Wie wir uns täglich die Zukunft versauen - Pero Mićić - E-Book

Wie wir uns täglich die Zukunft versauen E-Book

Pero Micic

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Beschreibung

Menschen handeln unvernünftig: Couch oder Bewegung? Kredit oder Sparprogramm? Luxuswagen oder Klimaschutz? Zahlreiche Studien belegen, dass wir fast immer die kurzfristig angenehmste Option wählen – auch wenn wir wissen, dass andere Alternativen langfristig sinnvoller wären. Das bringt jeden Einzelnen und die ganze Menschheit in größte Schwierigkeiten. Der Zukunftsmanager Dr. Pero Mićić erklärt anhand von Erkenntnissen aus Psychologie, Verhaltensökonomie und Neurowissenschaft anschaulich und aufschlussreich, wie wir die Kurzfrist-Falle im Kopf überwinden können.

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Über das Buch

Wir konsumieren und faulenzen uns arm und krank, weil wir uns lieber im Heute wohlfühlen als im Morgen. Wir haben gute Ziele und Vorsätze, aber wenn der Tag gekommen ist, scheitern wir. Wir schädigen unsere Unternehmen und ruinieren unsere Staatsfi nanzen, weil vor allem das Jetzt zählt. Wir greifen in unfassbarem Maße in die Biosphäre ein, weil uns der Gewinn heute wichtiger ist als unser Leben morgen. Wie kann es sein, dass wir uns so zukunftsdumm verhalten?

Jedem ist klar: Menschen und Organisationen sind nachweislich viel gesünder und erfolgreicher, wenn sie nicht das schnelle Wohlgefühl und den kurzfristigen Gewinn, sondern das langfristige Wohl zum Maßstab ihrer Entscheidungen machen. Doch genau dafür ist der Mensch nicht gemacht. Unser Gehirn ist gebaut für ein Leben im Hier und Jetzt.

Pero Mićić nimmt die Leser mit auf eine Erkenntnisreise und sucht nach Lösungen für unsere Gesellschaft, für Unternehmen, für uns alle. Wenn wir jetzt lernen, uns zukunftsintelligent zu verhalten, ist es noch nicht zu spät.

Über den Autor

Der Wirtschaftswissenschaftler Dr. Pero Mićić geht seit über zwanzig Jahren einer zentralen Frage nach: Wovon leben wir morgen? Er ist Gründer und Vorstand der FutureManagement- Group AG und gilt als einer der führenden Experten für Zukunftsmanagement.

Mehr auf www.micic.com

Pero Mićić

Wie wir uns täglich die Zukunft versauen

Raus aus der Kurzfrist-Falle

Econ

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ISBN 978-3-8437-0685-8

© der deutschsprachigen Ausgabe

Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014

© für das Bild im Innenteil: Joshua Blake / Getty Images

Umschlaggestaltung: Geviert, Conny Hepting;

Umschlagabbildung: © Petra Klick

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

eBook: LVD GmbH, Berlin

Vorwort

Sie und ich leben heute in der besten Welt, die es jemals gegeben hat. Ich jedenfalls würde mit niemandem aus irgendeiner Zeit in der Vergangenheit tauschen wollen. Wir leben länger, gesünder und komfortabler. Die Chancen stehen gut, dass unsere Lebensqualität auch in Zukunft steigen wird.

Oberflächlich betrachtet ist unsere Zukunft glänzend. Doch darunter sind wir auf dem besten Wege, unsere Existenzgrund­lagen zu zerstören. Die Party ist in vollem Gange, aber das Haus beginnt zu brennen.

Unsere heutige Welt haben wir mit einem Gehirn geschaffen, das sich seit mehreren zehntausend Jahren kaum verändert hat. Als Jäger und Sammler brauchten wir zum Überleben allenfalls eine Ahnung vom Phänomen Zukunft. Es reichte aus, den Instinkten zu folgen. Seitdem haben wir uns eine hochkomplexe Welt mit einer Vielzahl an Systemen geschaffen: Sozial- und Wirtschaftssysteme, politische Systeme, Verkehrs- und Energie­infrastruktur, Produktionsanlagen und Finanzmärkte bis hin zu den Organisationen und Unternehmen, in denen wir täglich unser Werk verrichten, um gemeinsam Ziele zu erreichen.

Solche Systeme können nur mit langfristigen Denk- und Handlungshorizonten nachhaltig erfolgreich gesteuert werden. Menschen sind erfolgreicher, gesünder und glücklicher, wenn sie bei wichtigen Entscheidungen ihr gesamtes Leben im Blick haben. Organisationen sind signifikant erfolgreicher, wenn sie nicht den kurzfristigen Gewinn, sondern das langfristige Wohl zum Maßstab ihres Handelns machen. Doch genau dafür ist der Mensch nicht gemacht. Wir sind gebaut für ein Leben in der Gegenwart. Wir sind Homo praesens.

Deshalb tappen wir täglich in die Kurzfrist-Falle. Auf allen Ebenen. Wir greifen in unfassbarem Maße in die Biosphäre ein, weil uns der Gewinn heute wichtiger ist als unser Leben morgen. Wir haben unsere Staaten weltweit in eine finanzielle Lage manövriert, die man nur katastrophal nennen kann. Die Sucht der Politiker nach Wiederwahl wird in einem gewaltigen Zusammenbruch enden. Wir fahren unsere Unternehmen immer häufiger gegen die Wand, weil vor allem das Jetzt zählt, auf Kosten der Zukunft, der Gesundheit und letztlich der Gesellschaft. Wir konsumieren und faulenzen uns arm und tot, weil wir uns lieber im Heute wohlfühlen als im Morgen. Wir sind in der modernen Welt immer weniger in der Lage intelligent zu handeln.

Die größten Probleme in Umwelt, Politik, Wirtschaft und Privatleben haben ihre Ursachen in der chronischen Kurzfrist-Orientierung des Menschen. Vieles, was uns im Moment glücklich macht, schadet uns später. Weil wir nicht bereit sind, heute auf Belohnung zu verzichten, verpassen wir große Chancen für unsere Zukunft.

Seit mehr als 20 Jahren arbeite ich mit Menschen in Unternehmen und anderen Organisationen an ihrer Zukunft. Ich habe mich immer gefragt, warum manche vollen Nutzen daraus ziehen, aber viel zu viele weit hinter ihren Möglichkeiten bleiben. Sie bleiben lieber im vertrauten Jetzt und arrangieren sich im Rahmen ihrer Gewohnheiten mit dem, was sich gerade gut anfühlt. Manche können die Zukunft recht gut vorausdenken. Sie aber wirklich zu gestalten, in der Gegenwart zukunftsfähige Entscheidungen zu treffen und zu verwirklichen, das schaffen viel zu viele nicht. Leider finden sich diese Kurzfrist-Wesen massenhaft in Führungs- und Machtpositionen. Ich habe zu viele Menschen und Unternehmen in die Kurzfrist-Falle tappen sehen. Wir sind auf dem besten Wege, uns als Gesellschaft und sogar als Menschheit unsere Zukunft zu versauen.

In den letzten Jahren habe ich mich immer häufiger gefragt, warum der Mensch so kurzsichtig ist. Wie kann es sein, dass wir so faszinierend viel gelernt und erreicht haben, aber uns trotzdem so offensichtlich zukunftsdumm verhalten? Können wir überhaupt irgendetwas an der Kurzfrist-Orientierung des Menschen ändern, wenn unser Gehirn so gebaut ist? Gibt es einen Ausweg aus der Kurzfrist-Falle? Wir haben doch auch schon andere existentielle Probleme zu lösen gelernt. So kam es zu diesem Buch.

Kommen Sie! Gehen wir gemeinsam auf eine Erkenntnis-Reise. Vielleicht finden wir eine Erklärung für die allgegenwärtige Kurzfrist-Falle. Vielleicht finden wir einen Weg, für Sie in Ihrem Leben, für Ihr Unternehmen, für unsere Gesellschaft, für unser Land und für unseren Planeten. Wenn wir jetzt lernen, uns wirklich zukunftsintelligent zu verhalten, ist es möglicherweise noch nicht zu spät. Wenn!

