Wie Hadleyburg verderbt wurde: Nebst anderen Erzählungen - Mark Twain - E-Book

Wie Hadleyburg verderbt wurde: Nebst anderen Erzählungen E-Book

Mark Twain

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Beschreibung

In "Wie Hadleyburg verderbt wurde: Nebst anderen Erzählungen" präsentiert Mark Twain eine scharfsinnige Satire auf die Heuchelei und den moralischen Verfall der amerikanischen Gesellschaft im späten 19. Jahrhundert. Die Hauptgeschichte um das angeblich moralisch überlegene Hadleyburg, das durch eine falsche Identität und Gier zum Fall gebracht wird, illustriert Twains typischen Humor und seinen scharfen Blick für menschliche Schwächen. Der Autor verwendet eine prägnante, bildreiche Sprache, um die Absurditäten des Lebens und die Konfrontation zwischen Idealen und Wirklichkeit zu beleuchten, wodurch die Erzählungen sowohl unterhaltsam als auch tiefgründig sind.

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Mark Twain

Wie Hadleyburg verderbt wurde: Nebst anderen Erzählungen

Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2022
EAN 4064066436247

Inhaltsverzeichnis

I.
II.
III.
IV.
Das Gesundbeten.
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
Die Verschwörung von Fort Trumbull.
Aus den ›London Times‹ von 1904
I. Bericht der ›London Times‹.
II. Korrespondenz der ›London Times‹.
III. Korrespondenz der ›London Times‹.
Das Todeslos.
Zwei kleine Geschichten.
Erste Geschichte: Der Mann mit einer Mitteilung an den Generaldirektor.
Zweite Geschichte: Wie sich der Kesselflicker beim Sultan Gehör verschaffte.
Schluß der ersten Erzählung.

I.

Inhaltsverzeichnis

Vor vielen, vielen Jahren war Hadleyburg in der ganzen Gegend wegen seiner Rechtschaffenheit allgemein bekannt. Es hatte sich diesen Ruhm, der seinen größten Stolz ausmachte, schon seit drei Generationen unbefleckt erhalten. Damit der Stadt nun auch in Zukunft nichts davon verloren ginge, war man eifrig bemüht, bereits dem Säugling in der Wiege feste Grundsätze der Ehrlichkeit in Handel und Wandel einzuflößen und die ganze spätere Erziehung der Kinder auf solchen Lehren weiterzubauen. Man sorgte vor allem dafür, daß ihnen während der Entwickelungsjahre jede Versuchung fern gehalten wurde, damit die redliche Gesinnung Zeit hätte, sich zu befestigen und ihnen sozusagen in Mark und Knochen überzugehen. Alle Nachbarstädte waren eifersüchtig, weil Hadleyburg sie an Rechtschaffenheit weit übertraf, und spotteten darüber, daß es sich auf seinen Ruf so viel einbildete. Aber trotzdem konnten sie nicht umhin, anzuerkennen, daß in der Stadt wirklich die unbestechlichste Redlichkeit herrschte, ja sie mußten sogar zugeben, daß es für jeden jungen Mann, der aus Hadleyburg stammte, keiner andern Empfehlung bedurfte, wenn er seinen Geburtsort verließ, um sich auswärts eine Vertrauensstellung zu suchen.

Einmal hatte die Stadt jedoch im Laufe der Zeit das Unglück gehabt, einem durchreisenden Fremden eine – vielleicht ganz absichtslose – Kränkung zuzufügen. Die Hadleyburger machten sich natürlich keinen Kummer über so etwas, denn sie waren sich selbst genug und das Urteil fremder Leute ließ sie völlig gleichgültig. Dennoch hätten sie klüger gethan, sich diesen Fall mehr zu Herzen zu nehmen, weil der Beleidigte ein verbitterter Mensch von rachsüchtiger Gemütsart war. Ein ganzes Jahr lang dachte er auf allen seinen Wanderungen nur an die erlittene Kränkung und benutzte jeden freien Augenblick, um auf ein Mittel zu sinnen, wie er sich volle Genugthuung verschaffen könne. Ihm fiel mancher gute Plan ein, aber keiner, der ihn ganz befriedigte. Das alles hätte nur eine mehr oder minder große Zahl der Bewohner geschädigt, und er wollte etwas ausfindig machen, wobei die ganze Stadt in Mitleidenschaft gezogen würde und auch nicht ein einziger Mensch mit heiler Haut davon käme. Endlich geriet er auf einen glücklichen Gedanken und helle Schadenfreude blitzte ihm aus den Augen, als der Plan ihm durch den Kopf fuhr. Sofort stand sein Entschluß fest: »Ja, so will ich’s machen,« sagte er bei sich; »ich will die Stadt verführen und verderben.«

