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Wie kann ich gleichzeitig Partner und Chef meines Pferdes sein? Wie zur Leitfigur für ein Instinktwesen werden, dessen Natur ihm diktiert: Gehorche keinem, der schwächer ist als Du! Die Lösung liegt allein im Verstehen und Verstanden werden. Nur wer in den Augen seines Pferdes kompetent und verlässlich erscheint, wird als Partner auf Augenhöhe akzeptiert. Wem ein Pferd vertraut, dem folgt es freiwillig. Die Voraussetzung dafür ist aber, dass wir uns selbst und unseren Entscheidungen vertrauen. In diesem außergewöhnlichen Buch teilt die Autorin Mareile Braun, Journalistin und Coaching-Expertin, ihre eigene Geschichte, die schon seit ihrer Kindheit eng mit Pferden verknüpft ist. Von ihren persönlichen Erfahrungen, ihrem breiten Sachwissen und der Expertise als pferdegestützter Coach profitieren sowohl erfahrene Reiter und langjährige Pferdebesitzer, als auch Einsteiger. So unterschiedlich die Trainingsziele, Rahmenbedingungen und Persönlichkeiten von Pferdemenschen und ihren Tieren auch sein mögen – für alle gilt: Eine gemeinsame Entwicklung funktioniert nicht ohne Empathie! Nur wer die Bedürfnisse seines Pferdes erkennt und respektiert, wird von ihm als "Natural Leader" akzeptiert. Nur wer mit seinem Pferd auf Augenhöhe kommunizieren lernt, kann ein vertrauensvolles und erfolgreiches Team mit ihm bilden. Womit die Beziehungspflege mit dem Pferd beginnt, wie das Lernen für beide Seiten aussehen kann und wo Stolpersteine und Irrtümer liegen, wird in diesem Buch anschaulich vermittelt. In einem Workbook-Teil geben Braun und Co-Autor Nico Lee Gogol anhand vieler praktischer Impulse - von Reiter-Yoga über Mentaltraining bis hin zu Bodenübungen mit dem Pferd - alltagstaugliche Anleitungen, um die Mensch-Tier-Beziehung zu stärken. Die eindrucksvollen Bilder des renommierten Pferdefotografen Jaques Toffi machen dieses Buch auch optisch zu einem außergewöhnlichen Lesegenuss.
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Seitenzahl: 308
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© eBook: 2022 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München
© Printausgabe: 2022 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München
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Projektleitung: Susanne Kronester-Ritter
Lektorat: Dr. Stefanie Gronau
Bildredaktion: Mareile Braun, Petra Ender, Natascha Klebl (Cover)
Covergestaltung: kral & kral design, Dießen am Ammersee
eBook-Herstellung: Lea Stroetmann
ISBN 978-3-96747-059-8
1. Auflage 2022
Bildnachweis
Coverabbildung: Jacques Toffi
Illustrationen: Marion Boehm/L&B Coaching, Mat Kovacic
Fotos: Jacques Toffi, Xenia Bluhm, Getty Images, Andrea Horn, Imago, Christine Jürgensen, julius-eventer, Clara Leni Kämpf, Thorsten Köhler, Stefan Lafrentz, privat, Vivien Maria Rolbiecki, Mia Takahara, Jean Toffi, Tim Voller
Syndication: www.seasons.agency
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Das vorliegende Buch wurde sorgfältig erarbeitet. Dennoch erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder Autor noch Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch vorgestellten Informationen resultieren, eine Haftung übernehmen.
Ich bin keine Pferde-Expertin. Zumindest nicht im klassischen Sinne. Ich bin ein Jedermann, nein, eine Jederfrau*, die in 40 Jahren mit diesen wundervollen Tieren viel erlebt, gelernt, aber auch jede Menge Fehler gemacht hat. Das Spezialwissen der Reitlehrer, Ausbilder, Pferdeflüsterer, Erfinder neuer Trainingsansätze oder wissenschaftlicher Forschungsmethoden, die ich für dieses Buch interviewt habe, besitze ich nicht. Dafür habe ich als Journalistin, Speakerin und pferdegestützter Coach reichlich Erfahrung im Zuhören und Fragenstellen. Kommunikation ist mein Herzensthema! Ich möchte mit meiner Arbeit und diesem Buch dazu beitragen, dass wir uns selbst und andere besser verstehen. Eine der größten Herausforderungen dabei ist es, die richtige Sprache zu finden – mit Mensch und Tier. Pferde denken und fühlen anders, aber sie wünschen sich, genau wie wir, verstanden zu werden.
In den folgenden Kapiteln erzähle ich meine persönliche Geschichte: vom Ponymädchen zum Turniertrottel, von der Reitschülerin zur Trainerin von Menschen, die sich mithilfe von Pferden weiterentwickeln möchten.Ich teile meine Erfahrungen mit dir, damit auch du dein Pferd noch besser kennen und verstehen lernen kannst. Wenn wir seine Bedürfnisse respektieren und verantwortungsvoll mit ihm umgehen, ist eine tiefe, vertrauensvolle Bindung möglich. Was du ganz konkret für deine Horse-Life-Balance tun kannst, erfährst du im Workbook-Teil, der gemeinsam mit meinem Kollegen und Co-Autor Nico Lee Gogol entstanden ist (ab >). Du findest darin unter anderem Reflexions-Übungen, Yoga-Asanas und Mentaltechniken. Mein wohl wichtigstes Learning: Entspannter Mensch, entspanntes Pferd!
Die Selbstcoaching-Tools im Workbook kannst du dir übrigens ganz einfach ausdrucken und handschriftlich bearbeiten. Alles, was du dafür tun musst, ist, den QR-Code neben der Übung einzuscannen und dir das PDF herunterzuladen. Eine genaue Anleitung findest du auch unter www.leebrown-coaching.com.
Viel Spaß beim Lesen, Lernen und Betrachten der faszinierenden Bilder von Jacques Toffi wünscht
Mareile Braun
*Zugunsten der Lesefreundlichkeit wurde im Buch auf das Gendern verzichtet.
Die Autorin wollte sich im Dunkeln anschleichen, doch ihr Pferd hat sie im Nu entdeckt: »Was tust du hier«, scheint Carinjo zu fragen.