Pero Mićić Eltville im Januar 2014

Teil I: Von gestern

So weit ging’s gut

Ich halte das für einen schweren Fehler, Herr Bundeskanzler.« Der untersetzte, sonst so gemütlich wirkende Mann hat Mühe, seiner Erregung Herr zu bleiben. »Sogar für einen katastrophalen Fehler, für den nachkommende Generationen bitter bezahlen werden.«

Scheinbar ruhig und gefasst sitzt er in einem der beigefarbenen Polstersessel, mit denen das Arbeitszimmer seines Chefs ausgestattet ist. Doch er zieht so stark an seiner dicken Zigarre, dass ihr hellrot aufglühendes Ende mit dem durch die schweren Gardinen fallenden Sonnenlicht wetteifern könnte.

»Noch einmal: Das neue Rentenmodell kann nur dann funktionieren, wenn wir weiter auf Wachstumskurs bleiben und wenn uns die Alterspyramide keinen Strich durch die Rechnung macht«, führt er weiter aus. »Warum sollten wir dieses enorme Risiko eingehen? Wir werden in absehbarer Zeit Probleme bekommen. Erstens wird das Wirtschaftswachstum nicht auf ewig so hoch sein. Zweitens werden wir deutlich mehr ältere Menschen und damit Rentner und wesentlich weniger junge Bürger als Beitragszahler haben. Dann wird das Umlagesystem wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Das ist politisch verantwortungslos!«

Bundeskanzler Konrad Adenauer fällt ihm verärgert ins Wort. »Mein lieber Erhard«, sagt er zu seinem Wirtschaftsminister. »Ich verstehe nicht, warum Sie immer weiter opponieren müssen. Wir haben doch alles hinlänglich besprochen.«

Adenauer hat Erhard nie leiden können, nur ungern duldet er ihn als Wirtschaftsminister in seinem Kabinett. Auch später wird er mit all seinen Kräften noch zu verhindern suchen, dass Ludwig Erhard, der Vater des Wirtschaftswunders, ihm als Bundeskanzler folgt. »Der Generationenvertrag wird gleich mehrere unserer großen innenpolitischen Probleme auf einen Schlag lösen. Also lassen Sie es gut sein. Die Entscheidung ist gefallen, die Gesetzesänderung wird morgen vom Bundestag und später vom Bundesrat bestätigt werden.«

Erhard schweigt. Er weiß, dass die Chancen der CDU auf Wiederwahl ziemlich schlecht stehen. Und dass Adenauer mit einer schnellen Anhebung der Renten die Stimmung bei den Wählern drehen will. Adenauer hat recht, mit der geplanten Rentenreform werden sie vielleicht noch einmal die Wahlen gewinnen können. Doch er ist sich auch sicher, dass der »Generationenvertrag«, wie das neue Rentensystem euphemistisch genannt wird, nicht zukunftsfähig ist. Er hat die verschiedenen Szenarien durchrechnen lassen, und die Zahlen lügen nicht. Er weiß, wie unvernünftig die geplante Rentenreform ist.

Aber er weiß auch, wann er verloren hat.

Spindeln und Pyramiden

Ich weiß nicht, ob es ein solches Gespräch zwischen Adenauer und Erhard 1957, kurz vor der Verabschiedung des neuen Rentengesetzes, gegeben hat. Aber es hätte gut sein können. Die fiktive Auseinandersetzung dieser beiden Alphatiere ist typisch für Kontrahenten, von denen einer die sofortige Lösung von Problemen im Blick hat, während der andere über den absehbaren Zeithorizont hinausschaut und in der fernen Zukunft drohende Folgen bedenkt und berücksichtigt wissen möchte.

Die aus dieser Entscheidungssituation resultierende Geschichte der bundesdeutschen Rentenversicherung mit ihren Kaskaden aus aufeinanderfolgenden Fehlentscheidungen, mit ihren eingebauten Defekten und Interessenkonflikten ist ein typisches, ja geradezu klassisches Lehrbeispiel für die Kurzfrist-Falle. Obwohl wir sehr genau wissen, dass wir einen Fehler machen, obwohl wir sogar nachrechnen können, wie sich unsere Fehlentscheidung zum Nachteil auswirken wird, obwohl wir guten Willens und bei Trost sind, tun wir letztendlich trotzdem das Falsche. Auf den ersten Blick sind die Entscheidungen, die unsere Altersfinanzierung zu einem so widersinnig konstruierten, auf Dauer nicht finanzierbaren und auf Dauer nicht funktions­fähigen System gemacht haben, kaum nachvollziehbar. Es liegt nahe, sie schlicht dumm zu nennen.

Aber das hilft uns nicht. Um der wahren Natur der Kurzfrist-Falle auf die Spur zu kommen, lohnt es sich, das Durchwurschteln beim Rentensystem etwas genauer zu analysieren. Ich verwende das Rentensystem als Beispiel, weil es deutlich macht, dass Kurzfrist-Denke nicht nur ein persönliches Problem ist wie etwa die Aufschieberitis oder unser kurzsichtig ungesundes Konsumverhalten. Je nach Entscheidungssituation verbindet sich die individuelle Präferenz für die kleine, kurzfristige Belohnung im Jetzt nämlich mit großen, langfristigen Problemen für ganze Organisationen und Gesellschaften, ja für die gesamte Menschheit. Diesen Zusammenhang zu begreifen, macht aus dem kleinen persönlichen Thema ein großes, gesellschaftliches und globales.

Wie kam es also bei der Rente zu dieser Misere? Kanzler Adenauer sah im Generationenvertrag die schnelle Chance, gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Denn die junge Bundesrepublik musste nicht nur außenpolitisch wieder den Anschluss an die Welt finden, auch innenpolitisch waren große Probleme zu überwinden. Der Staat musste immense Summen für 4,5 Millionen Kriegsversehrte aufbringen, die notwendige Aufstockung der Renten für Witwen und Waisen kam noch hinzu. Der bestehende Rententopf, in den diese Menschen ihr Leben lang eingezahlt hatten, war keine große Hilfe. So wie die privaten Spar- und Versicherungsguthaben war auch sein Wert mit der Währungsreform von 1949 über Nacht auf ein Zehntel geschrumpft.

Zudem brummte die Wirtschaft. Eigentlich eine gute Nachricht, doch damit stieg auch die Inflationsrate. Löhne und Preise schraubten sich in immer neue Höhen, nicht aber die Renten, weil sie festgeschrieben waren. Die Rentner waren finanziell längst abgehängt worden und hätten bittere Not leiden müssen, wenn nicht der Staat eingesprungen wäre. Eine Reform des Rentensystems musste dringend her!

Da kam der Plan, den der Wirtschaftswissenschaftler Wilfrid Schreiber Mitte der fünfziger Jahre zu Papier gebracht hatte, gerade recht. Die Arbeiter und Angestellten sollten nicht mehr wie seit Bismarcks Zeiten in eine Kasse einzahlen, aus der sie ihre Einlage dann später, wenn sie das Rentenalter erreichten, in monatlichen Raten wiederbekamen – übrigens ohne Verzinsung. Nein, die Rente sollte dynamisch, also an das Lohnniveau angekoppelt werden. Und vor allem: Das Geld, das einer heute einzahlte, war nicht mehr das, was er morgen auch wieder herausbekam. Vielmehr bezahlten die Jungen, Arbeitsfähigen von heute auch die Rentner von heute. Die Rente sollte also nicht mehr durch Rücklagen, sondern durch laufende Einnahmen gesichert werden. Die Gegenwart versorgt sich selbst – ganz unabhängig von Vergangenheit und Zukunft. Von der Hand des einen in den Mund des anderen.

Die Frage ist nur: Wie lange kann so etwas gutgehen?

Erhard wusste, dass das neue System nur dann funktionieren konnte, wenn gleich mehrere Faktoren mehr oder weniger konstant bleiben würden: die gute Wirtschaftslage, die Anzahl der Kinder pro Familie und die Anzahl der Jahre, in denen die Bürger ihre Rente beziehen würden. Also die Zeitspanne, die zwischen Ende des Erwerbslebens und Ende des biologischen Lebens lag. Für Adenauer, Vater von acht Kindern, war das keine Frage: »Kinder bekommen die Leute immer!« Auch angesichts der damaligen hohen Wirtschaftsleistung sowie der vergleichsweise niedrigen Lebenserwartung der Bürger war seine Zukunfts­annahme, dass es keine Veränderung geben werde.

