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Während der gesamten Menschheitsgeschichte haben wir mit Vögeln zusammengelebt. Wir haben sie als Nahrung gejagt und domestiziert, sie in unseren Mythen, Religionen und Ritualen verehrt, sie wegen ihrer natürlichen Ressourcen ausgebeutet und uns von ihnen zu unserer Musik, Kunst und Poesie inspirieren lassen. In Zehn Vögel, die die Welt veränderten erzählt der Naturforscher und Autor Stephen Moss die fesselnde Geschichte dieser ereignisreichen Beziehung anhand von zehn Schlüsselarten. Von Odins treuen Rabengefährten bis zu Darwins Finken, vom Wildtruthahn Amerikas bis zum Kaiserpinguin als starkes Symbol der Klimakrise ist dies ein faszinierendes, aufschlussreiches und unendlich fesselndes Werk der Naturgeschichte.
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Seitenzahl: 411
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© eBook: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München
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Projektleitung: Wilhelm Klemm, Susanne Kronester-Ritter
Lektorat: Boris Heczko
Covergestaltung: ki 36 Sabine Krohberger
eBook-Herstellung: Chiara Knell
ISBN 978-3-8338-9197-7
1. Auflage 2023
Bildnachweis
Illustrationen: Nicole Heidaripour
Syndication: www.seasons.agency
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Während der gesamten Menschheitsgeschichte haben wir mit Vögeln zusammengelebt, wir haben sie gejagt und domestiziert, sie in den Mittelpunkt unserer Rituale, Mythen und Legenden gestellt und uns von ihnen zu großen Werken der Musik, Kunst und Poesie inspirieren lassen.
In seinem neuen Buch erzählt der Naturforscher, BBC-Dokumentarfilmer und Bestseller-Autor Stephen Moss die fesselnde Geschichte unserer ereignisreichen Beziehung zur Vogelwelt anhand von zehn Schlüsselarten.
Hätten Sie gewusst, dass der Rabe in allen Schöpfungsmythen der nördlichen Halbkugel eine zentrale Rolle spielt? Oder dass die bescheidene Haustaube geholfen hat, Schlachten zu gewinnen und sogar den Verlauf der beiden Weltkriege zu beeinflussen? Dass erst der Dünger des Guanokormorans die Intensivlandwirtschaft ermöglichte, die weite Landstriche in Nordamerika und Europa für immer verändert hat? Und dass uns das Schicksal des Kaiserpinguins, dessen Population stetig abnimmt, auf dramatische Weise davor warnt, weiterhin ungebremst auf die globale Klimakrise zuzusteuern?
Diese und andere Geschichten aus der langen, turbulenten und immer wieder faszinierenden Beziehung zwischen Vögeln und Menschheit werden in diesem Buch erzählt.
Für meine lieben Freunde Lucy McRobert und Rob Lambert – Historiker, Umweltschützer und Vogelbeobachter – mit herzlichem Dank.
Vögel haben Flügel. Sie sind frei. Sie können fliegen, wohin sie wollen, wann sie wollen. Sie haben die Art von Bewegungsfreiheit, um die viele Menschen sie beneiden.
Roger Tory Peterson
Während der gesamten Menschheitsgeschichte haben wir unsere Welt mit Vögeln geteilt.
Wir haben sie zu Nahrungszwecken und wegen ihrer Federn gejagt und domestiziert, haben sie in den Mittelpunkt unserer Rituale, Religionen, Mythen und Legenden gestellt, sie vergiftet, verfolgt und oft dämonisiert und sie in unserer Musik, Kunst und Dichtung gefeiert.
Selbst heute noch spielen Vögel – trotz einer wachsenden und sehr beunruhigenden Kluft zwischen der Menschheit und dem Rest der Natur – eine wichtige Rolle in unserem Leben.
Wie zehn Vögel die Welt veränderten erzählt die Geschichte dieser langen und ereignisreichen Beziehung, die die gesamte Menschheitsgeschichte umspannt, und handelt von Vögeln auf allen sieben Kontinenten der Welt. Dabei geht es um jene Arten, deren Leben und deren Interaktionen mit uns den Lauf der Menschheitsgeschichte auf die eine oder andere Weise verändert haben.
Aber warum Vögel? Warum nicht Säugetiere oder Falter, Käfer oder Schmetterlinge, Spinnen oder Schlangen oder sogar domestizierte Tiere wie Pferde, Hunde oder Katzen? All diese Tiere sind so wie Vögel von uns ausgebeutet und gefeiert worden und von zentraler Bedeutung für unsere Geschichte und Kultur. Doch von allen wild lebenden Kreaturen dieser Welt bilden Vögel diejenige Gruppe, zu der wir Menschen seit jeher die engste, tiefste und vielschichtigste Beziehung haben.
Dies liegt zum Teil an ihrer Allgegenwart. Es gibt keinen Ort auf diesem Planeten – von den Polen bis zum Äquator –, an dem man keine Vögel findet. Sie sind nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich omnipräsent. Man kann sie im Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter sehen und den größten Teil des Jahres auch hören.
Doch das allein erklärt nicht die Faszination, die Vögel auf uns ausüben. So wie andere Arten – und auch unbelebte Objekte wie Autos – vermenschlichen wir sie oft und feiern (und verdammen manchmal) ihre angeblich menschlichen Eigenschaften.1 Während der Menschheitsgeschichte haben Angehörige unterschiedlichster Kulturen einige Vögel als putzig und liebenswert empfunden, andere hingegen als aggressiv und hassenswert. Und dies obwohl wir Menschen für diese Vögel nur ein weiteres großes, schwerfälliges Wesen sind, dem man in der Regel besser aus dem Weg geht.
Wir beschreiben zum Beispiel Vogelgesang – und seine positive Wirkung auf unsere Stimmung – oft mit musikalischen Begriffen und sprechen von dem »Morgenkonzert« oder dem »Orchester«. Wir glauben, dass der Pfau für uns »eine Show abzieht«, wenn er ein Rad schlägt, oder lachen über die ulkigen Mätzchen von Pinguinen. Im gleichen Atemzug bezeichnen wir Raubvögel vielleicht als »skrupellose Mörder«, Krähen als »verschlagen« und Geier als »abscheuliche Aasfresser« – und übersehen dabei allzu leicht die wichtige Aufgabe, die sie erfüllen, wenn sie verwesendes Fleisch und Tierkadaver beseitigen.
Die Tatsache, dass Vögel uns so stark faszinieren, lässt sich vor allem auf zwei Aspekte ihres Lebens zurückführen: auf ihre Flugfähigkeit und ihre Gesangskunst. Am meisten beneiden wir sie um ihre Flugfähigkeit, wie die folgenden, vom Dichter und Piloten John Gillespie Magee während des Zweiten Weltkriegs verfassten Zeilen zeigen:
Ich entschlüpfte den schweren Fesseln der Erde Und tanzte im Himmel auf lächelnd versilberten Schwingen …2
Die Fähigkeit von Vögeln, sich in die Lüfte zu schwingen und zum Himmel aufzusteigen – die sich so stark von unseren eigenen Fähigkeiten unterscheidet und mit so großer Eleganz und Anmut verbunden ist –, macht uns unsere eigene bescheidene, erdgebundene Existenz umso deutlicher. Es ist eine Gabe, um die wir sie seit prähistorischen Zeiten beneiden und die nachzuahmen Menschen erst in den letzten beiden Jahrhunderten gelungen ist – zunächst dank des Heißluftballons der Gebrüder Montgolfier und dann mit dem Flugzeug der Gebrüder Wright.3
Selbst heute noch, wo wir in der Lage sind, ein Flugzeug zu besteigen und zu den entferntesten Winkeln der Erde zu reisen, begeistert uns die Fähigkeit der Zugvögel, die gleichen Reisen unternehmen und den Weg zu ihrem Ziel und wieder zurück ohne die Hilfe moderner Navigationssysteme finden zu können.
