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Diplomarbeit aus dem Jahr 2008 im Fachbereich Pädagogik - Wissenschaftstheorie, Anthropologie, Note: 1, Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg (Institut für Pädagogik), Sprache: Deutsch, Abstract: Jean-Jacques Rousseau hat im Jahre 1754 in seiner zweiten Preisschrift Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen über den Menschen und seinen vermeintlichen Naturzustand philosophiert, und sich gefragt, wieso der Mensch das einzige Lebewesen ist, das sich in jede erdenkliche Richtung entwickeln und formen kann. Auch im 21. Jahrhundert ist die anthropologische Urfrage, was den Menschen eigentlich zum Menschen macht und inwieweit dieser durch seine genetischen Grundlagen determiniert ist oder welchen verhaltens- und wesensändernden Einfluss die Umwelt bei der Entwicklung des Säuglings zum erwachsenen Menschen hat, immer noch nicht definitiv beantwortet. Aufgrund der Vielschichtigkeit und Komplexität einer solchen Fragestellung scheint eine eindeutige Beantwortung allerdings auch praktisch unmöglich. Nichts desto trotz bemühen sich anthropologische Wissenschaftler seit Jahrhunderten den Menschen und seine Eigenschaften, Besonderheiten und außergewöhnlichen Fähigkeiten zu analysieren und die elementaren Unterschiede, die in seiner Natur liegen und einzigartig im Vergleich zu allen anderen Tieren auf der Welt sind, herauszuarbeiten, um das Wesen des Menschen zu bestimmen. Besondere Eigenheiten, die dem Menschen zugeschrieben werden, und die ihn in einmaliger Art und Weise vom Tier abgrenzen, sind allen voran die Sprache, die Kultur, die Entscheidungsfreiheit und Weltoffenheit, die Vorstellungskraft und die Geschichtlichkeit des Menschen. All diese Eigenschaften des einzelnen Menschen und seiner gesamten Gattung sorgen für die Vormachtstellung des Menschen in der Natur, und werden in Kapitel 2 eingehend diskutiert. Die Frage ist nun, was bedeutet die Aussage, dass diese elementaren Unterschiede in der Natur des Menschen liegen, und welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus ziehen? Schlummern diese Eigenschaften schon im Säugling ab dem Zeitpunkt seiner Geburt, und warten nur darauf sich entwickeln zu dürfen, oder bedarf es einer bestimmten Umwelt, die diese anfangs verborgenen Merkmale des Menschen erst zum Vorschein bringen? Und welche Rolle spielt dabei die Erziehung? ...
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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Anthropologische Grundlagen
2. 1. Die Mängel und der Reichtum des Menschen
2. 2. Die Kultur des Menschen
2. 3. Umwelt und soziale Mimesis
3. Experimente
3. 1. Die „Ursprache“ des Menschen
3. 2. Der Affe und das Kind
4. Wilde Kinder
4. 1. Isolierte Kinder
4. 1. 1. Victor von Aveyron
4. 2. Wolfskinder
4. 2. 1. Amala und Kamala
4. 3. Eingesperrte Kinder
4. 3. 1. Genie
5. Gemeinsame Besonderheiten zwischen den Wilden Kindern
6. Das literarische Bild des Wilden Kindes
7. Schluss
Literaturverzeichnis
Anhang
„[…], während ein Tier nach Ablauf einiger Monate das ist, was es sein ganzes Leben lang sein wird, und seine Gattung nach tausend Jahren das, was sie im ersten Jahr dieser tausend Jahre war. Warum ist der Mensch allein der Möglichkeit unterworfen, schwachsinnig zu werden?