Ein halbes Jahr war vergangen, da fuhr der Fremde eines Abends gegen zehn Uhr vor dem Hause des alten Bankkassierers in Hadleyburg vor. Er holte einen Sack aus seinem Einspänner, lud ihn auf die Schulter und schwankte unter der Last über den Hof bis zur Hausthür, wo er anklopfte. »Herein!« rief eine Frauenstimme. Der Fremde betrat das Wohnzimmer, stellte den Sack hinter den Ofen und wandte sich dann in höflichem Ton an die alte Dame, die, in ihrem Missionsblatt lesend, bei der Lampe saß:

»Ich will Sie nicht stören; behalten Sie, bitte, Platz, Madame. So, jetzt habe ich den Sack so gut wie möglich verborgen; kein Mensch würde etwas davon merken. Könnte ich wohl Ihren Mann einen Augenblick sprechen?«

»Nein; er ist nach Brixton gefahren und wird schwerlich vor morgen früh heimkehren.«

»So? – Nun, das schadet weiter nichts. Ich wollte ihm nur diesen Sack übergeben, mit der Bitte, ihn seinem rechtmäßigen Eigentümer zuzustellen, sobald derselbe sich findet. Ich bin hier fremd und Ihr Mann kennt mich nicht. Auf meiner Durchreise wünschte ich, diese Sache, welche mir schon lange am Herzen liegt, ein für allemal zu erledigen. Das ist jetzt geschehen, und ich kann stolz und zufrieden weiterziehen. An dem Sack ist ein Zettel befestigt, aus dem Sie alles Nähere erfahren werden. Gute Nacht, Madame!«

Die alte Dame war froh, als der geheimnisvolle Fremde wieder fortging, denn sie fürchtete sich vor dem großen, starken Mann. Doch konnte sie ihre Neugierde nicht lange bezähmen; sie band das Papier von dem Sack los und begann zu lesen:

»Sie haben die Wahl, ob Sie dies veröffentlichen, oder auf privatem Wege Erkundigungen nach dem richtigen Manne einziehen wollen; eins ist so gut wie das andere. – Der Sack enthält Goldmünzen im Gewicht von einhundertsechzig Pfund vier Loth–«

»Ums Himmels willen – und die Thür ist nicht verschlossen!«

An allen Gliedern bebend, stürzte Frau Reichard nach der Thür und drehte den Schlüssel um. Dann schloß sie auch die Fensterladen und blieb mitten in der Stube in ängstlichem Sinnen stehen, ob sie nicht noch etwas für die Sicherung des Goldes und ihrer eigenen Person thun könne. Eine Weile horchte sie gespannt auf etwaige Einbrecher, dann trieb die Neugierde sie wieder zu ihrer Lampe zurück und sie las die Schrift bis ans Ende:

»Ich bin ein Ausländer und kehre jetzt in meine Heimat zurück, die ich nicht wieder zu verlassen denke. Für alles Gute, das ich unter dem Schutz des Sternbanners genossen habe, werde ich Amerika stets erkenntlich bleiben. Ganz besonderen Dank schulde ich aber einem amerikanischen Bürger und Bewohner Hadleyburgs, der mir vor etwa zwei Jahren die größte Freundlichkeit erwies. Eigentlich hat er mir sogar einen doppelten Dienst geleistet, wie ich des näheren erklären will: Ich hatte mich beim Glücksspiel zu Grunde gerichtet und kam spät abends hungrig und ohne einen Heller in der Tasche hier im Orte an. Bei Tage hätte ich mich geschämt zu betteln, aber im Dunkel der Nacht bat ich einen Herrn auf der Straße um Hilfe. Ich war an den Rechten gekommen. Er schenkte mir zwanzig Dollars und gab mir dadurch nicht nur das Leben wieder, sondern machte mich auch zum reichen Manne. Denn mit jenen zwanzig Dollars gewann ich mir ein Vermögen am Spieltisch. Zugleich aber that er eine Aeußerung, die ich bis auf den heutigen Tag nicht vergessen kann; sie hat mich zur Besinnung gebracht und mir geholfen, meine Spielerleidenschaft zu überwinden. Jetzt bin ich ganz davon geheilt. Leider habe ich keine Ahnung, wer der Mann ist, doch wünsche ich, ihn zu entdecken, denn für ihn ist dies Gold bestimmt. Er kann damit thun, was er will, es verschenken, es fortwerfen oder behalten, ganz nach Belieben. Es soll nur der Ausdruck meiner Dankbarkeit sein. Könnte ich mich längere Zeit hier aufhalten, so würde ich selbst nach ihm suchen, bis ich ihn fände; aber ich zweifle nicht, daß man es auch ohne meinen Beistand bewerkstelligen wird, und setze mein ganzes Vertrauen auf die wohlbekannte Rechtschaffenheit der Bewohner dieser Stadt. Mein Wohlthäter wird sich gewiß noch der Aeußerung erinnern, die er mir gegenüber gethan hat und sich dadurch als der richtige Mann ausweisen.