Der Vogelgesang ist in vielerlei Hinsicht von noch zentralerer Bedeutung in unserem Leben und inspiriert seit Tausenden von Jahren Musiker, Dichter und unzählige Alltagshörer. Vor Kurzem haben Wissenschaftler herausgefunden, dass uns der Vogelgesang nicht zuletzt deshalb so fasziniert, weil er nachweislich die Stimmung hebt. Für den Vogel selbst jedoch ist das Singen ein Kampf auf Leben und Tod, um Rivalen abzuwehren, ein Weibchen anzulocken und sich fortzupflanzen und damit sein genetisches Erbe an die nächste Generation weiterzugeben, bevor sein kurzes Leben endet.
Ein weiterer Grund für die große Faszination, die das Leben der Vögel auf uns ausübt, liegt darin, dass Vögel viele unserer Gewohnheiten und Verhaltensweisen teilen. Bisweilen verhalten sie sich laut dem Kulturhistoriker und Kommentator Boria Sax tatsächlich auf eine Weise, die stark an das Verhalten von Menschen erinnert.
Aber heißt das, dass Vögel den Lauf der Menschheitsgeschichte beeinflusst und sogar die Welt verändert haben, wie der Titel meines Buches nahelegt? Ich glaube, ja. Die hier erzählten Geschichten zeigen den enormen Einfluss, den bestimmte Vogelarten oder Vogelgruppen auf historische und gegenwärtige Ereignisse sowie wichtige Aspekte unseres Lebens hatten und haben.
Diese reichen von einem im Lauf von Jahrhunderten erzielten kumulativen Effekt bis hin zu spezifischen Ereignissen während einer kurzen, aber entscheidenden Phase der Menschheitsgeschichte. Vögel haben soziale Revolutionen herbeigeführt, unsere Sicht auf die Welt verändert und, wenn kritische Kipppunkte erreicht wurden, Paradigmenwechsel herbeigeführt. Und die Wirkungen – vom wirtschaftlichen bis hin zum ökologischen Bereich – sind bemerkenswert unterschiedlich gewesen.
Jeder der zehn Vögel, die ich ausgewählt habe, steht in Zusammenhang mit einem fundamentalen Aspekt unseres Menschseins: Mythologie, Kommunikation, Nahrung und Familie, Aussterben, Evolution, Landwirtschaft, Naturschutz, Politik, Hybris und Klimanotstand. All diese Aspekte sind verwoben mit unserer engen, fortdauernden und sich ständig wandelnden Beziehung zu Vögeln.
Die Geschichte der zehn Vögel, die die Welt veränderten, wird in loser chronologischer Reihenfolge erzählt, wobei sich jedes der zehn Kapitel auf eine einzige Art (oder Gruppe) konzentriert und sie über die Jahrtausende hinweg beobachtet.
Seit Noah den Raben aus der Arche entließ, bilden Vögel das Herzstück unseres Aberglaubens, unserer Mythologie und unserer Folklore. Und so nimmt meine Geschichte ihren Ausgang in prähistorischen Zeiten, als dieses riesige und furchterregende Mitglied der Familie der Rabenvögel in Schöpfungsmythen überall in der nördlichen Hemisphäre auftauchte: von den indigenen Völkern Kanadas über die nordischen Völker bis hin zu den Nomadenvölkern Sibiriens. Doch der Einfluss des Raben ist nicht auf die Vergangenheit beschränkt; er formt auch weiterhin unsere Weltsicht.
Kurz nachdem die Menschen vor rund 10.000 Jahren damit begannen, den Wandel vom nomadisch lebenden Jäger und Sammler hin zum Ackerbauern zu vollziehen, und sesshaft wurden, um Getreide anzubauen und Vieh zu züchten, erkannten sie, welchen gewaltigen Vorteil es ihnen bieten würde, die in ihrem Umfeld lebenden wilden Vögel zu domestizieren. Einer dieser Vögel war die scheue, auf Felsvorsprüngen nistende Felsentaube. Ursprünglich wurde sie zu Nahrungszwecken gezüchtet, später jedoch wegen ihrer außergewöhnlichen Fähigkeit geschätzt, Nachrichten über weite Entfernungen zu transportieren. Ihre Nachfahrin – die Haustaube – findet man nun überall auf der Welt. Dieser bescheidene Vogel, der oft verunglimpft oder ignoriert wird, hat geholfen, Schlachten zu gewinnen und sogar den Verlauf zweier Weltkriege zu ändern.
Domestizierte Vögel dienten nicht nur als leibliche Nahrung, sondern boten auch spirituelle und soziale Nahrung. Eines der wichtigsten Beispiele ist hier der Wildtruthahn Amerikas – der in Großbritannien und Europa bei Festessen zu Weihnachten und in Nordamerika an Thanksgiving nicht fehlen darf. Der Truthahn, den man heute im industriellen Maßstab züchtet, wird zunehmend zum Gegenstand erbitterter Auseinandersetzungen darüber, ob wir das Recht haben, andere Lebewesen für unsere eigenen selbstsüchtigen Zwecke auszubeuten.
Die Nachbeben der im 15. Jahrhundert beginnenden europäischen Expansion und Kolonisierung und die damit verbundenen Kosten an Menschenleben sind noch heute spürbar. Von den vielen Vogelopfern dieser Zeit ist das berühmteste Beispiel der Dodo. Dieser riesige, flugunfähige Verwandte der Tauben lebte viele Jahrtausende lang auf der ozeanischen Insel Mauritius, vermochte es jedoch nicht, die im 17. Jahrhundert erfolgende Invasion von Menschen sowie die verschiedenen Raubtiere zu überleben, die diese mitbrachten. Heute kann dieses Symbol des Artensterbens uns nützliche Lehren über unsere problematische Beziehung zu gefährdeten Spezies erteilen und dazu, wie wir sie vor dem Schicksal des Dodos bewahren könnten.
Das Aufkommen der neuen Disziplin der Evolutionswissenschaften während des 18. und 19. Jahrhunderts drohte das religiöse Gebäude zu zerstören, auf dem die zivilisierte Gesellschaft errichtet worden war. Der entscheidende Wendepunkt kam 1859, als Charles Darwin sein Werk Über die Entstehung der Arten veröffentlichte, das unsere Sicht auf die uns umgebende Welt veränderte. Wie wir jedoch erfahren werden, war es nicht Darwin, der die Bedeutung der Darwinfinken als klassisches Beispiel für die Evolution in Aktion erkannte. Es waren die Wissenschaftler, die in seine Fußstapfen traten.
Häufig wird angenommen, die Industrialisierung der Landwirtschaft habe in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen. Doch mehr als ein Jahrhundert zuvor hatte der Vogelkot riesiger Kolonien eines südamerikanischen Seevogels – des Guanokormorans – den Dünger geliefert, der nötig war, um einen Boom in der Intensivlandwirtschaft herbeizuführen. Letztlich veränderte dies für immer die Landschaft Nordamerikas und Europas, kennzeichnete den Beginn des allmählichen Niedergangs von Feldvögeln und Wild und veränderte unsere Art und Weise, Nahrungsmittel anzubauen, zu konsumieren und zu bewerten.
Auch andere Arten waren bedroht. Der Schmuckreiher Nordamerikas, ein eleganter Wasservogel, geriet ins Visier des Modehandels – seine kunstvollen Federn schmückten Damenhüte und -kleider –, und so wäre er beinahe ausgestorben. Eine Gegenreaktion auf diese mutwillige Grausamkeit – und die verbrecherische Ermordung von Menschen, die diese Art zu schützen versuchten – führte zur Bildung von Vogelschutzorganisationen, darunter die Audubon Societies in den USA und die RSPB (Royal Society for the Protection of Birds) in Großbritannien. Doch selbst heute noch werden tapfere Männer und Frauen ermordet, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, wild lebende Tiere und ihre Reviere zu schützen.
