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Birgit lebt glücklich und zufrieden mit ihrem Mann Tom und den beiden Kindern in einem Haus am Starnberger See. Dort taucht plötzlich ihre Schwester Kira wieder auf – Kira, die Rebellin, die Weltenbummlerin, die auf Ibiza lebt und die sie seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hat. Auf einmal beginnt Birgit ihr bisheriges Leben in Frage zu stellen: Hat sie wirklich die richtige Entscheidung getroffen, als sie eine bürgerliche Existenz mit Familie und Wohlstand wählte? Gibt es da nicht auch noch etwas anderes? Kira dagegen kann nicht vergessen, was in jener Nacht vor zwanzig Jahren geschah, als sie den Geliebten verlor und ihr Leben zerstört wurde – von ihrer Schwester …
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Seitenzahl: 438
Nicole Walter
Wie Sonne und Mond
Roman
Knaur e-books
Für Emmi, Ernst-Manfred und Milena
Jeder Mensch ist ein Mond und hat eine dunkle Seite, die er niemandem zeigt.
Mark Twain
Zwei Schwestern – nichts Schöneres kennt die Welt.
Kein Band im Leben hält fester,
wenn die eine zur anderen hält.
Unbekannt
Einfach verschwinden. Zwischen blühenden Kräutern, Rosmarin und den Sternen der Cistaceen. Aufgehen im weiß glühenden Licht der Morgensonne oder untergehen mit dem Abendlicht. Zuerst langsam, dann schnell. Versinken im Meer. Irgendwo am Horizont. Vergehen. Ein gutes Gefühl.
Das Stimmengewirr auf dem Hippiemarkt von Las Dalias wurde zum monotonen Sound. Wie das rhythmische Trommeln am Strand. Jeden Sonntag bei Vollmond.
Kira betrachtete das sich leicht bewegende Weinlaub. Wie eine grüne Plane über den Markt gespannt, über bunte Stände mit selbstgefertigtem Schmuck, Keramik, Lederwaren und Flower-Power-Klamotten, selbstgeschneidert, unter freiem Himmel, auf ratternden Nähmaschinen. Auch Kira hatte selbst genäht, was sie trug. Das Trägertop und die Lammfellweste. Die Jeans war von Sascha. Enger gemacht. Dazu viel Silberschmuck um Hals und Handgelenke. Kira nähte leidenschaftlich gern. Liebte den Augenblick, in dem sie ganz in dem ratternden Auf und Ab der Nadel versank, im leisen Knistern des Stoffes, dem meditativen Treten des Fußpedals der uralten Singer-Nähmaschine. Vor allem im Winter. Wenn es ganz still war auf Ibiza. Dann wurde ihr Haar, das sie schon lange nicht mehr geschnitten hatte, zum dunklen Vorhang, schützte sie vor dem Rest und dem trostlosen Raum, in dem kein Feuer im Kamin brannte. Gemeinschaftstoilette auf dem Flur, keine Dusche, nur eine Kochnische, der Strom schon lange abgestellt, weil sie ihn nicht mehr bezahlen konnte. Wenn es besonders kalt war, trank sie einen Schluck Hierbas, Miguels selbstgebrannten Kräuterlikör. Doch meist war es tagsüber barfußwarm, und abends genügte ein Pullover.
Jetzt war es Ende Mai, und die Inselparty hatte begonnen. Seit Ostern. Zunächst während der Semana Santa mit Prozessionen reich geschmückter Heiligenfiguren, getragen von meist barfüßigen, maskierten Männern. Dann auf den Stränden und in den unzähligen Clubs.
Ein Tourist ging an ihrem Stand vorbei. »Vorsicht vor Ibiza!« stand bunt bedruckt auf seinem T-Shirt. »Zu viel davon schadet der Gesundheit.« Sein Blick glitt wie beiläufig über Kiras Gesicht. Glitt über die feine Haut, die fast schwarzen Augen, die selbst dann noch von einer eigenartigen Wehmut waren, wenn sie lachte. Diese Urgewalt von Lachen. Das ganz plötzlich kam, Kira zum Mittelpunkt machte, nur diesen einen Moment, ehe es irritiert abbrach, so als habe es sich verlaufen. Die Augen des Touristen blieben auch nicht an Kiras Mund hängen. Der groß war und mit einem kleinen Zucken mehr ausdrücken konnte als jemand, der auch noch Hände, Füße und Sprache zu Hilfe nahm. Nein, der Blick des Mannes blieb an Kiras Körper haften. Diesem festen, biegsamen, leicht gebräunten, noch fast mädchenhaften, aber sehr erotischen Körper. Dabei war Kira achtunddreißig, und das Leben hatte sich tief in sie eingegraben. Kiras Augen scheuchten den Touristen und seinen gierigen, herausfordernden Blick weg, und sie verkaufte wieder nichts von den Überbleibseln aus Saschas Leben. Keines seiner letzten Bilder und keine Bleistiftskizzen. Staffeleien, rohe Rahmen und helle Leinwände war sie längst an andere Künstler losgeworden.
Der Tourist zog weiter über den Markt, auf dem die Hippies nicht nur ihre Waren, sondern vor allem sich selbst ausstellten. Die Köpfe waren grau geworden, aber noch immer schwebten Schwaden von Räucherstäbchen über den Ständen – und mit ihnen die Sehnsucht nach Freiheit, grenzenloser Liebe und Lebenslust.
Tanit, die kleine schwarz-weiße Zottelhündin mit dem stolzen Namen der punischen Fruchtbarkeitsgöttin, leckte Kiras Hand. Sogar die wilden Hunde auf Ibiza waren friedlich. Man durfte sie nur nicht streicheln. Denn dann wurde man sie nie wieder los. So wie Sascha sie nicht wieder losgeworden war. Sascha, dieser lebenspralle Mann. Groß. Breit. Kein Hippie, trotzdem schulterlanges, graumeliertes Haar, Vollbart und zwingender Blick. Sechzehn Jahre älter als sie. Leidenschaftlich in allem, was er tat. Malen. Lieben. Sascha kochte und aß nicht nur. Er zelebrierte Sinnlichkeit, damals noch auf der Kochstelle vor seiner Finca, die Hosenbeine aufgerollt, mit den Füßen im Meer. Wie Winnetou war er über der Bucht von Cala d’Hort aufgetaucht. Nicht auf einem Pferd. Auf seiner Harley. Kira hatte im heißen Sand gelegen wie Strandgut, das zufällig genau hier an Land gespült worden war. Vor der magischen Felseninsel Es Vedrà. Sascha hatte Kira gepackt und damit den Sirenen Odysseus’ entrissen. Schon den ganzen Morgen hatten sie versucht, Kira mit ihrem Gesang in die Tiefe zu locken. An den Ort, an dem nicht nur Brieftauben ihre Orientierung verloren, sondern auch Flugzeuge und Schiffe spurlos verschwanden.
Er hatte sie auf seine Harley gesetzt und in sein Leben mitgenommen. Das nie ruhig, immer aufregend und oft exzentrisch war. Und in sein Bett. Nicht im Schlafzimmer seiner Finca, sondern unter dem zwischen Pinien gespannten Moskitonetz. Er brauchte den Himmel über sich. Mehr als jeder andere. Sonst erstickte er. Die Lichtorgie der untergehenden Sonne. Mit dem Duft von Thymian, Rosmarin, Myrte und Minze schliefen sie ein. Das war jetzt fast zwanzig Jahre her.
Nie wieder war sie so geborgen und beschützt gewesen. Drogen? Nein. Sascha hatte seine farbgewaltige Kunst und Kira Angst, noch einmal so ausgeliefert zu sein. Mit aller Macht, auf Schiffsplanken, von Männerhänden wie festgenagelt. Aber sie und Sascha tranken viel Rotwein und Hierbas bei Anita, dem legendären Hippietreff, mit seiner alten Telefonzelle und seinen in eine Holzwand eingelassenen Postfächern. Auch Sascha hatte dort immer seine Post abgeholt. Kira nicht. Sie bekam keine Post. Bis heute nicht. Auch wenn sie jetzt eine Adresse und einen eigenen Briefkasten hatte.
Kira öffnete eine Dose mit Hundefutter, stellte sie Tanit hin. Doch eine alte Frau war schneller. »Sorry«, murmelte sie, schnappte sich die Dose und tauchte unter.