Die folgenden Jahre zeigten bald, dass diese vermeintlichen Konstanten sehr wohl variabel waren. Schon Mitte der sechziger Jahre setzte der Pillenknick ein, immer weniger Kinder wurden geboren. Waren es vor dem Pillenknick noch bis zu 1,35 Millionen Neugeborene pro Jahr, wurde ab Anfang der siebziger Jahre die 900 000er-Marke nicht mehr überschritten. Es war eine einfache Rechnung, dass aus fehlenden Kindern fehlende Arbeiter und Angestellte und damit fehlende Rentenbeiträge werden würden. Hinzu kam, dass die Menschen dank der guten medizinischen Fortschritte und der Veränderung der Arbeitswelt in Richtung weniger körperlich anstrengender Arbeit immer älter wurden. Die durchschnittliche Rentenbezugsdauer erhöhte sich dadurch von 10,1 Jahren (1960) auf 16 Jahre (2010), Tendenz weiter zunehmend: Für 2030 wird eine Rentenbezugszeit von 18 Jahren erwartet. Spätestens Mitte der 70er Jahre, als auch noch die Wirtschaft in Deutschland erstmals auf breiter Front lahmte und die Arbeitslosenzahlen begannen eine Millionenmarke nach der anderen zu knacken, wurde es offensichtlich: Das dynamische Rentensystem wird für den Betragszahler immer teurer, für den Beitragsempfänger immer ungünstiger, das Verhältnis zwischen eingezahltem und empfangenem Geld wird für den Einzelnen immer schlechter. Die Rechnung geht nicht mehr auf.

Durch Verleugnen, Verdrängen bis hin zu offensichtlichen Lügen ist es Politikern aber bis ins neue Jahrtausend erfolgreich gelungen, das Thema Rente aus den Köpfen der Bürger herauszuhalten und so die dringend notwendig gewordene Renten­reform immer wieder aufzuschieben. Den bedauerlichen Höhepunkt bot Norbert Blüm, 1982 bis 1998 Bundesminister für Arbeit und Soziales, mit seinem Mantra: »Die Rente ist sicher«.

Hier und da gab es einige Flickschustereien am bestehenden Rentensystem. Aber niemand wollte grundlegend an die gewaltige Aufgabe heran. Lieber die Staatsverschuldung weiter in die Höhe treiben, als schmerzhafte Schnitte durchsetzen, die einem womöglich noch die politische Karriere verhagelt hätten.

Unterm Strich hat es sich die Gesellschaft von 1957 bis in die siebziger Jahre hinein mit dem Rentensystem gutgehen lassen. Die Rentner freuten sich bei Einführung des sogenannten Dynamischen Rentensystems über eine Rentenerhöhung von etwa 65 Prozent. Bis 1969 wurden die Bezüge sogar insgesamt mehr als verdoppelt. Die erheblichen Überschüsse aus dieser Zeit – bis 1967 war ja auch noch »altes« Geld im Rententopf – wurden nicht etwa als Reserve zurückbehalten, sondern kurzerhand an andere Ressorts im Bundeshaushalt verteilt und verbraucht. Die Abgaben der arbeitenden Bevölkerung an die Rentenkasse lagen zunächst bei 14 Prozent, mussten aber immer wieder angehoben werden, ab 1981 fast jährlich.

Nach knapp 20 fetten Jahren folgte die unausweichliche Katerstimmung. Heute wissen wir, dass viele Menschen, auch die, die ein Leben lang für den Lebensunterhalt der Bestandsrentner aufkamen, beim Renteneintritt nicht genug zum Leben haben werden. Warum das so ist, zeigen die Zahlen unmissverständlich: 1960 kamen auf 18,8 Millionen Beitragszahler 4,1 Millionen Rentner – das entspricht einer Quote von 21,8 Prozent. 2000 waren es bereits 33,8 Millionen Beitragszahler, die 13,4 Millionen Rentner unterhalten mussten. Eine Quote von 39,6 Prozent. Auf 100 Beitragszahler kamen in diesem Jahr also 40 Rentner, fast doppelt so viele wie 1960. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht absehbar, im Gegenteil. Das Verhältnis verschiebt sich immer schneller immer weiter zuungunsten aller Beteiligten.

Als die Altersrente 1889 eingeführt wurde, blieben den Rentnern nach dem Abschied aus dem Erwerbsleben nur noch wenige Jahre: Sie waren verbraucht und von schwerer Arbeit erschöpft. Im Durchschnitt lag die Lebenserwartung bei 50 Jahren, die Rentenzahlung begann im Prinzip im 70. (!) Lebensjahr. Ein großer Teil der arbeitenden Bevölkerung erreichte das Renten­alter gar nicht. Vor diesem Hintergrund erscheinen die heutigen Proteste gegen längere Lebensarbeitszeiten reichlich absurd und unverantwortlich. Und reichlich unnötig, denn im Gegensatz zu damals sind die heutigen Rentner noch lange arbeitsfähig, vor allem dann, wenn sie eine Arbeit haben, die ihrem Alter Rechnung trägt und die sie lieben oder wenigstens mögen. Natürlich soll der Dachdecker nicht mit 70 aufs Dach. Auf lange Sicht ­haben wir nur die Wahl zwischen längerer Lebensarbeitszeit oder noch größerer Staatsverschuldung und einem langfristigen finanziellen Desaster.

Die eigentliche Überraschung ist bei genauerem Hinsehen, dass das alles keine Überraschung ist.

Ein Pflegefall

Als Konrad Adenauer und Ludwig Erhard »diskutierten«, war schon lange bekannt, dass die Altersstruktur der Bevölkerung eines Landes nicht zwangsläufig pyramidenförmig sein und bleiben muss. Bereits im Jahr 1932 veröffentlichte Reinhold Lotze mit Volkstod? das erste Buch, das die Alterung in Deutschland zumindest als Möglichkeit aufwarf. Lotze zeichnete die Bevölkerungspyramide bis ins Jahr 1980 und beschrieb, wie sie sich langsam zur Spindel entwickeln würde. Die Pyramide würde auf dem Kopf stehen. Als Adenauer die Rentenreform durchsetzte, war also schon seit mindestens 25 Jahren bekannt, dass es mit großer Wahrscheinlichkeit Schwierigkeiten aufgrund der Altersstruktur geben würde. Schon der Zweite Weltkrieg mit seinen Millionen von Toten hatte die klassische Pyramidenform nachhaltig ins Wanken gebracht. Die »kommende Vergreisung«, wie Lotze das Phänomen nannte, war absehbar.

Spätestens mit Einsetzen des Pillenknicks in den 60er Jahren hätte zumindest den Experten klar sein müssen, was da auf uns zukommt. Und als in den 80er Jahren jeder Versicherungsver­treter mit der These warb, in Zukunft werde jeder Erwerbstätige einen Rentner finanzieren müssen, waren alle im Bilde. Unsere Großeltern haben es gewusst, unsere Eltern haben es gewusst, wir wissen es. Das Rentensystem von 1957 funktioniert nicht auf Dauer. Trotzdem wurde es installiert und mit Zähnen und Krallen verteidigt. Jeder Versuch, es den demographischen Bedingungen anzupassen, ist bislang schon im Vorfeld gescheitert, obwohl die Fakten eine klare Sprache sprechen. Je früher das marode Rentensystem reformiert wird, desto geringer der Schaden für alle.

So weit, so schlecht. Man könnte meinen, solch einen kapitalen Fehler wie die Rentenreform von 1957 würde die Politik nicht noch einmal machen. Doch weit gefehlt!