Der Adler wird seit jeher mit der Macht von Nationen und Reichen assoziiert: So war er zunächst von großer symbolischer Bedeutung für die alten Griechen und Römer, wurde dann unter anderem zum Symbol des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und des Russischen Kaiserreiches und schließlich in Gestalt des Weißkopfseeadlers zum Nationalvogel der USA. Doch Adler haben auch eine dunklere Geschichte, nämlich als Emblem totalitärer Regime: zuerst in Nazideutschland und nun im heutigen Amerika unter den Anhängern der extremen Rechten. Wie es dazu kam, dass dieser mächtige Vogel die schlimmste Seite der menschlichen Natur repräsentierte, ist eine der verstörendsten Geschichten in diesem Buch.
Noch schockierender ist aber wohl der Feldzug gegen einen kleinen und einst allgegenwärtigen Vogel. Politiker werden oft Opfer der Hybris, vor allem totalitäre Machthaber, wie die äußerst lehrreiche Geschichte von Chinas Vorsitzendem Mao zeigt: Er legte sich mit der Natur an und verlor. Maos Krieg gegen den bescheidenen Feldsperling führte nicht nur dazu, dass diese Spezies fast ausgerottet wurde, sondern kostete letztlich auch Abermillionen seiner Landsleute das Leben.
Schließlich wird das Schicksal des Kaiserpinguins – des einzigen Vogels, der im bitterkalten und rauen antarktischen Winter brütet – nun von der gesamten Menschheit geteilt, da wir ungebremst auf eine globale Klimakrise zusteuern. Wird die Warnung des Pinguins – dessen Population stetig abnimmt und der vom Aussterben bedroht ist – zu spät beherzigt werden? Oder werden wir es in letzter Minute schaffen, uns selbst – und den Rest der Natur – vom Abgrund wegzuziehen?
Noch nie war es so dringend nötig, unsere Beziehung zur Natur zu hinterfragen. Allein im Verlauf meines eigenen Lebens ist die Zahl der Vögel auf diesem Planeten infolge einer toxischen Kombination von Habitatverlust, Verfolgung, Umweltverschmutzung und Klimanotstand stark gesunken. Mittlerweile gibt es nur noch halb so viele wild lebende Tiere auf dieser Erde – einschließlich der Vögel – wie 1970. Demgegenüber hat sich die Weltbevölkerung mehr als verdoppelt, von 3,7 Milliarden auf fast 8 Milliarden.
Trotz dieses dramatischen Schwunds bleibt ein Rest von Hoffnung: die Erkenntnis, dass Vögel noch nie wichtiger für uns und für unsere Zukunft auf diesem Planeten waren. Wir sind, so wie eh und je, von ihnen abhängig: nicht nur als Nahrungsquelle und wegen ihrer Federn, sondern auch damit sie uns zu einem besseren Verständnis der Natur verhelfen, wozu sie dank ihrer Allgegenwärtigkeit prädestiniert sind.
Noch nie gab es einen besseren Zeitpunkt, um unser Augenmerk auf die lange, turbulente und stets faszinierende Beziehung zwischen Vögeln und Menschheit zu richten, nämlich genau in dem Moment, in dem die gegenwärtige Umweltkrise uns und die Natur in Chaos und Verwüstung zu stürzen droht. Das könnte uns vielleicht helfen, für die Zukunft eine bessere Beziehung aufzubauen.
Stephen Moss
Mark, Somerset, GB
I
… und ließ einen Raben ausfliegen; der flog immer hin und her, bis die Wasser vertrockneten auf Erden.
1. Mose, 8,7
Als an einem frühen Herbsttag die Dämmerung hereinbrach, arbeitete eine Frau gerade draußen vor ihrem Haus im Boulder Canyon am Colorado River. Es fiel ihr jedoch schwer, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren, denn ganz in der Nähe gab ein großer schwarzer Vogel ständig laute, heisere Schreie von sich.
Es war ein ihr vertrauter Vogel – ein Rabe –, doch sein Verhalten an diesem Nachmittag kam der Frau äußerst seltsam vor. So sehr sie ihn auch zu ignorieren versuchte, seine Rufe wurden lauter und hartnäckiger. »Er machte ein Riesentheater«, erinnerte sie sich später.
Genervt schaute sie empor, als der Rabe direkt über sie hinwegflog und auf einem nahe gelegenen Felsen oberhalb von ihr landete. Da erst erkannte sie, warum sich der Vogel so eigenartig verhielt.
Zwischen den Felsen, kaum mehr als einen halben Meter von ihr entfernt, hockte ein Puma,1 der sie mit seinen stechend gelben Augen anstarrte. Das Tier – das über 50 Kilo wog, mehr als die Frau selbst – war kurz davor, sich auf sie zu stürzen. Die knapp 1,50 Meter große Frau hatte etwa die Größe und das Gewicht eines Rehs, der üblichen Beute des Pumas. Wenn er also angriff, würde sie zumindest schwer verletzt werden und im schlimmsten Fall ums Leben kommen.
Voller Angst wich die Frau hastig vor dem Puma zurück. Ihr Mann hörte ihre panischen Schreie, eilte herbei und verscheuchte das Raubtier.
Als die Frau sich von dem Schock erholt hatte, erzählte sie von ihrem knappen Entkommen. Sie hatte keinerlei Zweifel daran, was passiert war: »Dieser Rabe hat mir das Leben gerettet.« Für die Medien kam ihr Überleben fast einem Wunder gleich.
Lassen Sie uns jedoch einen Moment lang zurücktreten und uns – statt auf die Gedanken und Gefühle der Frau – auf die Instinkte und Motive des Vogels selbst konzentrieren. Warum sollte der Rabe sie vor einem potenziell tödlichen Angriff warnen wollen? Und falls es auf diese Frage keine befriedigende Antwort gibt, was geht hier wirklich vor sich?
Seit prähistorischen Zeiten arbeiten Wölfe und Raben zusammen, um Nahrung zu finden – wobei sie manchmal mit menschlichen Jägern, manchmal mit Raubsäugern kooperieren. Raben sind zu klein, um eine Beute von der Größe eines Rehs zu töten. Das schaffen nur Wölfe und Menschen – und Pumas.
Doch im Vergleich mit dem Raben haben diese riesigen Landsäugetiere einen entscheidenden Nachteil: Sie können nicht fliegen. Nur der Rabe kann ein großes Areal erkunden, potenzielle Beute ausmachen und dann zurückkehren, um die Jäger zu ihrem Ziel zu führen. Wenn es den Jägern gelingt, ihre Beute zu erlegen, machen sie sich über sie her. Anschließend lassen sie die Überreste mit ausreichend Fleisch an den Knochen zurück, sodass auch für die Raben noch ein deftiges Mahl bleibt.
Auch wenn wir also gerne glauben würden, der Rabe habe in guter Absicht gehandelt, sollten wir uns doch fragen: Könnte nicht auch das Gegenteil der Fall sein? Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass der Rabe den Puma in der Hoffnung, er werde Beute machen, ganz bewusst zu der Frau hinlockte? Dann hätten sowohl der Puma als auch der Rabe nach Herzenslust schlemmen können. So schrieb der angesehene Ornithologe Bernd Heinrich, der die Geschichte in seinem Buch Die Weisheit derRaben erzählt hat: »Nach allem, was ich über Raben weiß … kommunizieren sie nicht nur untereinander, sondern auch mit Raubtieren und Jägern, um in den Genuss der Beutereste zu kommen.« 2
Es gibt wohl kaum ein besseres Beispiel dafür, dass wir die Motive und Handlungen von Vögeln oft missverstehen, als diese Geschichte, die uns eine wichtige Lehre erteilt: Wenn es um wild lebende Kreaturen geht, dürfen wir nicht davon ausgehen, dass sie irgendwie »auf unserer Seite« sind. Manchmal sind sie es vielleicht, doch nur, wenn auch sie von diesem zeitweiligen Bündnis profitieren.