»Sorry«, sagte Kira zu Tanit und kraulte sie. Hinter dem Ohr, wie sie es mochte. Gleich darauf sah sie die Engländerin wieder. Vor dem marokkanischen Teezelt. Mit ihren dicken, langen Strümpfen. Dem zerfransten, weißen Federhaar, das bis zur Hüfte reichte. Dem bunten, zerschlissenen Rock. Sie aß das Hundefutter gierig mit den Fingern, bemerkte Kira und zog den Kopf blitzartig so tief ein, dass er zwischen ihren Schultern zu verschwinden schien.
»It’s okay, Jenny, my dear«, versuchte Kira die alte Frau zu beruhigen, hielt ihr ein paar Münzen hin. Die alte Frau rührte sich nicht. Kira legte ihr das Geld behutsam in den Schoß, wandte sich ab. Ging ein paar Schritte, drehte sich noch einmal um. Genau in dem Augenblick, in dem sich der Kopf der Alten ganz langsam zwischen den Schultern hervorschraubte wie der Kopf einer Schildkröte aus ihrem Panzer. Sie steckte die Münzen schnell in ihre Rocktasche und fingerte das Hundefutter weiter hastig in sich hinein. Kira nickte leicht, als wolle sie sich selbst bestätigen. Ja, die Entscheidung, die sie heute Morgen getroffen hatte, war richtig gewesen.
Vor dem Restaurant Las Dalias hielt ein klappriger Lieferwagen. Ein junger Mann stieg aus. Offenes kariertes Hemd, Jeans, die ihm halb in den Hüften hingen und den Rand seiner weißen Unterhose freigaben.
Kira winkte ihm zu und packte zusammen, was sie auch an diesem Tag wieder nicht losgeworden war. »Hola.« Miguel küsste sie links und rechts auf die Wange. Er roch nach Salz, Wind und Zigaretten. Der rechte Schneidezahn war abgebrochen, was ihm etwas jungenhaft Verwegenes verlieh. Von der Feldarbeit muskulöse Arme. Tiefblaue Augen, kantiges Gesicht. Wie eine Schildmütze tief in die Stirn gezogenes schwarzes Haar, das sich im Nacken kräuselte. »Erst zu mir?« Sie nickte, er half ihr beim Tragen, und gleich darauf fuhren sie los.
In Sant Carles, einem Ruhe und Gelassenheit ausstrahlenden Dorf – noch immer gab es hier Anitas Bar –, bogen sie ab, wurden auf einer mit Schlaglöchern übersäten Sandpiste durchgeschüttelt und erreichten nach fünfundzwanzig Minuten Miguels Finca.
Sie hatten Sex. Wortlosen, leidenschaftlichen Sex. Miguel hatte wortlosen leidenschaftlichen Sex. Kira holte sich dabei ein schönes Bild vor Augen. Wie immer. Diesmal das Tal der Mandelbäume. Bei Vollmond. Von Blütenduft erfüllte Nachtluft. Und die Mandelbäume sahen aus, als trügen sie Schnee auf den Wipfeln.
Miguel stöhnte. Kira fühlte nichts. Wie immer. Doch es lohnte sich. Wie immer. Miguel gab ihr frisch gebackenes Brot mit, Tomaten, Gurken, ein paar frisch gelegte Eier und ein herrliches Stück Schinken. Sie musste los. Sascha wartete auf sie.
Sie wollte schon zu Miguel in den Wagen steigen, damit er sie zu Sascha zurückbrachte, doch da war sie wieder, diese innere Starre. Ich kann nicht mehr! Gott, Universum oder wer auch immer, lass es bitte endlich vorbei sein. Sascha hatte es lange verhindert, doch jetzt waren die Lockrufe der Sirenen wieder unerträglich laut.
»Kann ich bleiben, Miguel?« Er sah sie überrascht an. Darum hatte sie ihn noch nie gebeten. »Nur heute Nacht.« Ihre Stimme wurde eindringlich.
»Und Sascha?«
»Er kommt klar.« In seinen Augen blitzte es auf. Vorfreude auf noch mehr Sex.
»Ich schlafe draußen«, korrigierte sie ihn. »In der Hängematte, wenn es für dich okay ist.«
Sein Blick wurde gleichgültig. Da nichts mehr lief, schien es ihm egal zu sein, ob sie ging oder blieb. Es machte ihr nichts aus. Hauptsache, er war da, wenn sie ihn brauchte.
Sie atmete tief durch, legte sich in die Hängematte vor dem Haus, stellte sich vor, wie sie sich mit ihr immer weiter hineinschwang in den weiten Himmel mit all seinen Sternen, immer weiter, immer höher, bis sie oben hängen blieb. Von dort oben würde alles hier unten auf einmal unbedeutend sein. Man musste nur die richtige Perspektive wählen. Alles war eine Frage der richtigen Perspektive. Und wusste man nicht weiter, musste man ihn einfach wechseln, den Blickpunkt. In dieser Hinsicht war sie geübt. Ein Chamäleon.
Sie fror.
Niemand wärmte sie.
Sie begann die Sterne zu zählen.
Der Stern lag auf dem Fensterbrett. Henry glaubte fest daran, dass alle Sterne am Himmel von Kindern gebastelt und bemalt worden waren. Jetzt schmatzte er leicht, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Vielleicht träumte er vom Mann im Mond, der sich mit seinem himmlischen Bungeeseil auf das Fensterbrett schwang, den goldenen Stern mit hinaufnahm und ihn mit goldenen Reißnägeln am Firmament befestigte. Die Reißnägel waren die ganz kleinen Sterne, die Sterne, die man kaum sah, davon war Henry zutiefst überzeugt. Henry war vier.
Birgit ordnete seine blonden Locken, die wie Fragezeichen kreuz und quer standen.
Henry fragte unentwegt: »Warum ist der Himmel blau, Mama? Wieso sind Omas Haare weiß? Wie kriegen Elefanten ihre Popel aus dem Rüssel?«
Birgit liebte gern und viel. Sogar die Ameisen in ihrer Küche. Seit sie mit Henry, bäuchlings auf dem Boden liegend, beobachtet hatte, wie sich ihre Köpfchen kurz berührten, wenn die einen kamen und die anderen gingen. Ein Begrüßungskuss oder ein Informationsaustausch, wo noch Essensreste zu finden waren. So menschlich. Seither sprach sie ein kurzes Gebet, ehe sie die Ameisen mit dem Staubsauger aufsaugte. Ja, Birgit liebte gern. Aber diese Urgewalt von Liebe, wenn Henry plötzlich loslief, so schnell, dass seine Füße an seinen Po trommelten, nur um sich in ihre Arme zu werfen – diese Urgewalt von Liebe hatte sie erst durch ihn kennengelernt. Und seine, wie sollte sie es anders nennen, seine süße, ein wenig rauhe Stimme. Wenn er »guten Morgen« sagte, war es, als gehe erst mit diesem »guten Morgen« die Sonne auf.
Mit Pippa war es irgendwie anders. Birgit liebte ihre Tochter. Selbstverständlich. Aber doch, eben, irgendwie anders.
Leiser Wind trieb über den See, brachte von der Terrasse die Stimmen und das Lachen ihrer Gäste mit, legte sie neben dem Stern auf dem Fensterbrett ab. Ihre Freundin Mia und ihr Mann Rolf waren zu Besuch. Mia und Rolf waren noch nicht lang verheiratet. Knapp ein Jahr. Und jetzt wollten sie Kinder. Zwei. Mia war einundvierzig, noch immer nicht schwanger, aber Rolf war der Richtige. Ein lässiger Typ, und er gab ihr Sicherheit. Er war Gymnasiallehrer für Sport und Deutsch.
»Ich bin endlich angekommen!« Mia hatte sie aus ihrem für Birgits Begriff viel zu üppigen und viel zu weißen Brautkleid angestrahlt, und Birgit hatte etwas gefühlt. Eine winzige Irritation. Kaum wahrnehmbar. Dann war die Irritation auch schon wieder fort. Warum auch? Birgit war längst angekommen. Vor zwanzig Jahren bei Tom.
Draußen erzählte Tom seinen Lieblingswitz: »Drei Studenten unterhalten sich darüber, wer den menschlichen Körper entworfen hat. Der erste Student meint: Ein Maschinenbauer, wegen der vielen Gelenke. Der zweite: Ein Elektroinstallateur, wegen des komplizierten Gehirns und der vielen Nerven. Der dritte: Nee, Leute, das war ein Architekt. Wer sonst ist so blöd und legt das Abwassersystem mitten in den Vergnügungspark.« Gelächter. Tom sollte für Mia, Rolf und die ungeborenen Kinder das zukünftige Nest bauen. Er war Architekt, selbstständig, ein Leben immer knapp vor dem Hörsturz. Die nervliche Belastung und die Konjunkturschwankungen in seinem Job waren enorm.
