Wiener Seele -  - E-Book

Wiener Seele E-Book

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Beschreibung

13 Autorinnen und Autoren aus 3 Generationen machen sich Gedanken über die Wiener Seele. Wie z.B.: Zdenka Becker, Franzobel, Peter Henisch, Andreas Pittler, Klemens Renoldner, Cornelia Travnicek. Herausgeber Gerhard Loibelsberger hat sie so ausgewählt, dass Ur-Wiener, „Zugereiste“ und wieder „Fortgereiste“ zu Wort kommen. Entstanden sind dreizehn spannende, liebenswerte und skurrile Texte über Wien, die ein einzigartiges Portrait der lebenswertesten Stadt der Welt (Mercer Studie 2012) zeichnen.

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Seitenzahl: 276

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Gerhard Loibelsberger (Hrsg.)

Wiener Seele

Spannendes und Skurriles aus der Donaumetropole

Impressum

Ein großes Dankeschön an Claudia Senghaas,

die Wien liebt und die dieses Buch ermöglichte.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Wolfgang Berger

ISBN 978-3-8392-4548-4

Inhalt

Impressum

Vorwort des Herausgebers

Kann eine Stadt eine Seele haben?

Peter Henisch

Pauls Peripherie

Zdenka Becker

Wenn Muliar »böhmakelt«, ist er unser Mann

Franzobel

Wetter riechen

Gerhard Loibelsberger

Wiener Wurzeln

Hermann Bauer

Zwei Damen im Herbst

Cornelia Travnicek

Vermissen Sie etwas?

Mo Leskin

Einmal Himmel, einfach bitte

Ekaterina Heider

Trotz allem

Martin Mucha

Kabale und Triebe

Klemens Renoldner

Jago war mein Freund

Emily Walton

Freunderl-Wirtschaft

Sabina Naber

Eigentlich

Andreas Pittler

Der Wiener und seine Seele

Autorenviten

Lesen Sie weiter …

Belletristik im Gmeiner-Verlag

Stadtgespräche im Gmeiner-Verlag

Lieblingsplätze im Gmeiner-Verlag

Vorwort des Herausgebers

Kann eine Stadt eine Seele haben?

Diese Frage wird sich vielleicht dem einen oder der anderen beim Anblick des Titels dieser Anthologie stellen. Nun ja …

Eine Stadt ist kein Mensch, sondern eine Agglomeration von menschlichen Wesen. Wenn man davon ausgeht, dass sie alle eine Seele haben, kann man argumentieren, dass die Summe all dieser Seelen die Seele der Stadt ergibt.

Die Seele und Wien. Das ist eine über hundertjährige Beziehung. Der Begriff der Seele wird dank Sigmund Freud heute genau so gerne mit Wien assoziiert wie Sisi, Riesenrad, Lipizzaner, Schönbrunn oder Kaiserschmarrn. Aber das sind alles Rückblenden!

Mich als Herausgeber hat interessiert, wie die Wiener Seele im 21. Jahrhundert aussieht. Eine Bestandsaufnahme des Hier und Jetzt. Geschichten, die den Herzschlag der Stadt wiedergeben. Deshalb habe ich 12 Autorinnen und Autoren eingeladen, sich Gedanken über Wien zu machen und diese zu Papier zu bringen. Bei der Auswahl mischte ich bewusst Urwiener mit Zugereisten, Durchreisenden und Solchen, die wieder fortgegangen sind. Wichtig war mir auch, drei Generationen von Schreibenden in diesem Projekt zu vereinigen.

Nun, da ich die Texte gesetzt und druckfertig vor mir liegen habe, bin ich überrascht und begeistert. Kein Beitrag gleicht einem anderen. Im Gegenteil: Es ist eine Symphonie von unterschiedlichsten Tönen, Klängen, Stimmen und Stimmungen entstanden, die in Summe das wiedergeben, was wir alle lieben: Wien als bunte, vielfältige und lebenswerte Stadt. Oder wie Ekaterina Heider, die jüngste von uns, es in ihrem Beitrag auf den Punkt gebracht hat:

Wien ist das Ende der Reise und der Anfang, immer wieder, so wie es immer war. Ich liebe Wien. Ich liebe Wien trotzdem. Ich liebe Wien. Trotz allem.

Gerhard Loibelsberger, Wien im März 2014

Peter Henisch

Pauls Peripherie

Auf der Suche nacheiner verlorenen Gegend

Das ist die Gegend / nach der ich Sehnsucht hab / im Ausland. So beginnt ein Lied, das er einmal geschrieben hat, aber das ist lang her. Ja, tatsächlich, das war einmal eine Gegend. Die Gegend, von der er sich angezogen gefühlt hat wie von keiner anderen in Wien.

Ich nenne ihn Paul. Ich hab ihn ganz gut gekannt. Er hat Gedichte geschrieben und Lieder gesungen. Gedichte auf Hochdeutsch und im Wiener Dialekt, Lieder zur Gitarre und zur Mundharmonika. Er war eine Zeit lang, so in den Siebzigerjahren des nunmehr schon ziemlich vergangenen Jahrhunderts, recht gegenwärtig, jedenfalls in Wien und Umgebung, aber dann, das wird Mitte der Achtzigerjahre gewesen sein, ist er verschwunden.

Wie seine Gegend. Damals die südliche Wiener Peripherie. Seine Peripherie. Er war ihr Barde. Nicht das kaisergelbe Wien wollte er besingen, sondern das ziegelrote. Aber das ist lang her, wie gesagt, und von seinem Wien ist nicht viel übrig geblieben.