“[1] So hat schon Jean-Jacques Rousseau im Jahre 1754 in seiner zweiten Preisschrift Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen über den Menschen und seinen vermeintlichen Naturzustand philosophiert, und sich gefragt, wieso der Mensch das einzige Lebewesen ist, das sich in jede erdenkliche Richtung entwickeln und formen kann. Auch im 21. Jahrhundert ist die anthropologische Urfrage, was den Menschen eigentlich zum Menschen macht und inwieweit dieser durch seine genetischen Grundlagen determiniert ist oder welchen verhaltens- und wesensändernden Einfluss die Umwelt bei der Entwicklung des Säuglings zum erwachsenen Menschen hat, immer noch nicht definitiv beantwortet. Aufgrund der Vielschichtigkeit und Komplexität einer solchen Fragestellung scheint eine eindeutige Beantwortung allerdings auch praktisch unmöglich. Nichts desto trotz bemühen sich anthropologische Wissenschaftler seit Jahrhunderten den Menschen und seine Eigenschaften, Besonderheiten und außergewöhnlichen Fähigkeiten zu analysieren und die elementaren Unterschiede, die in seiner Natur liegen und einzigartig im Vergleich zu allen anderen Tieren auf der Welt sind, herauszuarbeiten, um das Wesen des Menschen zu bestimmen. Besondere Eigenheiten, die dem Menschen zugeschrieben werden, und die ihn in einmaliger Art und Weise vom Tier abgrenzen, sind allen voran die Sprache, die Kultur, die Entscheidungsfreiheit und Weltoffenheit, die Vorstellungskraft und die Geschichtlichkeit des Menschen. All diese Eigenschaften des einzelnen Menschen und seiner gesamten Gattung sorgen für die Vormachtstellung des Menschen in der Natur, und werden in Kapitel 2 eingehend diskutiert. Die Frage ist nun, was bedeutet die Aussage, dass diese elementaren Unterschiede in der Natur des Menschen liegen, und welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus ziehen? Schlummern diese Eigenschaften schon im Säugling ab dem Zeitpunkt seiner Geburt, und warten nur darauf sich entwickeln zu dürfen, oder bedarf es einer bestimmten Umwelt, die diese anfangs verborgenen Merkmale des Menschen erst zum Vorschein bringen? Und welche Rolle spielt dabei die Erziehung? In diesem Zusammenhang sind auch die zwei größten gegensätzlichen Menschenbilder zu nennen, die die pädagogische Anthropologie in zwei Lager teilt: Ist der Mensch wie eine Pflanze, die von selbst gedeiht, wenn man sie nur ausreichend gießt? Oder muss der Erziehende als eine Art Bildhauer fungieren, der nach persönlichem Ermessen, seinen Zögling zurechtformt und prägt? Entsprechend dem Bild, das der Erziehende vom Menschen hat, wird sich auch seine Erziehungspraxis an dieses Bild anpassen: Erziehung folglich entweder im Sinne eines »begleitenden Wachsen lassen« oder als ein »herstellendes Machen«.[2] Sicher ist, dass der Mensch eine menschliche Umwelt in seiner Entwicklung braucht, um die allgemeinen, grundlegenden menschlichen Fähigkeiten, wie z. B. Sprache oder einen aufrechten Gang, zu erwerben. Eine verwandte Frage, die auch in diesem Zusammenhang relevant ist, ist die, nach dem Beginn des Menschseins – nicht zu verwechseln mit dem Beginn des Lebens eines Menschen. Ist der Mensch zum Zeitpunkt seiner Geburt oder gar schon im Mutterleib ein Mensch oder wird dieser erst im Laufe seiner Entwicklung und im Umgang mit anderen Menschen zu einem „vollkommenen“ Menschen? Es ist äußerst schwierig, diese Frage zu beantworten, vor allem da es auch keine einheitliche Definition des Menschseins gibt, und eine Interpretation immer im Ermessen des Einzelnen liegt.
Aber wie könnte man diese Frage besser beantworten, als einen Menschen zu betrachten, der ohne menschlichen Kontakt, abseits von Gesellschaft und Zivilisation und ohne je zu irgendetwas erzogen worden zu sein, aufwächst. Ist der Mensch alleine überhaupt überlebensfähig? Diese Thematik hat seit jeher die Menschen interessiert und einige sind auch nicht davor zurückgeschreckt grausame Experimente mit Säuglingen zu unternehmen, die das naturhafte Wesen des Menschen bestimmen sollten, wie z. B. der Versuch von Friedrich II im Jahre 1211, der jedoch anstatt die alles entscheidende Antwort zu finden, sieben Neugeborenen das Leben kostete. In Kapitel 3. 1. wird dieses Experiment näher beschrieben.