Birgit dagegen hatte eindeutig Position bezogen im mütterlichen Zweifrontenkrieg. Vollzeitmutter gegen voll berufstätige Mutter. Und wehe, man wechselte die Seiten, dann war man der Outlaw vom Sandkasten. Bewusst hatte Birgit das entschieden. Dabei hatten sie und Mia zusammen studiert. Lehramt für Grundschule. Dann war Birgit am Ende der Referendarzeit schwanger geworden und aus dem Berufsleben ausgestiegen, allerdings war Lehrerin an einer Grundschule auch nicht gerade ihr Traumberuf gewesen. Mia hatte weitergemacht. Und jetzt waren sie und Rolf zwei Lehrer in ihrer künftigen Familie, mit regelmäßigem Gehalt, privater Krankenkasse und staatlichem Rentenanspruch. Toms architektonisches Lebenskonstrukt hingegen konnte ihnen jeden Augenblick um die Ohren fliegen, wenn keine Aufträge mehr kamen. Manchmal wünschte sich Birgit, sie hätte anders entschieden. Der Outlaw vom Sandkasten zu sein war nichts gegen die Weltwirtschaftskrise, die ihr so manche Schweißperle auf die Stirn getrieben hatte und immer wieder trieb. Sangen die Medien ja auch tagtäglich ihr Mantra vom Untergang des Kapitals, vor allem des Euro und damit der Welt. Aber in München wurde noch viel gebaut. Alles war gut. Auch ihre Entscheidung gegen den Beruf und für die Kinder.
Birgit küsste Henry auf die Stirn, zog seine Decke höher, damit er es ganz warm hatte. Und geborgen war. Auf keinen Fall durfte sie vergessen, den Stern mitzunehmen, ehe sie schlafen ging, und ihn in die Henry-Pippa-Kiste zu legen. Dort bewahrte sie Henrys und Pippas Kunstwerke auf. Henry würde sicher noch eine Weile kindlich kreativ sein. Pippa dagegen kam ihr manchmal vor, als habe auch sie sich mit einem Bungeeseil irgendwo aus dem Universum himmelabwärts geschwungen. Ein Alien, der sich in ihrer Familie so überhaupt nicht mehr zurechtfand. Pippa war sechzehn und vollendete gerade ihre Pubertät. Auch heute war sie auf einer Party und würde erst mit der letzten S-Bahn, kurz nach Mitternacht, nach Hause kommen. Birgit machte sich jetzt schon Sorgen. Vermutlich würde sie nie aufhören, sich Sorgen zu machen. Um ihre Kinder und manchmal auch um Tom. Arbeitete er wenig, hatte sie Angst um ihre Existenz, arbeitete er viel, hatte sie Angst um ihn. Meisterin der düsteren Gedanken. Warum konnte sie nicht einfach drauflosleben, hinein in die Zukunft. Abwarten, was kommt. Nur mal so zwischendurch. Zumindest beruhigte es den Atem.
Ein letzter Blick auf Henry mit seinem Dschungelbuch über dem Bett. Mogli, der kleine Junge, Balu, der Bär, Shirkhan, der Tiger, und der schwarze Panther Baghira. Birgit hatte sie gemalt, und sie waren laut Mia von einer Qualität, dass Birgit damit sofort einen Job als Zeichnerin in den Disneystudios ergattert hätte. Leise zog Birgit die Zimmertür hinter sich zu.
Holte den Nachtisch aus der Küche.
Trat auf die Terrasse. Vor ihr der Garten. Er reichte fast bis an den Starnberger See. Während Tom Häuser entwarf, entwarf sie, jedes Jahr neu, ihre Beete. Dieses Jahr glichen sie einem Gemälde von Claude Monet. Sie liebte den Impressionismus.
Nachtwind. Der Duft von Rosen. Die MS Starnberg machte der glutroten Mondsichel mit ihren Hunderten von Glühlämpchen Konkurrenz. Die Hängematte, in der sie nie lag, weil sie nie Zeit hatte, hing schlaff zwischen zwei Birken. Birgit stellte die Lasagneform mit dem Tiramisu ab.
»Espresso?«
Alle nickten. Eine kurze, warme Geste von Tom, dann beugte er sich wieder, mit seiner Pfeife im Mundwinkel, über seinen Entwurf für Mias und Rolfs Traumhaus. Birgit hörte nur »Raumgefüge, Grundriss, Bebauungsplan …« und schaltete ab.
Ihr Tom. Mit den Jahren weich geworden wie ein gemütliches Sofa, in das sie sich noch immer gern hineinkuschelte. Wenn sie Glück hätte beschreiben müssen, dann jetzt.
Das Telefon läutete.
Und das mit dem Glück und dem Espresso war vorerst vorbei. Auch so eine Gesetzmäßigkeit in ihrem Leben.
»Ihre Mutter ist verschwunden.«
Nein, nicht schon wieder. Sie hätte in diesem Moment aufschreien und das Telefon quer durch den Flur pfeffern mögen. Sie beherrschte sich. »Seit wann?«
»Wir haben es erst vor einer Stunde entdeckt, als die Nachtschwester noch einmal nach ihr sehen wollte.«
Verdammt. Ihre Mutter hatte Spaziergänge immer gehasst. Jetzt mit fünfundsiebzig, im Seniorenheim und an Demenz erkrankt, entwickelte sie sich zur Langstreckenläuferin. Vielleicht wollte sie einfach nur weglaufen aus dem Käfig in ihrem Kopf, in dem mittlerweile ihre ganze in sich zusammenfallende Persönlichkeit hockte. Und andere, die völlig klar waren, saßen im Rollstuhl.
Birgit erinnerte sich kaum noch daran, wie es war, frei und unbeschwert zu sein. Wann war sie es je gewesen? Zuerst die schwere Depression ihres Vaters und dann die Mutter, die sich nach seinem Tod schlicht aufgab. Nicht über Monate. Über Jahre. Birgit hatte sich um beide gekümmert, bis zur unendlichen Erschöpfung. Dazu das große Haus, in dem die ganze Familie wohnte, ihr Elternhaus, und natürlich Pippa. Und auch als Birgit vor fünf Jahren noch einmal schwanger geworden war – sie und Tom hatten die Hoffnung auf ein zweites Kind schon fast begraben gehabt –, hatte sie es weiter versucht. Noch immer wollte sie für alle da sein. Doch die Demenz ihrer Mutter wurde stetig schlimmer, und so hatte sie vor einem Jahr schweren Herzens entschieden, ihre Mutter in einer Seniorenresidenz unterzubringen.
»Bei Ihnen ist sie also nicht.« Die sonst so energische Schwester Yvonne schien resigniert. »Ist ja nur, weil sie doch ständig nach Hause will.«
Nein! Kein schlechtes Gewissen. Wieder sagte Birgit sich auf, was ihr schon zum Mantra geworden war. Sie hatte die Kinder, Tom, das Haus, den Garten, ihre ehrenamtliche Arbeit in der Kirchengemeinde. Auch wenn sie ihrem Vater kurz vor seinem tödlichen Herzinfarkt versprochen hatte – im Nachhinein kam es ihr fast so vor, als habe er sein nahes Ende geahnt –, jedenfalls hatte sie ihm versprechen müssen, dass ihre Mutter bis zum Schluss bleiben durfte. In dem Haus, für das ihre Eltern auf so vieles verzichtet hatten. Tom hatte es umgebaut, vom Kellergeschoss bis unters Dach. Nicht selten blieben Spaziergänger, die am Seeufer entlangschlenderten, stehen und träumten sich hinein. In dieses Haus, in den Wintergarten mit seinem Pflanzendschungel. Stellten sich vor, wie man hinter den großen Sprossenfenstern rund um den Erker saß und mit Blick auf den in der Morgensonne glitzernden See frühstückte, wie man am Abend bei einem Glas Rotwein auf der Terrasse saß. Natursteinfliesen aus Carrara, Oliven- und Zitronenbäume in alten Terrakottatöpfen, ein Stufenbrunnen mit verborgenem Kabel für die Steckdose. Tom hatte ihr früher unscheinbares Elternhaus zum Leuchten gebracht.