3.10 Uhr: Es ist stockdunkel, als ich mein Fahrrad vor der Stalltür abstelle.Leise, leise, er soll mich ja nicht hören. Kein Mensch weit und breit, der Parkplatz ist wie leer gefegt. Schemenhaft zeichnen sich ein paar dunkle Pferdekörper im Sand des Paddocks ab. Als ich meinen Korb auf der Bank vor dem Zaun abstelle, heben sich zwei Köpfe. Die Herde bleibt ruhig, ich scheine keine Bedrohung darzustellen. Aus der Strohhalle ertönt ein tiefes gleichmäßiges Atmen und Prusten. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit und ich kann ein paar der Pferde erkennen. Unser Schimmel ist nicht zu sehen. Ich lasse mich auf der Bank nieder und schenke mir etwas Tee ein. Das Experiment kann beginnen.
Eine Nacht bei »ihm«. Das hatte ich schon ganz lange vor. Wollte schauen, was da vor sich geht, in seinem großen WG-Schlafzimmer mit den 29 Mitbewohnern. Wer liegt bei wem? Wer schlafwandelt herum? Kann man Pferden ansehen, wenn sie träumen? Vermutlich musste erst diese verrückte Pandemie kommen, bis sich die Idee etwas weniger verrückt angefühlt hat. Vieles hat sich in den vergangenen zwei Jahren verändert, auch mein Leben ist nicht mehr so, wie es einmal war. Umso beruhigender, dass wenigstens bei den Pferden alles beim Alten geblieben ist. Ihre Welt scheint in Ordnung. Sie machen sich keine Sorgen, fordern nichts, sie wollen einfach nur sein. Fressen, schlafen, aufeinander achtgeben – Pferde leben konsequent im Hier und Jetzt. Wir können viel von ihnen lernen.
3.25 Uhr: Ich bin enttarnt! Aus dem Nichts ist unser Schimmel aufgetaucht und starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an. Wie kann es sein, dass er mich so schnell bemerkt hat? Ich bin mir sicher, dass ich kein Geräusch von mir gegeben, mich kaum bewegt habe. Seine Ohren sind kerzengerade aufgerichtet, erwartungsvoll beginnt er mit dem Vorderhuf zu scharren. »Was tust du hier?«, scheint er zu fragen. »Ist das ein neues Spiel?« Ich reagiere nicht. Er scharrt stärker und läuft am Zaun vor mir auf und ab. »Wie, du hast mir nichts Leckeres mitgebracht?« Kopfschütteln, leises Brummeln. Es ist ganz offensichtlich sehr irritierend für ihn, dass ich mich ganz anders verhalte als sonst.
Begrüßung über den Paddockzaun hinweg. Normalerweise folgt Carinjos Zusammensein mit seinem Frauchen festen Abläufen.
Aber genau das wollte ich: unserem Pferd einmal anders begegnen. Ihn besser kennenlernen, mehr über ihn erfahren. Dazu schien diese besondere Zeit, in der wir in vielerlei Hinsicht auf uns selbst und unsere engsten Lebenskreise zurückgeworfen wurden, prädestiniert. Sechs Jahre ist Carinjo jetzt bei uns, ein Holsteiner Wallach aus einer kleinen Familienzucht in Schleswig-Holstein. Man kann sagen, es war Liebe auf den ersten Blick. Der damals Fünfjährige hat uns reichlich Nerven gekostet, aber jeder Moment, jede Herausforderung, auch jeder Rückschlag war die Zeit mit ihm wert. Selbst die härteste Prüfung, die ich mit ihm bestehen musste, hat uns rückblickend enger zusammengeschweißt: Nach einem Sturz im Wald brach ich mir einen Rückenwirbel und landete mitten in den ersten Corona-Lockdown hinein im Krankenhaus. Es gibt dazu keine besonders spektakuläre Geschichte zu erzählen, Carinjo ist einfach unglücklich über einen Baumstamm gestolpert. Ich war kurz abgelenkt und schon hatte er mich aus dem Sattel katapultiert.
Eine unglückliche Landung auf dem Hinterteil, so was ist beim Reiten leider schnell passiert. Zum Glück ist er weder mit mir durchgegangen noch hat er mich mutwillig runtergebockt. Das ist wichtig zu erwähnen, denn gebrochene Knochen lassen sich in den meisten Fällen wieder richten, ein einmal erschüttertes Vertrauen zwischen Mensch und Pferd heilt nur schwer. Nach zwei Operationen wird mein Rückgrat jetzt von einem Titangerüst gestützt, der lädierte Wirbelkörper ist durch ein zusätzliches High-Tech-Implantat verstärkt worden. »Damit haben Sie die stabilste und verlässlichste Variante«, hatte mein behandelnder Chirurg gesagt, »falls Sie vorhaben sollten, wieder in den Sattel zu steigen.« Was für eine Frage!
4.00 Uhr: Die Heuraufen öffnen sich und bis auf zwei Tiefschläfer, die in der Strohhalle liegen geblieben sind, trotten alle Pferde zur ersten Mahlzeit des Tages. Alle, außer Carinjo. Er hält Wache bei mir. Reckt den Kopf über den Zaun, macht sich groß und beäugt mich von allen Seiten. Es ist offensichtlich, dass ihn mein Nichtstun ratlos macht. Normalerweise folgt unser Beisammensein im Stall festen Abläufen: Ich betrete mit Halfter in der Hand das Paddock, rufe ihn, sein Kopf schießt empor. In freudiger Erwartung seiner Begrüßungsbanane beginnt er mit dem Vorderhuf zu scharren. Dann lässt er sich für einen Moment den Schopf von mir kraulen und trottet bereitwillig hinter mir her. Kurze Pinkelpause in der Strohhalle, noch ein Belohnungsleckerli, dann beginnen wir unsere Putz- und Kraul-Prozedur. Mähne, Schweif, sämtliche Lieblingsstriegel, zum Schluss noch ein paar Streck- und Dehnübungen. Pferde lieben Rituale. Pferdemenschen auch.
Langschläfertreffen in der Strohhalle: Hier lebt Carinjo mit seiner gemischt-geschlechtlichen Herde in einer modernen Aktivstallhaltung.