Die ungeschminkte Wahrheit lautet, dass der Rabe so wie jeder andere Vogel in diesem Buch einfach nur an sich selbst und sein Überleben denkt. Wir würden gut daran tun, diese Tatsache nie zu vergessen.
Dass Menschen und Raben eine lange gemeinsame Geschichte haben, verrät uns der Ursprung des Namens dieses Vogels. »Rabe« ist einer der ältesten Namen, die wir für Vögel verwenden, und war schon lange vor Christi Geburt gebräuchlich.3
Dies wissen wir, weil das Wort für Rabe (so wie auch für einige andere Vogelnamen wie Schwalbe oder Schwan) in allen germanischen Sprachen – einschließlich des Englischen – mehr oder weniger gleich ist. Daraus können wir schließen, dass dieses Wort in allen Fällen denselben Ursprung hat und dass es auf einer vermenschlichten Version des Rufs dieses Vogels basiert.
Der im Isländischen bis heute verwendete Name hrafn (bei dem das »f« wie ein »v« ausgesprochen wird) kommt wahrscheinlich dem Wort am nächsten, das unsere prähistorischen Vorfahren von sich gaben, als sie zum kalten grauen Himmel emporblickten und den Ruf dieses erstaunlichen Vogels nachzuahmen versuchten.
Zweifellos sind Raben den menschlichen Jägern wie auch anderen großen Raubtieren regelmäßig gefolgt, um von deren Beuteresten zu fressen. Doch dies war keine einseitige Transaktion; als Gegenleistung machten Raben, wie wir gesehen haben, die Menschen und andere Raubsäuger auf die Anwesenheit ihrer Opfer aufmerksam.
Diese frühe, halbsymbiotische Beziehung mit Menschen erklärt in hohem Maße, warum Raben in den Mythologien so vieler früher Kulturen eine so große Rolle spielen. Tatsächlich ist der Rabe unter allen Vögeln der Welt derjenige, dem in den Ursprungsmythen der alten Kulturen die zentralste Bedeutung zukommt. In der gesamten nördlichen Hemisphäre – von Alaska über Großbritannien und Irland, Skandinavien, Sibirien und den Nahen Osten bis Japan – ist der Rabe nicht nur der wichtigste Mythen- und Legendenvogel; er ist in den meisten Kulturen auch der allererste Vogel, der auf diese Weise mythologisiert wurde.
Viele andere Vögel spielen in den Mythologien der Welt bedeutsame Rollen. Zu ihnen gehören die Eulen, die bekannt sind für ihre angebliche Weisheit, die Kraniche und Pfauen, deren komplizierte Balztänze vor allem in Teilen Asiens seit Langem hochgeschätzt werden, der heilige Ibis, der mit den Religionen des alten Ägypten in Verbindung gebracht wird, Adler, die Stärke und Macht repräsentieren (siehe Kapitel 8), und der prächtige Quetzal, einer der schönsten und begehrtesten Vögel der Welt, der eine zentrale Rolle in den präkolumbianischen Kulturen Mittelamerikas spielte. Doch so bedeutsam diese Vögel auch sein mögen, keiner von ihnen hat für uns Menschen denselben Stellenwert wie der Rabe, ist so weit verbreitet wie er oder hat eine so weit in die Geschichte zurückreichende Beziehung zu uns.
Raben haben auch eine lange und bedeutsame Geschichte als Unglücksboten. Diese reicht mindestens bis ins antike Griechenland zurück: Apollo, der Gott der Prophezeiungen, sandte sie aus, um Botschaften zu übermitteln, obwohl diese Vögel, wie wir in anderen Zusammenhängen sehen werden, nicht immer sonderlich verlässlich waren. Eine der berühmtesten Vogellegenden überhaupt besagt: Sollten die Raben, die im Tower of London leben, diesen jemals verlassen, werden das Vereinigte Königreich und seine Monarchie untergehen.
Und falls Sie glauben, dass Raben in der modernen Welt keinen so großen Einfluss mehr auf unsere Vorstellungen und Kulturen haben, dann bedenken Sie Folgendes: Als der amerikanische Autor George R. R. Martin für seine Romanreihe Das Lied von Eis und Feuer (später Grundlage der Fantasy-Serie Game of Thrones) einen Vogel auswählte, der die Macht der Prophezeiung symbolisieren und wie eine turboschnelle Brieftaube Botschaften übermitteln sollte, kam nur einer infrage: der Rabe.
Doch warum steht der Rabe im Mittelpunkt so vieler alter und moderner Mythologien? Was genau prädestiniert dieses Mitglied der Familie der Rabenvögel dazu, in so vielen verschiedenen Bereichen, an so vielen Orten und in so vielen unterschiedlichen Kulturen diese entscheidende Rolle zu spielen? Wie bei so vielen Vögeln, um die sich Geschichten, Mythen und Legenden ranken, findet man eine Erklärung im Charakter des Vogels: in den Gewohnheiten, dem Verhalten und vor allem der Intelligenz des Raben.
Klug, einfallsreich, anpassungsfähig, listig, opportunistisch. Dies sind nur fünf Eigenschaften von vielen, die auf Raben zutreffen – und natürlich auch auf uns. So wie die Menschen, mit denen sie seit Tausenden von Jahren Seite an Seite leben, sind Raben in der Lage, ihr Verhalten unterschiedlichen Situationen anzupassen. Wie Menschen können sie Probleme lösen, aus ihren Erfahrungen lernen und nach einem Rückschlag sogar ihr Handeln ändern, um beim nächsten Mal erfolgreicher zu sein. Und so wie Menschen rufen sie eine Reihe von Reaktionen hervor: von tiefer Verachtung bis hin zu Respekt, Bewunderung und sogar Liebe.
Aber es gibt noch einen anderen Aspekt seines Charakters, der den Raben zum idealen Gegenstand solcher Mythen machte: seine geistige Unabhängigkeit. Diese Eigenschaft kommt erstmals in einer der frühesten Geschichten über den Vogel, nämlich der ersten Erwähnung eines Vogels in der Bibel zum Ausdruck: im ersten Buch Mose des Alten Testaments, in dem von der großen Flut berichtet wird.
Nach vierzig Tagen auf seiner Arche sucht Noah verzweifelt nach festem Land. Er beschließt, zwei Vögel freizulassen – den Raben und die Taube –, und der erste, den er herauslässt, ist der Rabe. Kurz danach folgt die Taube, die jedoch keine Stelle findet, wo sie landen kann, und in die Arche zurückkehrt. Der Rabe hingegen ward nie wieder gesehen.
Diese innere Unabhängigkeit – die heftige Abneigung, sich dem Willen des Menschen zu beugen – ist ein Thema, das man in praktisch jeder Geschichte über Raben findet, in der Hoch- und Populärkultur und von der Antike bis heute. Die drei großen abrahamitischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – teilen den Glauben, dass die Menschheit allen anderen Lebewesen überlegen ist (so wird dem Menschen im allerersten Kapitel der Bibel die Herrschaft über sie erteilt). Doch der Rabe geht dagegen an und weigert sich beharrlich, etwas anderes als ein gleichberechtigter Partner zu sein – fast als würde er sich selbst als ein anderes menschliches Wesen betrachten.
Viele Beobachter nehmen den Raben als genau das wahr. Der im 19. Jahrhundert lebende schottische Ornithologe William MacGillivray war nicht für seine Sentimentalität bekannt. Die Berichte in seinem epischen, fünf Bände umfassenden Werk A History of British Birds weichen nur selten vom rein Wissenschaftlichen und Deskriptiven ab. Doch selbst er konnte der Versuchung nicht widerstehen, den Raben zu vermenschlichen – einer nichtmenschlichen Spezies menschliche Eigenschaften zuzuschreiben.