»Es ist fast Mitternacht.« Yvonne war noch immer am Telefon. »Wir müssen die Polizei einschalten.«
»Keine Polizei!« Nicht schon wieder. Bitte kein Kreisen des Polizeihubschraubers über dem See. Die Suchscheinwerfer mit der MS Starnberg und dem Mond im Lichtduell. Sie hörte schon das Getuschel. »Jeden Sonntag rennt sie in die Kirche, aber die eigene Mutter schiebt sie ab!« Alles in ihr zog sich zusammen. Das letzte Mal hatte ein S-Bahn-Schaffner ihre Mutter gefunden. Schlafend in der S6 war sie zwischen Pasing und Tutzing hin und her gefahren, hin und her. Kein Mensch hatte sich um sie gekümmert. Sorge ersetzte Birgits Zorn. Und es war, als schiebe sich etwas in ihren Hals wie ein hauchdünnes Brett. Es verhinderte, dass sie weiter tief in den Bauch hinein atmete. Der Atem blieb flach, sie bekam nicht genug Luft, hüstelte. Das Hüsteln kam in letzter Zeit oft. Zu oft. Wenn sie lachen wollte, hüstelte sie. Hüstelte, wenn sie aufgeregt war. Tief in den Bauch atmen, hatte Mia ihr geraten, und wenn sie dennoch hüstelte, solle sie ihren Kehlkopf reiben und sich sagen, sie sei für eine Veränderung bereit. Mia war ihres unerfüllten Kinderwunsches wegen jahrelang in Therapie gewesen. So viele Jahre kein passender Mann, somit keine eigenen Kinder – und dabei jeden Tag die Kinder anderer unterrichten müssen. Das war laut Krankenkasse therapiewürdig und nach Ansicht der Therapeutin hart. Kaum hatte Mia Rolf kennengelernt, hatte sie die Therapie abgebrochen. Birgit atmete tief in den Bauch. »Die Dritte Welt hat zu wenig zu essen, und wir leiden an einer Unterversorgung von Sauerstoff, weil wir zu flach atmen«, auch das hatte Mias Therapeutin gesagt. Den Kehlkopf rieb Birgit nicht.
Auf der Terrasse wurde wieder gelacht, und Birgit blieb eine Insel. In den entscheidenden Augenblicken war offenbar jeder Mensch – allein. »Natürlich Polizei.«
Das Handy läutete. Ein Blick auf das Display. Pippa! Und gleich darauf Pippas vorwurfsvolle Stimme. »Wieso ist bei euch dauernd besetzt? Die letzte S-Bahn ist futsch!«
Pippa am Handy in der einen Hand. Das Telefon mit dem Heim in der anderen. Und aus beiden Hörmuscheln wurde auf sie eingeredet. »Toooom!« Tom hörte nichts. Er hörte nie etwas, wenn er ein neues Projekt plante oder mittendrin war. Ein Mann eben. Sie hüstelte.
»Oma muss ins Heim zurück, Mama!«
»Ich lege jetzt auf, Frau Simon.« Schwester Yvonnes Stimme war nicht mehr resigniert. Sie war jetzt genervt.
»Mama, hörst du? Die kriegen sonst noch raus, dass Oma weg war. Dass ich sie abgeholt habe.«
»Frau Simon?« Wieder Schwester Yvonne.
»Ja!«
»Also, was machen wir?«
»Keine Polizei. Meine Mutter ist bei meiner Tochter. Alles ist gut!«
Nichts war gut. Birgit war stinksauer. Pippa hatte nichts als Blödsinn im Kopf. In dieser Hinsicht passten sie und ihre Großmutter seit Neuestem ganz wunderbar zusammen.
Tom blieb bei den Gästen. Birgit fuhr los, fand ihre Mutter und Pippa gut gelaunt auf einem Steg sitzen. In der Nähe der alten Bootshütten, in denen es frischen Fisch zu kaufen gab. Eine war sogar zu einem Fischrestaurant umgebaut worden. Sehr malerisch. Normalerweise, wenn Birgit Augen dafür hatte. Jetzt hatte sie nur Augen für Pippa und ihre Mutter. Die Hosenbeine hochgerollt, saßen sie da und plätscherten fröhlich mit den nackten Füßen im Starnberger See.
»Wer ist diese Frau, Pippa?« Die Stimme ihrer Mutter klang zuckersüß.
Birgit blieb das Herz stehen.
»Keine Angst, Mama, sie weiß, wer du bist. Sie ist nur sauer, weil du ihr kein Aspirin besorgt hast.«
Um ihr das heimzuzahlen, war ihre Mutter also noch fit genug im Kopf. Dabei war es eine Anordnung der Heimärztin. Die Mutter hatte von dem Zeug schon einmal Magenblutungen bekommen, weil sie es gegen ihren Ischias, den sie zelebrierte und der nur ihr allein gehörte, schluckte wie Gummibärchen. Birgit wollte sie nur beschützen, fühlte wieder diese tiefe Traurigkeit: Früher waren sie nicht nur Mutter und Tochter, sie waren auch Freundinnen gewesen. Bis sie ohne Kira aus Ibiza zurückgekehrt war. Das hatte ihr die Mutter nie verziehen. Und ihr Vater war ganz allmählich daran zerbrochen, dass von Kira nichts geblieben war als hin und wieder eine Postkarte von irgendwoher aus der Welt. »Es geht mir gut. Alles okay.« Keine Ansichtskarten. Nur Postkarten. Allein an den Poststempeln konnten sie sehen, wo sie sich gerade aufhielt. Birgit hatte versucht, ihre Schwester zu finden, als sich der Zustand ihres Vaters zusehends verschlechterte, nach seinem Tod und auch danach – immer wieder. Doch kaum schien sie Kira einen Schritt näher gekommen, kam wieder eine Postkarte aus einem ganz anderen Teil der Welt. »Es geht mir gut, alles okay!« Ob bei ihnen alles okay war, interessierte Kira nicht.
Offenbar war die Familie für sie etwas, dem man einfach einen Fußtritt verpassen konnte, wenn mal was danebenging. Aber so wirklich war nie etwas danebengegangen. Sie beide und ihre Eltern waren einfach nur Durchschnitt gewesen. Birgit verstand ihre Schwester nicht. Das heißt, sie hatte schon vor langer Zeit aufgegeben, sie zu verstehen, und dann auch irgendwann aufgehört, nach ihr zu suchen.
Kira wusste weder, dass ihre Mutter im Pflegeheim war, noch, dass ihr Vater tot war und sie mit Birgit zusammen das Elternhaus geerbt hatte. Sie hätte für den Umbau ihre Einwilligung geben müssen, aber offenbar interessierte Kira das alles nicht. Sie hatte sie abgeschüttelt wie lästige Insekten. Und dennoch befestigte ihre Mutter ihre Postkarten an der Wand ihrem Bett gegenüber. Trostlose Postkarten mit nichtssagenden Worten, eine neben der anderen. Die letzte Postkarte vor zwei Monaten kam laut Briefmarke aus Neuseeland. Die vor einem halben Jahr aus Österreich. Kira, eine Globetrotterin im Zickzackkurs. Manchmal nahm ihre Mutter eine Postkarte von der Wand, legte sie unter ihr Kopfkissen und schlief darauf ein.
Auf den Ansichtskarten mit wunderschönen Motiven, die Birgit aus dem Urlaub schrieb, schlief sie nie. Die warf ihre Mutter weg, nachdem sie sie gelesen hatte. Dabei war sie doch ihre Lieblingstochter gewesen. Birgit empfand plötzlich tiefe Sehnsucht. Nach der Zeit vor Kiras Verschwinden. Nach ihrer Mutter. Warf ihr einen Blick zu. Ihr Haar war so dünn geworden, dass die Kopfhaut rosa durchschimmerte. Sie fühlte nicht nur Sehnsucht. Sie fühlte tiefe Zärtlichkeit. Aber ihre Mutter sah weiter an ihr vorbei. Sie sah Birgit einfach nicht, schon so lange nicht mehr.
Birgit breitete ein Handtuch über den Beifahrersitz.
»Du musst nichts auf den Beifahrersitz legen, Mama. Ich hab Oma eingepackt wie ein Baby.«
»Vor wie vielen Stunden, Pippa?« Sie panzerte sich wieder mit Strenge. »Oder wart ihr irgendwo auf einer Toilette?«
Pippa und die Mutter sahen einander schuldbewusst an. Birgit legte ein Handtuch auf den Beifahrersitz, und die Mutter nahm sie endlich wahr. »Ich würde so gern mal wieder Dampfer fahren, Birgit.« Das war der Deal. Die Mutter akzeptierte das Handtuch und bekam dafür ihre Rundfahrt auf dem Starnberger See.