Die Schrebergärten / die Lagerplätze / das ganze alte Graffelwerk. Ja, sehen Sie, mit den Schrebergärten fängt es schon an. Diese Schrebergärten sind fast verschwunden. Jedenfalls die Schrebergärten, die Paul gemeint hat.

Die paar Quadratmeter Grün für die kleinen Leute. Hinter dem Drahtmaschengitter haben sie ihr Gemüse angebaut. Gemüse, das manchen über die letzten Monate des Kriegs hinweghalf. Und das auch in den ersten Jahren danach noch geschätzt wurde.

Erdäpfel, Weiß- und Rotkraut, Kohlrabi, grüner Salat. Und schlichte Gewürzkräuter: Petersilie, Thymian, Majoran. Und Obstbäume: Äpfel und Birnen, Zwetschken, Ringlotten. Wer Kirschbäume hatte, die manchmal erstaunlich viel trugen, lud im Juni die Verwandtschaft zum Pflücken ein.

Klar: Zwei, drei Blumenbeete gehörten auch dazu. Begonien, Fuchsien, Stiefmütterchen, hier und da – je nach Jahreszeit – Lilien oder Dahlien. Da und dort auch Rosen, auf die man stolz war. Und dazwischen diese Stöckchen mit den oben darauf gesetzten bunt schimmernden Glaskugeln, in denen sich der Himmel spiegelte.

Und ein kleines, oft selbst zusammengezimmertes Holzhaus. Ein Haus, vor dem man an einem rohen Tisch auf der rührenden Veranda oder der Wiese sitzen und Karten spielen konnte. Eine Runde ebenso einfacher wie gutartiger Menschen, die am Feierabend oder am Wochenende bei saurem Wein beisammensaßen. Und nicht nur Karten spielten und tranken, sondern auch über offenem Feuer gebratene Burenwürste aßen.

Ach ja, das klingt fast nach Idylle und war es wohl für manche. Obwohl Paul, das sei angemerkt, an dieser Idylle kaum teilhatte. Ganz selten, dass er jemand in so einer Kleingartenanlage besuchte. Und wenn, dann verirrte er sich womöglich – jedenfalls hat er auch ein Lied geschrieben, in dem sich ein Besucher, der ihm ziemlich ähnlich sieht, im Schrebergartenlabyrinth, so heißt das Lied, verirrt, und den Garten, in den er von einem Freund eingeladen ist, Parzellennummer soundso, nicht findet, ja nicht nur das, er hat auch Schwierigkeiten, wieder aus diesem Schrebergartenlabyrinth herauszufinden.

Es war nicht ganz seins, das Glück im Schrebergarten. Aber er ging ganz gern durch zwischen diesen Gärten. Inzwischen sieht es hier etwas anders aus. Häuschen wie aus dem Legobaukasten, verglaste Veranden, von ferngesteuerten oder programmierten Rasenmähern und Rasensprenggeräten gepflegtes Grün, wenn nicht gleich verflieste Flächen, auf denen Tischlein und Sesselchen stehen, die aus den aufgelassenen Filialen einer in Konkurs gegangenen Konditoreikette stammen könnten. Sonnenschirmchen mit dummen Werbesprüchen. Aufgeblasene Schwimm- oder Planschbecken.

So viel zu den Schrebergärten. Doch nun zu den Lagerplätzen. Immer wieder fand es Paul spannend, durch die Ritzen oder Lücken in den Bretterzäunen zu spähen und zu sehen, was dahinter war. Hohe Stapel von Schienensegmenten zum Beispiel oder große Haufen von Leitungsrohren. Oder Kabelrollen, die aussahen wie riesige Zwirnspulen.

Graffelwerk eben. Möglicherweise kennen Sie dieses Wort nicht. Pardon, wenn Sie nicht aus Wien sind, sind Sie diesbezüglich entschuldigt. Doch ist zu befürchten, dass auch viele von den heutigen Hiesigen schöne, alte Wörter wie dieses nicht mehr verstehen. Es ist ja nicht nur die Gegend, die eingeebnet wird, sondern auch die Sprache.

Graffelwerk also. Hier Pauls Versuch einer Definition:

Aus ihrem langweiligen Funktionszusammenhang geratene Gebrauchsgegenstände, die eben nicht mehr gebraucht, sondern irgendwohin verräumt werden. Auch Teile von Gebrauchsgegenständen oder altem Spielzeug (abgebrochene Sesselbeine, ausgerissene Puppenarme). Dinge, die dann ein eigenartiges Traumleben führen, an dem man vielleicht ein wenig teilhat, wenn man die Räume, in die sie verräumt worden sind (etwa einen Keller oder einen Dachboden) unversehens betritt.

Oder eben, wenn man durch eine Ritze oder eine Lücke in einem Bretterzaun auf einen dieser Lagerplätze schaut, die es heute kaum mehr gibt. Paul erzählte von einem Karussell oder eher dem Skelett eines Karussells, das wahrscheinlich abgebrannt war, denn es sei kohlschwarz gewesen, und dann habe man es halt dort deponiert. Und von einem aus wer weiß welchen Frühzeiten der industriellen Entwicklung stammenden Bagger oder Kran. Ein Bagger oder Kran mit langem Hals und gestellhaften Gliedmaßen, der ausgesehen habe wie eine ungeheure Gottesanbeterin.