Eine der größten Aufgaben ist wohl, sein Pferd Pferd sein zu lassen. Anthropomorphismus, das Vermenschlichen tierischer Gedanken ist gerade unter Reitern weit verbreitet. Ich schließe mich da explizit ein. Wie oft habe ich mich dabei ertappt, dass ich Dinge dachte wie: »Heute wirkt er so übellaunig. Wahrscheinlich hat er schlecht geschlafen. Da ärgere ihn mal lieber nicht mit Dressur, sonst rächt er sich morgen beim Unterricht.« Richtig ist: Pferde haben Gefühle. Mehr noch, sie sind ausgesprochen gefühlsbetonte Geschöpfe. Das ist sicher einer der Gründe, warum gerade Frauen sich so von ihnen angezogen fühlen. Falsch hingegen ist die Annahme, dass Pferde Pläne schmieden, sich strategisch verhalten oder Ereignisse, die in der Vergangenheit liegen, reflektieren. Pferde sind vor allem Instinktwesen. Viele ihrer Verhaltensweisen haben wir konditioniert. Aber sie denken und fühlen anders als wir. Das Faszinierende ist, dass sich hier zwei Spezies treffen, die von Natur aus nicht dieselbe Sprache sprechen und doch den wunderbaren Wunsch nach einem innigen Kontakt entwickeln. Die Zuneigung von Pferden ist ein großes Geschenk an uns. Wenn wir uns konsequent und zuverlässig verhalten, schenken sie uns ihr Vertrauen. Deshalb ist richtig verstandene Pferdeliebe eine Lebenseinstellung. Sie besagt, dass es möglich ist, sich auch etwas vollkommen Andersartigem tief verbunden zu fühlen.
4.40 Uhr: Conrad, der Chef der Herde, nähert sich. Offenbar fragt auch er sich, was hier bei uns nicht stimmt. Normalerweise genügt eine Bewegung des Leittieres und alle anderen Pferde weichen, auch Carinjo. Aber heute bleibt unser Schimmel stehen. Als Conrad sich mit angelegten Ohren nähert, schießt Carinjo mit lautem Quieken auf ihn zu, hebt drohend den Vorderhuf und zeigt ihm die Zähne. Conrad ist sichtlich überrascht, wendet ab und stellt sich etwas abseits zu einer Gruppe Stuten. Wow! Unser Pferd hat mich gerade gegen seinen Vorgesetzten verteidigt. Sich gegen den Anführer aufzulehnen kommt einer Palastrevolution gleich. Das ist in meinem Beisein bisher noch nie vorgekommen.
Es gibt viele kleine Momente mit Pferden und manchmal ein paar ganz große. Für mich war dies einer der eindrücklichsten. Bis dahin war ich nie restlos davon überzeugt, ob mich unser Pferd eigentlich erkennt. Also so richtig, als »seinen« Menschen. Wie viele Pferdebesitzer fragte auch ich mich: Wer oder was bin ich für ihn? Futtergeber, Fellkrauler, menschliche Führmaschine? Fest steht, dass er ohne meine Tochter Mia und mich, unsere ständigen Pläne, unseren Ehrgeiz und unsere Forderungen an ihn als Sportpferd ein deutlich entspannteres Leben hätte. Und doch spielen wir offenbar eine wichtige Rolle in seinem Leben. Ob sich Pferde untereinander etwas über uns Menschen erzählen?
5.03 Uhr: Carinjo scheint sich allmählich mit der ungewohnten Situation zu arrangieren. Nach einem letzten prüfenden Blick in Richtung Conrad wendet er ab, dreht eine kleine Runde durch den Futterautomaten und kommt zu mir zurück. Er senkt seinen Kopf, kaut, leckt sich über die Lippen und atmet tief aus. Ein paar Sekunden verharrt er bewegungslos, dann schließen sich seine Augenlider. Mehrere Minuten vergehen, ich bleibe ganz still. Dann wendet er plötzlich ab, trottet gen Heuraufe und vertreibt ein rangniedrigeres Pferd mit einer einzigen Schweifbewegung. Als die Raufenzeit vorüber ist, beginnen die Pferde zu trinken und zu spielen. Einige stehen sich Schulter an Schulter gegenüber und betreiben Fellpflege, indem sie sich gegenseitig mit den Zähnen den Mähnenansatz massieren. Herdenchef Conrad führt ein größeres Grüppchen zurück in die Strohhalle, wo einige Stuten sich zu einem Nickerchen niederlassen. Es schläft sich gut, wenn der Boss einen bewacht.
Ich merke, wie auch ich müde werde, mich entspanne und tiefer atme. Es ist so friedlich hier bei den Pferden. In ihrer Gegenwart nimmt man sich selbst, ja das gesamte Menschsein, irgendwie anders wahr. Die Sonne geht auf, es wird warm werden an diesem Augusttag. Erntezeit. Unser Hof ist von Feldern umgeben, man kann das gemähte Gras riechen. Die Pferdewelt ist wie eine Insel, weit weg von der Stadt und den Zumutungen sich ständig überschlagender Ereignisse. Gerade in dieser beunruhigenden Zeit hat es etwas wohltuend Eskapistisches, mit Pferden zusammen zu sein. Draußen in der Natur, fernab des »normalen« Lebens, weg vom Stress der übrigen, von der Pandemie geschüttelten Welt. Der Umgang mit diesen besonderen Tieren ist für mich mehr denn je eine Fühlschule: mit Lektionen in Sachen Achtsamkeit, Demut und Dankbarkeit.
In der Sonne stehen und dösen: Pferde sind in der Lage, kurze Nickerchen im Stehen zu machen und dabei vollkommen zu entspannen. Eine heilsame Form der Meditation – auch für Zweibeiner.
5.23 Uhr: Carinjo döst vor mir in der Morgensonne. Ich glaube, ich bin auch kurz eingenickt. Wie schnell die Zeit hier draußen bei ihm vergeht. »Ich fahre mal eben in den Stall!« Meine Familie lacht mittlerweile, wenn ich mit diesen Worten das Haus verlasse. Sie wissen, dass frühestens in drei, vier Stunden wieder mit mir zu rechnen ist.