»Versprochen.«
Sie beschwor sich. Diesmal würde sie, musste sie ihr Versprechen halten. Egal, was kam. Sie würde mit der Mutter einen wunderschönen Tag auf dem Starnberger See verbringen, und dann würde sie Birgits nächste Ansichtskarte vielleicht sogar an die Wand neben Kiras Postkarten heften.
Sie brachten die Mutter ins Heim zurück. Ein letzter Blick, so verloren, ehe sich die Zimmertür hinter der kleinen, zarten und dennoch so mit Energie geladenen Person schloss. Birgit straffte sich. Die Mutter hatte ein Einzelzimmer, das war teuer genug.
Die Rückfahrt verlief lange schweigend. Irgendwann entschuldigte sich Pippa. »Wenn ich dich gefragt hätte, du hättest nein gesagt.«
»Weil die Verantwortung zu groß für dich ist. Oma läuft weg.«
»Nur, weil sie noch immer sucht, was sie nicht mehr hat. Aber am Wasser, da wird sie ruhig.«
Den Satz hätte Kira sagen können. Pippa hatte ihre Gene. Sprunghaft, lebenshungrig, wild und oft egozentrisch. Es gab Menschen, die sah man sofort, andere mussten erst auf sich aufmerksam machen. Um Kira kam man einfach nicht herum. Zumindest damals. Kira hätte die Ameisen auch nie aufgesaugt. Sie hätte jede einzelne behutsam aus der Küche getragen. Pippa trug jede einzelne behutsam aus der Küche, wenn sie schneller war als der Staubsauger. Birgit wurde weich.
»Schon gut, Pippa. Das nächste Mal sag aber bitte Bescheid.«
»Versprochen.«
Sie lächelten einander an. Wieder ein Moment, an dem alles vollkommen, an dem Birgit, trotz allem, glücklich war.
Die Terrasse war leer, als sie den Garten betraten.
Mia und Rolf waren gegangen.
Tom war dabei, die Küche aufzuräumen, und auch er war nachsichtig mit Pippa. So wie ihr Vater mit Kira immer nachsichtig gewesen war. »Pippa hat es nur gut gemeint.«
»Ich weiß.«
Pippa gab ihren Eltern einen schnellen Kuss auf die Wangen und verschwand in ihrem Zimmer, Tom räumte weiter die Geschirrspülmaschine ein. Mit einem System, das er immer wieder neu plante wie ein kompliziertes Bauprojekt. Höchste Effizienz auf wenig Raum. Geschirrspülmaschine war Männersache.
Sie schmiegte sich an ihn.
Er hielt sie fest. Begann sie zu küssen. Birgit vergaß, dass sie sich zu dick fühlte. Zu blond. Zu farblos. Zu klein. In Toms Armen war sie schön. Sie ließen Küche Küche sein, gingen ins Bett, schliefen miteinander. Als hätten ihre Lippen und ihre Körper die letzten Stunden nur sehnsüchtig aufeinander gewartet. Und das nach so vielen Jahren. Ein Geschenk. Eine ganze Weile lagen sie noch da. Ineinander geborgen, warm und sicher. So sicher. Danach zogen sie sich wieder an. Fast synchron schlüpften sie in die Schlafanzughosen. Fast synchron knöpften sie die Schlafanzugjacken zu. Zogen das Betttuch wieder glatt. Jeder auf seiner Seite. Klopften ihre Kissen, schüttelten die Bettdecken zurecht. Schwangen sich gleichzeitig ins Bett. Drehten einander gleichzeitig die Köpfe zu. Kuss. Während Tom auf dem Rücken liegen blieb, rollte sich Birgit auf den Bauch. Etwas in ihrer rechten Brust tat weh. Sie würde ihre Gynäkologin bei der nächsten Vorsorgeuntersuchung darauf hinweisen müssen. Sie entlastete die rechte Brust, nahm ihren Roman. Tom seine Fachbroschüre Bauwesen und Architektur. Las exakt ein Kapitel. Fast gleichzeitig knipsten sie ihre Nachttischlampen aus. Es war das dritte Mal innerhalb weniger Stunden, an dem alles vollkommen war. Sie war eine glückliche Frau, und die Küche würde sie gleich morgen früh fertig aufräumen.
Birgit ist auf einem Schiff. Trägt Uniform, kümmert sich aufmerksam um die Gäste an Bord. Ein Windstoß. Er packt sie und lässt sie fallen. Mitten ins Wasser. Eine Haifischflosse taucht auf. Ihr Schiff ist weit fort. Sie hat Angst vor Haifischen. Panik. Bis sie erkennt, dass die Haifischflosse verkehrt herum ist. Und es ist auch keine Haifischflosse, sondern der Kiel eines Segelboots. Also nichts, das sie tötet. Etwas, das sie rettet und sicher trägt – aber nicht nur auf diesem Wasser, von dem sie erkennt, dass es ein See ist. Sie muss weiter, hinaus auf den Ozean. Sie muss hinaus in die Freiheit …
Schluchzen. Sie fuhr auf. Tom hatte sich im Schlaf von ihr weggedreht. Und sein Kopf kämpfte seinen immerwährenden Kampf mit den viel zu vielen Kissen, die er Nacht für Nacht um sich herum aufbaute. Ein Blick auf die Uhr. Es war kurz nach drei Uhr morgens. Birgit horchte. Das Schluchzen kam aus Henrys Zimmer, und jetzt hörte sie auch ein verzweifeltes »Mama!«. Sofort war sie bei ihm. Henry saß aufrecht in seinem Bett. Tränen liefen ihm übers Gesicht.
»Was ist denn, mein Schatz?« Sie fühlte seine Stirn. Sie war heiß. »Geht’s dir nicht gut?«
»Der Himmel mag ihn nicht.« Jetzt sah sie den Stern in seiner Hand, mit seinen schiefen, leicht beschwipst wirkenden Zacken.
Siedend heiß fiel es Birgit ein. In der ganzen Aufregung um ihre Mutter hatte sie vergessen, den Stern vom Fensterbrett zu holen und in die Kiste zu legen.
Birgit beruhigte Henry. Er müsse den Sternenboten nur ein wenig Zeit lassen. Wiegte ihn in den Schlaf. Nahm den Stern mit. Legte ihn in die Henry-Pippa-Kiste. Hatte plötzlich ein Foto von Pippa in der Hand. Sie war ungefähr sechs Jahre alt und saß mit einer Blumenkrone aus Gänseblümchen im Haar auf einer blühenden Wiese. Birgit hatte die Krone für sie geflochten. Pippa war viel zu ungeduldig dafür. Die Stengel rissen, und sie brüllte los. Plötzlich – lag es an dem noch fahlen Licht der Morgendämmerung oder an der Uhrzeit? – wurde das Foto lebendig. Aber es war nicht mehr Pippa, sondern Kira, für die sie eine Krone aus Gänseblümchen flocht. Birgit fühlte etwas Feuchtes auf den Wangen. Es gab keinen Tag, an dem sie nicht an ihre kleine Schwester dachte. Auch wenn Kira den ersten Liebesbrief, den Birgit von einem Jungen bekommen hatte, ins Klo hinuntergespült hatte, weil Birgit ihr nicht ihr Lieblings-T-Shirt leihen wollte.
Mit einer schnellen Geste wischte Birgit die Tränen fort, ging in die Küche. Räumte den Rest vom Abend auf. Stellte die Geschirrspülmaschine an.
Um vier Uhr morgens ertrug Kira weder Hängematte noch Kälte. Sie schlich sich ins Haus, schnappte sich Miguels Autoschlüssel und holperte gleich darauf in seinem Lieferwagen auf der alten, wenig befahrenen Schotterstraße nach Eivissa. Zum Glück traf sie auf keine Polizei. Dafür aber auf alte Bauernhäuser. Wie Geistwesen tauchten sie auf, inmitten steiniger Felder und rotbrauner Erde. Miguel würde ganz schön sauer sein. Sie hatte keinen Führerschein.