Schrebergärten, Lagerplätze, Graffelwerk – das ist aber erst der Anfang vom Lied. Der Beginn des Liedes, von dem ich ausgegangen bin, um Ihnen Pauls Peripherie vorzustellen, vorstellbar zu machen. Die Gegend, nach der er, so singt er, Sehnsucht hat im Ausland, wo immer das sein mag. Der Monte Wien / der Monte Laa / der Wiener- und der Laaerberg.

Gegens Ziegelwerk zu / bricht die Stadt einfach ab / und wird zur Wildostfilmlandschaft. Genau. Das gefiel ihm. Die Geschmäcker sind eben verschieden. Sein Geschmack und der Geschmack der Stadtverplaner. Sie haben mir die Landschaft, in der meine Seele sich daheim gefühlt hat, unter dem Arsch weggebaggert.

Das sagt er in einem seiner letzten Interviews. Unter dem Arsch weggebaggert, sagt er wohl um des Kraftausdrucks willen. In seinem Lied äußert er sich poetischer, die Bagger fressen ein Stück meiner Kindheit, heißt es da. Und an einer anderen Stelle: Die Bagger fressen mir mein Gedicht.

Tatsächlich hat man ihm diese Gegend weniger unter dem Arsch weggebaggert als unter den Füßen. Denn er ist mehr in ihr herumgegangen als herumgesessen. Man hört das, finde ich, wenn man seine Lieder hört. Das sind Texte, die im Gehen entstanden sind, und das Tempo, in dem er sie singt, ist meistens andante.

Aber kommen Sie, folgen wir ihm ein Stückchen. Gehen wir seine Wege von damals nach. Soweit es sie heute noch gibt, diese Wege. Wenn Sie so etwas wie die Seele von Wien suchen, wer weiß, vielleicht können wir sie auf diesen Wegen wenigstens noch in Spurenelementen finden.

Also hinunter in die Wienerberggründe. Wo die Stadt gegens Ziegelwerk zu einfach abbrach, stand Paul an einer Meeresküste. Zwar hatte ihm ehemals, als er noch zur Schule ging, der Klassenvorstand auszureden versucht, dass die diluviale oder prädiluviale Küste unmittelbar hier verlaufen sei (das war anlässlich eines sogenannten Lehrausgangs). Aber Paul glaubte ihm nicht – im Wind, der da blies, wurde ihm genauso heim- und fernweh zumute wie später, als er, etwas weiter im Süden, das erste Mal an den Klippen eines wirklichen Meers stand und ins Elementare blickte.

ERHOLUNGSGEBIET WIENERBERG. Früher, zu Pauls Zeit, war dieser Abstieg ein Abenteuer, jetzt ist er ein Spaziergang. Damals waren da Abgründe. Pauls dark and bloody grounds. Die Firma Wienerberger mit ihrer langen, bis in die Zeit der Ausbeutung der sogenannten Ziegelböhmen gegen Ende der Monarchie zurückreichenden Geschichte gibt es noch immer, aber Pauls Wildostfilmgegend, in der man früher das Material für die Ziegel gewonnen hat, ein Areal, das man, wäre es nach ihm gegangen, unter Denkmalschutz gestellt hätte, samt den Ziegelwerksgebäuden im Hintergrund, ist inzwischen kaum mehr zu erkennen.

Diese erstaunliche Weite unter dem Himmel. Die Bagger sehr klein und gedämpft summend wie lehmfressende Insekten. Diese Terrassenlandschaft. Die Ziegelteiche. Und dahinter, manchmal im Abendlicht schon mehr als ziegelrot, violett beinah, die alten, auch in jenen Jahren schon größtenteils stillgelegten Ziegelwerksgebäude.

Pass auf / dass du nicht versinkst im Lehm, hat Paul gedichtet. BETRETEN VERBOTEN LEBENSGEFAHR. Pass auf / dass du nicht versinkst im Lehm. Es sind schon welche versunken, denen / hat’s glatt ihre Schuh verschluckt.

Gewiss, er war auch eine romantische Seele. Von einem verbotenen Teich schreibt er, der tief, so tief lockt. Und dann ist allerdings schon wieder von den Baggern die Rede, die im Vormarsch sind. Die Gegend entzieht sich / und wird mir entzogen (dieses Gefühl hatte er also schon damals).

Vielleicht empfiehlt sich an dieser Stelle ein Blick auf den Laaerberg. Denn in Pauls Lied, von dem wir ausgegangen sind, ist ja auch von ihm die Rede. Die Schrebergärten / die Lagerplätze / das ganze alte Graffelwerk, Sie erinnern sich. Der Monte Wien / der Monte Laa / der Wiener- und der Laaerberg, na eben.

MONTE LAA. Heute weisen tatsächlich Schilder mit dieser Aufschrift den Weg dorthin. Einen Weg allerdings, den man kaum mehr zu Fuß geht. Man fährt mit dem Auto stadtauswärts bis zum Verteilerkreis Süd. Und dann biegt man links ab, lässt das Laaerbergbad rechts liegen oder anders herum – bei den Abfahrten und Ausfahrten, mit denen sich die Verkehrsplaner austoben, kommt einem ja manchmal alles seitenverkehrt vor – und muss aufpassen, dass man die Abzweigung zum Böhmischen Prater nicht verpasst, sonst wird man gleich weitergeschleust Richtung Oberlaa, Kurpark und Kurzentrum.