Ich kenne keinen britischen Vogel, der schätzenswertere Eigenschaften besitzt als der Rabe. Seine Konstitution ermöglicht es ihm, den heftigsten Stürmen zu trotzen und auch bei intensivster Kälte zu überleben. Er ist stark genug, jeden Vogel seiner eigenen Größe abzuwehren, und sein Geist verleitet ihn dazu, selbst den Adler anzugreifen … keine andere Art übertrifft ihn an Klugheit.4
MacGillivrays Worte klingen, als würde er sich bewundernd über einen Mitmenschen äußern – vielleicht einen Kriegshelden oder Forscher – und nicht über einen Vogel. Diese Gleichsetzung der Eigenschaften des Raben mit unseren eigenen Charaktereigenschaften – den besten und manchmal auch den schlechtesten – zeigt sich auch in der Ambiguität, die so vielen Mythen und Legenden über diesen Vogel eigen ist. Raben können gut oder böse sein, mächtige Verbündete oder gefürchtete Gegner, unreinliche Aasfresser oder geschätzte Helfer, die dazu beitragen, die Straßen sauber zu halten.5 Sie gelten häufig als Symbol der Hoffnung, aber auch (sogar gleichzeitig) als böses Vorzeichen. Wie immer wir sie auch sehen und wie sehr wir uns auch bemühen, sie einzuordnen, sie bleiben ein Rätsel.
Diese sehr menschlichen Eigenschaften – die sich, wie wir entdecken werden, normalerweise vom Verhalten des Vogels selbst ableiten – verschaffen dem Raben eine so dauerhafte und beherrschende Stellung in unserem Leben. Und indem wir den Platz des Raben im Zentrum unserer Kultur zementiert haben, hat er letztlich unsere Weltsicht verändert.
Wie steht es mit dem Raben selbst, also der biologischen und ökologischen Version anstatt der kulturellen, historischen und mythologischen?
Der Kolkrabe 6 ist (neben dem Erzraben, der nur am Horn von Afrika vorkommt) das größte Mitglied der Familie der Rabenvögel, der Corvidae. Diese sind bei Weitem die größten Mitglieder der Ordnung Passeriformes – auch als Sperlingsvögel bekannt –, die 140 Familien und rund 6500 Arten umfasst, das heißt weit über die Hälfte aller unterschiedlichen Vogelarten der Welt.
Wie bei anderen Corviden gibt es bei den einzelnen Raben beträchtliche Unterschiede in puncto Größe und Gewicht.7 Sie sind auch unglaublich langlebig, vor allem im Vergleich zu anderen Sperlingsvögeln, die normalerweise nur zwei oder drei Jahre leben, ja, viele kleinere Arten schaffen nicht einmal das. Raben können in der Wildnis bis zu 23 Jahre alt werden, doch üblicher ist eine Lebensspanne von 10 bis 15 Jahren.
Sucht man nach einer präzisen, aber anschaulichen Beschreibung des Raben, ist die folgende Schilderung aus der vom Ornithologen Derek Ratcliffe verfassten maßgebenden Monografie über diese Vogelart kaum zu überbieten: »Von seinem Äußeren her ist er eine eindrucksvolle Kreatur … mit einem kräftigen, spitzhackenartigen Schnabel. Sein auf den ersten Blick pechschwarzes Gefieder schillert bei genauerem Hinsehen violett, blau und grün. Die Spannweite seiner Flügel wirkt in der Luft wie die eines Adlers, und er hat gespreizte Handschwingen und einen großen keilförmigen Schwanz.« 8 Ratcliffe, der viele Tage damit verbrachte, Raben im Freien zu beobachten und zu studieren, beschreibt auch das charakteristische Flugverhalten und den einzigartigen Ruf des Vogels: »Ist er in ruhigerer Stimmung, scheint der Rabe […] häufig Spaß an sonderbaren Flugkapriolen zu haben, er dreht sich auf den Rücken und lässt sich ein Stück weit fallen, bevor er sich wieder umwendet. Und um jedermann seine Gegenwart kundzutun, gibt er tiefe und volltönende Krächz- und Bellgeräusche von sich, die noch in weiter Ferne zu hören sind.«9
Es ist nicht leicht, die biologischen und kulturellen Aspekte des Raben auseinanderzuhalten, doch wenn Ratcliffe den Vogel als »den Geist der Wildnis« beschreibt, hat er gewiss sowohl seine physischen als auch metaphorischen Aspekte im Kopf. Um den Charakter des Raben wirklich zu verstehen, muss man den Vogel unbedingt selbst sehen – und hören. Ist man ihm einmal aus der Nähe begegnet, wird man ihn nie wieder mit einer Krähe verwechseln.
So wie Menschen sind auch Raben unglaublich erfolgreich: Sie sind überall in der nördlichen Hemisphäre anzutreffen, einschließlich weiter Landstriche Europas und Asiens, aber auch in einem Großteil Nordamerikas, seit sie vor vielen Millionen Jahren die Landbrücke zwischen der Alten und der Neuen Welt überquert haben. Mit dem Ergebnis, dass der Rabe von den weltweit mehr als 130 Mitgliedern der Rabenfamilie am weitesten verbreitet ist.
Ein Schlüssel zum Erfolg der Spezies liegt darin, dass Raben in der Lage sind, sich einer Vielzahl unterschiedlicher klimatischer Bedingungen, Lebensräume und Höhenlagen anzupassen. Der Ornithologe Karel Voous schrieb, dass es allein dem Wanderfalken gelungen sei, eine größere Anzahl von Lebenswelten zu nutzen, während es im Standardwerk über Vögel der westlichen Paläarktis (Europa, Nordamerika und Naher Osten) heißt, der Rabe sei so anpassungsfähig, dass das Konzept des »Lebensraums« auf ihn kaum zutreffe.
Raben lassen sich überall nieder: vom nördlichen Polarkreis bis hin zu den Wüsten Nordafrikas, auf Hügeln und Bergen, an Küsten, in Wäldern, auf Ackerland, in Stadtnähe und bis auf zwei Drittel der Höhe des Mount Everest sowie auf flachen Inseln im Nordpazifik.10 An all diesen Orten haben sie eine enge – wenn auch manchmal ziemlich unbehagliche – Beziehung zu Menschen entwickelt. Diese Beziehung nahm ihren Anfang vor vielen tausend Jahren, lange vor den Anfängen der modernen menschlichen Zivilisation.
So schreibt etwa Derek Ratcliffe: »Der Rabe ist […] wohl enger mit dem kulturellen Leben früherer Völker verwoben als jeder andere Vogel in der gesamten Geschichte.« 11 Wie wir sehen werden, zeigt sich diese Beziehung in zuweilen ungewöhnlichen und oft überraschenden Formen, von denen wir einige erst jetzt zu verstehen beginnen.
Am 2. September 2009 stieß der Hobby-Archäologe Tommy Olesen bei Ausgrabungen nahe dem Dorf Lejre im Osten Dänemarks auf eine kleine, nur 18 Millimeter hohe und gerade mal neun Gramm schwere silberne Figurine. Zwei Monate später wurde sie der Presse und der Öffentlichkeit im nahe gelegenen Roskilde Museum vorgestellt, wo sie bis heute zu sehen ist.
Bei diesem Gegenstand, der auf etwa das Jahr 900 n. Chr. datiert wurde, handelt es sich um eine menschliche Gestalt auf einem Thron, flankiert von zwei Vögeln. Die Identität der Figur, bekannt als »Odin von Lejre«, ist umstritten, wobei die meisten Experten überzeugt sind, dass es sich um den nordischen Gott Odin mit seinen beiden treuen Raben Hugin und Munin handelt.
Odin ist eine der bekanntesten Gestalten der nordischen Mythologie.12 Nur Thor hat es in jüngster Zeit durch sein Auftreten im Franchise Marvel Cinematic Universe zu noch größerem Ruhm gebracht. Einäugig, bärtig und zum »Göttervater« erkoren, wird Odin für seine Weisheit gefeiert, ein Vorzug, den er seiner engen Beziehung zu den beiden Raben verdankt. Hugin bedeutet »Gedanke« und Munin »Gedächtnis« oder »Geist«.