Sie parkte den Wagen im alten Hafenviertel. Die Gassen in der westlichen Dalt Vila waren nicht für den Autoverkehr gemacht. Sie waren viel zu eng und jetzt obendrein still. Totenstill. Ohne das Lachen, die Stimmen, ohne das unentwegte Klappern von High Heels. Selbst die Vierundzwanzig-Stunden-House-und-Techno-Endlosschleife von Radio Global war verstummt. Die Völkerwanderung fand um diese Uhrzeit anderswo statt, mit all den bizarren Blüten der ibizenkischen Nacht und ihrem eigenen Rhythmus. Die Freaks – schräg, sexy und ausgeflippt – stauten sich nicht mehr in der Altstadt, sondern in den Discotheken und Clubs, die nach der langen Herbst- und Winterpause fast alle wieder geöffnet hatten. Während des Tages hatten die Fremden und Einheimischen ihre durchtrainierten Körper und ihre Tattoos an den Stränden zur Schau gestellt, jetzt waren sie mittendrin in den Clubs, überhitzt und schweißnass. Körper an Körper zuckten sie im zuckenden Discolicht über die Tanzfläche, als gäbe es kein Ich mehr. Alle waren nur noch eins. In ihrer Ruhelosigkeit, dem immerwährenden Sound nachjagend, Kopf, Herz und Seele ausgeliefert an etwas, das sie verloren glaubten. Auf der Suche nach etwas, das sie nicht in ihren Hightechbüros fanden, das sie auf diese Insel trieb. Dieses Namenlose, diese unbestimmte Sehnsucht, sie waren Kira vertraut. Deshalb war auch sie mit knapp achtzehn Jahren nach Ibiza gekommen. Und ihrer großen Liebe wegen. Die große Liebe hatte sie nicht gewollt. Dafür hatte sie Sascha bekommen.
»Ich bin besoffen von dir.«
»Liebst du mich?«
»Ich bin besoffen von dir.«
Sex war sein Mantra. Und er hatte sie fast alle gehabt, die Schönen der Insel. Nach Hause gekommen war er aber immer zu ihr.
Ein einsamer Schuh lehnte an einer Hausmauer, vereinzelt wucherten Pflanzen in bunten Übertöpfen. Blühten oder waren vertrocknet, viele einfach nur grün. Die aber üppig. Daneben Wäscheständer, mit Wäsche so schlapp, als wäre sie im Tiefschlaf. Pflastersteine von unzähligen Schritten und Tritten wie verwundet, zwischen eng stehenden Häusern mit Mauern, kühl und fremd. Kira liebte diese Stunde zwischen der sich verabschiedenden Nacht und dem beginnenden Tag. Sie ging um diese Zeit oft spazieren, wenn sie nicht schlafen konnte und die inneren Dämonen sie jagten. Tanit war ihre treue Weggefährtin, und sie wartete auch jetzt, als Kira wieder um eine Ecke bog.
Geduldig mit gespitzten Ohren, Vorderpfote an Vorderpfote, saß sie vor der Treppe, die sich jetzt vom Pflaster hinaufschwang, eng und steil von Haus zu Haus. Schon bald würden Kinder zwischen den alten Mauern spielen. Noch würden sie da spielen. Aber die Immobilienhaie lauerten schon auf den letzten Teil der Dalt Vila, der noch einigermaßen bezahlbar war. Irgendwann würde das ursprüngliche Dorfleben nur noch Erinnerung und irgendwann auch daraus verschwunden sein.
Kira konnte die Miete schon jetzt nicht mehr bezahlen, und das Mitgefühl von José, ihrem Vermieter, einem herzensguten Mann, war allmählich aufgebraucht. Das fühlte sie, wenn sie ganz leise, auf Zehenspitzen, an seiner Wohnung vorbeischlich, um gleich darauf vor ihm zu stehen, weil er vor ihrer Tür auf sie wartete. Sie redete auf ihn ein. Flehte ihn an, ihr noch ein wenig Zeit zu geben. Sie würde das Geld schon auftreiben. Irgendwie. Noch gab José nach, aber was, wenn er nicht mehr nachgab? Was dann?
Inzwischen hatte auch Tanit Kira entdeckt, wusste nicht mehr, wohin mit ihrer Begeisterung, machte eine Rolle seitwärts und wieder zurück, robbte bäuchlings auf sie zu, sprang wieder auf, ihr Schwanz rotierte wie der Propeller eines Flugzeugs, gleich würde sie vor Freude abheben und mit fliegenden Ohren davonsegeln. Vielleicht war es aber auch der köstliche Schinken in Kiras Leinentasche, der sie zum Überschäumen brachte. Kira lächelte. »Okay, okay, Kleine. Hab’s dir ja versprochen.« Zumindest in Gedanken. Aber die konnte Tanit lesen. Davon war Kira überzeugt.
Sie kraulte die Hündin. Speichel tropfte aus ihrer Schnauze. Sie hatte Hunger. Wieder etwas, das sie beide verband. Eigentlich hatte Kira keine Zeit, sie musste zu Sascha, doch an diesem Morgen war nichts wie sonst. An diesem Morgen war alles anders. Oder vielleicht auch nicht? Sie wusste nicht, welcher Gedanke ihr mehr Angst einjagte. Sie setzte sich neben Tanit auf die Steinstufe, nahm das Klappmesser. Tanit hielt den Atem an, Kiras klirrende Armbänder – das einzige Geräusch zwischen den Mauern. Das Klappmesser hatte sie immer bei sich. Sicherheitshalber. Sie fuhr oft per Anhalter. Sie schnitt den Schinken in schmale Streifen. Kira kaute gründlich. Tanit schlang. Auch das Brot, das Kira brach und mit Tanit teilte.
Dieses kleine Zottelgeschöpf, das sie an ein Schachbrett erinnerte, schwarz-weiß gemustert, vom Kopf bis zu den Pfoten. Kira fragte sich, wann sie das letzte Mal so geliebt hatte. Liebe so tief und ohne Worte. Mit hinaufnehmen konnte sie Tanit nicht. Sascha war allergisch gegen Hundehaare. Und jedes Mal, wenn sie Tanit zurückließ, nahm sie die Angst mit. Dass sie wieder in der Perrera landete, der Tötungsstation. Oft genug hatte sie den kleinen Hund da schon herausgeholt. Irgendwann würde sie vielleicht nicht rechtzeitig kommen. Sie würde es nie verstehen. Die Ibizenker waren friedlich und liebenswert. War man bei ihnen zu Gast, hatte man sofort das Gefühl, zur Familie zu gehören. Fühlte sich angenommen und aufgehoben. Aber ihre Straßenhunde erschlugen, erhängten oder überfuhren sie. Erbarmungslos.
Kira packte Schinken und Brot wieder ein. Tanit beäugte sie ungläubig. Kira blieb hart.
Sascha. Ihre Augen tasteten sich die Steinstufen empor, erreichten das Haus, kletterten weiter Fenster für Fenster hinauf in den zweiten Stock. Dort war es das kleinste Fenster von allen. Und die einzige Lichtquelle für den dunklen Raum ohne Strom.
Es stand offen.
Und es war noch immer still.
Bis auf Tanits regelmäßigen Atem. Sie lag jetzt zusammengerollt auf dem Pflaster und schlief. Kira wollte sich auf Zehenspitzen davonschleichen, doch da schnellte Tanit schon hoch, saß wieder aufrecht wie ein Mahnmal und sah sie vorwurfsvoll an. Wie gern hätte Kira das Gesicht in ihrem struppigen Fell vergraben, wäre so geblieben, friedlich – für immer.
Stattdessen öffnete sie die Haustür, die in ihren Angeln knarrte und quietschte, und betrat den Ort der ungelebten Träume, wie Karel ihn nannte. Karel war Tscheche, ein alter Pianist, der in Prag auf dem Konservatorium studiert und es nicht weiter gebracht hatte als auf den Klavierhocker einer schummrigen Bar. Er spielte oft die ganze Nacht. Bach, Mozart, Chopin, Rachmaninow und wie sie alles hießen, waren Karels gelebte Träume. Heute Morgen spielte er nicht. Heute Morgen war auch im Haus alles still. Ungewöhnlich still. Oder war diese Stille nur in ihr? Eine gefährliche Stille. Ihr Herz fing an zu hämmern.
Die Atelierwohnung lag im zweiten Stock. Sascha hatte sie vor Jahren angemietet, nachdem er nicht mehr Auto fahren konnte. Damals hatte Sascha nicht nur die Finca, die für Fußgänger viel zu abseits lag, gegen fünfundzwanzig Quadratmeter eingetauscht, sondern auch den Himmel gegen das einzige Fenster. Davor hatte seine Staffelei gestanden, als er noch gemalt hatte. Jetzt malte er nicht mehr.