Im Laufe der Geschichte gab es immer wieder Erzählungen und Berichte von Kindern, die aus verschiedensten Gründen ohne menschlichen Kontakt, in völliger Isolation oder sogar im Verbund mit Tieren aufgewachsen sein sollen. Bereits in den Mythen der Antike finden sich etliche solcher Geschichten, die damals von den Menschen geglaubt wurden, denen heute jedoch kein authentischer Gehalt nachgewiesen werden kann, wie z. B. „Der wild aufgewachsene Cyrus; die Aussetzung des Moses am Fluss; die Kindheit der Semiramis, der Gründerin Babylons, die von Vögeln großgezogen wurde; die Geschichte des Ödipus, dem man als Säugling die Füße durchstochen und ihn dann auf den Berg Kithairon ausgesetzt hat; die Kindheit der Zwillinge Amphion und Zethos, die von ihrer Mutter im Gebirge ausgesetzt wurden; der von seinem Vater auf dem Berg Ida ausgesetzte Paris, den fünf Tage lang eine Bärin säugte; die Geschichten des Tyrons, des Neleus und des Pelias; der junge Aleas, den eine Hirschkuh säugte; und sogar die Geburt Christi.“[3] Allein die zahlreiche Fülle dieser Erzählungen deutet auf die Faszination und das große Interesse hin, das die zivilisierte Bevölkerung an diesen „wilden Menschen“ hatte. Sicherlich sind diese Mythen erfundene Geschichten, aber die Tatsache, dass ab ungefähr dem 12 Jahrhundert tatsächliche Berichte von Kindern auftauchten, die isoliert in der Wildnis aufgefunden, oder in der Gruppe mit wilden Tieren gesichtet wurden, wirft die Frage auf, ob diese alten Mythen wirklich nur frei erfundene Gedankenexperimente sind, oder nicht vielleicht doch zum Teil einen wahren Kern aufweisen könnten. Die Authentizität dieser Sagen ist jedoch trotzdem sehr fraglich.
Um der Wahrheit auf die Spur zu kommen, bemühen sich interessierte Wissenschaftler und Anthropologen, die leider meist nur aus zweiter Hand, überlieferten Berichte von wilden Kindern aus den vergangenen Jahrhunderten, auf ihre Echtheit und Glaubwürdigkeit hin zu überprüfen. In vielen Fällen ist dies äußerst schwierig, doch in einigen Berichten existieren detaillierte Aufzeichnungen und sogar Fotos, wie im Falle von Amala und Kamala, die eigentlich die Existenz dieser wilden Kinder belegen sollten. Dennoch gibt es – auch bei diesen relativ sicheren Quellen – immer Skeptiker, die die Glaubwürdigkeit dieser Fälle bzw. vielmehr die Schlussfolgerungen, die aus der Existenz der wilden Kinder gezogen werden, anzweifeln. Sicher ist nicht von der Hand zu weisen, dass die meisten Überlieferungen bisher nie vollständig verifiziert werden konnten, sowie dass die daraus gezogenen Konsequenzen immer nur subjektive, spekulative Interpretationen waren, und deshalb auch nicht als wissenschaftliches Faktum gelten konnten. Dennoch wäre es ein großer Verlust für die Forschung, gar nicht erst zu versuchen, diese faszinierenden Geschichten zu durchleuchten, deren sinnstiftenden Gehalt herauszufiltern und für die Zwecke der anthropologischen Wissenschaft zu nutzen. So entschied sich auch der bedeutende Anthropologe Adolf Portmann sich in dem Vorwort zu dem Tagebuch des Missionars Singh, der die beiden Wolfskinder von Midnapore, Amala und Kamala, gefunden hatte, zu äußern: „Im Wechsel der Stimmungen dieser Jahre waren indessen zwei wesentliche Konstanten entscheidend: einmal die Überzeugung, der Bericht des Reverend Singh verdiene in seinem Kern Vertrauen, dann aber die Gewissheit, es sei unrichtig, wenn ein solches Dokument – wie man auch zu ihm stehen mag – nicht wenigstens allgemein zugänglich wäre.“[4]
So lassen sich heute in den Medien, seien es Bücher, Internet oder Filmdokumentationen, zahlreiche Berichte von wilden Kindern und deren Interpretationen finden, die der Öffentlichkeit diese Thematik näher bringen wollen. Bei der Betrachtung derartiger Darstellungen sollte eine kritische Grundstellung jedoch immer bewahrt werden.