Und auch das hier war einmal eine Gegend, ach ja. Damals, als Paul hier herumstieg und sich inspirieren ließ. Reservechristus (das war die zu jener Zeit übliche Anrede für mehr oder minder junge Männer mit Bart), was suchst denn da?Gschichten such ich, kannst mir welche erzählen?

So klingt das in einem seiner Texte, der dann eine gewisse Popularität erlangte. Ein hübsches Stück Selbststilisierung, würde ich sagen. Als Bruder Grimm der Wiener Peripherie. Der Favoritner Peripherie, um genau zu sein.

Favoriten ist Wiens größter Bezirk. Benannt nach dem kaiserlichen Jagdschloss La Favorita. Kurioserweise. Denn es handelt sich um einen Arbeiterbezirk. Einst eine Hochburg der Sozialdemokratie.

Aber die Zeiten ändern sich, singt Bob Dylan. War der ein Vorbild für Paul? Nein, bei aller Wertschätzung, nicht wirklich. Obwohl das die Werbefuzzis der Schallplattenfirma, die seine erste und einzige LP herausbrachte, prompt aufs Cover schreiben wollten. Er war dagegen und dass er sich da gleich quergelegt hat, das hat seine Chancen auf dem Markt, davon waren die Leute mit dem Know-how dann sofort überzeugt, sehr vermindert.

Wie dem auch sei, damals, in seinen Anfängen, stieg er in dieser inzwischen zur Unkenntlichkeit veränderten Gegend herum. Und hatte ein Heft dabei, in dem er seine Eindrücke notierte. Und hatte auch einen Kassettenrekorder dabei. Zwar waren die Leute, denen er da begegnete, nicht alle entgegenkommend, und er war ja, so wie ich ihn gekannt habe, eigentlich ein schüchterner Mensch, aber manchmal hatte er Glück und kam mit reicher Beute nach Hause zurück.

Ein feines Exempel: Sein Interview mit einer alten Frau namens Manja.

Die Tonqualität der alten Kassetten ist natürlich ein Problem. Aber wenn man genau hinhört (und wenn man den Wiener Dialekt versteht) versteht man doch einiges. Ich bin die Schabata Manja aus der Kempelengasse, sagt sie.

Ich erzähl, wie es da oben am Laaerberg einmal gewesen ist. Als ich noch jung war. Am Ziegelteich sind wir gelegen. Die Burschen nur in der Klothhose, die Mädeln nur in der Kombinege. Fleischlaberln haben wir aus dem Stanniolpapier gewickelt und Erdäpfel- oder Gurkensalat aus dem Einsiedglas gelöffelt.

Das Bier haben wir aus der Flasche getrunken, na klar. Manchmal hat auch einer einen Doppelliter Wein mitgebracht. Und die Sonne hat warm geschienen und der Wind hat die Musik vom Böhmischen Prater herübergetragen. Und wie das Gras würzig geduftet hat und wie die Schmetterlinge geflattert sind und wie die Haut heiß war!

Sie war keine Spielverderberin, sie war keine Kostverächterin, sie war, wie sie sagt, eine fesche Gretel. Auf etwas vergilbten und zerknitterten Fotos ist sie 20. Gelt, sagt sie, wenn du mich heute anschaust, dann glaubst du es nicht mehr! Aber schau, ich hab ein ganz liebes Larverl gehabt und eine ganz gute Figur und zwei grade Haxen.

Na ja, und da hat man sich halt in die Büsche geschlagen. Dichtes Gebüsch gab es damals dort drüben noch ebenso selbstverständlich wie freie Wiesen, auf denen man ohne besondere Genehmigung Fußball spielen konnte. Und für die Liebe, oder wie du das nennen willst, haben wir erst recht keinen extra gewidmeten Platz gebraucht. So weit kommt’s noch!, lacht Manja. Das wär ja noch schöner!

Und dann (danach) sind wir Polkatanzen gegangen. Bei der Bendekovics-Wirtin, gegenüber dem Ringelspiel mit den schönen, großen Holzpferden. Oder wir sind schaukeln gegangen, auf den Hutschen, auf denen du nicht nur hin- und herschaukelst, sondern dich, wenn du geschickt bist oder wenn jemand fest antaucht, ganz durchdrehst. Wenn du den höchsten Punkt erreichst, stehst du total auf dem Kopf, das ist ein ganz schwindliges Gefühl.

Das alles war einmal und ist nicht mehr. Stimmt schon, der Böhmische Prater existiert noch. Und ein gutes Bier kann man in den Gastgärten dort immer noch trinken. Und wenn man Glück hat, bekommt man vielleicht auch ein nicht allzu sehr angebranntes Grillhendl.

Stimmt, man kann auch im Laaerwald spazieren gehen. Ein Teil davon ist sogar Naturschutzgebiet. Aber im Ziegelteich, den sie dort übrig gelassen haben, wird natürlich nicht mehr gebadet. Und wer sich ins Gebüsch schlagen will, um dort die freie Liebe unter freiem Himmel zu genießen, gerät womöglich versehentlich auf den Fitnessparcours.

Die Aussicht, die sich öffnet, wenn man den Böhmischen Prater in Richtung Osten hinter sich lässt, ist trotzdem sehenswert. Der Blick über große Teile der Bezirke Landstraße und Simmering. Schaut man nach links, sieht man bis zum Donaukanal, schaut man geradeaus, sieht man bis zum Zentralfriedhof. Kein Stephansdom im Bild, kein Schloss Schönbrunn – das hat was.