Wie vorhergesehen und etwa von Lotze beschrieben stieg die Lebenserwartung der Bürger kontinuierlich. Viele von ihnen wurden im Alter hilfebedürftig und konnten sich nicht mehr selbst versorgen. Doch immer weniger von ihnen wurden wie in den Generationen zuvor durch Angehörige, zumeist Frauen, betreut. In den 90er Jahren war die Feminisierung der Gesellschaft in vollem Gange, in deren Zuge immer mehr Frauen in immer höherem Maße berufstätig waren. Daneben wuchs die Zahl der Singles und deutlich höhere berufliche Mobilität war angesagt. Hausfrauen und andere Familienmitglieder, die daheim die Unterstützung ihrer bedürftigen (Schwieger-)Eltern übernehmen konnten und wollten, wurden selten.

Das hatte zur Folge, dass seit Ende des 20. Jahrhunderts immer weniger pflegebedürftige Menschen zu Hause durch Familienmitglieder betreut wurden. Die Betroffenen mussten in Pflegeeinrichtungen untergebracht werden und für die entstehenden Kosten selbst aufkommen. Wenn früher oder später das nicht in jedem Fall vorhandene Vermögen aufgebraucht war, sprang das Sozialamt ein. Mitte der 90er Jahre waren bereits rund zwei Drittel der Heimbewohner auf Sozialhilfe angewiesen. Das hatte gesellschaftliche und politische Folgen. Sozialhilfe wird von den Kommunen geleistet – die zu Sozialfällen mutierten Pflegebedürftigen belasteten die kommunalen Haushalte im Übermaß. Das für die Pflegebedürftigen ausgegebene Geld fehlte schmerzhaft an anderer Stelle. Deshalb erschien es notwendig, für die Bürger eine zusätzliche Pflegeversicherung auf Bundesebene zu installieren.

Die gravierenden Probleme der nach dem Umlageverfahren konzipierten Rentenversicherung von 1957 waren 1994, als die Pflegeversicherung diskutiert wurde, schon stark zu spüren. Und trotzdem, wider besseres Wissen, entschieden sich die Verantwortlichen, die zum 1. Januar 1995 anlaufende Pflegeversicherung wieder durch ein staatlich organisiertes Umlageverfahren zu finanzieren. Sie ignorierten, dass die absehbare Alterung der Gesellschaft und Bevölkerungsschrumpfung diese Form der Ver­sicherung schon wenige Jahre später in massive Probleme bringen würden. Und tatsächlich: Bereits 1999, nur vier Jahre nach der Einführung, überstiegen die Ausgaben der Pflegeversicherung ihre Einnahmen. Erst seit 2006 sind die Ausgaben wieder gedeckt. Der Grund ist unter anderem, dass die finanziellen Leistungen seit ihrer Einführung unverändert geblieben sind. Einen Inflationsausgleich gibt es nicht, so dass aus der Versicherung immer weniger Pflege bezahlt werden kann.

Es ist unglaublich: Eine ganze Gesellschaft leidet darunter, dass die bestehende Rentenversicherung nicht der Tatsache Rechnung trägt, dass über kurz oder lang ein Arbeitender einen halben bis ganzen Rentner versorgen müssen wird! Als die Pflegeversicherung unter dem damaligen Bundesarbeitsminister Norbert Blüm beschlossen wurde, war längst bekannt, dass es nicht die Frage ist, ob der Renten-Generationenvertrag gesprengt wird, sondern nur, wann dies geschehen wird. Jeder konnte wissen, dass es nur eine Frage des Zeitpunktes ist, bis der Gesellschaft das Rentensystem um die Ohren fliegt. Und dennoch wird 1994 derselbe Fehler sehenden Auges noch einmal gemacht. Unfassbar!

Was trieb die verantwortlichen Politiker zu diesem Handeln? Zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung konnten sie mit einem »Erfolg« glänzen. Den langfristigen Nicht-Erfolg und somit den Schaden schoben sie in die Zukunft, auf ihre politischen Nachfolger und auf die nächsten Generationen, die sie zu entlasten vorgaben. Es mögen die besten sozialen und menschenfreundlichen Motive gewesen sein, aus denen die Politik die kurzfristig wirksame Lösung wählte. Weil sie den damals alten Menschen sofort finanzielle Unterstützung geben wollte, verdrängte sie darüber die künftigen Probleme. Man kommt nicht umhin, den Verantwortlichen vorsätzliche Ignoranz zu unterstellen. Die vielen sachkundigen Mahner wurden absichtlich nicht gehört. Die deutschen Ökonomie-Professoren, die die Notwendigkeit einer Pflegeversicherung sehr wohl sahen, plädierten fast geschlossen für eine private, kapitalgedeckte Absicherung des Pflegefallrisikos.

Der SPD-Politiker Bert Rürup, damals wissenschaftlicher Berater der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages »Demographischer Wandel« resümierte 2003 in einem Interview mit der ZEIT : »Es war ein großer Fehler, sie [die Pflegeversicherung] noch 1995 nach dem herkömmlichen Solidarprinzip zu installieren. Man hat ein überkommenes System aufgebaut, das absehbar nicht funktioniert.« Und im August 2011 ergänzte er in einem Interview mit der taz: »Es war ein Fehler, bei der Einführung der Pflegeversicherung 1995 kein Element der Kapitaldeckung vorzusehen. Jetzt ist es zu spät und sehr teuer, dies zu reparieren.«

Es wurde also gleich zweimal derselbe Fehler gemacht. Beide Male wider besseres Wissen. Warum handeln Menschen so kurzsichtig?

Kurzfrist-Kultur

Ja, manchmal handeln Menschen wirklich unvernünftig. Aber man könnte es ja auch so sehen: Jeder macht mal Fehler, selbst Vollblut-Politiker wie Konrad Adenauer und Norbert Blüm. »Was schert mich mein Geschwätz von gestern«, soll Adenauer gerne gesagt haben. Was heute verbockt wird, kann ja morgen wiedergutgemacht werden. Irgendwie wird es schon nicht so schlimm kommen.

So scheint es doch ganz gut zu funktionieren: Man handelt, man erkennt, dass es Verbesserungsbedarf gibt, man bessert nach, man erkennt, dass sich noch einmal einige Vorzeichen geändert haben, man korrigiert wieder und so weiter. Durchwursteln nennt man das. Ist das denn nicht das Erfolgsprinzip des Menschen? Allzeit flexibel reagieren zu können, ist doch eine hervorragende Maxime, um den Unwägbarkeiten des Lebens zu begegnen, oder? Es gibt doch immer eine Lösung!

Würden wir uns immer nur nach den Bedenkenträgern richten, die erst alle Möglichkeiten doppelt und dreifach durchdenken wollen, bevor sie auch nur einen Schritt wagen, wären wir nie aus unseren Höhlen herausgekommen. Und erst recht hätten wir nicht die Lebensqualität erreicht, die zumindest ein großer und wachsender Teil der Menschheit heute genießt. Man kann nun mal nicht in die Zukunft sehen. Deshalb ist es doch eine der hervorragendsten Eigenschaften des Menschen, dass er sich mutig und spontan in die Welt wirft, auch wenn er nicht weiß, was es ihm bringen wird.

Falsche Entscheidungen, Pläne, die nicht weit genug in die Zukunft und nicht zu Ende gedacht werden – vor diesem Hintergrund ist das doch eigentlich nachvollziehbar und gar nicht so schlimm, oder? Es sind ja womöglich nur Einzelfälle, zu vernachlässigende und verzeihliche Patzer, die leicht durch die Kreativität und Intelligenz des Menschen wieder mehr als ausgeglichen werden können.

So könnte man es sehen. So könnte man sich auch das ständige Versagen des Menschen in Sachen Zukunft, die er so konsequent aus seinem Tun ausklammert, schönreden. So könnte man auch das Versagen von Organisationen und Gesellschaften deuten, die es nicht schaffen, die Zukunft in ausreichendem Maße in ihre Strategien einzubeziehen.