Der Überbegriff „Wilde Kinder“ umfasst drei verschiedene Kategorien von Kindern, die abseits der Gesellschaft aufgewachsen sind:
1. Isolierte Kinder, die eine Zeit lang in der Wildnis, ohne menschliche oder tierische Hilfe gelebt haben.
2. Wolfskinder, die nicht zwangsläufig mit Wölfen, jedoch im Verbund mit Tieren aufgewachsen sind.
3. Eingesperrte Kinder, die vorsätzlich eingesperrt und ohne Kontakt zur Gesellschaft aufgewachsen sind.
Die folgende Arbeit wird zunächst allgemeine anthropologische Grundlagen darlegen, sich mit elementaren Besonderheiten der menschlichen Natur beschäftigen, sowie die Anlage – Umweltproblematik anreißen, um dem Phänomen der extremen Wesens- und Verhaltensänderung der wilden Kinder eine wissenschaftliche Basis zugrunde zu legen. Das eigentliche Zentrum des Interesses dieser Arbeit liegt in der Analyse und der vergleichenden Untersuchung ausgewählter Fallbeispiele wilder Kinder, unter anderem mit dem Ziel, Gemeinsamkeiten und ähnliche Entwicklungsmuster bei den verschiedenen, von der Gesellschaft isolierten Kindern festzustellen und auch anthropologische, sowie philosophisch - pädagogische Frage- und Problemstellungen, die mit dem Blick auf derartige Einzelschicksale aufgeworfen werden, eingehend zu diskutieren.
„Zu den bedeutsamsten Befunden gehört die Auffassung des Aachener Kultursoziologen Arnold Gehlen: Der Mensch – ist im Vergleich zum Tier – ein »Mängelwesen«. Ihm fehlt weitgehend die verhaltensleitende Instinktausstattung der Tiere, seine Organausstattung (keine Flucht- oder Schutzorgane oder natürlichen Waffen) ist ungenügend, die meisten Tiere verfügen über schärfere Sinnesorgane, ohne Haarkleid und ohne Schutz vor Witterung ist er weitgehend schutzlos usw. Er ist – mit einem Wort Nietzsches ein »nicht – festgestelltes Tier«.“[5]
Einer dieser ausschlaggebenden Mängel besteht also darin, dass der Mensch nur sehr bedingte Instinkte besitzt, nach denen sich sein Handeln richten kann; zudem sind seine Reiz – Reaktionsmechanismen sehr eingeschränkt und treten vor allem in den ersten Lebensmonaten auf, wie z.B. beim Saug- oder Greifreflex. Das Tier reagiert im Gegensatz dazu immer auf bestimmte Reize mit einem bestimmten Verhalten, wobei diese ausgelösten Mechanismen innerhalb einer Tiergattung gleich ablaufen. Der Mensch kann in einer Situation auf unterschiedlichste Art und Weise reagieren, sein Verhalten hängt einzig und allein von ihm ab, und nur er ist verantwortlich für sein Handeln und seine getroffenen Entscheidungen. Der Mangel an fehlenden Instinkten birgt nämlich zugleich eine einzigartige Eigenschaft des Menschen in sich – seine Entscheidungsfreiheit.