Der Legende nach flogen diese beiden Vögel jeden Morgen um die Welt, bevor sie auf Odins Schultern zurückkehrten, um ihm alles, was sie auf ihrer Reise gesehen hatten, ins Ohr zu flüstern. Aufgrund dieser engen Beziehung gab man Odin den Namen Ravneguden, Rabengott.
Gelehrte diskutieren seit Langem über die symbolische Bedeutung von Odins Raben. Deren Fähigkeit, ihre Gedanken mit ihm zu teilen, wird von einigen mit dem Schamanismus in Verbindung gebracht, in dem sich der menschliche Protagonist durch einen tranceartigen Zustand mit der Geisterwelt verbindet – aber vielleicht gehören die Raben ja auch zu den aus der nordischen Mythologie bekannten Fylgjen: Wesen, die sich von Menschen in Tiere und umgekehrt verwandeln können. Sie sind Schutzgeister, die Menschen zu großem Glück verhelfen können.
Dieser Mythos beeinflusste eindeutig die Handlung der Fantasy-Serie Game of Thrones, in der Bran, ein gelähmter Junge,13 regelmäßig in Trance fällt und sich in den Dreiäugigen Raben zu »verwandeln« scheint, wodurch es ihm möglich ist, in die Vergangenheit, die Gegenwart und (mithilfe des dritten Auges) in die Zukunft zu schauen.14
George R. R. Martin, der Autor der Romanreihe »Das Lied von Eis und Feuer«, die dieser Serie zugrunde liegt, hat bekräftigt, dass er Odin und seine Raben im Sinn hatte, als er diese Vögel in den Mittelpunkt seiner Geschichte stellte. Er beschreibt sie als »furchtlose, wissbegierige, starke Flieger […] und so groß und wild, dass es sich selbst der größte Falke zweimal überlegt, ob er sie angreifen soll«. Martin hebt auch ihre hohe Intelligenz hervor und folgert: »Kein Wunder, dass meine Maester sie als Boten nutzen, um die Sieben Königslande enger aneinanderzubinden.« 15
Neben den Raben wird Odin oft mit den beiden Wölfen Geri und Freki dargestellt. Auch über ihre symbolische Bedeutung wird spekuliert. Manche sind dagegen der Ansicht, dass sie ihren Ursprung in der realen Welt haben. Bernd Heinrich bietet eine verhaltensbezogene statt symbolische Erklärung für die Verbindung von Mensch, Wolf und Rabe in der Odin-Geschichte an.
Er geht davon aus, dass diese Darstellung die wahre Beziehung zwischen diesen drei äußerst erfolgreichen Spezies widerspiegeln könnte: ein frühes Beispiel der Symbiose oder Kooperation der menschlichen Jäger und der beiden wild lebenden Kreaturen zum gegenseitigen Vorteil. »In einer biologischen Symbiose«, so Heinrich, »gleicht ein Organismus in der Regel eine Schwäche oder einen Mangel des (der) anderen aus.« 16 Da Odin einäugig ist, braucht er Hilfe beim Sehen. Er neigt auch zu Vergesslichkeit, weswegen er die beiden Raben als Gehilfen hat. »Außerdem hatte er zwei Wölfe an seiner Seite, und diese Verbindung Mensch-Gott-Rabe-Wolf war wie ein einziger Organismus, in dem die Raben die Augen, der Geist und das Gedächtnis waren, die Wölfe die Ernährer, die für das Fleisch sorgten.«17
Heinrich erörtert dann die Ursprünge dieser Beziehung und wie sie den Verlust unserer Verbindung zur Natur symbolisiert. Seiner Ansicht nach zeigt der Odin-Mythos, dass der Kern der Beziehung zwischen den Menschen und den beiden anderen Wesen ein starkes Jagdbündnis ist.
Doch als sich die menschliche Zivilisation im Laufe der Zeit weiterentwickelte, geriet diese Verbindung zwischen Mensch, Wolf und Rabe ins Wanken. Als unsere Vorfahren den Wandel von nomadisch lebenden Jägern und Sammlern hin zu Ackerbauern vollzogen, veränderte sich auch unsere Beziehung zum Raben: Aus einem kooperativen Freund und Verbündeten wurde ein Feind und Rivale.
Dies kennzeichnete die erste bedeutsame Veränderung, die das wechselhafte Bild des Raben durchlief. Im Laufe der vergangenen Jahrtausende wandelte er sich vom Helden zum Schurken und letztlich wieder zum Helden.
Im Pazifischen Nordwesten Nordamerikas, weit entfernt von Skandinavien, spielt der Rabe ebenfalls eine wichtige Rolle in der alten Kultur und Mythologie. Wie die Menschen in Europa knüpften wohl auch die indigenen Völker Kanadas eine enge und symbiotische Beziehung zu diesen Vögeln, um sich von ihnen bei der Nahrungssuche helfen zu lassen. Von da war es dann nur ein kleiner Schritt, den Raben in ihre Ursprungsmythen mit einzubeziehen.
In diesen indigenen Kulturen gilt der Rabe als der Schöpfer der Welt und des sie umgebenden Universums, einschließlich der Sonne und des Mondes. In ihren Geschichten gibt es auch noch andere Gemeinsamkeiten: Raben sind fähig, die Gestalt von Menschen und Tieren anzunehmen; sie wahren Geheimnisse, und sie bieten ihren menschlichen Pendants wertvolle Lehren. Vor allem aber bleiben Raben radikal unabhängig und sind stets von dem Wunsch getrieben, ihre eigenen Bedürfnisse statt die von anderen zu befriedigen. Dies ist, wie wir sehen werden, von zentraler Bedeutung für die Enge der Beziehung zwischen Menschen und Raben während unserer gesamten gemeinsamen Geschichte.
Das Feuer spielt in diesen Geschichten häufig eine zentrale Rolle. Das pechschwarze Gefieder des Raben wird manchmal darauf zurückgeführt, dass seine Federn – die ursprünglich weiß waren – vom Rauch einer Brandfackel, die er trug, geschwärzt wurden. Die Symbolik des Vogels bleibt mehrdeutig: Er repräsentiert zum einen die Schöpfung der Welt, ist aber auch ein verspielter Gauner – eine Eigenschaft, die wir normalerweise nicht mit einer allmächtigen Gottheit assoziieren.
Ähnliche Schöpfungsmythen, in denen der Rabe eine Rolle spielt, findet man jenseits der Beringstraße im russischen Kamtschatka. Hier wird der Rabe wie in Nordamerika häufig als Trickster beschrieben. Die enge Verbindung zwischen den beiden Kulturen ist wenig verwunderlich, da die Vorfahren der indigenen Völker Nordamerikas aus Nordostasien stammten und vor rund 20.000 bis 14.000 Jahren gen Osten auf den amerikanischen Kontinent zogen.
Auch für die Kultur und Mythologie des antiken Griechenlands, Roms, der keltischen Zivilisationen, Chinas, Japans, Indiens, Australiens und des Nahen Ostens ist der Rabe (oder einer seiner engen Verwandten) von zentraler Bedeutung: nicht nur in der Bibel, sondern auch im Koran, wo ein Rabe Kain zeigt, wie er seinen ermordeten Bruder Abel begraben kann.