Nun aber zurück an die Wienerbergküste. In die Wienerberggründe und in das Lied, von dem wir ausgegangen sind. Pass auf / dass du nicht versinkst im Lehm, erinnern Sie sich? Es sind schon welche versunken, die / sind nimmermehr aufgetaucht.

Vielleicht nimmt er da was vorweg, mein verschwundener Freund. Und so, wie es aussieht, hat er ja recht gehabt. Wo immer er inzwischen sein mag. An einer anderen Peripherie. Die hier ist jedenfalls sicher nicht mehr die seine.

Die Ziegelwerksbauten haben sie weggerissen. Ja, klar, es wird nicht viele Leute geben, denen sie abgehen. Dieser verschwundene Poet war ganz einfach ein Spinner. Nicht nur ein Romantiker, sondern auch ein verkappter Anarchist, bei allem zeitweilig links engagierten Gerede eigentlich asozial.

Was wollte er denn? Jetzt stehen hier inzwischen allerdings auch schon etwas älter gewordene Neubauten. In optimistischen Farben gestrichene Balkons, nicht mehr ganz unversehrte aber, so gut es geht, verarztete Spielgeräte, Sandkisten. FREUNDLICHE WOHNUNGSANLAGEN, GLÜCKLICHE MENSCHEN. Die Kinder, die hier spielen (sind es bosnische oder kroatische, dem echten Wiener ist das alles eins), machen tatsächlich einen fröhlichen Eindruck.

Es können auch türkische Kinder sein, ja klar. Aber alles, was recht ist, sagt die Volksseele. Und das hier ist echten Wienern schon lang nicht mehr recht. Mein Bub wartet seit 30 Jahren auf eine Gemeindewohnung und kriegt keine!

Ja, sagt der Fischer, der am Ziegelteich sitzt. Die Wiener Seele. Das ist halt so ein Problem. Im Grunde ihrer Seele sind die Wiener gemütliche Leute. Aber die wenigsten haben noch eine Rückverbindung zu diesem Grund.

Ein philosophierender Fischer. Oder ein fischender Philosoph. Einen Moment lang habe ich den Eindruck, dass er Paul irgendwie ähnlich sieht. Nach all den Jahren könnte er ungefähr so aussehen. Aber vielleicht liegt es nur an der schrägen Beleuchtung durch die Sonne, die hier nach wie vor sehr schön rot untergeht.

Er fischt und philosophiert, sagt er. Genau das ist es, was er tut. Zum Fischen, sagt er, brauchst du eine Fischkarte vom Arbeiterfischereiverband. Zum Philosophieren brauchst du keine Lizenz. Aber das liegt vielleicht nur daran, dass die meisten Zeitgenossen gar nicht mehr wissen, was das ist.

Gemütlichkeit, sagt er. Diese Eigenschaft, die man in Wien und Umgebung für sich beansprucht. Ich bitt dich, sagt er. Was soll denn das eigentlich heißen? Das Gemüt ansprechend. Welches und wessen Gemüt? Und wozu, frag ich dich, und zu welchem Ende?

Es gibt ein paar Redewendungen, sagt er, über die es sich lohnt nachzudenken. Hier hört sich die Gemütlichkeit auf, zum Beispiel. Wo, frage ich, hat sie eigentlich angefangen? Ja, wenn man so fragt, können manche Leute hier recht ungemütlich werden.

Aber nicht alle. Natürlich nicht. Gott sei Dank. Es gibt solche und solche, sagt der Fischer. Manchen sieht man es an, denen schaut die Dummheit, die ja nach Platon der Ursprung der Bosheit ist, aus den Augen. Andere aber sind gar nicht so schlimm, wie sie aussehen.

Und die Sonne geht, wie gesagt, schön rot unter. Und die neuen Bewohner dieser Peripherie, die keine mehr ist, joggen oder führen ihre Hunde aus. Oben fliegen die Möwen, die von irgendeiner Müllhalde angelockt werden. Und die Krähen, die nicht mehr, wie früher, nach Russland zurückkehren, wenn der Winter vorbei ist, sondern das ganze Jahr über hier bleiben.

Und auf dem Lösshügel, dem traurigen Rest dessen, was Paul den Lössfudschijama genannt hat, fahren die Nachfahren der Typen, die schon in Pauls Lied der Peripherie vorkommen, Motocross. Aus dem Wrba-Hof kommen die oder aus der Otto-Propst-Siedlung, aus dieser schönen neuen Welt ultimativer Komplexe, die alle nach sozialdemokratischen Funktionären von gestern und vorgestern benannt sind, die heute keiner mehr kennt. Die meisten Jugendlichen dort unten sind Schlüsselkinder. Sie hängen herum, ihre Umwelt, so gut ihre Gestaltung von denen, die sie geplant haben, vielleicht gemeint war, ist lähmend fad.

Was tun? Aufs Moped oder sonst ein heißes Eisen zu steigen und das Unbehagen, die Wut, die sie im Bauch haben, in laut knatternden Fürzen fahren zu lassen, das ist immerhin eine Möglichkeit. Auch ist es wahrscheinlich ein gutes Gefühl, der tristen Wirklichkeit scheinbar davonzudüsen. Oder eben Rodeo zu reiten und wenn es die Omas und Opas im Altersheim nebenan aus dem Bett hebt. Aber auch das hat seine Grenzen, sagt der Philosoph, es geht immer im Kreis, und wer weiß, wie bald man ihnen auch diesen Hügel abträgt.