Diese muss wohl auch Herder im Sinn gehabt haben, als er vom Menschen als dem ersten »Freigelassenen der Schöpfung« sprach. Er ist das einzige Lebewesen, das die Möglichkeit hat, nach eigenem Ermessen zu handeln und seine Entscheidungen im Leben frei zu treffen. Sicherlich sind diese Entscheidungen auch immer an bestimmte Umstände, Personen und die konkrete Lebenssituation gebunden, und dadurch eventuell beschränkt, aber eine Wahl, hat der Mensch immer – auch wenn sich seine Entscheidungsfreiheit in extremen Situationen auf ein Minimum reduzieren kann, z. B. wenn der Betroffene im Gefängnis sitzt. Das Tier, so scheint es, hat als instinkthaftes Wesen weder Wahl noch Freiheit, es handelt lediglich nach eintreffenden Reizen und Impulsen. Dafür hat es – wie oben schon erwähnt – meist die bessere körperliche Ausstattung, um in der Natur zu überleben. Die Sinne des Menschen sind schwach, sein Körper ist nicht mit natürlichen Waffen ausgestattet, mit denen er sich wehren könnte, und er ist auch nicht schnell genug, um vor einer Gefahr fliehen zu können. Trotzdem ist er allen anderen Tieren überlegen und kann nahezu an jedem Ort der Welt überleben. Verantwortlich dafür, ist seine ungeheure Lernfähigkeit, die all diese mangelhaften, physischen Voraussetzungen mit Leichtigkeit kompensiert. Intelligente Tiere haben zwar auch die Fähigkeit bestimmte Dinge zu lernen, aber der Mensch verfügt über diese Fähigkeit in nahezu unbeschränktem Maße. Ob und wie viel ein gesunder Mensch dann tatsächlich aufnehmen und lernen kann, hängt allerdings wieder stark von seiner Umwelt und Erziehung ab. Die Lernfähigkeit bedingt nämlich zugleich auch die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen. Wird ein Mensch nicht erzogen, wird ihm nichts beigebracht, gezeigt, erklärt oder gelehrt, verkommen seine Fähigkeiten und er wird zu einem hilflosen Wesen, das nur sehr schlechte Überlebenschancen hat. Diese Hilfe und Förderung durch Erwachsene sieht auch Adolf Portmann als zwingend notwendig an, da er den Menschen als eine »physiologische Frühgeburt« betrachtet, der auf sich allein gestellt nicht lebensfähig wäre. „Ein hilfloser Nestflüchter – so erscheint der neugeborene Mensch dem Zoologen. Ist uns bewußt, daß diese Tatsache die Regel der Säugetiere durchbricht?“[6] Weiter heißt es: „Der neugeborene Mensch, seinem Grundplane nach ein Nestflüchter, gerät in eine besondere Art von Abhängigkeit, weshalb wir ihn als einen »sekundären Nestflüchter« bezeichnet haben (Portmann 1942). In dieser besonderen Abhängigkeit steht der Mensch in der Gruppe der Säuger allein.“[7]
Der menschliche Säugling kommt also einige Monate zu früh auf die Welt, und bedarf deshalb gerade zu Beginn seines Lebens einer intensiven Pflege und Betreuung, um nach und nach selbstständiger zu werden. Dieser Umstand birgt sowohl wieder die Lernfähigkeit, als auch die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen in sich. Eine weitere Besonderheit des Menschen ist die Tatsache, dass er das einzige Lebewesen ist, das einem Gegenstand, einer Sache und auch sich selbst mit einer gewissen Distanz entgegentreten kann. Diese Distanz befähigt ihn auch den Gehalt eines Gegenstandes zu erfassen. Nur so kann der Mensch die Welt erfahren und sie sich erschließen. Er weiß, dass er ein Mensch ist, er weiß, dass er lebt und eines Tages sterben wird, und er weiß auch, dass es immer ein „morgen“ geben wird. All das macht die einzigartige, exzentrische Position des Menschen aus – wie Helmut Plessner sie bezeichnet hat – im Gegensatz zur zentrischen Position des Tieres. Als ichhaftes und reflektierendes Wesen nimmt er diese besondere Position ein und hebt sich so von der „tierischen Unmittelbarkeit“ ab: „Das Tier steht in einem unvermittelten Wirklichkeitsbezug: es nimmt unter erheblichen perspektivischen Verkürzungen konkret gegebenes wahr und reagiert instinktiv oder aufgrund von Lernleistungen darauf; dem Menschen hingegen gelingt ein denkendes Erfassen und Bewältigen der Wirklichkeit, was nicht nur Rückblicke, sondern auch planendes Vorausdenken, Fragen, Zweifeln, Begriffsbildung und dgl. beinhaltet“[8]
Sicher ist der Mensch nicht frei von Trieben und lässt sich teilweise auch bedingt von diesen leiten, jedoch hat er im Gegensatz zum Tier die Möglichkeit, Distanz zwischen Antrieb und Handlung zu legen; beispielsweise muss er nicht essen, wenn er hungrig ist, und ein angerichtetes Mahl vor Augen hat. Eine derartige Verhaltensweise ist dem Tier nicht vorbehalten.