»Falls Sie vorziehen, die Nachforschung auf privatem Wege zu betreiben, brauchen Sie bloß den Inhalt dieses Schreibens demjenigen Ihrer Mitbürger kund zu thun, welcher Ihrer Ansicht nach der richtige Mann sein könnte. Sagt er dann: ›Ja, der bin ich, meine Aeußerung lautete so und so,‹ dann machen Sie die Probe: Wenn Sie den Sack öffnen, werden Sie darin einen versiegelten Umschlag finden, der die bewußte Aeußerung enthält. Stimmt dieselbe mit den Worten des Mannes überein, so kann er den Sack ohne alles weitere mitnehmen, denn er ist sicherlich der Rechte.

»Ziehen Sie aber ein öffentliches Verfahren vor, dann lassen Sie meine Zuschrift im hiesigen Tageblatt abdrucken, nebst den folgenden Bedingungen: Am dreißigsten Tage nach dem heutigen Datum soll sich der Bewerber um acht Uhr abends auf dem Rathaus einfinden und dem Herrn Pastor Burgeß (falls dieser so freundlich sein will, die Mühe zu übernehmen) ein versiegeltes Papier abgeben, welches die bewußte Aeußerung enthält. Hierauf soll Herr Burgeß die Siegel des Sacks zerbrechen, denselben öffnen und sich überzeugen, ob die Worte gleichlautend sind. Ist dies der Fall, so bitte ich ihn, meinem wiedergefundenen Wohlthäter das Gold als Beweis meiner aufrichtigen Dankbarkeit einhändigen zu wollen.«

Der Zettel hatte Frau Reichard ungewöhnlich aufgeregt – sie mußte sich niedersetzen. Bald war sie ganz in Gedanken versunken, die ihr im Kopf durcheinander schwirrten. »Was für eine sonderbare Geschichte! … Der gute Mann, der damals aufs Geratewohl so großmütig war, kann wirklich von Glück sagen! … Wenn es nur mein Eduard gewesen wäre – wir sind zwei so arme alte Leute und hätten’s gut brauchen können!…« Sie seufzte. – »Mein Mann würde einem Fremden nicht zwanzig Dollars geben, nein, sicher nicht … Leider, leider ist das außer Frage … Aber das Gold ist ja im Spiel gewonnen! Mir schaudert, wenn ich nur daran denke. Es ist Sündengeld! Das könnten wir doch nicht annehmen; nicht mit einem Finger würden wir es berühren. Schon seine bloße Nähe scheint mir eine Entwürdigung.« – Sie rückte ihren Stuhl in die äußerste Ecke … »Wenn nur Eduard käme und den Sack auf die Bank trüge. Es ist zu schrecklich, so ganz allein mit dem Gold bleiben zu müssen, ohne Schutz vor Dieben.«–

Um elf Uhr kehrte Reichard heim. »Wie freue ich mich, daß du wieder da bist,« rief ihm seine Frau entgegen. Er aber grollte: »Ich bin ganz abgehetzt und müde zum umfallen. Es ist wirklich arg, daß ich so arm bin und noch in meinem Alter diese elenden Fahrten machen muß. Fort und fort in der Tretmühle stecken bei dem lumpigsten Gehalt – Sklavenarbeit für einen andern thun, der unterdessen in Schlafrock und Pantoffeln behaglich daheim im Lehnstuhl sitzt – es ist nicht zum aushalten!«

»Du weißt wohl, Eduard, wie leid mir das thut. Aber wir haben doch unser tägliches Brot und unsern guten Namen, das ist wenigstens ein Trost.«

»Freilich, freilich, Mary, das ist die Hauptsache. Höre nur nicht auf mein Gerede. Mich hat der Aerger einen Augenblick übermannt; es hat nichts auf sich. Gieb mir einen Kuß! So, jetzt ist schon alles wieder gut; du sollst keine Klage mehr hören. Was hast du denn aber bekommen? Was ist in dem Sack?«

Nun erzählte die Frau das große Geheimnis, und ihm wurde zuerst ganz schwindelig zu Mute. Endlich sagte er:

»Der Sack ist hundertsechzig Pfund schwer. Aber Mary – das sind ja vierzigtausend Dollars – ich bitte dich – ein ganzes Vermögen, wie es kaum zehn Menschen hier am Ort besitzen. Wo ist der Zettel?«

Er überflog ihn hastig. »Das klingt ja wie ein Roman,« rief er. »Solche abenteuerlichen Begebenheiten stehen wohl in Büchern, aber im Leben sind sie mir noch nie vorgekommen.« Alle Müdigkeit war jetzt von ihm gewichen. In der besten Laune tätschelte er seiner alten Frau die Wangen.