Carinjo und Conrad: Die Rangordnung klären und im nächsten Moment Fellpflege betreiben – für Pferde kein Widerspruch.
Der Stall ist eine Parallelwelt, in der die Uhren anders ticken. Irgendwo zwischen Paddock, Weide, Putzplatz, Sattelkammer, Reithalle, Longierzirkel und Waschbox sitzen die grauen Herren und stehlen uns die Zeit. Und wir Pferdemenschen lassen das nur allzu gern mit uns geschehen.
6.04 Uhr: In der letzten Stunde ist auf dem Paddock nichts Besonderes geschehen und gleichzeitig ganz viel. Schlafen, fressen, herumlaufen, spielen – es sind Primärbedürfnisse, mit deren Befriedigung sich eine Herde in der freien Natur in kurzen, stetig wechselnden Intervallen beschäftigt. Und der Aktivstall, in dem unser Pferd seit zwei Jahren lebt, kommt einer artgerechten,natürlichen Haltung recht nahe. Carinjo hat Tag und Nacht seine Buddies um sich, mit denen er eine manchmal harte, aber herzliche Männerfreundschaft pflegt, sowie einen auserwählten Kreis von Damen. »Seine« Stuten dürfen Seite an Seite mit ihm fressen oder in der Sonne dösen. Gerade hat sich die fünfjährige Bonnie herangewagt. Eigentlich gehört sie noch nicht zum Inner Circle seines Harems, aber in einer Herde geht es für junge oder rangniedrigere Tiere auch darum, kontinuierlich die eigene Stellung zu verbessern. Und Carinjo ist ein Gentleman. In seinem Windschatten kann man als Teenager gut chillen.
6.30 Uhr: Ich beschließe, das Setting aufzulösen und führe Carinjo am Halfter vom Paddock in den Stall. Der Hof ist mittlerweile zum Leben erwacht. Die Angestellten führen die Pferde aus den Boxen auf die Weide, zum Training in die Führmaschine oder auf kleinere Stunden-Paddocks.In einer Stallgasse wird erwartungsvoll dem nahenden Futterwagen entgegengewiehert. Bis auf eine andere Einstellerin, die die frühen Morgenstunden nutzt, um mit ihrem Pferd um den Hof herum spazieren zu gehen, hat sich noch kein Mensch der Aktivstallherde genähert. Die Pferde sind inzwischen wach und aufmerksam, der Tag liegt wie eine weiße Leinwand vor ihnen – bereit für ein neues Bild.
Ich liebe gerade diese Zeit im Stall. Wann immer es möglich ist, komme ich in den frühen Morgenstunden, denn dann herrscht hier eine friedliche Ruhe – auf der Anlage um uns herum, aber auch in mir. Unser Pferd genießt das genauso wie ich, das spüre ich deutlich. Wir stehen oft minutenlang einfach nur beieinander, mein Kopf an seinem, der Atem synchron. Es geht eine große Wärme von seinem Fell aus. Ich kenne die Stellen, an denen er sich gern berühren lässt. Sich diese Zeit füreinander zu nehmen hat etwas ungeheuer Beruhigendes. Immer öfter entscheide ich mich erst nach unserer kleinen gemeinsamen Morgenmeditation für ein Bewegungsprogramm. Zuhören ist eine der wertvollsten Lektionen, die mein Pferd mich in unseren gemeinsamen Jahren gelehrt hat.
Nur wenn Pferde sich vollkommen sicher und wohl in ihrer Herde fühlen, legen sie sich zum Schlafen flach ab. Innerhalb von Carinjos Aktivstallfamilie sind die Rollen klar verteilt.
Pferde sind Instinktwesen. Ein fairer Umgang bedeutet, ihr natürliches Verhalten zu respektieren. Wer sich eine gute Horse-Life-Balance wünscht, muss zuhören lernen.
Was wir von Pferden lernen können, ist unendlich viel wert. Viel mehr als das, was wir meinen, ihnen beibringen zu müssen. Auch nach über 40 Jahren, in denen Pferde mein Leben bereichern, entdecke ich noch Fähigkeiten, in denen sie mir weit voraus sind. Pferde sind zum Beispiel wahre Meister der Achtsamkeit und demonstrieren jeden Tag, dass es möglich ist, gleichzeitig entschlossen und gelassen zu sein. Seitdem ich sie gemeinsam mit meinem Coaching-Partner Nico Lee Gogol auch in pferdegestützte Workshops einbinde, weiß ich, wie sehr sie uns erden und spiegeln. Wenn wir uns ihnen gegenüber öffnen, geben sie uns Aufschluss über unsere verborgenen Gefühle und Denkmuster. Pferde können eine tiefe Verbundenheit schaffen – gerade auch zu uns selbst. Für mich sind sie der Schlüssel zu meinem persönlichen Lebensglück geworden, zu meiner Horse-Life-Balance.
Mein erlerntes Pferdewissen aus den frühen Kindheits- und Jugendjahren ist mit der Zeit in eine Art instinktives Wissen übergegangen. Beobachtungen, die Berichte anderer Reiter, vor allem aber die Erfahrungen im täglichen Umgang mit den Ponys, Pferden und ein paar Eseln in meinem Leben haben sich zu einer subjektiven Wahrheit verdichtet. Irgendwann weiß man, was funktioniert und was nicht, hat bestimmte Momente schon unzählige Male erlebt, kann Situationen besser einschätzen. So dachte ich zumindest. Seit der Corona-Pandemie habe ich begonnen, meine Überzeugungen zu hinterfragen, in vielen Bereichen meines Lebens. Vor allem aber wollte und musste ich genauer auf mein Zusammensein mit unserem Pferd Carinjo schauen. Meine und später auch seine Verletzung machten mir klar, dass ich noch immer recht wenig weiß – über die Spezies Equus caballus im Allgemeinen und über unseren Schimmel im Speziellen. Mit Pferden leben, und das ist mehr als eine gefühlte Wahrheit, heißt: lebenslang lernen.