Diese Distanz, die der Mensch also auch sich selbst gegenüber einlegen kann, macht ihn zu einem reflexiven Wesen. Er steht in einem gedanklich vermittelten und vermittelnden Verhältnis zur Realität.
Reflexivität und Selbstbestimmung, wobei letzteres mit der oben diskutierten Entscheidungsfreiheit einhergeht, sind zwei wesentliche Merkmale des Menschen, die Max Scheler nun in einem Begriff zusammenfasst – die Weltoffenheit des Menschen. „Weltoffenheit ist der Gegenbegriff zur tierischen „Trieb- und Umweltgebundenheit“ und besagt, daß durch keine Instinktausstattung festgelegt ist, auf welche Empfindungen (Reize) der Mensch reagiert und auf welche Ziele sein Verhalten ausgerichtet ist.“[9]Diese Weltoffenheit bzw. Umweltungebundenheit, die auch Jacob von Uexküll als grundlegende menschliche Eigenschaft herausgestellt hat, steht also wieder in engem Zusammenhang mit der Instinktlosigkeit und Triebentbundenheit des Menschen. Trotz dieser Weltoffenheit darf man jedoch nicht vergessen, dass der Mensch sehr wohl an bestimmte Dinge gebunden ist, wie z.B. an verinnerlichte Einstellungen, Gefühle, Meinungen, seinen Lebensstil, die unmittelbare Umwelt und Situation, Personen, seinen Beruf oder Überzeugungen, die er im Laufe seiner Entwicklung zu seinen eigenen gemacht hat. Rothacker beschreibt diese spezifische, an die jeweilige Person gebundene Weltsicht sehr anschaulich an einem Beispiel: „Der Wald ist „für den Bauern Gehölz, für den Förster ein Forst, für den Jäger ein Jagdgebiet, für den Wanderer kühler Waldesschatten, für den Verfolgten ein Unterschlupf, für den Dichter Waldesweben und … für den Spekulanten ein Spekulationsobjekt, für die kämpfende Truppe eine Stellung, für den Geologen ein Forschungsobjekt, für den Maler ein Sujet.“[10]
Auf der anderen Seite hat das Tier wiederum keinerlei Möglichkeiten die Welt auf verschiedene Art und Weisen zu betrachten. Es kann sie besser gesagt überhaupt nicht betrachten – es lebt einfach nur in ihr und handelt nach seinen naturgegebenen Instinkten. Es lebt in einem unmittelbaren Bezug zur Wirklichkeit. Der Mensch hingegen handelt nie unmittelbar in der Wirklichkeit – er steht immer in einem symbolisch vermittelten Bezug zu dieser. „Darstellung von konkreter Wirklichkeit in ihrer Konkretheit vollzieht der Mensch mit Hilfe sinnlicher Zeichen (Symbole) nicht nur in der Kunst. Er stilisiert sich, wie schon angemerkt, im Umgang mit anderen Menschen durch äußere Merkmale, er stellt sich durch Benehmen und Insignien als Inhaber bestimmter sozialer Rollen dar, er lebt nicht nur Freundschaftsbindungen, sondern verleiht der Tatsache einer Freundschaft auch symbolischen »Ausdruck« durch Gesten, Geschenke und dgl., er verhält sich Gott und seinen Göttern gegenüber und vollzieht diese seine Handlungen zumeist in den vorgeprägten Symbolen seiner Religion.