»Denke doch nur, Mary,« scherzte er ausgelassen, »wir sind jetzt mit einemmal reiche Leute. Laß uns das Gold vergraben und die Papiere verbrennen. Wenn der Glücksspieler je wiederkommt, brauchen wir nur kaltblütig auf ihn herabzuschauen und zu sagen: ›Was reden Sie da für ungereimtes Zeug? Ich habe weder von Ihnen noch von Ihrem Goldsack je etwas gehört oder gesehen.‹ Dann würde er ein verblüfftes Gesicht machen und–«

»Höre nur jetzt auf mit deinen Späßen und schaffe das Geld fort, ehe die Diebe es holen.«

»Da hast du recht. Aber wie wollen wir’s machen – soll ich private Nachforschungen anstellen? – Nein, lieber nicht; dabei ginge alle Romantik verloren. Besser wir betreiben die Sache öffentlich. Stelle dir nur vor, was das für Aufsehen machen wird. Alle andern Städte werden uns beneiden, denn sie wissen recht gut, daß der Fremde keiner einzigen solches Vertrauen schenken würde, wie er Hadleyburg erweist. Es ist ein Haupttreffer für uns. Jetzt will ich nur schnell in die Druckerei gehen, es wird sonst zu spät.«

»Nein, nein, bleib, Eduard. Laß mich nicht allein mit dem Gold!«

Aber er war schon fort, doch nicht auf lange. Wenige Schritte von seinem Hause begegnete er dem Chefredakteur und Eigentümer des Tageblatts, gab ihm den Zettel und sagte: »Hier bringe ich Ihnen etwas Gutes, Cox, lassen Sie es einrücken!«

»Wenn noch Zeit ist, Herr Reichard; ich will sehen, ob es sich thun läßt.«

Als der Bankkassierer wieder daheim war, hatte er noch ein langes Gespräch mit seiner Frau über das wundervolle Geheimnis. Schlafen konnten sie beide nicht. Die erste zu lösende Frage, wer wohl der Bürger sein könne, der dem Fremden die zwanzig Dollars geschenkt hatte, bot keine Schwierigkeiten; sie beantworteten dieselbe wie aus einem Munde:

»Barclay Goodson.«

»Jawohl, dem sähe es ähnlich; er hätte so etwas thun können; aber sonst niemand in der ganzen Stadt.«

»Das wird dir keiner bestreiten, Eduard. Seit Goodson vor einem halben Jahr gestorben ist, haben wir hier am Ort lauter ehrliche, engherzige, selbstgerechte und geizige Bürger, wie das von jeher so war.«

»Wenigstens hat er es immer behauptet, noch bis zu seiner Todesstunde, und vor aller Ohren.«

»Deshalb konnte ihn auch niemand leiden.«

»Freilich; aber er machte sich nichts daraus. Es war wohl kein Mensch in Hadleyburg so verhaßt wie er, ausgenommen der Pastor Burgeß.«

»Burgeß – nun ja, dem geschieht es ganz recht; von dem hat sich die Gemeinde ein für allemal losgesagt. Kommt es dir nicht sonderbar vor, Eduard, daß der Fremde gerade Burgeß gewählt hat, um das Geld abzuliefern?«

»Hm – ich weiß nicht. Vielleicht kennt der Fremde den Pastor Burgeß besser als unsere Stadt ihn kennt.«

»Um so schlimmer für Burgeß.«

Reichard schien um eine Antwort verlegen und wich dem fest auf ihn gerichteten Blick seiner Frau soviel wie möglich aus. Endlich sagte er mit unsicherer Stimme:

»Weißt du, Mary, ein schlechter Mensch ist Burgeß durchaus nicht.«

Sie sah ihn mit unverhohlenem Staunen an.