ZdenkaBecker

Wenn Muliar »böhmakelt«, ist er unser Mann

Die Welt hinter denAugenlidern

Ich kenne einen jungen Mann aus Prag. Er heißtMartin, ist 25 Jahre alt und kann nicht sehen. Mit 14 ist er an Leukämie erkrankt und dank ärztlicher Kunst irgendwann gesund geworden. Mit 17, weil er verschlafen hatte, und deshalb in die Schule lief, brach er auf dem Gehsteig zusammen. Aufgewacht war er eine Woche später im Krankenhaus. Eine plötzliche Gehirnblutung, lautete die Diagnose, die einen mehrmonatigen Krankenhausaufenthalt und darauf folgende Rehabilitation bedeutete. Heute ist Martinfastgesund. Seine rechte Hand ist gelähmt, seine Sehkraft auf 20 Prozent reduziert. »Ein schmaler Blickwinkel, ein Fokus auf das, was wichtig ist«, sagt er.

Wir lernten uns im mährischen Kurstädtchen Luhačovice kennen. Martin war einer der Teilnehmer des Workshops mit dem Thema »Europa – unsere gemeinsame Heimat«, den ich leitete. Die jungen Tschechen, die mir gegenübersaßen, schrieben fleißig Texte über ihr Land, das nun auch der Europäischen Union angehört. Sie dichteten, schufen Metaphern, lieferten Lösungen für eine bessere und zufriedenere Zukunft. Sie übertrafen sich förmlich in den Superlativen für die neuen Nachbarn.

Während die Jungen und Mädchen in meinem Workshop mit jugendlichem Elan bei der Sache waren, saß Martin ein bisschen abseits und schwieg. An der lebhaften Diskussion über die Vor- und Nachteile, einer großen Staatengemeinschaft anzugehören, beteiligte er sich nicht. Er hörte nur zu und wenn es für ihn interessant war, drehte er seinen Kopf nach den Geräuschen im Raum. Irgendwann schrieb er etwas, wobei er seine Augen stark zusammenkniff und den Kugelschreiber krampfhaft in seiner Linken hielt. Er kritzelte so stark aufs Papier, dass ich es hören konnte. Auf der Tischplatte unter seinem Blatt entstanden Rillen.

In der Mittagspause, die ich in einem Café verbrachte, las ich die von den Teilnehmern geschriebenen Texte. Ein Mädchen beschrieb Europa als ein Haus mit vielen Zimmern, wobei Frankreich ein Ballsaal, Großbritannien ein Teesalon, Deutschland der Wirtschaftsraum und Österreich die Treppe zwischen dem ersten und dem zweiten Stock gewesen waren. Sie machte sich Gedanken über die Aufgabe Tschechiens im neuen Europahaus und hoffte, dass ihrer Heimat nicht die Rolle des Fußabstreifers oder des Vorzimmerteppichs zufallen würde.

In einem anderen Aufsatz beschäftigte sich ein anderes Mädchen mit der stets brennenden sudetendeutschen Frage, entschuldigte sich dafür, dass sie sich für die Beneš-Dekrete nicht entschuldigen konnte und dass sie unter der schmerzvollen Geschichte am liebsten einen Strich ziehen würde, weil man endlich nach vorne schauen soll. Um ihren Willen zur Annäherung zu demonstrieren, schrieb sie auf Deutsch und schloss mit dem Satz: »Österreicher, ich haben Ihnen gern!« Angesichts dieses kleinen grammatikalischen Fehlers musste ich schmunzeln. In meinen Ohren klang ein tschechisch gefärbtes Deutsch, das ich in meinen ersten österreichischen Jahren am Viktor Adler Markt in Wien-Favoriten so oft gehört hatte.

»Ich bin praktisch blind«, stand in Martins Aufsatz. »Ich empfinde die Welt durch die Wellen der Schicksale. Menschen, Meere, Landschaften. Aber am liebsten spreche ich mit den Bäumen. Ihr Rascheln ist Musik. Ich liebe Musik. Ich liebe die Klänge, die von Gegenständen ausgehen.«

Ich legte die handgeschriebenen Blätter zur Seite und überlegte, was mir Martin mitteilen möchte. Und auf einmal stand er vor mir. Er hatte keinen Blindenstock und keine Begleitperson bei sich. Und auch seine Augen versteckte er nicht hinter einer Sonnenbrille, die ihn als einen Sehbehinderten verraten würde.

»Ich wünsche einen guten Appetit«, sagte er. »Darf ich mich zu dir setzen?«

»Wie hast du mich gefunden?« fragte ich.

»Du kommst jeden Tag hierher«, sagte er.

»Aber die Orientierung …«

»Sie ist das Wenigste«, sagte er. »Ich gehe den Klängen nach.«

»Den Klängen?«

»Ja, den Klängen und der Intuition.«

Martin setzte sich an meinen Tisch und bestellte ein Cola. »Darf ich dich zu einem Mittagessen einladen?«, fragte ich, weil ich wusste, dass er nur eine kleine Invalidenrente bezog und sich ein Essen in einem Restaurant wahrscheinlich nicht leisten konnte. »Nein, danke«, sagte er. »Ich bin glücklich, wenn ich hungrig bin.«

Der Kellner brachte das Cola und servierte meinen Teller ab. Martin griff treffsicher nach dem Glas. »Ich verstehe nicht«, sagte ich. »Siehst du oder siehst du nicht?«

»Ich sehe das, was wichtig ist«, sagte er. »Ich spüre die Wellen. Den Rest kann man sich dazu denken.«

Nimmt Martin bei diesem Workshop deswegen teil, um uns allen das Sehen beizubringen?, fragte ich mich. Er meint, es kommt auf das Wesentliche an. Was ist das für ihn?