Mit solch einer Erklärung könnte man eine schmerzliche Erkenntnis vermeiden: Was wäre, wenn es uns Menschen aus rein biologischen Gründen extrem schwerfällt, die Zukunft zu denken und in unserem Handeln zu berücksichtigen? Was wäre, wenn unserer menschliches Wesen darauf angelegt ist, im Hier und Jetzt gefangen zu sein? Es wäre schon viel geleistet, wenn wir aus gemachten Fehlern und den Erfahrungen aus der Vergangenheit dazulernen und beim Entscheiden den Blick in den Rückspiegel kultivieren würden. Kann es sein, dass wir schlicht überfordert sind, die Folgen unseres gegenwärtigen Handelns ausreichend gut in unsere Überlegungen einzubeziehen?

Halt! Soll das etwa bedeuten, dass der Mensch nicht fähig ist, sinnvoll zu planen? Dass er nicht fähig ist, aus einer kreativen Vorstellung der Zukunft sein Handeln zu entwickeln? Kann es wirklich sein, dass die Spezies Mensch so gebaut ist, dass sie nur Entscheidungen trifft, deren Ergebnisse ihr sofort und höchstpersönlich angenehm sind? Und dass alles, was über diesen Horizont der direkten individuellen Bedürfnisbefriedigung hinausgeht, sie nicht interessiert?

Das wäre zu simpel. Das Planen, die Vorratsbildung, die Vorsorge für schlechte Zeiten, der Verzicht in der Gegenwart auf einen Nutzen in der Zukunft, das alles sind doch gerade Merkmale des menschlichen Naturells, die unsere Spezies gegenüber den anderen deutlich heraushebt.

Ist es nicht auch von Vorteil, wenn wir das heute Unangenehme zu vermeiden suchen? Das ist doch gerade ein Grundprinzip der Innovation! Wie sonst sind zum Beispiel die enormen technischen Fortschritte von der Dampfmaschine über den Klettverschluss bis zum E-Bike zu erklären? Innovation macht unser Leben doch schöner und weniger mühsam.

Was ist nun von der Kurzfrist-Denke des Menschengeschlechts zu halten? Welches Urteil ist richtig? Das versöhnliche und abwiegelnde oder das harte, alarmierende? Leben wir in einer schädlichen, höchst risikoreichen Kurzfrist-Kultur? Ist es unsere Eigenart, immer nur das Naheliegende zu sehen. Oder handelt es sich doch nur um vernachlässigbare Einzelfälle?

Wenn wir tatsächlich in einer Kurzfrist-Kultur leben, müsste dieses Phänomen permanent und auf allen Ebenen der Zivilisation zu beobachten sein – also auf der Ebene des Individuums, auf der Ebene von Gemeinschaften, Organisationen, Gesellschaften, auf der Ebene von Staaten und Nationen wie auch auf der globalen Ebene. Dann müsste Kurzfrist-Denken für die meisten Menschen so gut wie immer »normal« sein.

Ist das so? Gehen wir die Ebenen durch. Schauen wir zuerst einmal darauf, wie sich das Individuum typischerweise verhält.

Live fast, die young

Im Anatomie-Saal stehen die Medizinstudenten um die Cro­margan-Tische herum. Auf jedem Tisch ein Körper, ehemals lebendige Menschen, die ihre sterblichen Überreste der Wissenschaft vermacht haben. Nach den Nieren ist heute die Lunge dran. An Tisch vier sind echte Überflieger am Werk. Mit ein paar gezielten Schnitten ist der Brustkorb geöffnet, die Luftröhre durchtrennt. Während sich die Studenten an den anderen Tischen noch mit der Rippenschere abplagen, liegen die beiden Lungenflügel schon auf der großen Stahlschüssel zur weiteren Untersuchung bereit.

»Hey, schaut mal! Unsere ist richtig schwarz!« Die Studenten schauen sich den Inhalt der Schale an. Die Lunge, die sie aus dem Brustkorb einer älteren Frau geholt haben, sieht so aus, als wäre sie in Asche gefallen. Das eigentlich rosa-weiße Organ ist grau, einzelne Stellen sind sogar tiefschwarz. »Mann, die muss mindestens zwei Päckchen am Tag durchgezogen haben«, sagt einer der angehenden Mediziner, der die anderen um einen Kopf überragt.

Der Dozent, der nach dem erstaunten Ausruf hinzugetreten ist, nickt und freut sich. »Nächste Woche, wenn die Blutgefäße auf dem Programm stehen, werden Sie wieder viel Schreck­liches zu sehen bekommen. Die Durchblutung ist bei Rauchern stark eingeschränkt. Wahrscheinlich werden Sie auch eine wunderschöne Arteriosklerose finden. Tja, die gute Frau wird gewaltige Probleme wegen ihrer Raucherei gehabt haben.« »Ja«, frotzelt der Lange, »zum Beispiel dass sie mit 62 gestorben ist …«

Nachdem der Dozent zum nächsten Tisch weitergegangen ist, zwinkert der Lange von Tisch vier seiner Kommilitonin zu. »Komm, wir haben jetzt ein paar Minuten. Lass uns eine rauchen gehen.«

Jeder weiß, dass Rauchen so gesundheitsschädlich ist, dass man elend daran zugrunde gehen kann. Lungen-, Kehlkopf- und Zungenkrebs sowie dramatisch verengte Blutgefäße in den Ex­tremitäten, die so schlecht durchblutet sind, dass eine Amputation oft unausweichlich ist, daneben eine ausgeprägte Osteoporose, krankhafte Aufblähung der Lungenbläschen bis zum Platzen, Leberschäden, die Ablösung der Netzhaut bis zum völligen Erblinden und vieles mehr sind häufig die Folge. Alles hinlänglich bekannt.

Keine schönen Aussichten. Trotzdem rauchen viele Menschen. Es ist entspannend, sagen sie. Jetzt. Es ist cool, oder war es zumindest mal. Jetzt. Es hilft, das Gewicht zu halten. Jetzt. Es ist gesellig. Jetzt. Selbst die Nichtraucher schauen manchmal neidisch auf die Raucher, wenn sie sich in verschworenen Gruppen zusammenfinden.

Viele Raucher haben einen scheinbar perfekten Plan: Sie genießen die Zigarette heute, und für morgen nehmen sie sich vor, das Rauchen aufzugeben, um ihre Gesundheit zu schützen. Am nächsten Tag ist der Plan derselbe: Heute noch genießen, später vernünftig handeln. So geht das weiter, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Wenn der moribunde Raucher irgendwann auf der Intensiv­station liegt, mit Venüle im Arm und Katheter in der Blase, auf dem letzten Loch pfeifend, den Schlauch für die künstliche Ernährung in der Nase und elend eingehend, denkt er: »Hätte ich doch bloß …«

Muss denn immer und immer wieder das Rauchen als Beispiel menschlicher Unvernunft herhalten? Ist das Thema nicht schon arg ausgeleiert? Ganz im Gegenteil! Es wurde in der Vergangenheit immens viel Geld und Energie in die Aufklärung gesteckt. Niemand kann behaupten, ein Raucher sei sich nicht bewusst, wie der Qualm seinen Körper schädigt. Aber er raucht weiter. Selbst wenn der Gesetzgeber versucht, den Rauchern ihre Lust an der Zigarette zu vermiesen, sie bei jedem Griff zur Zigarette mit großen Buchstaben und in manchen Ländern mit drastischen Fotos auf der Packung an die Tödlichkeit ihres Tuns zu erinnern, selbst dann ändern nur wenige ihr Verhalten. Jeder Raucher weiß, dass er mit jeder Zigarette Minute für Minute aus seiner Lebensspanne streicht. Auf der rationalen Ebene ist ihnen alles klar, aber emotional will »es« in ihnen einfach die nächste Zigarette. Das Rauchen ist und bleibt ein sehr gutes Beispiel für die verblüffende und fatale Kurzfrist-Orientierung des Menschen.

Was uns kurzfristig glücklich macht, schadet uns oft in unserem späteren Leben.

Weil der Mensch zukünftige Folgen und Kosten ausblendet, verhält er sich in vielen Bereichen tödlich unvernünftig. Weil wir nicht bereit sind, auf den Genuss im Hier und Jetzt zu verzichten, verpassen wir große Chancen im Leben.