Natürlich gibt es ein paar Grundsätzlichkeiten, die für alle Pferde gleichermaßen gelten, aber vieles muss man für jedes Tier individuell herausfinden. Pferde haben, genau wie wir, völlig unterschiedliche Persönlichkeiten, besondere Fähigkeiten, spezielle Vorlieben und auch die eine oder andere schrullige Macke. Carinjo ist zum Beispiel gleichzeitig ein Macker und eine Mimose, außen hart, innen zart und sensibel. Wie viele seiner Artgenossen ist er ein Meister im Verstecken körperlicher Wehwehchen. Aber dazu später mehr. Wenn man einmal um das Temperament und die Eigenheiten seines Pferdes weiß, kommt man besser mit ihm zurecht, so viel steht fest. Allerdings kann der Weg zu diesem Wissen lang und von vielen Missverständnissen gepflastert sein.
»Ancora imparo – ich lerne immer noch.«
MICHELANGELO
Wenn wir von menschlichem Instinkt und unserem instinktiven Wissen sprechen, dann hat das wenig mit dem zu tun, was die Natur Pferden mitgegeben hat. Instinkte prägen auch noch 3000 Jahre nach ihrer Domestizierung vom Wild- zum Hauspferd maßgeblich ihr Denken und Handeln. Für das Konditionieren und Erlernen bestimmter Verhaltensweisen sind wir Menschen verantwortlich. Übrigens auch für das Verhalten, das wir später als Ungehorsam empfinden. Ein fairer Umgang mit dem Pferd bedeutet immer, dass wir uns mit der ihm eigenen Natur auseinandersetzen müssen. Wenn wir unsere menschlichen Denkweisen und Kommunikationsformen auf das Pferd übertragen und sein Verhalten entsprechend interpretieren, kommt es zwangsläufig zu Fehldeutungen. Gelingt es uns hingegen, die Sprache der Pferde zu verstehen und sie mit ihren ureigenen Bedürfnissen wahrzunehmen, sind sie auch gern mit uns zusammen und folgen bereitwillig unseren Wünschen.
Wenn ich heute von meiner persönlichen Horse-Life-Balance spreche, dann meine ich damit nicht nur die entspannten Stunden im Stall. Vor allem geht es mir um die zahlreichen Lektionen, die die Pferde meines Lebens mich gelehrt haben. Ich musste einige Überzeugungen ablegen, Perspektivwechsel wagen und mich selbst immer wieder infrage stellen, bis ich die »Life Hacks« der Pferde als wertvollen Wissensschatz begreifen konnte:
Instinktive Überlebensstrategie Nr. 1: Energie sparen. Pferde fressen lieber gemeinsam, statt sich gegenseitig Stress zu machen.
Es ist wahrscheinlich die wichtigste Eigenschaft in der Natur der Pferde und hat dafür gesorgt, dass ihre Art seit Millionen von Jahren existiert: das Bedürfnis, Energie zu sparen. Wir sollten diese instinktive Überlebensstrategie nicht mit Widersetzlichkeit verwechseln, sondern den Sinn und Zweck dahinter erkennen. Als Flucht- und Beutetiere waren Pferde in der Vergangenheit darauf angewiesen, blitzschnell vor Fressfeinden zu fliehen, um am Leben zu bleiben. Wer da zu viel Kraft durch unnötiges Herumrennen verschwendet oder, andersherum, zu wenig Energie durch Fressen aufgenommen hat, war eine leichte Beute für den Säbelzahntiger. Dass Pferde noch heute versuchen, möglichst oft Energie zu sparen, lässt sich in verschiedenen Situationen beobachten, unter anderem auch in ihrem Herdenverhalten. Dort folgen sie bevorzugt einem Anführer, von dem sie wissen, dass er keinen unnötigen Stress oder Ärger verursacht, sondern für Ruhe und Ordnung in der Gemeinschaft sorgt. Oft ist dieser Herdenchef gar nicht das klassische Alphatier, also das stärkste, dominanteste Pferd, sondern eines, das seine Führungsqualitäten auf eine ruhige und beständige Art bewiesen hat. Mit anderen Worten: Pferde folgen am liebsten den »passive leaders«, die durch Souveränität und ihr gutes Beispiel führen, nicht durch Gewalt. Unser Ziel im Umgang mit dem Pferd muss eine Beziehung sein, die auf diesem Prinzip beruht. Wenn wir im täglichen Umgang und im Zusammensein eine ruhige Beständigkeit an den Tag legen, haben wir gute Chancen, von unserem Pferd als Leitfigur akzeptiert zu werden. Wir müssen unsere Zuverlässigkeit zeigen, die eigene Energie und die des Pferdes schützen und gelegentlich vermeintliche »Unarten« anders lesen: Neun von zehn Pferden blasen beispielsweise den Brustkorb auf, während der Sattelgurt angezogen wird. Ist er dann fest, wird die Luft wieder herausgelassen und der Gurt liegt in der für sie optimal angenehmen Weise an. Eine geniale Taktik zum Energiesparen! Nun ist der clevere Umgang mit Sattel und Zaumzeug nichts, was das Pferd evolutionsbedingt in den Genen trägt. Das Interessante ist, dass Pferde auf der ganzen Welt schlau genug waren herauszufinden, wie sie sich in dieser Situation behelfen können. Niemand hat ihnen gesagt, wie man den Brustkorb aufpumpt, sie haben es selbst herausgefunden. Für Pferde gilt also dasselbe wie für uns: Auch sie lernen nie aus.
Die ständige Bereitschaft zu fliehen hat das Überleben der Spezies Pferd über Jahrtausende gesichert. Wenn das Leittier davongaloppiert, folgt der Rest der Herde.