“[11]Aufgrund dieser symbolischen Vermittlung, die immer zwischen Mensch und Welt steht, bezeichnet Ernst Cassirer den Menschen als »animal symbolicum«. Die symbolische Form seines Denkens und Verhaltens findet vor allem in der Sprache seinen Ausdruck. Die Fähigkeit überhaupt symbolisch zu denken, sowohl Gegenstände als auch Ungreifbares zu benennen, also abseits der realen Wirklichkeit in unseren Gedanken virtuelle Bilder zu schaffen, verdankt der Mensch seiner Einbildungskraft. „Fantasie, Imagination, Einbildungskraft sind drei Begriffe für das menschliche Vermögen, Bilder von außen nach innen zu nehmen, also Außenwelt in Innenwelt zu verwandeln, sowie für die Fähigkeit, innere Bilderwelten unterschiedlicher Herkunft und Bedeutung zu schaffen, zu erhalten und zu verändern.“[12]Ohne diese Fähigkeit wäre der Mensch nicht in der Lage die komplexen Strukturen unserer Sprache zu beherrschen – und ohne die Sprache, wäre die Grundvoraussetzung und Basis aller menschlichen Kultur verloren.
Um in der Gesellschaft überleben zu können, muss der Mensch in diese hineinwachsen, deren Gewohnheiten, Bräuche, Riten und Sitten kennen lernen, um als anerkanntes Mitglied einen Platz zu finden. „Menschliche Entwicklung bedeutet die Aneignung der Handlungskompetenzen, die für das Leben im menschlichen Ökosystem nötig sind. Diesen Prozess nennt man Enkulturation.“[13]Dieser Begriff umfasst sowohl Sozialisation, als auch Erziehung, also die Gesamtheit des Erwerbs kultureller Basisfähigkeiten, wobei Sozialisation als eine passive „Sozialwerdung“ zu verstehen ist, wohingegen Erziehung ein aktiver Prozess ist, der auch immer bestimmte Ziele, Normen und Werte beinhaltet. Die Aneignung dieser kulturellen Basisfähigkeiten ist in besonderer Weise ausschlaggebend für die Entwicklung des Menschen zum Menschen, „also das Erlernen der Teilnahme an Sprache, gefühlsmäßigen Ausdrucksformen, Rollen, Spielregeln, Arbeits- und Wirtschaftsformen, Künsten, Religion, Recht, Politik usw., […]. Ohne Kultur – kein menschliches Überleben, so können wir zusammenfassen.“[14]
Die Schwächen des Menschen haben – wie im vorherigen Kapitel beschrieben – jeweils eine Kehrseite, die die Mängel ausgleicht und den Menschen befähigt auf einzigartige Weise in der Welt zu agieren. Es steht einem also offen, von welcher Seite aus man den Menschen betrachtet, folglich seinen Reichtum oder seine Armut in den Vordergrund stellt. Bei näherer Betrachtung der Kultur des Menschen wird sein Reichtum in der Fülle und Vielseitigkeit der kulturellen Inhalte deutlich. Konkrete Inhalte wurden bereits angesprochen - was Kultur für den Menschen in abstrakter Form bedeutet, versuchten indes zahlreiche Autoren zu definieren:
Böhm ist der Ansicht, „Kultur stellt die »zweite Natur« des Menschen dar, ohne die er nicht menschenwürdig, ja wohl überhaupt nicht zu leben vermöchte.“[15]
„Herskovits (1948) definiert Kultur als den vom Menschen gemachten Anteil der Umwelt.“[16]
„Segall et al. (1990) meinen, Kultur ist das Insgesamt all dessen, was Personen von anderen Personen lernen. Diese Inhalte sind adaptiv und generationsüberdauernd.“[17]