Es zieht sich durch das ganze Leben des Menschen und durch viele Bereiche. Jetzt genehmige ich mir noch dieses Crèmetörtchen und ab morgen ernähre ich mich gesünder. Oder auch nicht. Jetzt lege ich mich erst einmal aufs Sofa und schaue »Scrubs«. Sport geht auch morgen noch. Oder auch nicht. Jetzt kaufe ich den SUV mit dem starken Motor. Ich werde ja bestimmt mehr verdienen nächstes Jahr, dann kann ich die Raten locker zahlen. Oder auch nicht. Jetzt spiele ich noch eine Runde World of Warcraft, zum Controlling-Kurs für mein berufliches Fortkommen melde ich mich morgen an. Oder auch nicht.

Spätestens seit der Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises an George Akerlof 2001 ist bekannt, dass der Mensch nicht der Homo oeconomicus ist, den man in ihm bis dahin immer sah. Ökonomen, Juristen, Ärzte und viele andere mussten einsehen, dass der Mensch nicht rational handelt, um seinen Nutzen zu maximieren. Dann gäbe es keine Raucher, keine Übergewichtigen, keine Überschuldung, keine Insolvenzen, kein Bildungsde­fizit, keine Versorgungslücke im Alter, keine Umweltzerstörung, keine Überfischung und so weiter.

Es geht hier um weit mehr als um Aufschieberitis oder neudeutsch Prokrastination. Es geht auch um mehr als die menschlichen Laster.

Zugegeben, die Freuden und Genüsse im Hier und Jetzt machen das Leben oft erst schön und lebenswert. Wir tun daher gut daran, die zumeist folgenlosen Augenblicke echten Glückes von den Situationen des Pseudo-Glückes zu unterscheiden.

Es gilt zu unterscheiden zwischen schönen Dingen, die man weitgehend folgenlos genießen kann – maßvolles gutes Essen, ein Tag auf der Couch, ein, zwei Gläser Wein ab und zu – und den »schönen« Dingen, die man jetzt genießt, die aber in der Zukunft enorme Nachteile, Kosten, Krisen oder Schmerzen verursachen. Im zweiten Fall tun wir aus Trägheit, Dummheit, Gier oder Angst Dinge, die uns, unseren Mitmenschen und oft der gesamten Menschheit langfristig erheblich schaden oder sie gar existentiell gefährden.

Offenbar sind wir Menschen nicht in der Lage, die wahren Folgen unseres Tuns abzuschätzen oder angemessen mit den Konsequenzen umzugehen. Wer sich heillos überschuldet, der weiß, dass am Ende Lieferanten und Kreditgeber auf ihren unbezahlten Rechnungen sitzen bleiben, finanziell geschädigt werden und ihm ordentlich Ärger machen werden.

Wer immer die höchste Rendite für sein Erspartes haben will, muss auch seine Verantwortung dafür erkennen, dass die »bösen« Investment-Banken und ihre Fondsmanager alle legalen, halb­legalen und oft auch illegalen Möglichkeiten ausschöpfen, die geforderte hohe Rendite zu zahlen. Die Kurse und Erträge müssen steigen. Bis zur nächsten Krise.

Wer kein Finanzpolster fürs Alter aufbaut, weiß, dass die heute Jungen oder gar noch Ungeborenen dereinst einen Teil ihres schwer und ehrlich verdienten Geldes zwangsweise hergeben müssen, um seinen Mangel an Eigenverantwortung auszugleichen.

Wer Parteien und Politiker wählt, die kurzfristig Wohltaten versprechen, langfristig aber bereits erkennbar größeren Schaden für die Gesellschaft verursachen, darf sich über Krisen nicht beschweren, nicht über wirtschaftliche, nicht über soziale und nicht über ökologische Krisen.

Wie die Wähler handeln auch politische Akteure notorisch kurzsichtig. Oft sind sie persönlich zutiefst davon überzeugt, dass der langfristige Gestaltungshorizont nötig und richtig ist. Dennoch sind ihnen die nächsten Wahlen im praktischen Handeln letztendlich wichtiger als das langfristige Gesamtwohl.

So gut wie alle Politiker sind sich des Problems bewusst. Viele von ihnen treten sogar ihr Amt mit dem festen Vorsatz an, es endlich vernünftig und besser zu machen. Doch die Mühlen des politischen Betriebes und die kurzsichtige menschliche Natur zermürben auch die größte Motivation und Vernunft.

Es ist geradezu fatal, dass die erfolgreiche Umsetzung von Projekten, mit denen die großen Probleme eines Staates gelöst werden können, meist deutlich länger dauert als eine Legislatur­periode. Die Präsidenten der USA setzen unbeliebte Vorhaben traditionell erst in ihrer zweiten Legislaturperiode um, weil sie ein drittes Mal ohnehin nicht gewählt werden können. Wer aber wieder gewählt werden will, nimmt das kurzfristig Machbare in Angriff, besonders dann, wenn es sich gut vermarkten lässt. Oft ist die Zahl der für die Maßnahme ausgegebenen Milliarden der einzige Maßstab dafür, wie viel Gutes und Richtiges man getan hat.

Wenn also nicht nur Otto Normalverbraucher, sondern auch Menschen, die wirtschaftliche oder gesellschaftliche Führungspositionen besetzen, dazu neigen, die Kosten ihres Handelns für sich selbst und für andere aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen, dann sind auch deren Entscheidungen in Unternehmen, Verbänden, Ausschüssen, Aufsichtsräten, Regierungen und Kommissionen in den meisten Fällen zukunftsblind. Die Tragweite ihrer Entscheidungen und Taten ist groß und somit auch die Folgen ihrer Kurzfrist-Orientierung.

Damit sind wir schon auf Stufe zwei: Menschen schaden sich mit ihrem Kurzfrist-Denken nicht nur selbst, sie schaden auch anderen. Die Auswirkungen ihrer Unvernunft müssen nicht nur sie selbst tragen, sondern oft auch ihr Umfeld. Das können die Unternehmen, die Organisationen, die Gemeinden oder auch die Gesellschaften sein, denen sie angehören. Aber es gibt noch eine dritte Stufe: Die Kurzfrist-Orientierung kann auch auf internationaler und globaler Ebene enormen Schaden anrichten.

Ein See verschwindet

Früher war er mehr als anderthalbmal so groß wie die Schweiz und bis zu 53 Meter tief. Das Besondere an ihm war, dass das Wasser, das ihn über seine zwei Haupt-Zuflüsse Amudarja und Syrdarja erreichte, über seine enorme Oberfläche auch wieder verdunstete. Einen Abfluss gab es nicht. Aus diesem Grund war das Wasser des Aralsees leicht salzhaltig. Es hatte sich eine weltweit einmalige Flora und Fauna im See und in seiner Umgebung entwickelt. Der große Fischreichtum des Sees ernährte die Bevölkerung der angrenzenden Ufer. Tausende Schiffe und Boote durchpflügten geschäftig seine Oberfläche. Um ihn herum gab es nur ein wenig fruchtbar gemachtes Kulturland, ansonsten im Wesentlichen Steppen, Halbwüsten und Sandwüsten.

Aus Zuflussmenge und Verdunstungsrate des Wassers ergab sich die Größe des Sees. Seit Jahrhunderten wurde in diesem ariden Gebiet auch Wasser der Zuflüsse für die Bewässerung von Feldern und Obstgärten entnommen. Doch ab etwa 1960 wurde das empfindliche Gleichgewicht für immer gestört. Die Planwirtschaft der Sowjetunion entdeckte die Teilrepublik Usbekistan als zukünftigen Devisenbringer ersten Ranges. Die Region sollte zum bedeutendsten Baumwoll-Lieferanten der Sowjetunion werden. In einem gigantischen Bewässerungsprojekt wurde das Wasser der Flüsse auf die neuen Felder umgeleitet. Bald kamen nicht nur 95 Prozent der Baumwolle, sondern auch 30 Prozent des Obstes und 40 Prozent der Reiserträge der gesamten Sowjetunion aus dem Gebiet um den Aralsee.