Jeder, der mit Pferden zu tun hat, weiß, wie schreckhaft sie sein können. Aus scheinbar unerklärlichen Gründen zucken sie von einer Sekunde zur nächsten zusammen, springen zur Seite oder preschen los. Dahinter steckt keine böse Absicht uns Menschen gegenüber. Die ständige Bereitschaft zu fliehen ist tief in ihrem Instinktprogramm verankert. Aus Überlebensgründen sind Pferde sich ihrer Umgebung immer vollends bewusst. Haben sie etwas entdeckt, was in ihren Augen eine potenzielle Gefahrenquelle darstellt, werden sie, egal wie wenig bedrohlich das Objekt in unserer menschlichen Wahrnehmung sein mag, in Alarmbereitschaft gehen. Während das »Raubtier« Mensch in einer Stress-Situation schnell auch mal zur Gegenwehr bereit ist, folgt das Fluchttier Pferd seiner natürlichen Neigung, einem Kampf besser aus dem Weg zu gehen. Von diesem Instinkt lassen sich auch domestizierte Pferde leiten. Ein scheuendes Pferd anzubrüllen oder zu bestrafen ist daher wenig sinnvoll. Unser erhöhter Puls und Adrenalinspiegel wird im Gegenteil dafür sorgen, dass es noch panischer wird. Auf Furcht mit Angriff zu reagieren ist also die schlechteste aller Optionen. Zielführender ist es, sich zu fragen, wie man als Führungsperson vertrauenswürdig werden kann. Pferde sind, um zu überleben, in höchstem Maße abhängig von anderen Artgenossen. In der freien Natur ist ein einzelnes Pferd ein totes Pferd. Aus seiner Sicht bedeutet Sicherheit also immer eine Mehrzahl. Man muss dem Pferd begreiflich machen, dass wir ihm helfen können, wenn es Hilfe braucht. Je ruhiger und verständnisvoller wir reagieren, desto schneller ist die Situation wieder unter Kontrolle. In den meisten Fällen sorgt menschliches Unverständnis dafür, dass Pferde aggressiv werden. Die gute Nachricht: Sie vergeben sehr viel schneller als Menschen.
Als Herdentiere folgen Pferde einer festgelegten Rangordnung. Führungsstärke ist für sie von großer Bedeutung.
Alles in der Physiognomie von Pferden ist darauf angelegt, stark, schnell und beweglich zu sein. Auf der Flucht können Pferde problemlos eine Spitzengeschwindigkeit von fünfzig Kilometern pro Stunde erreichen. Der ehemalige Mehrzeher Eohippus entwickelte sich über Millionen von Jahren zum Huftier mit immer längeren Beinen und größerem Lungenvolumen. Seine gesamte Körperkonstitution ist bis heute auf Tempobeschleunigung ausgerichtet. Die Natur hat dabei die verletzlichsten Stellen des Pferdekörpers mit einem dichten Netz empfindlicher Nerven versorgt. Dem Fluchttier Pferd ist damit auch körperlich die Voraussetzung geschaffen worden, Fressfeinde frühestmöglich wahrzunehmen und sich einem Angreifer im Notfall mit vollem Körpergewicht entgegenzuwerfen. Instinktiv lehnen sich Pferde auch heute noch in jeden Druck hinein, während wir Menschen eher entweichen. Verletzen wir uns, so schrecken wir zurück und versuchen Situationen, die uns Schmerzen bereiten, zukünftig zu vermeiden. Pferde hingegen haben aus Selbstschutz ein gegenteiliges Verhalten entwickelt: Sie reagieren auf Druck reflexartig immer wieder mit Gegendruck. In der Horsemanship-Lehre wird von der »Alpha-Rolle« gesprochen, die wir Menschen gegenüber den Tieren einnehmen sollen. Dazu wird kontinuierlich Druck aufgebaut, der am Ende aber nicht selten dazu führt, dass frustrierte Pferde und resignierte Besitzer zurückbleiben. Das empfindliche Gleichgewicht im respektvollen Umgang geht im Bemühen unter, das Pferd mit aller Konsequenz dominieren zu wollen. Dabei nehmen Pferde jegliche Einwirkung – sei es mit unserem Schenkel an ihrem Bauch, durch den Zügel im Maul, beim Führen, Verladen oder in Behandlungssituationen beim Tierarzt – äußerst sensibel wahr. Zeigen sie auf unsere Impulse nicht die gewünschte Reaktion, liegt das an uns, nicht am Pferd. Wir haben ihm dann nicht das richtige Signal gegeben, nicht den richtigen Reiz präsentiert. Wollen wir erfolgreich mit Pferden trainieren, erreichen wir umso mehr, je weniger Druck wir machen. Das gilt übrigens nicht nur für den Umgang mit Vierbeinern.
Harmonie ist nur mit einer klaren Haltung möglich. Pferde kommunizieren untereinander eindeutig. Die Mischsignale von Menschen verwirren sie.
Auf der Liste der Missverständnisse zwischen Mensch und Pferd stehen gesunde Grenzen ganz oben. Für die meisten von uns bedeutet das Thema Grenzen im Leben ohnehin eine große Herausforderung, dazu braucht es gar kein Pferd. Dank Führungskräfte-Coachings und Mitarbeiterentwicklung wächst in vielen Unternehmen das Bewusstsein für die Basis guten Teamworks. Dabei spielen Anerkennung und ehrliche Wertschätzung eine entscheidende Rolle. Auch Pferde goutieren das! Als Herdentiere brauchen sie positive Bestätigung ebenso sehr wie Führungsstärke und eine festgelegte Rangordnung – unter ihren Artgenossen, genau wie im Zusammensein mit dem Menschen, der in ihrer sozialen Hierarchie eine wichtige Rolle einnimmt. Pferde verlangen eine klare Haltung, wenn man sich ihnen nähert. Sie wollen ein Gegenüber, das sie einschätzen können. Und genau da beginnt es, schwierig zu werden, denn wir wünschen uns unser Horse-Life natürlich als möglichst harmonische Zeit, ohne Missstimmungen und Kämpfe. Nur zu gern gehen wir Auseinandersetzungen mit dem Pferd am Ende eines langen Arbeitstages aus dem Weg. Wer möchte sich denn noch mit seinem Buddy streiten, wenn er schon den ganzen Tag Stress im Büro hatte? Mal spüren wir Energie, sind ausgeglichen und treten unserem Pferd selbstbewusst und durchsetzungsstark gegenüber, dann wieder fühlen wir uns schwach und überlassen dem Tier die Führung. Das ist menschlich. Doch genau diese Mischsignale sind es, die unser Pferd verwirren. Seinen eigenen Platz im Geschehen zu bestimmen ist in allen Lebensbereichen wichtig. Bei Pferden ist es alternativlos. Sie können nur entspannen, wenn ihnen Grenzen für ihr Verhalten gesetzt werden und sie sich entsprechend einordnen können. Das ist eines der ersten Dinge, die Fohlen von ihrer Mutter und später in der Herde lernen. Gutes Horsemanship meint deshalb, die feinen Nuancen zwischen Dominanz und Demut zu erkennen. Es kann keine Bequemlichkeit ohne gelegentliche Unbequemlichkeit geben und keine Balance, ohne dass Dinge vorübergehend aus dem Lot geraten. Wenn wir lernen, auch die Zeiten anzunehmen, in denen es mit unserem Pferd nicht so rund läuft, wie wir es uns wünschen, und wenn wir auf konstruktive Weise damit umgehen, wird es uns als Führer betrachten, dem es vertrauen kann.