Irgendwo kreischte ein Hund. Ihr wurde die Kehle eng. Dann Erleichterung. Es war nicht Tanit. Sie kannte ihr Kreischen und ihr Bellen, hätte beides in jeder Lebenslage erkannt.
Der Morgen dämmerte, und der Himmel wurde blasser. Nur noch wenige Sterne hielten die Stellung.
Tief im Winter lernte ich endlich, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer lag. Sie hatte die Worte von Albert Camus an die Wand gesprüht. Gegenüber von Saschas Bett. Sie selbst schlief auf dem Boden. Auf einer Matratze.
Kira war noch nie über Nacht fort gewesen. Die Beklemmung nahm zu. Sie blieb vor der Tür stehen, die sich nicht mehr schließen ließ, seit Junkies sie vor einigen Wochen aufgebrochen hatten. Die Junkies hatten Sascha gesehen, offenbar für sie der ultimative Horrorflash, denn sie waren stante pede auf dem Absatz umgedreht und abgehauen.
Kira stieß die Tür auf.
Sah Sascha. Und es war – der ultimative Horrorflash.
Ihr Herz zog sich zusammen. Wie immer. Es roch nach Urin und Fäkalien. Wie immer, wenn sie den ganzen Tag wegblieb. Wegbleiben musste, um Geld zu verdienen, auch für das Morphium, das Sascha so dringend brauchte. Und diesmal kam auch noch die Nacht dazu.
Trotzdem – Sascha war schön, wie er so im Fastdunkel des Zimmers lag. Das lange Haar, vorzeitig weiß geworden, breitete sich wie ein Schleier um das schmale, hager gewordene Gesicht. Die Haut eines Menschen, der viel zu lange ohne Sonne gewesen war. Sascha brauchte den Himmel und sah die Sonne nicht mehr.
Normalerweise trat Kira sofort zu ihm ans Bett, strich ihm über die Wange, ordnete sein Haar, prüfte, ob alles in Ordnung war. War er oder wurde er durch ihre sanften Berührungen wach, wechselte sie ihm die Windel und wusch ihn. Stets darauf bedacht, Sascha dabei nicht in die Augen zu sehen. Und auch Sascha mied ihren Blick. Augen, Spiegel der Gedanken und der Gefühle. Ihnen auszuweichen schaffte die Distanz, die sie beide so dringend brauchten, damit Sascha zumindest noch etwas von seiner Würde bewahrte und sie selbst weitermachen konnte.
Heute brauchte sie noch einen Moment. Zog die Tür wieder zu. Stand einfach da und dachte, was sie schon tausendmal gedacht hatte. Irgendwie wäre es leichter gewesen, hätte Sascha einen Unfall mit der Harley gehabt. Er hatte es ja auch ständig herausgefordert. Sascha, der Gigant im Duell mit dem Schicksal.
Aber es war nur ein saublöder Liegestuhl, der unter ihm zusammengekracht war. Vor jetzt beinahe sieben Jahren. Dabei hatte er sich zwei Rückenwirbel angebrochen. Krankenversicherung? Nicht für Sascha, der sich für unverletzlich hielt und für unzerstörbar. Keine Krankenversicherung und damit auch kein Geld für die rettende Operation. »Mach dir keine Sorgen. Ich krieg das schon hin!« Davon war Sascha überzeugt gewesen. Und sie hatte ihm geglaubt.
Kira fuhr sich über die Augen. Irgendwo dahinter stauten sich die Tränen. Sie hätte so gern geweint. Aber etwas hielt das viele Wasser zurück, das sich über die Jahre angesammelt hatte. Ihre Seele wog nicht nur einundzwanzig Gramm. Ihre Dreieinigkeit Wissen, Sein und Liebe – manche nannten es auch Vater, Sohn und Heiliger Geist –, wer oder was auch immer in ihrer Seele saß, es drückte sie allmählich zentnerschwer zu Boden.
Manchmal, im Schlaf, verkrampften sich die Finger ihrer linken Hand. Wurden zu Klauen. Als wollten sie etwas mit aller Macht fest- oder zurückhalten. Als wüssten sie von einem Zorn tief in ihr, den sie einfach nicht fühlte. Es kostete Kira viel Kraft, die Finger wieder zu strecken. Wachte sie dabei auf, taten die Finger unschuldig, als sei nie etwas gewesen. Zurück blieb nur ein kleiner, unbedeutender Schmerz in den Fingergelenken.
Kira öffnete die Tür einen Spaltbreit.
Sascha lag noch immer da. Reglos. Dabei hatte er nach dem Unfall noch mehr trainiert, mit immer schwereren Gewichten.
»Eine starke Muskulatur. Ein starker Rücken!« Ein Mann wie er ließ sich doch nicht von einem saudummen Liegestuhl unterkriegen. Die Muskeln wuchsen, und trotzdem kam die Lähmung. Heimtückisch. Nach und nach. Bis fast gar nichts mehr ging. Jetzt konnte er nur noch den linken Arm bewegen. In den ersten Jahren hatten sie ihr noch geholfen, Sascha aus dem Bett in den Stuhl vor die Leinwand zu transportieren. Die Nachbarn, Karel, José und manchmal auch Miguel. Sascha musste malen. Er hatte noch so viel im Kopf, das raus, das er mit der ganzen Wucht explodierender Farben auf die Leinwand schleudern musste. Und – sie brauchten das Geld, das seine Bilder einbrachten. Was Kira in ihren verschiedenen Jobs verdiente, reichte nicht.
Dann wurde seine Kraft weniger, wurden die Farben blasser, und irgendwann war sein Kopf leer. Es kamen keine Bilder mehr. Es war der Augenblick, in dem Sascha zu sterben begann. Der Mann, den sie gekannt hatte, zu sterben begann … Sascha blieb fortan im Bett. Mit Blick auf einen Berg von Klopapier und Windeln.
Dazu das viele Geld für Medikamente. Und eben auch für Morphium, um die schlimmsten Schmerzen zu stillen. Kein Geld für einen Rollstuhl. Und selbst wenn, wie hätte sie Sascha die steile Treppe hinuntertransportieren sollen? Eine andere Wohnung suchen? Mit neuen Nachbarn, einem Vermieter, der nicht so viel Geduld mit ihr hatte wie José? Dafür war sie viel zu erschöpft.
Einmal hatte Miguel Sascha auf dem Rücken die steile Treppe hinunter ins Freie getragen, bis zum Hafen. In seinem Boot waren sie in eine einsame Bucht gefahren. Zuerst war es wunderschön gewesen, die Sonne, der Himmel, das Meer, doch danach war es noch schlimmer geworden. Wie ein Drogenentzug. Sascha hatte entschieden. Keine Droge mehr. Und damit auch kein Entzug. Hatte weiterhin reglos im Bett gelegen. Über sich die schmutzig graue Zimmerdecke. Um sich herum graue Wände, von denen der Putz bröckelte. Vor sich den Spruch: Tief im Winter lernte ich endlich, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer lag. Sie hatte ihn mit schwarzer Farbe gesprüht. Dabei brauchte Sascha so dringend Farben, doch mit seinen Bildern hatte Kira auch sie verkauft.
Irgendwo im Haus ein Geräusch. Sie wollte, sie konnte jetzt niemanden sehen. Ein Schritt, und sie war bei Sascha im Zimmer. Drückte die Tür fest hinter sich zu.
»Sascha?« Ihre Stimme war nicht gespielt locker wie sonst, wenn sie von Miguel kam. Diesmal schwang die Angst mit.
Sascha wusste, was sie mit Miguel tat und wofür. »Du verkaufst dich, Kira, für ’n bisschen Brot und Schinken, Mann, bist du billig.« Er suchte dann förmlich nach Worten, um sie noch tiefer zu verletzen. Wenn sie von Miguel kam, wollte er sie klein sehen, damit er wenigstens noch ein Mal der Mann war, zu dem sie aufschauen musste. Doch sie entgegnete jedes Mal nur, er sei ihr ja auch nicht immer treu gewesen. »Und wundert dich das?«, schrie er sie dann gewöhnlich an. »Bei einer Frau, die statt ner Vagina nen Eisblock zwischen den Beinen hat. Poor fucking Miguel.«
»Du weißt, warum.«
»Verdammte Scheiße, ja, ich weiß, warum.« Sascha war nicht wirklich brutal. Er war einfach nur eingesperrt in einen Körper, während der Kopf noch voller Lust war. Einmal hatte er sie gebeten, sich auszuziehen, hatte versucht, sie mit seiner linken, noch beweglichen Hand zu erregen. Er war sanft gewesen und leidenschaftlich, all das, was sich eine Frau von einem Mann wünscht. Ein Mal nur. Ein Mal fühlen, dass sie ihm nicht nur etwas vorspielte, sehen, wie sie den Kopf lustvoll nach hinten warf, ihm die Kehle bot, wie ein dem Sieger unterlegenes Tier. Stöhnend, am ganzen Körper zitternd. Und sie hatte auch verzweifelt versucht, etwas zu empfinden. Es hätte Sascha zumindest für einen Augenblick wieder lebendig, ja vielleicht sogar glücklich gemacht. Sie wollte es wirklich. Wollte ihm diesen Augenblick schenken. Aber – nichts. Sascha hatte sie nie wieder berührt, und sie hatte sich nie wieder vor ihm ausgezogen.