Baumwolle, Obst und Reis sind allesamt außerordentlich bewässerungsintensiv und das in einer ariden Region. Das dafür nötige Wasser fehlte fortan dem Aralsee. 1960 erreichten noch 56 Milliarden Kubikmeter Flusswasser den Aralsee, ungefähr so viel, wie der Rhein jedes Jahr in die Nordsee schwemmt. Mitte der 70er Jahre waren es nur noch zehn Milliarden Kubikmeter und Anfang der 80er Jahre kam schließlich kaum noch Flusswasser im See an. Aus den Zuflüssen wurde auch noch der letzte Tropfen Wasser für die intensive Bewirtschaftung der Felder abgezweigt.

Der Wasserspiegel des Aralsees sank in diesem Zeitraum um 14 Meter. Er verlandete. Die Fischereiflotte saß bald buchstäblich auf dem Trockenen. Heute liegen die ehemaligen Hafenstädte und Badeorte bis zu 200 Kilometer vom Seeufer entfernt. Um sie herum sind keine blühenden Landschaften entstanden, sondern Salz- und Staubwüsten. Im See selbst ist kaum noch Leben. Weil das Wasser weiter verdunstete, aber kein Frisch­wasser mehr hinzukam, stieg der Salzgehalt des Sees von ursprünglich etwa einem auf über 3,3 Prozent. Auf dem Land, das vom Seewasser freigegeben wurde, türmen sich heute weiße Dünen aus Salz. Der Wind bläst das Salz über die gesamte Region und macht die alten wie die neuen Felder zu Wüsten. In manchen Gebieten wurden Ablagerungen von einer Tonne Salz pro Jahr und Hektar gemessen. Aber es ist nicht nur das Salz, das alles Leben unter sich begräbt. Jahrzehntelang wurden Massen an Düngemitteln, Pestiziden und Herbiziden verspritzt, darunter DDT und Agent Orange. All diese Stoffe sind noch vorhanden und vermischen sich mit dem Salz zu einem weißen Leichentuch.

Die politischen Erben der Sowjetunion in dieser Region, Kasachstan und Usbekistan, haben heute mit den gewaltigen Folgen dieses Irrsinns zu kämpfen. 60 000 Arbeitsplätze gingen allein in der Fischerei verloren. Die Bevölkerung verlor nicht nur ihre Lebensgrundlage, sondern auch ihre Gesundheit. Die Lebenserwartung liegt heute unter der des Jahres 1975. Die Sterblichkeitsrate aufgrund von Krebs, TBC, Hirnhautentzündung und anderen Erkrankungen ist um das Fünfzehnfache gestiegen. Die Zahl der Fehlgeburten und Kinder, die mit Missbildungen zur Welt kommen, ist erschreckend hoch. Der Aralsee, ursprünglich rund 68 000 Quadratkilometer groß, hat nur noch weniger als 14 000 Quadratkilometer – aus anderthalbmal Schweiz ist weniger als ein Drittel der Schweiz geworden. Zudem ist der See in mehrere Teile zerfallen. Der menschengemachte Wandel des Sees hat auch das Klima der Gegend verändert. Die Sommer sind heißer, die Winter kälter, die Zahl der Frosttage ist gestiegen, Stürme fegen über das verwüstete Land.

Der Aralsee war einmal der viertgrößte See der Erde und ermöglichte seinen Anwohnern eine gute Lebensqualität. Heute ist er ein toter Tümpel mit rostzerfressenen Schiffswracks, die inmitten einer lebensfeindlichen Wüste vor sich hinrotten. Der Aralsee ist ein Beispiel für den unwiderruflichen Niedergang einer ganzen Region, mit katastrophalen Folgen für Natur, Wirtschaft und Gesellschaft.

Wie konnte das geschehen? Nötig waren nur eine Regierung im fernen Moskau auf der Suche nach einer Möglichkeit, dringend benötigte Devisen an Land zu ziehen, eine »gute Idee« und menschenverachtende Ignoranz gegenüber den zukünftigen Folgen für die ganze Region und ihre Bevölkerung. Warnungen hatte es genug gegeben. Doch was Jahrzehnte später die Folgen sein könnten, war den Verantwortlichen gleichgültig. Es war weit weg, zeitlich und auch räumlich. Wir brauchen die Devisen hier und jetzt, werden sie sich gedacht haben.

Wir leben in einer Kurzfrist-Kultur globalen Ausmaßes, die schon heute dramatische Folgen hat, für unser individuelles Glück, den Erfolg von Organisationen, unseren kollektiven Wohl­stand und auch für unseren Fortbestand als Spezies. Die teuren und oft tödlichen Folgen beginnen sich aufzutürmen.

Im September 2000 kamen fast alle Staats- und Regierungschefs der Erde zu dem bis dahin größten Gipfeltreffen der Vereinten Nationen zusammen. Hochrangige Vertreter der UN, der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds und der OECD bildeten eine Arbeitsgruppe, die die sogenannte Millenniums-Erklärung1 vorbereitete, die dann von 189 Ländern verabschiedet wurde. Diese Erklärung war die größte Herausforderung der Menschheit für die kommenden Jahrzehnte. Ein Jahr später wurden aus dieser Erklärung die acht Millenniums-Entwicklungsziele2 abgeleitet, die sich die Weltgemeinschaft gesetzt hat.

1. Extreme Armut und Hunger beseitigen

2. Die Grundschulausbildung für alle Kinder gewährleisten

3. Die Gleichstellung und den größeren Einfluss der Frauen fördern

4. Die Kindersterblichkeit senken

5. Die Gesundheit der Mütter verbessern

6. HIV/Aids, Malaria und andere Krankheiten bekämpfen

7. Eine nachhaltige Umwelt gewährleisten

8. Eine globale Partnerschaft im Dienst der Entwicklung schaffen

Manchmal können wir offenbar die Zukunft doch sehen und sind in der Lage, erforderliche Maßnahmen vorzudenken. Aber danach handeln? Acht Ziele, acht Problemfelder.

Schaut man sie sich genauer an, erkennt man, dass beinahe alle diese Problemfelder ihren Ursprung darin haben, dass die Menschheit in Vergangenheit und Gegenwart zukunftsblind agiert hat und immer noch agiert.

Der Zusammenhang dieser acht Zukunftsfelder mit der Kurzfrist-Kultur als zentraler Ursache ist offensichtlich.

Wenn heute noch immer ein großer Teil der Menschheit unter Armut und Hunger leidet, dann deshalb, weil »Entwicklungshilfe« in den meisten Fällen nach wie vor bedeutet, die kurz­fristige Lösung in Form von Geld- und Nahrungsmitteltransfers der langfristigen Perspektive der Bildungs- und Wirtschafts­förderung vorzuziehen. Schließlich dürfen die Anbieter auf den heimischen Märkten nicht noch mehr Konkurrenz bekommen.

Wenn noch immer ein viel zu großer Teil der Kinder keine Schule besucht, dann deshalb, weil der kurzfristig nützliche Beitrag der arbeitenden Kinder zum Familieneinkommen höher geschätzt wird als die langfristig sinnvollere Alternative, die Kinder gut auszubilden und damit ihren Familien und Dörfern ein besseres und gesünderes Leben zu ermöglichen.

Wenn, wie der WWF-Wald-Index zeigt, immer noch jedes Jahr 133 Millionen Hektar Wald gerodet werden, dann deshalb, weil wir den sofortigen wirtschaftlichen Gewinn der nachhaltigen Waldbewirtschaftung vorziehen, selbst wenn Arten sterben und uns allen mit dem Wald buchstäblich die Luft zum Atmen genommen wird.

Wenn uns um 2050 nur noch die Hälfte der heute pro Kopf verfügbaren Anbaufläche zur Verfügung stehen wird,4 dann auch deshalb, weil wir es nach zehntausend Jahren Ackerbau und trotz allen technischen und wissenschaftlichen Fortschritts immer noch nicht geschafft haben, wirklich nachhaltig mit Mutter Erde umzugehen. Mit Überweidung, bewässerungsbedingter Versalzung, Zubetonierung und dem fragwürdigen Einsatz chemischer Substanzen sägen wir am Ast, auf dem wir sitzen.