Raben sind in der Menschheitsgeschichte nicht nur symbolisch, sondern auch ganz real und greifbar präsent. Diese großen schwarzen Vögel waren ein vertrauter Anblick auf Schlachtfeldern der alten Griechen und Römer, der Sachsen, Wikinger und Normannen, ja, auch in den Rosenkriegen des 15. Jahrhunderts und in der Schlacht bei Culloden im Jahr 1746 – der letzten, die auf britischem Boden ausgetragen wurde. Sie waren lediglich aus einem einzigen Grund dort: um von den Leichen der Toten und den Körpern der Sterbenden zu fressen, wobei sie ihr Festmahl oft damit begannen, Weichteile wie die Augen auszuhacken. Wegen dieses grauenvollen Verhaltens galten sie verständlicherweise als Omen des Todes und des Unheils. Edward A. Armstrong misst dem Raben in seinem 1958 erschienenen Buch The Folklore of Birds große Wichtigkeit bei und widmet ihm ein ganzes Kapitel – das den Unheil verkündenden Titel »The Bird of Doom and Deluge« (Der Vogel des Verderbens und der Sintflut) trägt. Laut Armstrong ist aber auch der Rabe wie so viele Vögel in Mythen und Folklore kein eindimensionales Symbol des Bösen, sondern häufig differenzierter und ambivalenter gezeichnet, fähig, sowohl eine gutwillige als auch eine böswillige Rolle einzunehmen. Wie die verwandte Elster kann der Rabe ein Zeichen für Glück und für Pech sein, wie diese traditionelle Ballade zeigt:
Einen Raben zu sehen, bringt Glück, das ist wahr.Doch zweien zu begegnen, bringt zweifellos Unglück.Und wenn man dreien begegnet, ist das die Hölle.18
Doch Raben können, zumindest zeitweilig, vom Menschen an bestimmte Dinge gewöhnt werden. In vielen Kulturen nimmt der Rabe häufig die Rolle eines Führers ein, sowohl in spiritueller wie auch in realer Hinsicht. Für die seefahrenden Wikinger hatte er eine symbolische und praktische Bedeutung. Krieger schmückten ihre Schilde und Banner mit dem Bild eines Raben, weil sie glaubten, dass dessen Verbindung mit dem Tod ihre Feinde einschüchtern würde. Die Vögel halfen ihnen auch, Land zu finden, als sie ihre Schiffe über die Nordsee lenkten, um in England einzufallen.
Ein Wikinger, der Seefahrer Flóki Vilgerðarsson aus dem 9. Jahrhundert, entfernte sich noch weiter von seiner Heimat, weil er Island erreichen wollte (das einige Jahre zuvor zufällig von seinem Landsmann Naddoddur entdeckt worden war). Der Legende zufolge nahm er drei Raben mit, die ihm helfen sollten, Land zu finden. Als er den ersten freiließ, flog dieser Richtung Heimat, was nahelegte, dass Flóki noch einen weiten Weg vor sich hatte. Der zweite Vogel schwang sich in die Lüfte, kehrte dann aber wieder auf das Deck zurück und zeigte damit an, dass sie auf offener See und weit entfernt von Land waren. Der dritte Rabe flog nach Nordwesten und kam nie wieder. Da wusste Flóki, dass das Land, das er suchte, nicht mehr weit entfernt war. Er folgte dem Vogel und erreichte Island. Wegen dieser Großtat nannte man ihn fortan Hrafna-Flóki – wobei hrafna Rabe bedeutet.
Wie ein großer Teil der Rabenmythologie und -folklore wurzelt auch diese Geschichte im realen Verhalten des Raben. Der Altphilologe und Ornithologe Jeremy Mynott zitiert eine Geschichte, die darauf schließen lässt, dass Raben die besondere Fähigkeit hatten, mit anderen Vögeln von nah und fern »Nachrichten« über Schlachten »auszutauschen«. »Nach einem besonders grausigen Massaker bei Pharsalos in Thessalien 395 v. Chr. soll sich dort eine große Anzahl von Raben versammelt haben, die all ihre üblichen Stätten verlassen hatten […] was nahelegt, dass sie einen bestimmten Sinn besaßen, über den sie miteinander kommunizieren konnten.« 19
Von der Antike bis heute wird in solchen Geschichten und in nahezu allen Berichten von Begegnungen des Menschen mit Raben eine allgemein anerkannte Eigenschaft des Vogels erwähnt: seine enorme Intelligenz. So weist Bernd Heinrich darauf hin, dass Menschen den Raben seit jeher – von den Wikingern bis hin zu Konrad Lorenz, dem Pionier der Verhaltensforschung– als einen der klügsten Vögel betrachten.
Wie andere Corvidae haben Raben im Verhältnis zu ihrer Größe ein größeres Gehirn als die meisten Vögel, was sie befähigt, komplexe Aufgaben auszuführen, die andere Arten nicht bewältigen können. So haben Saatkrähen sowohl in Feld- als auch in Laborstudien gezeigt, dass sie besonders gut Probleme lösen können, während die Geradschnabelkrähe nicht nur in der Lage ist, Werkzeuge herzustellen und zu nutzen, sondern auch das richtige Werkzeug für eine spezifische Aufgabe auswählen kann. Dies zeugt von der Fähigkeit, für zukünftige Ereignisse zu planen – wobei man früher glaubte, dass einzig der Mensch dazu in der Lage wäre.
Raben sind sehr intelligente Vögel und werden (was vielleicht noch wichtiger ist) von menschlichen Beobachtern auch so wahrgenommen. Gewöhnlich werden als weise, listig, aufgeweckt und vorausschauend bezeichnet. Doch ist dies keiner von den Fällen, in denen wir den Vögeln menschliche Qualitäten zuschreiben, auch wenn es zunächst so erscheinen mag. Raben sind tatsächlich äußerst intelligent. Laut einer neueren wissenschaftlichen Studie ist die Fähigkeit, komplexe Aufgaben auszuführen, bei Raben ebenso ausgeprägt wie bei großen Affen. Einer anderen Studie zufolge sind Raben so wie Affen dazu imstande, auf unmittelbare Belohnungen zugunsten größerer Belohnungen in der Zukunft zu verzichten. Viele Wissenschaftler glauben auch, dass Raben in der Lage sind, die Gedanken und mentalen Zustände anderer zu verstehen und zu berücksichtigen.
Als wolle er bestätigen, dass die alten Griechen und andere frühe Kulturen Raben vielleicht zu Recht unerklärliche Kommunikationsfähigkeiten zuschrieben, weist der Linguist Derek Bickerton darauf hin, dass sie (neben Menschen, Ameisen und Bienen) zu den vier Tiergruppen gehören, die in der Lage sind, über Dinge zu kommunizieren, die (räumlich oder zeitlich) nicht in greifbarer Nähe sind. So wie Honigbienen ihren »Schwänzeltanz« vollführen, um die Richtung und die Entfernung ihres Bienenstocks von einer neuen Nektarquelle anzuzeigen, so können Raben, die alleine nach Futter suchen, abends nach der Rückkehr zu ihrem Schlafplatz dem Rest der Gruppe mitteilen, dass sie einen Kadaver gefunden haben und wo sich dieser befindet.
Bei jungen wie auch bei erwachsenen Raben lassen sich Verhaltensweisen beobachten, die stark an »Spielen« erinnern. Allein oder zu zweit vollführen sie Saltos in der Luft oder rutschen Schneebänke hinab. Ich habe schon oft beobachtet, wie sich ein einsamer Rabe im Flug auf den Rücken und kurz darauf wieder zurückdrehte, und dies offenbar nur weil es ihm Spaß machte.
Obwohl es also einige Bedenken gibt, zu direkte Parallelen zwischen dem Verhalten von Raben und Menschen zu ziehen, passiert uns dies immer wieder, wenn wir Zeugen derartiger Verhaltensweisen werden. Neben ihrer Intelligenz sind es auch ihre helleren und dunkleren Seiten, die die Darstellung dieser Tiere in der klassischen Literatur wie auch der Populärkultur prägen.
Spricht man über die Rolle von Raben in der Literatur, kommt oft die prompte Antwort: »Sprach der Rabe: ›Nimmermehr‹« – eine Zeile aus Der Rabe, dem wohl bekanntesten Gedicht des amerikanischen Schriftstellers Edgar Allen Poe. Es wurde im Januar 1845, knapp fünf Jahre vor Poes Tod, veröffentlicht und ist ein Meisterwerk der Schauerliteratur, das auch nach fast 200 Jahren nichts von seiner Beliebtheit verloren hat. So wird es in nahezu jeder Online-Liste der Top-Ten-Gedichte aller Zeiten genannt.