»Als ich mich für den Workshop angemeldet habe, wusste ich überhaupt nicht, warum ich es tat«, sagte er. »Und auch als ich am Samstag hierhergekommen bin, wusste ich es noch nicht. Ehrlich gesagt, war ich nicht besonders begeistert. Das Thema ist doch so banal.«

»Wie bitte?«

»Es sind doch alles nur Worte«, sagte er.

»Du hältst die Worte, die uns verbinden, für banal?«

»Was können Worte schon ausrichten?«, sagte er und drehte sein Gesicht zu mir. Ich sah in seine Augen. Das rechte schielte ein wenig, ich wusste aber nicht, ob er mich sah. »Die Menschen verwenden viele Phrasen, pauschale Vorverurteilungen, die mehr Schaden als Nutzen anrichten. Als ich noch mit den Augen sehen konnte, glaubte ich auch, dass alle Germanen groß und blond sind, die Italiener klein und dunkel, dass alle Franzosen ein Barett tragen und die Slawen rund und pausbackig durch die Welt laufen.«

»Und was siehst du heute?«

»Ich sehe Vielfalt«, sagte er. »Heute weiß ich, dass viele Engländer alles andere als ruhig und behäbig sind, dass es Schweden gibt, die Pfeife rauchen und irischen Whiskey trinken und dass Polen nicht nur gestohlene Autos fahren. Über uns Tschechen behauptet man, dass wir in unseren Atomkraftwerken absichtlich Lecks einbauen, damit uns die benachbarten Staaten viel Geld dafür zahlen, dass wir die Kraftwerke nicht in Betrieb setzen.«

»Und das sind, deiner Meinung nach, keine Vorverurteilungen?«

Martin saß ruhig vor mir und sagte mir seine Meinung so fließend, als ob er sie von einem Blatt Papier ablesen würde.

»Nein«, fuhr er fort. »Wir sollen endlich lernen, keinen perfekten und globalen Menschen zu suchen. Keine europäische Seele, die der anderen gleicht. Österreicher zum Beispiel sagen, dass alle Tschechinnen blond sind. Das kann ich nicht bestätigen, weil meine Mutter, meine Schwester und fast alle meine Cousinen dunkle Haare haben. Und wir Tschechen sind auch nicht alle Biertrinker, auch wenn es die Statistik von uns behauptet. Ich jedenfalls trinke am liebsten Cola. Bin ich deshalb ein Amerikaner?«

Am Nachmittag lasen wir in der Gruppe die Texte und diskutierten darüber, ob der Geburtsort die Nationalität und das Fühlen eines Menschen beeinflussen können.

»Der Mensch wird geboren und je nachdem, wo dieses Ereignis stattfindet, wird er als Österreicher, Deutscher oder Tscheche bezeichnet«, meinte ein Junge, ohne dass ihm jemand widersprochen hätte. »Natürlich gibt es Ausnahmen, die die Regel bestätigen, aber im Grunde genommen ist der Mensch das, was die anderen in seinem Land sind.«

»Und wie ist es nach einer Auswanderung?«

»Mit dem Wegziehen verändert sich nichts. Ein Türke, der seit 30 Jahren am Bodensee lebt, ist immer noch ein Türke, und ein Tscheche bleibt Tscheche, auch wenn er nicht mehr böhmakelt.«

Da fielen mir meine Anfänge in Österreich ein. Ich war damals eine schüchterne junge Frau, die sich nichts zutraute und die die selbstbewussten und schönen Österreicherinnen in ihren eng anliegenden Kostümen grenzenlos bewunderte. Ich beherrschte nicht die Sprache, bekam Herzklopfen schon allein bei der Vorstellung, mit der Straßenbahn in die Stadt zu fahren, und war nicht einmal imstande, »Powidltatschkerln«, die meine neue Verwandtschaft von mir gern serviert bekommen hätte, zu kochen, weil ich nicht wusste, was das war. Ironie des Schicksals: Meine österreichische Schwiegermutter brachte mir die Zubereitung der typischen tschechischen Mehlspeise bei. Sie hatte das Rezept von ihrer schlesischen Großmutter bekommen.

Als ob die Workshop-Teilnehmer wüssten, woran ich gerade dachte, begannen sie über die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten der beiden Völker zu sprechen. Martin beteiligte sich an der Diskussion nicht. Er saß mit geschlossenen Augen auf seinem Platz und ich wusste nicht, ob er konzentriert zuhörte oder ob er schlief. Sein Kopf bewegte sich fast unmerklich, es sah so aus, als ob er auf Musikwellen schwebte.

Einige Jahre später leitete ich wieder einen Workshop mit Jugendlichen. Die Mittagspause verbrachte ich im Vorgarten eines Cafés in der Wiener Innenstadt, als mich eine bekannte Stimme ansprach.

Es war Martin.

»Du bist hier?« Ich wunderte mich nicht nur, ihn in Wien zu treffen, sondern vor allem darüber, dass er mich trotz seiner Sehbehinderung in der Masse erkannt hatte.

»Du wirst es nicht glauben, aber seit Neuestem bin ich auch ein Wiener«, sagte er schmunzelnd.