Sascha war so still. Der ganze Raum war erfüllt von dieser eigenartigen Stille, in der der Atem laut wird. Sie trat ans Bett. »Sascha, alles okay?«
Seine Augen waren offen, aber er reagierte nicht. Und in diesem Moment sah sie die Schachtel mit den Schlaftabletten. Normalerweise achtete sie penibel darauf, dass sie außerhalb seiner Reichweite lag. »Ich kann nicht mehr, Kira. Ich will nicht mehr.« Jeder hatte ein Recht, den Zeitpunkt seines Sterbens selbst zu bestimmen. Das war ihre feste Überzeugung. Nur was war, wenn man es selbst nicht mehr bestimmen konnte? Der Wille ebenso im Körper eingesperrt war wie die Lust? »Tu was, Kira. Ich halt die Schmerzen nicht mehr aus.«
»Ich besorg Kohle«, hatte sie ihn zu beschwichtigen versucht. Immer wieder. »Du kriegst dein Morphium.«
Gleichzeitig wusste sie, dass sie ihr Versprechen schon bald nicht mehr würde halten können. Sie hatte alles verkauft, was es zu verkaufen gab. Und Sascha wusste es auch. Möglicherweise hätte sie ja auch wieder Arbeit gefunden – zumindest als Putzfrau –, für Theke und Bar war sie schon zu alt. Und zu abgelebt für die Botschaft: Das Leben ist geil! Nur, wenn sie putzen ging, dann war Sascha noch öfter allein. Und nähen? Hippiemode war wieder in. Für den Stoff hatte sie aber keinen Cent übrig.
»Ich mach dein Leben kaputt, Kira.« Das waren die sanften, einfühlsamen Momente zwischen ihnen.
»Quatsch, ohne dich gäbe es mich schon lange nicht mehr.«
»Hilf mir.« Ihn so klein zu sehen, auf ihn hinunterschauen zu müssen, das war das Schlimmste. »Bitte, mach dem Ganzen ein Ende! Oder hau ab. Verpiss dich endlich.« Manchmal weinte er. Und das – war noch schlimmer als das Schlimmste.
Am vergangenen Morgen hatte sie es dann getan. Sie hatte die Tabletten auf seinem Nachttisch liegenlassen. Und jetzt war die Schachtel leer. Hatte sie geglaubt, sie habe sich in den vergangenen Stunden darauf vorbereitet, so hatte sie sich getäuscht. Alles in ihr tobte: Ich muss einen Arzt rufen. Nein, keinen Arzt! Und wenn er noch nicht tot war? Sie konnte ihn doch nicht einfach so sterben lassen. Nicht, wenn sie mit ihm im Zimmer war. Etwas in ihr befahl: Du musst seinen Puls fühlen, Kira! Nur, wenn sie noch etwas spürte, ein schwaches bisschen Leben, was dann? Verdammter Hurensohn, schob ihr einfach die Entscheidung zu, die er allein treffen sollte. Ihre Finger zitterten. Sei tot, Sascha! Bitte sei tot. Sie fühlte seinen Puls. Die Haut war kalt. Das war gut. Sehr gut. Legte ihm die Finger an die Schläfen. Kein Puls. Sie atmete auf. »Okay, Sascha.« Sie küsste seine Stirn. »Es ist okay.« Seine Wangen. »Endlich okay.« Küsste seine Lippen. Zuerst die Oberlippe. Dann die Unterlippe. Zart. Ganz zart. Und noch immer keine Tränen! Wo verdammt noch mal waren ihre Tränen? Küsste seine Finger. Keine Erleichterung. Küsste seine Hand. Nur Angst. Ohne Sascha. Sie konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wie es ohne ihn war.
Tief im Winter lernte ich endlich, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer lag.
»Ich liebe dich«, hatte Sascha gestern gesagt. Zum ersten Mal. Und: »Danke.« Auch das war noch nie über seine Lippen gekommen.
Kira legte die rechte Hand über seine Augen. Sein Winter hatte den Sommer besiegt. Sanft drückte sie die Augen zu. »Gute Reise, Winnetou!«
Sie spreizte die Finger zum Victoryzeichen.
War jetzt ganz ruhig.
Saß neben seinem Bett. Berührte ihn nicht. Hatte keine Schuldgefühle. Alles war gut. Endlich gut. Sprach mit ihm. »Ich hätte dir so sehr gewünscht, dass du es machst wie dieser Freak. Die Harley zerlegen, sie auf Es Vedrà zu transportieren und dich dann auf ihr vom Felsen in die Tiefe zu stürzen.«
Hätte ich noch ne Harley zerlegen können, hätte ich niemals so nen Quatsch gemacht, schwarze Prinzessin.
Winnetou und schwarze Prinzessin. Das waren sie beide gewesen. Aber dann – schnapp, und die Falle war zu. Seine Stimme, die letzten Jahre so schwach, war für einen Augenblick wieder da. Lebensprall, urgewaltig und in ihrem Kopf. Und sein Lachen. Sie hatten oft zusammen gelacht, als alles noch gut war. Die Welt um sie herum war vor Vergnügen und durch die gemeinsame Lautstärke explodiert.
Alles war wieder in ihrem Kopf. Sie und Sascha trommelnd im Vollmondlicht. Mit Fackeln im Tal der Mandelbäume, barfuß tanzend am Strand, auf der Harley, Wind im Haar, Salz auf der Haut, frei. In diesen Augenblicken so frei.
Mit der Morgendämmerung wehte die kühle Luft durch das offene Fenster. Alles war klar, frisch und ruhig.
Ich liebe dich, Kira!
Und ich, wer bin ich ohne dich?
Bin ich noch wer ohne dich?
Alle Menschen auf der Welt fangen an zu teilen. Alle Wunden nah und fern fangen an zu heilen. Menschen teilen, Wunden heilen, Knospen blühen, Nächte glühen …
Henry sang am lautesten. Allerdings hatte er ein anderes Lied erwählt als die katholische Kirchengemeinde von Weihenlinden. Nicht das Kirchenlied zur Maiandacht, Alle Knospen springen auf, sondern das Geburtstagslied aus dem Spielkreis.
»… hat Geburtstag heut, das wissen alle Leut …«, krähte er inbrünstig. Und die katholische Kirchengemeinde fuhr singend fort: »Alle Stummen hier und da fangen an zu grüßen …«»… drum sind geladen groß und klein …«, schmetterte Henry mit der Kirchengemeinde im Kanon. »Alle Mauern tot und hart werden weich und fließen …«, setzte die Kirchengemeinde unbeirrt fort. »… dass ihr euch mit uns freut …«, brüllte Henry vor Vergnügen.
Birgit versuchte verzweifelt, ihren erleuchteten Sohnemann zum Aufgeben zu bewegen. Tom grinste, und Pippa flirtete. Aber wenigstens war sie da, feierte noch den Gottesdienst mit ihrer Familie. Auch wenn es ihr weniger um die Mutter Gottes als um die Jungs in den Kirchenbänken ging. Birgit ließ Henry weiter sein Geburtstagsständchen jubilieren. Gesellte ihre Stimme zum Chor der Kirchengemeinde: »Alle Augen springen auf, fangen an zu sehen. Alle Lahmen stehen auf, fangen an zu gehen. Augen sehen, Lahme gehen, Stumme grüßen, Mauern fließen …«
Ihr fiel ein, dass man sich etwas wünschen durfte, wenn man eine Kirche zum ersten Mal betrat. Und sie war zum ersten Mal in der wunderschönen Barock- und Wallfahrtskirche Weihenlinden. In der die Welt noch im Dirndl und Trachtenanzug und somit in Ordnung war. Eine Welt, in der die Frauen noch in die Berge gingen, um für Maria Himmelfahrt