Wer seinem Pferd kein klares Ziel vorgibt, kommt im Training nicht weiter. Erster gemeinsamer Schritt: Beziehungsarbeit!
Pferde können sehr genau unterscheiden, ob man etwas mit ihnen macht oder mit ihnen gemeinsam macht. Ehrlich gesagt, hat es Jahre gebraucht, bis ich den Unterschied wirklich verstanden habe. Lange Zeit habe ich mich beim Training an feste Abläufe geklammert und Bewegungsprogramme abgespult, ohne deren Sinn und Ziel wirklich zu hinterfragen. Die Macht der Gewohnheit – und gelernt ist ja schließlich gelernt. Wie viele meiner Stallkolleginnen habe auch ich mir immer neue Tipps zu hilfreichem Equipment geholt, Trainer zu Reitlektionen oder Bodenarbeit befragt, Kurse besucht und mir Spezialwissen angelesen. Was mein Pferd von alledem hielt, wusste ich nicht. Ich habe es aber auch nicht wirklich gefragt. Vermutlich, weil wir nicht dieselbe Sprache sprachen, ich Carinjos Signale nicht deuten konnte. Es ging beim Reiten zwar irgendwie voran, aber unser Weg führte mal nach vorn, dann wieder zurück und zwischendurch wichen wir in andere Richtungen ab. Irgendwann wurde mir klar, dass vieles mit meiner Haltung zu tun hat: Wenn ich meinem Pferd kein klares Ziel vorgebe, kommen wir gemeinsam nicht weiter. Ich wünschte mir zum Beispiel immer sehr, dass unser Pferd gelöster, schwungvoller und weniger »triebig« laufen möge, verkannte aber, dass er gar nicht in der Lage dazu war. Ich ritt zu lange einfach nur vor mich hin und vergaß darüber, die Frage nach dem Warum seines fehlenden Elans zu stellen. Das Ziel des Trainings zwischen Mensch und Tier muss also zwingend immer erst Beziehungsarbeit sein – Verständnis und Verständigung. Nur wer in der Lage ist, mit seinem Pferd zu kommunizieren und seine Bedürfnisse und Defizite zu erspüren, kann das Beste aus ihm herausholen. Dafür sind neben physischer Stabilität nicht nur technische Skills vonnöten, sondern an alleroberster Stelle gemeinsame Losgelassenheit, vor allem die mentale. Wenn ich weiterhin denke, Carinjo tut nicht, was ich mir erhoffe, wird er es mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht tun. Das wurde mir irgendwann mal klar. Es war an der Zeit für mich umzudenken. Und das in vielerlei Hinsicht.
AUF DEN PUNKT GEBRACHT
Sich mit Pferden zu beschäftigen bedeutet, lebenslang zu lernen. Auch Pferde haben unterschiedliche Persönlichkeiten und Vorlieben. Pferde werden von Instinkten geleitet, um ihr Vertrauen zu gewinnen, müssen wir ihre Natur verstehen. Mit menschlichen Denkweisen kommen wir beim Pferd nicht weit. Pferde sprechen mit ihren Körpern. Für eine gute »Horse-Life-Balance« sind Pferde unsere besten Lehrer. Was wir von ihnen lernen können: Energie sparen, umsichtiger und nachsichtiger werden, den Druck rausnehmen, Grenzen setzen, klare Ziele definieren.Pferde sprechen mit ihren Körpern. Bei jedem Gang, jedem Ritt, jeder Stunde des Zusammenseins können wir etwas Neues von ihnen und über sie lernen.
Wer einmal in die Pferdewelt abtaucht, kommt meist nicht wieder heraus. Das größte Geschenk meiner Ponymädchenjahre: keine Angst vor dem Unkontrollierbaren zu haben.
Mit neun war ich das erste Mal so richtig verknallt. Er hieß Dandy, hatte fuchsfarbenes Fell und ich fühlte mich unwiderstehlich zu ihm hingezogen. Weil er so anders war als all die anderen Schulpferde in meinem Reitstall, so eigensinnig und ungebändigt. Ein Welsh Pony, zierlich, mit feiner Blesse, vier weißen Fesseln und wachen Augen. Als ich ihn das erste Mal im Unterricht ritt, flog ich dreimal hintereinander in den Sand. »Armes Deutschland!«, wetterte mein Reitlehrer, der uns Kinder mit unerbittlicher Strenge im Kasernenhofton maßregelte. »Aufstehen, aufsitzen, weitermachen!«, brüllte er. So lernte ich reiten. Ich ritt und flog und ritt und flog, profitierte dabei von Abrolltechniken, die ich beim Judo gelernt hatte, und entwickelte eine gewisse Stunt-Routine. Irgendwann kannte ich die meisten von Dandys Tricks und wurde sattelfester. Wir gewöhnten uns aneinander, gingen gemeinsam ins Gelände, irgendwann auch ohne Sattel. Ich vertraute ihm, auch wenn er zwischendurch immer wieder zu unerwarteten Sprints ansetzte. Ihn gab es eben nur als explosives Gesamtpaket. Meiner Liebe zu ihm tat das keinen Abbruch, im Gegenteil: Sie wurde stärker, weil Dandy mir die Angst vor dem Unkontrollierbaren nahm.