Wenn der weltweite Fischfang seit 1950 unfassbare 90 Prozent5 des Bestandes an großen Fischen vernichtet hat, dann deshalb, weil der Geldgewinn jetzt fließen soll, weil der Fischfang sogar noch subventioniert wird und weil wissenschaftlich fundierte Empfehlungen für Fangquoten von der EU einfach verdreifacht werden und weil die Fischfabriken auf hoher See sich noch nicht einmal um diese hohen Quoten scheren.

90 Prozent! Die Fischerei-Industrie räumt immerhin siebzig Prozent ein. Man hat den Eindruck, dass die Menschheit einen totalen Krieg gegen die Fische führt und deren Ausrottung das angestrebte Ziel ist. Dabei ernähren sich 1,3 Milliarden Menschen hauptsächlich von Fisch. Die Überfischung schadet nicht nur der Biosphäre und unseren Nahrungsgrundlagen. Sie trifft die Fischerei sogar genau dort, wo sie eigentlich gewinnen will: Einem UN-Bericht zufolge verliert die Fischerei-Industrie durch die selbstverursachte Überfischung jedes Jahr 50 Milliarden Dollar.6

Wenn auch weiterhin wissenschaftliche und technologische Innovationen zur Verbesserung des Lebens in weiten Teilen der Welt nicht zur Anwendung kommen, weil nationale oder individuelle Interessen, ethnische Konflikte, Terrorismus und organisierte Kriminalität bislang die Durchsetzung ethischer Standards als Grundlage globaler Entscheidungen verhindert haben, dann deshalb, weil die Kultur des Kurzfrist-Denkens auf dem gesamten Globus Normalität ist und wir auf allen gesellschaftlichen Ebenen kein Bewusstsein für die langfristigen Folgen dieser Kultur haben.

Durch die Zeiten

Die Kurzfrist-Denke ist keineswegs neu. Sie ist nicht etwa eine »Krankheit«, die uns erst im Industriezeitalter befiel. Zahlreich sind die Geschichten über Ureinwohner, die in ewigem Einklang mit ihrer Umwelt gelebt haben sollen. Aber sie sind nicht ganz wahr.

Auch Indianer haben mehr Tiere erlegt, als sie essen oder verarbeiten konnten, wenn sich die Möglichkeit dazu bot. Nur lassen sich nicht sehr viele Bisons töten, wenn man sie zu Fuß und mit Pfeil und Bogen erlegen muss. Unsere Vorfahren in Mitteleuropa haben vermutlich ganze Herden von Wildpferden über die Klippen in den Tod gejagt. Die meterdicke Knochenschicht, die man unterhalb des Felsens von Solutré bei Lyon fand, gibt über diese Jagdmethode ein eindrucksvolles Zeugnis ab. Auch die Vorfahren der nordamerikanischen Indianer waren vor rund 15 000 Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit an der Ausrottung von Mammut und Mastodon, Riesenfaultier und Säbelzahntiger maßgeblich beteiligt. Insgesamt 30 Arten jagdbaren Wilds tilgten sie nach übereinstimmender Ansicht vieler Wissenschaftler von der Erde. Auch das Urpferd fiel ihnen zum Opfer.

Die Anasazi aus dem Südwesten der USA haben schon vor tausend Jahren für ihre bis zu fünfstöckigen Pueblos die Wälder ihrer Umgebung so gründlich abgeholzt, dass nur noch eine unfruchtbare, unbewohnbare Landschaft zurückblieb. Die Maori auf Neuseeland, die Polynesier auf der Osterinsel, die Griechen der Antike auf dem Peloponnes, die Römer in Dalmatien – sie alle holten sich an Holz, was zu holen war.

»Nimm, was du kriegen kannst, und zwar jetzt sofort« – diese Art zu denken und zu handeln hat uns offenbar schon immer ausgezeichnet. So weit man auch zurückschaut, die Auswirkungen unseres Tuns auf unsere Zukunft waren selten ein Thema.

Auch im ganz Persönlichen gehört die Kurzfrist-Orientierung seit jeher zum Menschen. Wie heute wurde man auch in der Antike und im Mittelalter fett, wenn man zu viel aß und sich zu wenig bewegte. Anders als heute stellte sich nur selten die Frage, ob man sich mäßigen oder seinen Gelüsten freien Lauf lassen sollte. Die meisten Menschen mussten hart arbeiten und kämpfen, um einigermaßen genug zu essen zu haben. Die Gier nach Essen erfüllte einen wichtigen Zweck, sie sicherte schlicht das Überleben.

Die Kurzfrist-Orientierung ist in uns angelegt. In seinem Buch Gefühlte Zeit7 schrieb Marc Wittmann treffend: »Nur was in einem gewissen Zeithorizont der Gegenwärtigkeit angesiedelt ist, wird für den zeitlich Kurzsichtigen handlungsrelevant. Alles, was zeitlich weiter entfernt ist, jenseits eines gewissen Zeithorizonts, findet dagegen keine Berücksichtigung.«

Solange der Mensch seine Umwelt nur in begrenztem Maße schädigen konnte, war seine Kurzfrist-Denke kein großes Pro­blem. Solange sich die Welt nur langsam veränderte, kam der Mensch mit seiner angeborenen Gegenwarts-Orientierung gut zurecht.

Es gab also eine Zeit, in der der Mensch mit seinem Kurzfrist-Hirn ziemlich gut ausgerüstet war, in der er nicht falsch handelte.

Erst im Zuge der Industrialisierung wurde das Kurzfrist-Denken zum Nachteil und zum Problem. Die Verhältnisse begannen zu kippen. Durch den technischen Fortschritt verfügten wir plötzlich über einen viel stärkeren Hebel. Unsere Möglichkeiten begannen unsere Fähigkeit zur Abschätzung der Folgen zu übersteigen. Wir können nicht nur eine ganze Herde Wildpferde erlegen, wir können mit Leichtigkeit tausende Arten vom Erdboden tilgen. Es werden nicht nur ein paar Reiche und Mächtige übergewichtig. In den modernen Überflussgesellschaften hat jedermann Kalorien im Überfluss zur Verfügung. Übergewicht und Fettleibigkeit sind ein Massenphänomen.

Manche nennen unser Zeitalter das Anthropozän, das Zeit­alter, in dem der Mensch die Fähigkeit erlangt hat, die Biosphäre und damit seine Lebensgrundlagen zu gestalten und zu zerstören.

Heute hat uns unser selbstgemachter Fortschritt überholt.

Unser kurzfristiges Denken und Handeln bringt uns in große Gefahr.

Der Mensch ist zwar das einzige Wesen, das über ein paar Stunden8 hinaus über die Zukunft nachdenken kann, aber er kann es nicht besonders gut. Diese zeitliche Kurzsichtigkeit ist keine Krankheit, keine Abweichung vom Normalen. Sie ist Normalität.

Aber die Nachhaltigkeit …

Aber wir haben doch schon seit 1987 das Konzept für nachhaltige Entwicklung, könnte man ausrufen. Das mit der Kurzfrist-Orientierung ist doch ein alter Hut, das Problem schon längst gelöst. In gewisser Weise hätte man mit diesem Einwand recht. Kaum ein Werk ist so häufig und intensiv für Zukunftsüberlegungen herangezogen worden wie der 1987 veröffentlichte Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung unter dem Vorsitz von Gro Harlem Brundtland. Darauf aufbauend wurde 1992 auf der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro die Agenda 21 beschlossen. 178 Staaten einigten sich auf die Verwirklichung der Empfehlungen der Brundtland-Kommission, auf freiwilliger Basis versteht sich. Die deutsche Fassung des Umsetzungsprogramms umfasst 360 Seiten und bildet die Grundlage für hunderttausende lokaler Agenden in Kommunen weltweit.

Eine Vision von einer besseren Zukunft zu entwickeln, Etappenziele zu formulieren und Maßnahmen zu vereinbaren, war ein erster unverzichtbarer Schritt, um die Zukunft des Menschen auf der Erde zu sichern. Noch lobenswerter ist, dass diese Vision auf einer umfassenden Betrachtung der absehbaren und vorstellbaren Umfeldentwicklungen und einer breit angelegten Erkennung und Entwicklung von Zukunftschancen beruht. Das ist ein Beispiel purer Langfrist-Orientierung!