»Wieso das?«

Martin setzte sich und erzählte, dass er eine Ausbildung zum Klavierstimmer absolviert und danach eine Pianistin geheiratet hatte. Seitdem lebte er mit seiner Familie im fünften Bezirk. Stolz zeigte er mir das Hochzeitsfoto und ein paar Bilder, auf denen seine kleine Tochter zu sehen war. »Schau dir nur die kleinen Händchen und die Füßchen an … und erst die Fingerchen. Ist sie nicht süß?« Martin sprach über sein Kind in der Verkleinerungsform, wie es in unseren Muttersprachen üblich war. »Gib mir dein Händchen. Auf dein Köpfchen setzen wir ein Mützchen auf. Und iss brav dein Brötchen und dein Apfelchen auf. Tun dir die Füßchen nicht weh?« Keine tschechische Mutter, kein tschechischer Vater, kein Erwachsener in Böhmen würde jemals von Händen und Füßen eines Babys sprechen, wenn sie doch so winzig und niedlich, wenn sie für alle Händchen und Füßchen sind.

»Sie heißt Pavlínka und ist sechs Monate alt. Genau genommen sechs Monate und drei Tage.« Martin verwendete auch bei dem Namen seiner Tochter die Verkleinerungsform. Das gefiel mir. Österreichische Kinder heißen Thomas, Lukas, Nicole oder Manuela, egal, ob sie drei Monate oder 30 Jahre alt sind.

Auch mein Kindlein wurde in Wien geboren. Ein Söhnchen mit kurzen Beinchen, mit dunkelblauen Äuglein und blonden Härchen auf dem Kopf. Im Park hatten wir andere Kinder mit anderen Müttern getroffen, androgynen Geschäftsfrauen, die gerade gestresst vom Büro kamen und mit ihrem Nachwuchs durch den Park nach Hause liefen. Diese Kinder, obwohl auch klein wie meines, hatten Hände und Füße und aßen Brot und Äpfel. Man sprach mit ihnen wie mit kleinen Erwachsenen. »Mach dir die Hose nicht schmutzig. Vorsicht, dein Eis schmilzt! Pass auf deinen Ball auf!« Schon allein in der Sprache vermisste ich die kleinen Dinge, die nur den Kindern gehörten. Die schmeichelnden Bezeichnungen aller Gegenstände, die den Alltag des Kindes bedeuteten: Höschen, Eischen, Bällchen.

Die Kinder mit den Namen und Gliedmaßen der Erwachsenen taten mir vor allem in den ersten Jahren in Österreich leid. Ich zweifelte daran, dass jemand einen Johann oder eine Alexandra auf den Arm nahm, dass diese Kinder, eigentlich kleine Männer und Frauen in Lederhosen und Steirerhüten jemals gestreichelt wurden. Erst als ich bemerkte, dass manche Wiener, vor allem ältere Menschen, von Kinderhanderln, Fusserln und Kopferln sprachen, begann ich, Wien und seine Bewohner zu mögen.

»Bist du immer noch ein Tscheche oder schon Österreicher?«, fragte ich Martin anknüpfend an unser Gespräch in Luhačovice.

»Ist das denn so wichtig, was ich bin?«, fragte er zurück. »Reicht es nicht, dass ich glücklich bin?«

Martin sprach laut. Es fiel mir auf, dass sich von den Nebentischen einige Gäste zu uns umgedreht hatten. Vor allem ein Herr, der gleich hinter Martin saß, sah jetzt direkt zu uns und hörte aufmerksam zu. Martin konnte ihn nicht sehen und fuhr deshalb in der gleichen Lautstärke fort.

»Was ist für dich ein typischer Österreicher?«, fragte er mich ein bisschen herausfordernd. »Ein Trachtenpärchen oder ein Herr im Lodenmantel und mit einem Gamsbart auf dem Hut?«

Die Diskussion kam mir komisch vor, weil wir tschechisch und slowakisch gesprochen hatten und die Worte Lodenmantel und Gamsbart in Tschechisch – lodenový plášť und kamzíčí štětka – sehr fremd klangen. »Ja, solche Österreicher gibt es auch, aber nicht nur«, gab ich lachend zu.

»Promiňte, verzeihen Sie«, sagte der Herr, der hinter Martin saß, auf Tschechisch. »Sprechen Sie über typische Österreicher? Ich kenne einen.«

»Nur einen?«, fragte ich.

»Na ja, mehrere, aber der eine ist etwas Besonderes.«

»Verraten Sie uns, wer er ist?«, fragte Martin.

»Sicher«, sagte der Herr. »Der typischste Österreicher ist der Schauspieler Fritz Muliar. Vor allem in der Rolle des Schwejk.«

Martin drehte sich zu dem Mann hinter ihm um und belehrte ihn: »Josef Schwejk ist ein Tscheche, mein Herr. Eine Kunstfigur, geschaffen von einem tschechischen Autor und gespielt von einem österreichischen Schauspieler.«

»Ich mag es, wenn er Deutsch spricht«, schwärmte der Mann und rückte seinen Sessel näher zu uns.

»Wie soll er sonst sprechen?«, fragte Martin. »Er ist doch Österreicher.«

»Sie haben eben gesagt, dass er ein Tscheche ist.«

»Der Schwejk ist ein Tscheche, der Schauspieler, der ihn darstellt, ist ein Österreicher«, betonte Martin.

»Er böhmakelt