Nicht alle Reiter haben das Glück, mit Pferden aufgewachsen zu sein. Heute weiß ich gerade diese ersten Jahre zu schätzen. Ich näherte mich Dandy und allen Pferden, die danach kamen, mit einer kindlich naiven Neugier, gepaart mit Gutgläubigkeit. Meine Zuneigung zu den Tieren stand über allem, nie wäre ich auf die Idee gekommen, ihnen irgendetwas Böses zu unterstellen. Wir Ponymädels ritten unsere Lieblinge mit Halfter und Strick auf die Weide, galoppierten freihändig übers Stoppelfeld und nur mit einem Badeanzug bekleidet durch den Dorfteich. Mit 13 Jahren nahm ich an einer Fuchsjagd teil, überholte den Pikeur (was streng verboten ist) und nahm Geländesprünge, die eigentlich nur für die Großpferde gedacht waren. Dandys Bocken und Durchgehen stellten für mich keine Bedrohung dar, sondern gehörten ganz selbstverständlich dazu. Obwohl meine Fähigkeiten, gemessen an den Kriterien der klassischen Dressurreitlehre, rückblickend eher bescheiden waren, habe ich damals als Kind doch intuitiv vieles richtig gemacht: Ich habe mich Pferden auf eine natürliche, spielerische, vor allem aber absichtslose Weise genähert. Vermutlich war ich der perfekten Horse-Life-Balance nie näher als in dieser Zeit.
»Das haben wir noch nie probiert, also geht es sicher gut.«
PIPPI LANGSTRUMPF
Wenn ich heute meine Beziehung zu Carinjo beschreiben soll, dann ist auch da ein ganz großes »Herz über Kopf«-Gefühl. Aber natürlich sind neben Emotion und Intuition auch viele rationale Erwachsenen-Gedanken getreten. Prägende Erlebnisse, negative Erfahrungen und Reflexionen in Bereichen, die einem als Kind noch verschlossen sind. Zum Nachdenken über Pferde und zu der Freude an ihnen ist inzwischen auch ein Nachdenken über mich selbst hinzugekommen – über meine Wünsche, Bedürfnisse, die Frage, was mir wichtig ist und warum. Wichtig ist mir heute vor allem, dass es unserem Pferd gut geht. Nicht, dass mir das Wohl der Tiere als Kind egal gewesen wäre. Auch damals hatten wir Pferdemädchen in sämtlichen Hosentaschen Leckerlis, besaßen Bandagen und Satteldecken in diversen Farben, putzten und pusselten unaufhörlich um unsere Lieblinge herum. Aber ich kann mich beispielsweise nicht erinnern, dass wir die Ständerhaltung, eine Unterbringungsform, die in den 70er- und 80er-Jahren in vielen Reitställen üblich war und heute in den meisten Bundesländern per Tierschutzgesetz verboten ist, jemals wirklich infrage gestellt hätten. Dandy war als kleinformatiges Pony klar im Vorteil, denn er schaffte es irgendwie, sich auch vorn angebunden hinzulegen. Aber ich erinnere mich, dass viele der großen Pferde ausschließlich im Stehen schliefen. Sie wurden zum Putzen im Ständer hin und her geschoben, hatten keinen Rückzugsraum beim Fressen, waren also nie ungestört. Für uns Ponymädchen war der Reitstall trotzdem ein Sehnsuchtsort, die tierquälerischen Umstände waren uns nicht bewusst. Ich kannte es eben nicht anders, die Pferde vermutlich auch nicht. Normalität entsteht oft aus Mangel an Vergleichsmöglichkeiten.
Damals war es auch »normal«, sich dem Pferd mit der Einstellung zu nähern: »Setz dich durch bei dem Bock, sonst macht der mit dir, was er will!« Bei seinem Pferd die Führung zu übernehmen war automatisch an Gewalt gebunden und die »Hilfsmittel« dafür gehörten so selbstverständlich zu unserem täglichen Repertoire wie Sattel und Trense: Ausbinder, um die Pferde beim Reiten in eine abwärtsgebogene Haltung zu zwingen, Gerte und Sporen, um sie von hinten energisch anzutreiben, während man sie vorn festhielt. Pferde, die beim Führen zu stark wurden, bekamen einfach eine Hengstkette über den Nasenrücken gelegt, und wer beim Besuch des Schmieds oder Tierarztes zu zappelig und zu wenig kooperativ war, dem drehte man mit einer Nasenbremse kurzerhand die Oberlippe um.
Reiten ist ein Sport mit militärischen Wurzeln und einen Rest dieses soldatischen Geistes kann man heute noch auf vielen Reitanlagen beobachten. Mein erster Reitlehrer war ein pensionierter General und ich habe Jahre gebraucht, um mich von seinem rauen Umgangston zu erholen. Das rigide Regelwerk und die strengen Verhaltensmaßgaben auf Turnieren erlebe und befolge ich mittlerweile als »TT« (=Turnier-Trottel) meiner springreitenden Tochter: Ich hole vor ihren Wettkämpfen die Starterliste in der Meldestelle ab, kontrolliere, dass unser Pferd das regelkonforme Equipment trägt, führe Carinjo warm, während sie den Parcours abgeht, und bin aufgeregt, damit sie es nicht sein muss – auch hier spielen Rituale eine große Rolle. Das Turnier-Outfit muss picobello sein, nur an besonders heißen Tagen darf das Jackett abgelegt werden. Dann spricht man von »Marscherleichterung«. Jede, auch optische, Nachlässigkeit wird im Bewertungskatalog der Richter vermerkt, die Leistung von Pferd und Reiter gnadenlos bis ins kleinste Detail seziert. Vieles lässt heute noch auf Wurzeln vergangener Zeiten schließen, für viele Trainer gelten Disziplin, Einsatzbereitschaft und Härte noch immer als reiterliche Tugenden. Auch ich dachte lange, dass ich im Sattel so agieren muss. Heute weiß ich, dass Erfolg nur mit, nie aber gegen die Natur möglich ist.
Mein Flitzepony Dandy und sein großer Kumpel Junker: Als 13-Jährige nahm ich an meiner ersten Fuchsjagd teil – mit mehr Glück als Reitverstand!
Teenagerliebe im 70er-Jahre-Style: Dem Welsh Pony Dandy näherte ich mich auf eine intuitive, spielerische, vor allem aber vertrauensvolle Art und Weise.