»Nein, er ist nicht schlecht; du kannst mir’s glauben. Seine Unbeliebtheit gründete sich einzig und allein auf jene gewisse Sache – die damals so viel Lärm gemacht hat.«

»Ich meine doch, jene Sache genügte an und für sich vollkommen, um zu beweisen––«

»Freilich, freilich. Nur war er unschuldig daran.«

»Was redest du da für Unsinn. Kein Mensch zweifelte doch an seiner Schuld.«

»Mary – mein Wort darauf – er hatte die That nicht begangen.«

»Das glaube ich nun und nimmermehr. Woher solltest du es auch wissen?«

»Ich schäme mich, es dir einzugestehen, aber es muß heraus: Ich war der einzige Mensch, der seine Unschuld kannte; ich hätte ihn zu retten vermocht, aber – aber – du weißt ja wie aufgebracht alle Welt gegen ihn war – ich hatte nicht den Mut, mir die ganze Stadt auf den Hals zu hetzen. Zwar fühlte ich, wie erbärmlich das war; doch dem allgemeinen Haß zu trotzen ging über meine Kräfte.«

Mary schwieg eine Weile bekümmert still. Endlich stammelte sie:

»Nein, nein; das wäre nichts für dich gewesen. Man muß auch – die öffentliche Meinung – berücksichtigen – und darf nicht––« Sie war vom geraden Weg abgekommen und in den Sumpf geraten. Nach einer Weile begann sie von neuem: »Freilich, er thut einem leid – aber – Nein, wirklich, Eduard, das hätten wir nicht auf uns nehmen können. Ich wäre trostlos gewesen, hättest du es gethan.«

»Ich würde einer Menge Leute vor den Kopf gestoßen haben, Mary, – sie hätten uns ihr Wohlwollen entzogen, und – und–«

»Es liegt mir nur schwer auf dem Herzen, was Burgeß selbst wohl von uns denken mag, Eduard.«

»O, er ahnt nicht, daß ich um seine Unschuld weiß.«

»Wirklich? Das ist mir eine große Erleichterung. Sonst würde er doch – nein, das ändert die Sache gewaltig. – Ich hätte mir’s übrigens denken können, daß er keine Ahnung hat; würde er uns sonst wohl bei jeder Gelegenheit so freundlich begegnen, ohne die geringste Aufmunterung von unserer Seite? Oefters haben mich die Leute schon deswegen verspottet. Die Wilsons, Harkneß und Wilcox machen sich förmlich ein Vergnügen daraus, mit mir von ›meinem Freund Burgeß‹ zu reden, weil sie wissen, wie mich das in Harnisch bringt. Wenn er nur aufhören wollte, uns mit seiner besonderen Zuneigung zu beehren! Ich begreife gar nicht, was ihn dazu treibt.«

»Das will ich dir auch bekennen; bis jetzt habe ich’s selbst vor dir geheim gehalten: Als das Ding zuerst ruchbar wurde und alle so entrüstet waren, daß man beschloß, Lynchjustiz an ihm zu üben, quälte mich mein Gewissen so sehr, daß ich’s nicht länger aushielt. Ich warnte ihn insgeheim, so daß er die Stadt noch rechtzeitig verlassen konnte; erst als ihm keine Gefahr mehr drohte, kam er zurück.«

»O Eduard! Wenn die Leute dahinter gekommen wären!«

»Schweig still! Mir läuft noch jetzt die Gänsehaut über, wenn ich nur daran denke. Es reute mich auch gleich nachher; nicht einmal dir wagte ich es zu sagen, weil ich fürchtete, man möchte es deinem Gesicht ansehen. Vor lauter Angst schloß ich die ganze Nacht kein Auge zu. Aber niemand hegte Argwohn gegen mich; schon nach einigen Tagen wurde ich ruhiger, und später freute ich mich ordentlich, es gethan zu haben. Ja ich bin noch heute von ganzer Seele froh darüber.«

»Ich auch, Eduard. Es wäre gar zu entsetzlich gewesen. Du warst ihm das wirklich schuldig. – Wie aber, wenn es eines Tages doch noch entdeckt würde? was dann?«

»Das ist ganz ausgeschlossen.«

»Wieso?«

»Weil jedermann denkt, Goodson hätte Burgeß gewarnt.«

»Das lag sehr nahe.«

»Natürlich. Und er machte sich nichts aus dem falschen Verdacht. Der arme alte Salsberg wurde zu ihm hinübergeschickt, ihn der That zu beschuldigen. Goodson musterte ihn eine Weile mit unaussprechlicher Verachtung von Kopf bis zu Fuß. ›So?‹ sagte er dann, ›Sie stellen wohl die Untersuchungskommission vor?‹ ›Jawohl,‹ erwiderte Salsberg und warf sich in die Brust. ›Hm! Wünschen die Herren etwa alle Einzelheiten zu wissen, oder würde ihnen eine allgemeine Antwort genügen?‹ ›Geben Sie mir nur eine allgemeine Antwort, Herr Goodson; falls Einzelheiten verlangt werden, will ich wiederkommen.‹ ›Sehr wohl; so sagen Sie den Herren nur – sie sollen sich zur Hölle scheren – das wird wohl allgemein verständlich sein. Ihnen, Salsberg, möchte ich aber obendrein den Rat geben, wenn Sie wiederkommen gleich einen Korb mitzubringen, um die Ueberreste aufzulesen, die noch von Ihnen vorhanden sein könnten.‹«

