagte ihm die Adresse.
"Na habt Ihr Euch vor Angst in die Hose gemacht?" fragte sein Kollege und drehte sich um als wir im Auto saßen und lachte. "Nee", sagte Thomas. "Ich ja", gab ich zu. "Echt jetzt, sind wir so furchteinflößend?" Er wirkte beleidigt. "Also, wir bringen den Trabi nach Feierabend zu meinem Schwager in die Gleimstraße. Er repariert ihn für euch." "Aber das können wir doch nicht bezahlen, es ist doch fast alles kaputt", sagte ich. "Der nimmt sowieso kein Geld, aber vielleicht habt ihr ja eine Tante im Westen, die ein Pfund Kaffee zu Weihnachten schickt, oder sonst jemand, den ihr kennt, kann mal was von drüben besorgen." Er machte eine eindeutige Handbewegung zu Thomas. Der nickte verständnisvoll. "Ich denke, dass Ihr euren Knatterbulli in einer guten Woche abholen könnt oder sagen wir in zwei Wochen", sagte Kurt nach einer Weile. "Was meinst du, Stefan?" Der drehte sich zu uns um und nickte.
Bevor wir in unsere Straße einbogen, fragte Stefan: "Können wir euch vor dem Eingang absetzen, oder ist euch das peinlich?" Ich sagte: "Ja", Thomas : "Nein." "Also was jetzt?", fragte Kurt, "Mir persönlich wäre es peinlich, wenn die Polizei mich nach Hause bringt." Stefan hingegen meinte, dass es ihm nicht peinlich sei. Kurt trat auf die Bremse. "Aussteigen, meine Herren, das ist ja wie im Kindergarten." Wir gingen um die Ecke. Vor dem Eingang zum Wohnheim standen einige aus unserer Seminargruppe, Horst war dabei. Er war FDJ-Sekretär und stand schwer im Verdacht für die Stasi zu arbeiten. Thomas meinte, er schreibe Berichte für die Stasi, nicht weil er so klug sei, sondern weil er eine sehr schöne Handschrift habe. Natürlich konnten alle sehen, dass uns eine Bullentaxe gebracht hatte. Wir wollten uns an ihnen vorbeimogeln, als das Polizeiauto zurückkam. Stefan stieg aus. Ich hatte meine Mappe mit den Aufzeichnungen liegengelassen. Er gab mir die Mappe und sagte laut und deutlich. "Vielen Dank, Genossen, ohne eure wissenschaftlichen Berechnungsmethoden hätten wir diesen Mordfall nie gelöst." Er ging zurück und stieg ein. Ich konnte sehen, wie sie sich im Auto vor Lachen ausschütteten. Thomas sagte zu Horst: "Das war ganz allein die Leistung von Herrn K, erst mit seiner Formel, bei der er alle Korrelationen entsprechend ihrer Häufigkeit gewichtet und berücksichtigt hat, sind die Genossen von der Mordkommison auf den Täter gekommen. Ich bin gescheitert mit der Vogelschen Approximations-methode", gab er zu. Diese Methode, die eigentlich für die Optimierung von Transportproblemen entwickelt wurde, war Horsts Steckenpferd.
In unserem Zimmer fanden wir nichts zum Essen. Ohne uns weiter aufzuhalten, gingen wir in die Melkanlage zu Nina. Zu Nina gingen wir nur, wenn nichts weiter los war. Sie war wirklich süß und versuchte nicht, sich an uns zu klammern. Wenn wir vorbeikamen, war sie happy und wenn wir nicht kamen, machte sie uns keine Vorwürfe.