In einem sonderbar beschwingten, dabei aber seltsam bedrohlichen Rhythmus erzählt Der Rabe die Geschichte eines Mannes, der erwacht, als ihn »Mitternacht schaurig umgibt« und er ein Klopfen an der Tür hört. Der Besucher, ein Rabe, gibt, nachdem der Mann ihn hereingelassen hat, nur ein einziges Wort von sich: »Nimmermehr.« Der sehr einseitige Dialog zwischen Mensch und Vogel dauert an, wobei der Mann immer wütender und verstörter wird, da ihn dieses vom Raben ständig wiederholte Wort an den Verlust seiner Geliebten Lenore erinnert. Nach und nach verfällt er dem Wahnsinn, wofür er dem »grimmen, finst’ren Vogel aus dem nächt’gen Schattenheer« die Schuld gibt.20
So wie in vielen alten Mythen über den Raben nutzt auch Poe den Vogel in erster Linie als ein dramatisches Mittel, das den psychischen Zusammenbruch des Mannes spiegelt und beschleunigt. Diese Vorgehensweise finden wir auch in anderen literarischen Werken, wo das Erscheinen des Raben zumeist ein böses Vorzeichen ist.
Zu Beginn des letzten Akts von Shakespeares Julius Cäsar fliegen Raben, Krähen und Milane über das dem Untergang geweihte Heer der Meuchelmörder:
… und schaun herab auf unsAls einen siechen Raub21
Dieses Bild lässt keinerlei Zweifel daran, dass die Vögel den entsetzlichen Akt des Herrschermords verurteilen.
Wenn Shakespeare ein passendes Symbol gefunden hatte, neigte er dazu, es auch in weiteren Werken in veränderter Form einzusetzen. So verkündet Lady Macbeth in Macbeth:
Selbst der Rab’ ist heiser,Der Duncans schicksalsvollen Eingang krächztUnter mein Dach.22
Aus diesen Worten lässt sich schließen, dass Duncans Schicksal bereits besiegelt ist, lange bevor er tatsächlich ermordet wird – wobei der Ruf des Raben wie ein unheilvoller Gesang das menschliche Handeln begleitet. Der Rabe erscheint auch als Vorbote des Verderbens in Hamlet – »Es brüllt um Rache das Gekrächz des Raben« 23 – und in Othello, wo der tragische Held über eine ständig wiederkehrende unangenehme Erinnerung klagt: Sie »schwebt um mein Gedächtnis, / So wie der Rab’ um ein verpestet Haus«.24
Gewiss hat Shakespeares Publikum dies als aktuellen Bezug darauf erkannt, dass Raben sich über den Häusern von Pestopfern versammelten, angelockt durch die Aussicht, sich bald an einem Leichnam gütlich tun zu können.
Bei einem anderen berühmten Autor spielen die Raben eine harmlosere Rolle. Charles Dickens hielt nacheinander drei Raben (die er bizarrerweise alle Grip nannte) als Haustiere in seinem Londoner Heim, wo sie die zum Haushalt gehörenden Hunde wie auch die Kinder des Autors drangsalierten. Ein Rabe namens Grip taucht auch in seinem 1841 erschienenen Roman Barnaby Rudge auf. Einer der Vögel reiste sogar mit Dickens über den Atlantik nach Philadelphia, wo die beiden Edgar Allen Poe trafen – eine Begegnung, die Poe vermutlich zu seinem berühmtesten Gedicht inspiriert hat.
Bei Shakespeare, in Poes Gedicht und in anderen literarischen Werken, in denen von diesen Vögeln die Rede ist, liegt der Fokus auf der Stimme des Raben. Bernd Heinrich führt dies auf die Geschichte von Hugin und Munin zurück, den beiden Raben, die nach der Rückkehr von ihren täglichen Reisen zu Odin sprechen. Dabei weist Heinrich jedoch auch auf folgendes Paradoxon hin: Obwohl die Stimme des Raben derjenige Aspekt seines Verhaltens ist, der das meiste Interesse geweckt hat und am häufigsten erwähnt wird, »bin ich davon überzeugt, dass es nichts gibt, über das wir weniger wissen«.25 Doch später schreibt er: »Ich glaube auch, dass ich aus der Stimme und Körpersprache spüren kann, wenn ein Rabe überrascht, glücklich, tollkühn oder angeberisch ist. Diese Spannbreite kann ich bei einem Sperling oder Falken nicht identifizieren.« 26
Man könnte dies leicht als reinen Anthropomorphismus abtun, gäbe es da nicht zweierlei: Erstens hat Bernd Heinrich Raben während des größten Teils seiner 80-plus-Jahre beobachtet und studiert; wenn er also schreibt, dass er diese Emotionen erkennen kann, dann sollten wir dies ernst nehmen. Und zweitens steht er mit dieser Ansicht nicht allein: Jeder, der Zeit mit Raben verbracht hat, weiß, dass ihre Rufe tatsächlich eine sehr menschliche Qualität haben. Dies erklärt vielleicht die anhaltende Beliebtheit von Poes Gedicht mit der hypnotischen Wiederholung des Refrains des Raben: »Nimmermehr.« 27
In der Populärkultur finden sich oft Anspielungen auf die klassische Literatur – manchmal offensichtlich, aber häufiger verdeckt, wobei bekannte Geschichten als Basis für die Handlung eines völlig neuen Buches oder Films dienen.
Von daher war es keine Überraschung, als die Produzenten der Fernsehserie Die Simpsons im Oktober 1990 beschlossen, sich bei einem Teil ihrer zu Halloween ausgestrahlten »Treehouse of Horror«-Folge auf Edgar Allan Poes Der Rabe zu beziehen. Ungewöhnlicher war, dass sie das Gedicht ungekürzt aufnahmen, obwohl die Serie damals noch allgemein als Cartoon für Kinder angesehen wurde. Mit dem für seine raue Stimme bekannten Hollywoodschauspieler James Earl Jones als Erzähler und den Mitgliedern der Simpson Family als Darstellern der einzelnen Figuren ist diese Folge eine Glanzleistung des Fernsehens – ein ausgezeichnetes Beispiel für das Verschmelzen von klassischer Kultur und Populärkultur. Außerdem ist die Folge sehr komisch und zugleich erstaunlich verstörend.
Auch in vielen anderen modernen literarischen Werken treten Raben in Erscheinung, wobei man sich auch hier auf bereits existierende Mythen und Legenden stützt. In J. R. R. Tolkiens Bestseller Der Hobbit, einem Fantasy-Roman für Kinder von 1937, kommen zwei weise alte Raben vor. Ihre Namen Roäc and Carc sind eindeutig lautmalerisch und sicherlich eine Anspielung auf Hugin und Munin.
Der Filmemacher Walt Disney scheint eine besondere Vorliebe für den Raben gehabt zu haben. Der Vogel erscheint im allerersten abendfüllenden Zeichentrickfilm, Schneewittchen und die sieben Zwerge (herausgebracht 1937, im selben Jahr, in dem Der Hobbit veröffentlicht wurde), im Film Dornröschen von 1959 (wo er den Namen Diablo, spanisch für »Teufel« trägt), in dem Remake Maleficent – Die dunkle Fee (2014) sowie dessen Fortsetzung Maleficent: Mächte der Finsternis (2019), in dem der Rabe fähig ist, Menschengestalt anzunehmen (eine neuerliche Anspielung auf die Verbindung zwischen Raben und Schamanismus). Wie in den alten Mythen haben Disneys Raben einen sehr unbeständigen Charakter: Sie sind manchmal lustig, manchmal listig, manchmal teuflisch – und oft alles gleichzeitig.
Der vielschichtige und stets sich wandelnde Charakter des Raben wurde auch von Lewis Carroll (so das Pseudonym des viktorianischen Autors und Mathematikers Charles Dodgson) gewürdigt. In Alice im Wunderland