»Das sieht Goodson ganz ähnlich; man würde ihn gleich daran erkennen. Allen Leuten guten Rat zu erteilen war seine einzige Schwäche; er glaubte das besser zu verstehen als jeder andere.«

»Es war unsere Rettung, Mary. Die Sache hatte damit ihr Bewenden; man ließ sie ein für allemal ruhen.«

»Du meine Güte, das verstand sich wohl von selbst.«–

Sie kamen nun wieder mit großem Eifer auf den Geldsack zu sprechen. Bald entstanden jedoch Pausen in ihrer Unterhaltung, weil einmal der Mann, einmal die Frau in tiefes Schweigen versank. Immer längere Unterbrechungen des Gesprächs traten ein, bis Reichard sich endlich ganz seinen Gedanken überließ. Lange starrte er wie abwesend auf den Fußboden, dann machte er mit den Händen allerlei nervöse Bewegungen, die seinen geheimen Aerger verrieten. Auch die Frau sprach kein Wort, doch zeugten ihre Gebärden von großem Unbehagen. Zuletzt stand Reichard auf, ging wie ein Nachtwandler, der böse Träume hat, ziellos im Zimmer hin und her und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Plötzlich schien er einen Entschluß zu fassen; stumm griff er nach seinem Hut und schritt eilig zur Thür hinaus. Seine Frau saß indessen da und brütete vor sich hin, ohne auch nur zu merken, daß sie allein war. Von Zeit zu Zeit bewegte sie die Lippen: »Führe uns nicht in Ver… aber ach, wir sind so arm! Führe uns nicht … Wem würde es denn Schaden bringen? – Kein Mensch hätte es je erfahren … Führe uns…« sie murmelte nur noch unverständliche Laute. Nach einer Weile sah sie auf; Schrecken und Freude zugleich malten sich in ihren Zügen.

»Er ist fort,« rief sie. »Aber ach, vielleicht kommt er zu spät – zu spät … Doch wäre es ja möglich, daß er noch zur Zeit…« Sie erhob sich, preßte die Hände krampfhaft ineinander, und während ihr ein Schauer durch alle Glieder lief, sagte sie stöhnend: »Verzeih mir’s Gott – das sind schreckliche Gedanken – aber … was hilft’s – wir sind doch nun einmal schwache Geschöpfe!«

Sie drehte die Lampe herunter, lief verstohlen zu dem Sack hin, kniete sich auf den Boden, befühlte ihn von allen Seiten und strich liebkosend mit der Hand über jede unebene Stelle. Ihre alten Augen schwelgten förmlich in dem Anblick. Von Zeit zu Zeit erwachte sie wie aus einem Traum und murmelte vor sich hin: »Wenn wir doch gewartet hätten – nur eine kleine Weile, statt die Sache so zu überstürzen!«

Cox, der Tagblattbesitzer, war inzwischen aus dem Bureau nach Hause gegangen und hatte seiner Frau alles erzählt, was sich Wunderbares zugetragen. Sie besprachen das Ereignis aufs lebhafteste und kamen überein, daß keiner ihrer Mitbürger, außer dem verstorbenen Goodson, großmütig genug wäre, um einem armen Fremdling zwanzig Dollars zu schenken. Doch bald entstand eine Stille; beide Ehegatten blickten nachdenklich zu Boden; gleich darauf wurden sie unruhig und aufgeregt; endlich murmelte die Frau wie im Selbstgespräch: »Niemand weiß um dies Geheimnis, außer die Reichards und wir … kein einziger Mensch.«

Cox schreckte aus seinen Gedanken auf, sah seine Frau, die ganz blaß geworden war, verständnisvoll an, stand zögernd auf, blickte verstohlen bald auf seinen Hut, bald nach seiner Ehehälfte – eine stumme Frage. Frau Cox schluckte ein paarmal und räusperte sich, dann nickte sie leise mit dem Kopf. Im nächsten Augenblick war sie allein im Zimmer und die Hausthür fiel klirrend ins Schloß.

Von zwei entgegengesetzten Richtungen eilten jetzt Reichard und Cox durch die menschenleeren Straßen. Ganz außer Atem kamen sie gleichzeitig an der Treppe zur Druckerei an und schauten einander beim Laternenschein ins Gesicht.

»Weiß außer uns niemand etwas davon?« fragte Cox im Flüsterton.

»Keine Menschenseele, auf Ehrenwort,« gab der andere leise zurück. »Vielleicht ist es noch nicht zu spät, um––«

Eben schickten sich die Männer an hinaufzusteigen, als ein Junge zu ihnen trat.

»Bist du das, Johann?«

»Ja, Herr Cox.«

»Du brauchst die Morgenpost noch nicht wegzuschicken. Laß alles liegen, bis ich’s dir sage.«

»Die Postsachen sind schon fort.«

»Schon fort?« Es klang unsagbare Enttäuschung aus den Worten.

»Ja. Der neue Fahrtenplan für Brixton und Umgegend ist heute ausgegeben worden. Die Zeitungen mußten eine Viertelstunde früher auf der Bahn sein. Ich bin gelaufen was ich konnte; wäre ich zwei Minuten später dagewesen, so––«

Die Herren entfernten sich langsam, ohne das Ende seiner Rede abzuwarten. Eine Weile schritten sie stumm nebeneinander her, endlich sagte Cox ärgerlich:

»Was hat Sie nur geplagt, die Sache so zu übereilen. Es ist mir vollkommen unbegreiflich.«

Reichard war ganz betreten. »Jetzt sehe ich’s freilich ein,« sagte er; »vorher hätte ich mir’s gar nicht überlegt, bis es zu spät war. Das nächste Mal will ich gewiß––«

»Das nächste Mal,« hohnlachte Cox. »So was kommt in tausend Jahren nicht wieder!«

Die Freunde trennten sich ohne Gruß und schleppten sich mühselig nach Hause, als hätte sie ein schwerer Schicksalsschlag getroffen. In atemloser Spannung warteten die Frauen daheim; sie lasen den Eintretenden die Entscheidung vom Gesicht ab, es bedurfte keiner Worte. Nun folgte in beiden Häusern eine sehr heftige, wenig freundliche Erörterung, wie sie bisher zwischen den Ehegatten noch niemals stattgefunden. Die Sache verlief hier und dort fast auf die gleiche Weise:

»Hättest du nur gewartet, Eduard,« sagte Frau Reichard; »aber nein, in deiner Gedankenlosigkeit läufst du stehenden Fußes nach der Druckerei und posaunst es in der ganzen Welt aus.«

»Auf dem Zettel stand doch, es sollte veröffentlicht werden.«

»Ach was! Es war dir freigestellt, es auch unter vier Augen abzumachen. Das kannst du doch nicht leugnen.«

»Ich weiß wohl. Aber wenn ich an das Aufsehen dachte, und wie schmeichelhaft es für Hadleyburg ist, daß ein Fremder solches Vertrauen in unsere Redlichkeit setzt–«

»Das brauchst du mir nicht noch erst lang und breit vorzuhalten. Aber, bei einigem Nachdenken hättest du dir doch sagen müssen, daß sich der rechte Mann gar nicht mehr auffinden läßt, weil er im Grabe ruht und weder Kind noch Kegel, kein einziger Verwandter von ihm am Leben ist. Hätte da das Geld nicht Leuten zu gute kommen können, die es so nötig brauchen wie wir? Kein Mensch wäre dadurch geschädigt worden, und – und–«

Thränen erstickten ihre Stimme; der Mann zerbrach sich vergebens den Kopf, womit er sie trösten könne; endlich sagte er:

»So beruhige dich doch, Mary; die Vorsehung hat es nun einmal so gefügt und deshalb muß es zu unserm Heil dienen; ja, ja, es wird wohl so am besten sein, sonst wäre es nicht geschehen.«

»Eine bequeme Ausrede, wenn man eine Dummheit begangen hat. – War es nicht ebenso gut eine Fügung des Himmels, daß das Geld gerade uns zugeschickt wurde? Und du erdreistest dich, die Absicht der Vorsehung zu durchkreuzen – mit welchem Recht, wenn ich fragen darf? Nichts als gotteslästerliche Anmaßung ist es, die einem demütigen Christenmenschen durchaus nicht zukommt.«

»Aber du weißt doch, Mary, daß die ganze Erziehung in Hadleyburg darauf ausgeht, und auch wir unser Leben lang gewöhnt waren, uns keinen Augenblick zu besinnen, wenn es sich um ein Gebot der Redlichkeit handelt; das ist uns zur zweiten Natur geworden.«

»Ja, ja doch. Man hat uns das immer und immer wieder vorgepredigt und uns von der Wiege an jede nur mögliche Versuchung aus dem Wege geräumt. Und was ist dadurch erreicht worden? Man hat eine künstliche Ehrlichkeit groß gezogen, die wie Butter an der Sonne zerrinnt, sobald sie einmal auf die Probe gestellt wird – das haben wir diese Nacht gründlich erfahren. Gott weiß, mir wäre auch nie der Schatten eines Zweifels an meiner durch und durch redlichen Gesinnung gekommen, und die erste wirkliche Versuchung wirft alle meine Grundsätze über den Haufen. Du kannst mir glauben, Eduard, mit der Redlichkeit der ganzen Stadt ist’s um kein Haar besser bestellt; sie ist gerade so fadenscheinig wie meine und deine. Die Leute hier sind engherzig und geizig, und ihre einzige Tugend, auf die sie sich so viel einbilden und deretwegen sie allenthalben berühmt sind, ist auch nicht weit her. Tritt einmal eine große Versuchung an sie heran, so wird ihr ganzer Ruhm zusammenfallen wie ein Kartenhaus – verlaß dich drauf. So – nach diesem Bekenntnis ist mir schon leichter ums Herz. Mein Leben lang habe ich der Welt etwas vorgeschwindelt, ohne es zu wissen. Mich soll niemand wieder eine redliche Frau nennen – das verbitte ich mir gehorsamst.«

»Wahrhaftig, Mary, du hast mir ganz aus der Seele gesprochen. Merkwürdig – ich hätte das nie für möglich gehalten!«

Sie schwiegen lange still; beide waren mit ihren Gedanken beschäftigt. Endlich schaute die Frau auf.

»Ich weiß, woran du denkst, Eduard.«

Reichard machte ein verlegenes Gesicht. »Fast schäme ich mich, es dir einzugestehen, Mary.«

»Laß gut sein, Eduard; mir geht dieselbe Frage im Kopf herum.«

»Wirklich? Und die wäre?«

»Du hast gedacht: ›Wenn unsereins doch nur erraten könnte, was das für eine Aeußerung war, die Goodson dem Fremden gegenüber gethan hat.‹«

»Ja, ich will’s nicht leugnen. Es ist eine Sünde und Schande. Schämst du dich nicht auch?«

»Nein, ich bin darüber hinaus. Aber laß uns die Sicherheitskette vorhängen. Wir sind für den Sack verantwortlich, bis er morgen früh in das Bankgewölbe geschafft werden kann. – Du liebe Zeit – hätten wir nur nicht die Thorheit begangen!«

Während der Mann die Thür fest verwahrte, sagte Mary:

»Wer doch wüßte, was das ›Sesam, thu’ dich auf‹ ist. Wie kann nur die Aeußerung gelautet haben? – Aber komm, laß uns zu Bette gehen.«

»Und einschlafen?«

»Nein, nachdenken.«

»Ja, das wollen wir.«–

Das Ehepaar Cox hatte unterdessen seinen Wortwechsel, der mit einer Versöhnung schloß, gleichfalls zu Ende geführt und sich zur Ruhe begeben. Doch der Schlaf floh auch ihr Lager. Unruhig wälzten sie sich hin und her und zermarterten sich das Hirn, was Goodson dem verarmten Fremden wohl gesagt haben möchte. Was für goldene Worte mußten das doch gewesen sein – sie waren ja vierzigtausend Dollars wert!–

An jenem Abend blieb das städtische Telegraphenamt länger offen als sonst und zwar aus guten Gründen: Der bei Coxens Zeitung angestellte Faktor war zugleich offizieller Berichterstatter für die Vereinigte Presse der Union. Im gewöhnlichen Lauf der Dinge war dies ein bloßes Ehrenamt, das er bekleidete, denn mehr als viermal im Jahr brachte er keine Depesche zusammen, die als verwendbar angenommen wurde. Doch heute verhielt sich die Sache anders. Auf das Telegramm, in welchem er die große Begebenheit meldete, war eine umgehende Antwort erfolgt:

»Telegraphieren Sie die ganze Geschichte mit allen Einzelheiten – zwölfhundert Wörter.«

Ein riesiger Auftrag! Aber der Faktor führte ihn aus und war über die Maßen stolz auf seine Leistung. Schon am nächsten Morgen zur Frühstückszeit war in ganz Amerika, von Montreal bis zum Golf von Mexico, und von der Gletscherwelt Alaskas bis zu Floridas Orangenhainen nur Hadleyburg und seine unbestechliche Redlichkeit auf aller Lippen. Viele Millionen Menschen sprachen von dem Fremden und seinem Goldsack; man stritt hin und her, ob sich der rechte Mann wohl finden würde, und wartete gespannt auf weitere Nachricht, die hoffentlich in kürzester Frist eintreffen würde.

II.

Inhaltsverzeichnis